Kaum ein Thema hat die gesellschaftlichen und politischen Diskurse der letzten Monate so stark geprägt wie die Veröffentlichungen der Enthüllungsplattform WikiLeaks. Die Organisation kann mit Recht als ‚Phänomen‘ bezeichnet werden, verändert sie durch ihre Enthüllungen doch sowohl den Blick auf welt- und wirtschaftspolitische Prozesse als auch die Vorstellung davon, was ‚Öffentlichkeit‘ ist bzw. sein kann:
„WikiLeaks will den Regierungen dieser Welt nicht die politische Kontrolle entrei-ßen, wohl aber die Kontrolle über ihr Herrschaftswissen. Plötzlich gibt es einen neuen Akteur, der sich das Recht herausnimmt, darüber mitzuentscheiden, was geheim bleibt.“
Man kann die Organisation schlicht als neuen Akteur auf der Bühne massenmedialer Öffentlichkeit begreifen, oder aber in WikiLeaks eine neue Evolutionsstufe, ja eine logische Konsequenz in der Entwicklungskette politischer Öffentlichkeit von der antiken Versammlungs- über die neuzeitliche massenmediale Öffentlichkeit bis hin zur modernen Netzöffentlichkeit sehen – beide Betrachtungsweisen werden dem Phänomen WikiLeaks aufgrund seiner Komplexität und seiner vielschichtigen Beziehungen zu bestehenden Formen von Öffentlichkeit und deren Akteuren jedoch nicht gerecht. Im Zuge der folgenden Analyse wird davon ausgegangen, dass WikiLeaks eine eigene Form von Öffentlichkeit schafft, die zwar mit den bekannten Erscheinungsformen politischer und massenmedialer Öffentlichkeit interagiert, jedoch grundsätzlich eigenständig ist und sich in zentralen Merkmalen von diesen unterscheidet.
Ziel dieser Arbeit ist eine öffentlichkeitstheoretische Annäherung an das vieldiskutierte und gleichwohl umstrittene Phänomen WikiLeaks. Es soll aufgezeigt werden, welche Rolle Öffentlichkeit für die Organisation WikiLeaks spielt – sowohl als Lebensraum, in dem sie sich bewegt, als auch als herzustellenden Zielzustand – und welche konkrete Vorstellung von Öffentlichkeit den Funktions- und Handlungsweisen der Organisation zugrunde liegt. Zu diesem Zweck soll versucht werden, ein 2009 vom Öffentlichkeitstheoretiker Rudolf Stöber ursprünglich zur systematischen Analyse verschiedener Öffentlichkeitskonzepte entwickeltes Kategoriensystem auf die Öffentlichkeitsvorstellung der Organisation WikiLeaks anzuwenden, um auf dieser Basis eine kritische Betrachtung des Phänomens zu ermöglichen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Das Phänomen WikiLeaks
2.1 Daten und Fakten
2.2 Ziele, Vorgehensweise und Legitimation
3. Öffentlichkeit als Phasenraum
3.1 Ausgangslage
3.2 Analysedimensionen von Öffentlichkeit nach Stöber
4. Öffentlichkeit als Dogma? WikiLeaks und die Öffentlichkeit
4.1 Das Verhältnis von WikiLeaks zur Öffentlichkeit
4.2 WikiLeaks als Form von Öffentlichkeit
4.3 Das Öffentlichkeitskonzept von WikiLeaks
4.4 Einordnung und Bewertung
5. Fazit und Ausblick
6. Quellenverzeichnis
1. Einführung
Kaum ein Thema hat die gesellschaftlichen und politischen Diskurse der letzten Monate so stark geprägt wie die Veröffentlichungen der Enthüllungsplattform WikiLeaks. Die Organisation kann mit Recht als ‚Phänomen‘ bezeichnet werden, verändert sie durch ihre Enthüllungen doch sowohl den Blick auf welt- und wirtschaftspolitische Prozesse als auch die Vorstellung davon, was ‚Öffentlichkeit‘ ist bzw. sein kann:
„WikiLeaks will den Regierungen dieser Welt nicht die politische Kontrolle entreißen, wohl aber die Kontrolle über ihr Herrschaftswissen. Plötzlich gibt es einen neuen Akteur, der sich das Recht herausnimmt, darüber mitzuentscheiden, was geheim bleibt.“ (Rosenbach/Stark 2011: 15)
Man kann die Organisation schlicht als neuen Akteur auf der Bühne massenmedialer Öffentlichkeit begreifen, oder aber in WikiLeaks eine neue Evolutionsstufe, ja eine logische Konsequenz in der Entwicklungskette politischer Öffentlichkeit von der antiken Versammlungs- über die neuzeitliche massenmediale Öffentlichkeit bis hin zur modernen Netzöffentlichkeit sehen - beide Betrachtungsweisen werden dem Phänomen WikiLeaks aufgrund seiner Komplexität und seiner vielschichtigen Beziehungen zu bestehenden Formen von Öffentlichkeit und deren Akteuren jedoch nicht gerecht. Im Zuge der folgenden Analyse wird davon ausgegangen, dass WikiLeaks eine eigene Form von Öffentlichkeit schafft, die zwar mit den bekannten Erscheinungsformen politischer und massenmedialer Öffentlichkeit interagiert, jedoch grundsätzlich eigenständig ist und sich in zentralen Merkmalen von diesen unterscheidet.
Ziel dieser Arbeit ist eine öffentlichkeