Die Frage nach der Art und dem Wesen politischer Herrschaft ist sicherlich die älteste
politische Frage überhaupt, und sie stellt sich bis heute. Sie ist eine Frage der erfass- und
verallgemeinerbaren Faktoren, doch auch des Menschenbildes und der individuellen
Erfahrungen. Und da sich beides wandeln kann, ist das Ergebnis immer den Voraussetzungen
geschuldet. Die verbreitetste Antwort auf diese Frage ist die Demokratie. In mehreren
„Demokratisierungswellen“ überzog sie die Erde und brachte die Ideale Freiheit
(Volkssouveränität) und politische Gleichheit zu den Menschen. Doch ist Demokratie nicht
gleich Demokratie. Die Ausgestaltung der Volkssouveränität variiert von den unmittelbarsten
Formen (Versammlungsdemokratie) bis hin zu scheindemokratischen Diktaturen.
Der Ansatz der direkten Demokratie versucht, die Unmittelbarkeit der Volksherrschaft zu
erhöhen. Diesem Ansatz sind bisher etwa die Hälfte aller Staaten gefolgt (Volksentscheide auf
nationaler Ebene)1. In Deutschland ist dagegen der Status der direkten Demokratie auf
Bundesebene kümmerlich.
Der Wiedervereinigungsprozess löste in Deutschland eine Debatte um das Wesen der
Demokratie aus, die 1992 in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bund und
Ländern institutionalisiert wurde. In ihr ging es auch um Fragen der Einführung
direktdemokratischer Elemente ins Grundgesetz.
Diese Arbeit soll den Status direkter Demokratie in Deutschland beleuchten, einen Überblick
über zugrundeliegende Theorien liefern, Formen direkter Demokratie erläutern sowie
Anregungen zur Frage der Umsetzbarkeit im politischen sowie der Akzeptanz im
gesellschaftlichen System geben. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Einführung
direktdemokratischer Elemente vor allem nach der Wiedervereinigung große Chancen hatte.
1 Vgl. Tiefenbach, Paul.: Direkte Demokratie im internationalen Vergleich, www.mehrdemokratie.
de/bu/dd/international.htm
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
I.1. Zur Geschichte direkter Demokratie in Deutschland bis 1990
II. Demokratietheorie
II.1. Grundlagen
II.2. Repräsentative vs. partizipative Demokratietheorie
III. Implementierung direkter Demokratie
III.1. Spielarten direkter Demokratie
III.2. Empirische Vorbilder
III.3. Direkte Demokratie als Faktor der Systemtransformation
IV. Der Beginn der Verfassungsdebatte um direkte Demokratie
IV.1. Der Wiedervereinigungsprozess
IV.2. Politische Kultur
IV.3. Argumente der Befürworter und Gegner direkter Demokratie
V. Outcome der Debatte
V.1. Die Verfassungskommission
V.2. Die neueren politischen Entwicklungen
VI. Schluss
Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Die Frage nach der Art und dem Wesen politischer Herrschaft ist sicherlich die älteste politische Frage überhaupt, und sie stellt sich bis heute. Sie ist eine Frage der erfass- und verallgemeinerbaren Faktoren, doch auch des Menschenbildes und der individuellen Erfahrungen. Und da sich beides wandeln kann, ist das Ergebnis immer den Voraussetzungen geschuldet. Die verbreitetste Antwort auf diese Frage ist die Demokratie. In mehreren „Demokratisierungswellen“ überzog sie die Erde und brachte die Ideale Freiheit (Volkssouveränität) und politische Gleichheit zu den Menschen. Doch ist Demokratie nicht gleich Demokratie. Die Ausgestaltung der Volkssouveränität variiert von den unmittelbarsten Formen (Versammlungsdemokratie) bis hin zu scheindemokratischen Diktaturen.
Der Ansatz der direkten Demokratie versucht, die Unmittelbarkeit der Volksherrschaft zu erhöhen. Diesem Ansatz sind bisher etwa die Hälfte aller Staaten gefolgt (Volksentscheide auf nationaler Ebene)1. In Deutschland ist dagegen der Status der direkten Demokratie auf Bundesebene kümmerlich.
Der Wiedervereinigungsprozess löste in Deutschland eine Debatte um das Wesen der Demokratie aus, die 1992 in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bund und Ländern institutionalisiert wurde. In ihr ging es auch um Fragen der Einführung direktdemokratischer Elemente ins Grundgesetz.
Diese Arbeit soll den Status direkter Demokratie in Deutschland beleuchten, einen Überblick über zugrundeliegende Theorien liefern, Formen direkter Demokratie erläutern sowie Anregungen zur Frage der Umsetzbarkeit im politischen sowie der Akzeptanz im gesellschaftlichen System geben. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Einführung direktdemokratischer Elemente vor allem nach der Wiedervereinigung große Chancen hatte.
I.1. Zur Geschichte direkter Demokratie in Deutschland bis 1990
Die Geschichte direktdemokratischer Elemente auf nationaler Ebene in der Bundesrepublik beginnt 1919 mit der Weimarer Verfassung, und sie endet auch mit ihr. In ihr wurden direkte Beteiligungsrechte des Volkes auf Reichsebene und teilweise in Länder- und Gemeindeverfassungen verankert. Dies umfasste verschiedene Formen unmittelbarer Gesetzgebung sowie die direkte Wahl des Reichspräsidenten2. Die Erinnerung an Weimarer Zeiten in bezug auf direkte Demokratie scheint negativ belastet zu sein oder zumindest ein ambivalentes Bild zu hinterlassen.3 Grundlegend dafür sind die (wenigen) von der NS- Diktatur politisch geschickt eingesetzten Plebiszite. Dieses Instrument hat seither einen autoritären Beigeschmack4. Otmar Jung sieht die Ergebnisse der Plebiszite jedoch lediglich als „politische Zerrbilder“5, die der politischen Einheitskultur geschuldet waren und von der politischen Führung faktisch abgeschafft wurden, als sich 1934 in der Abstimmung zur Legitimierung des „Führers“ als Staatsoberhaupt Widerstand gegen das Regime abzeichnete.6
Nach dem Zweiten Weltkrieg führten einige westdeutsche Länderverfassungen direktdemokratische Elemente ein. Der Parlamentarische Rat, der 1948/49 die Verfassung der Bundesrepublik ausarbeitete, stellte sich in seiner Gesamtheit strikt gegen Volksreferenden und -initiativen. Die Argumentation beruhte zum Teil auf den genannten Gründen, eine wirkliche Diskussion wurde aber auch deutlich unterbunden.7 Theodor Heuss’ berühmter Ausspruch, direkte Demokratie sei eine „Prämie für jeden Demagogen“ spiegelt das deutliche Misstrauen gegenüber der demokratischen Reife der Bürger wider. Die „’Plebiszitäre Quarantäne’ des Grundgesetzes“8 ist jedoch auch den Anfängen des Kalten Krieges geschuldet, da den westdeutschen Sozialisten keine so weitreichende politische Handhabe zuteil werden sollte. So enthält das 1949 in Kraft getretene Grundgesetz denn auch keine direktdemokratischen Einflussmöglichkeiten der Bürger, mit Ausnahme des bei der Neugliederung von Bundesländern9 obligatorischen Volksreferendums. Als 1974-76 erneut von der Enquete-Kommission des Bundestags Verfassungsfragen gewälzt werden, ergeht wiederum eine Absage an die direkte Demokratie:
„Angesichts der ‚nicht aufhebbaren Spannung zwischen repräsentativ-demokratischen und plebiszitär-demokratischen Organisationsformen und Legitimationsverfahren’ erscheine die Erweiterung solcher plebiszitärer Möglichkeiten kein geeigneter Weg, das demokratischrepräsentative System auf der Ebene des Bundes zu festigen und in seiner Legitimationskraft zu stärken. Es bestehe vielmehr die Gefahr, daß sie die Bedeutung des Parlaments verringern und die Funktions- und Integrationsfähigkeit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik insgesamt beeinträchtigen.“10
Während auf Bundesebene die Quarantäne aufrechterhalten bleibt, wurden bis 1990 in allen neuen und fast allen alten Länderverfassungen (außer auf Bezirksebene in Berlin) Bürgerbegehren und Bürgerentscheid auf Landes- und Kommunalebene verankert. Doch auch hier zeigen sich (noch heute gültige) Vorbehalte:
„In den deutschen Bundesländern sind die Bedingungen im Vergleich zur Schweiz oder den US-Bundesstaaten besonders restriktiv, da die Antrags- und Zustimmungshürden sehr hoch sind und das Finanztabu [...] die Themen grundsätzlich beschränkt.“11
II. Demokratietheorie
II.1. Grundlagen
Grundlage jeglicher Theorie der Demokratie ist die Souveränität des Volkes12 und die politische Gleichheit der Bürger. Demokratie versucht, die Identität von Regierten und Regierenden herzustellen13 und geht daher von einem politisch entscheidungsfähigen Bürger, dem homo politicus, aus. Dies ist das „Sozialkapital“14 des demokratischen Staates. Die am meisten bemühte empirische Form der Demokratie bildet die griechische Versammlungsdemokratie des 6.-4. Jhd. v. Chr., die als Gegenentwurf zur
Manipulationsmöglichkeit15 autoritärer Staatsformen zu verstehen ist. Die insgesamt als „Siegeszug der Demokratie“ einzuschätzende Verbreitung demokratischer Staatsformen findet hier ihren Ausgangspunkt.
Demokratie kann in unterschiedlicher Form staatlich oder bis tief in gesellschaftliche Strukturen realisiert sein. Und eben an diesem Punkt scheiden sich die demokratietheoretischen Geister.
Jean-Jacques Rousseau erweist sich - außer allgemein als ausgesprochener Fürsprecher der Demokratie - auch als expliziter Freund der partizipativ gelebten Demokratie, indem er als Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie die direkte Volkssouveränität setzt. Der Allgemeinwille (volonté générale) stelle sich automatisch her, wenn alle Bürger an der politischen Entscheidungsfindung beteiligt seien. In einer repr ä sentativen Verfassungsumgebung soll das Parlament idealerweise der Exekutor des volonté générale sein. Prominente Vordenker dieser (repr ä sentativen) Richtung finden sich u.a. in John Locke, Charles Montesquieu und James St. Mill.
Weitere besonders nennenswerte Vertreter der partizipatorischen Schule sind Benjamin Barber und Robert Dahl, der die partizipatorische Demokratie schon allein deshalb verteidigt, weil sie ein „Gegengewicht gegen die undemokratische Verfassungslage bilde“16 und damit auf den „undemokratischen“ Charakter der repräsentativen Demokratie abhebt.
II.2. Repr ä sentative vs. partizipative Demokratietheorie
Demokratietheorien lassen sich unter anderem nach der Reichweite des Demokratieprinzips unterscheiden17 - und sich daher treffend nach der Balancierung von unmittelbarer (input- orientiertes Modell) und mittelbarer (output-orientiertes Modell18 ) Volksherrschaft einordnen19. Das deutsche parlamentarische System basiert fraglos auf ersterem Modell und setzt den Schwerpunkt auf die Interessenaggregation über die Parteien statt einer direkten
Interessenartikulation aus dem Volk. Vital für dieses Prinzip ist die Annahme, der „Repräsentant handele in willentlicher und inhaltlicher Übereinstimmung mit den Repräsentierten“20. Doch von ihm getroffene Entscheidungen sind unter einem Legitimitätsvorbehalt zu betrachten: „Der Delegitimierungseffekt dieses Systems ausschließlich repräsentativ organisierter Willensbildung mag auch auf lange Sicht nicht spürbar sein, aber er ist vorhanden...“21.
Die direkte Demokratie lässt sich als „Versicherung“ legitimer Entscheidungen (im Sinne eines Mandats des Volkes) verstehen - gibt sie doch dem Volk die Möglichkeit, nicht in seinem Sinne getroffene Entscheidungen zu korrigieren (Referendum) oder Alternativen anzubieten und im Ernstfall durchzusetzen (Gesetzes- bzw. Verfassungsinitiative). In der modernen Literatur wird daher - auch wenn sie begrifflich als Gegenüberstellung zu repr ä sentativer Demokratie (Abstimmungen statt Wahlen22 ) fungiert - das partizipative Konzept lediglich als Erweiterung bestehender repräsentativer Strukturen gesehen.
„In der Wirklichkeit des politischen Lebens gibt es ebenso wenig einen Staat, der auf alle Strukturelemente der Repräsentation verzichten könnte. [...] Diese beiden Möglichkeiten, Identität und Repräsentation, schließen sich nicht aus, sondern sind nur zwei entgegengesetzte Orientierungspunkte für die konkrete Gestaltung der politischen Einheit [aus Identität und Repräsentation, JE].“23
Die direkte Demokratie hat daher historisch gesehen immer einen Erg ä nzungsstatus zum repr ä sentativen System gehabt.24
III. Implementierung direkter Demokratie
III.1. Spielarten direkter Demokratie
„Direkte Demokratie“ umfasst verschiedene Instrumente, über die der Wahlbürger einen unmittelbaren Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen kann. Die wichtigsten Instrumente sind: Gesetzes- oder Verfassungsinitiative und Referendum (fakultativ oder obligatorisch).
Nicht zum engsten Kreis der unmittelbaren Einflussmöglichkeiten zählt das Plebiszit, eine unverbindliche Volksbefragung, die durch die Regierung oder das Parlament ausgelöst wird. Die Auslösung durch das Volk selbst nennt man Volksenquete25.
Die Implementierung der Instrumente kann dabei entscheidend variieren. Hier stellen sich Fragen nach dreistufigen (dem Volksbegehren muss die Volksinitiative vorgeschoben sein) bzw. zweistufigen Verfahren26, aber auch nach Zugangs- und Entscheidungsquoren. Zusätzlich von Bedeutung sind zugelassene Entscheidungsgegenst ä nde und die Entscheidungsverbindlichkeit.
III.2. Empirische Vorbilder
Eine Vielzahl vor allem europäischer Staaten, aber z.B. auch die USA, kennen mittlerweile direktdemokratische Instrumente wie das Referendum oder die Volksinitiative und noch viele mehr das - streng genommen kein direktdemokratisches Instrument im engeren Sinne - Plebiszit bzw. Volksenquete. Doch als das Land mit den am weitesten entwickelten direktdemokratischen Beteiligungsmöglichkeiten und den größten empirischen Erfahrungen gilt die Schweiz. Gebhard Kirchgässner, Lars Feld und Marcel Savioz präsentieren die schweizerische direkte Demokratie als „[m]odern, erfolgreich, entwicklungs- und exportfähig“. Sie verweisen dabei auf den möglichen Vorbildcharakter für die deutsche Verfassungsdiskussion und zeigen am „lebenden“ Beispiel, dass es gerade die Schweiz in 150 Jahren mit zunehmenden Volksrechten geschafft hat, in keine Kriege verwickelt zu werden und in dieser Zeit von einem der ärmsten Länder Europas zu dem mit dem höchsten Lebensstandard wurde.27 Sie empfehlen den Ausbau direkter Demokratie gegen wahlmüde Bürger, oligarchische Machtkonzentration und Politikerskandale. Auch Theo Schiller sieht die direkte Demokratie als Heilmittel der politischen Kultur: Unbehagen am Parteiensystem äußere sich in Parteienverdrossenheit, Wahlenthaltung und Protestbewegungen.28
[...]
1 Vgl. Tiefenbach, Paul.: Direkte Demokratie im internationalen Vergleich, www.mehr- demokratie.de/bu/dd/international.htm
2 vgl. Klages/Paulus: Direkte Demokratie in Deutschland, S.14
3 Ausführlich hierzu: Heußner/Jung: Mehr direkte Demokratie wagen, S.41-60
4 vgl.Klages/Paulus: Direkte Demokratie in Deutschland, S.10
5 Heußner/Jung: Mehr direkte Demokratie wagen, S.72
6 vgl. Heußner/Jung: Mehr direkte Demokratie wagen, S.73
7 vgl. Heußner/Jung: Mehr direkte Demokratie wagen, S.77ff.
8 Klages/Paulus: Direkte Demokratie in Deutschland, S.14f.
9 Art. 29 GG
10 Heußner/Jung: Mehr direkte Demokratie wagen, S.84
11 Schiller: Direkte Demokratie, S.16
12 demos kratein, gr.: Volksherrschaft
13 vgl. Nohlen: Kleines Lexikon der Politik, S.66f.
14 vgl. Putnam, Robert D.: Making Democracy work: Civic Traditions in modern Italy. Princeton 1993. zitiert nach: Schmidt: Demokratietheorien, S.259
15 vgl. Schiller: Direkte Demokratie, S.17
16 Schmidt: Demokratietheorien, S.254
17 vgl. Schmidt: Demokratietheorien, S.251
18 vgl. Wobei input-orientierte Theorien die Maximierung politischer Teilhabe, output-orientierte Theorien die Handlungsfähigkeit des Systems als Prämisse setzen. Vgl. Klages/Paulus: Direkte Demokratie in Deutschland, S.18f.
19 vgl. Schmidt: Demokratietheorien, S.251
20 Bermbach: Demokratietheorie und Politische Institutionen, S.76
21 Klages/Paulus: Direkte Demokratie in Deutschland, S.10
22 vgl. Schiller: Direkte Demokratie, S.13
23 Fraenkel, Ernst: Deutschland und die westlichen Demokratien, S.81ff. Zitiert nach: Bermbach: Demokratietheorie und Politische Institutionen, S.77
24 vgl. Schiller: Direkte Demokratie, S. 18
25 vgl. Klages/Paulus: Direkte Demokratie in Deutschland, S.19
26 vgl. Klages/Paulus: Direkte Demokratie in Deutschland, S.19
27 vgl. Kirchgässner/Feld/Savios: Die direkte Demokratie, S. IX ff.
28 vgl. Schiller: Direkte Demokratie, S.167
- Citar trabajo
- Jonas Eberle (Autor), 2003, Direkte Demokratie in Deutschland, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/17097
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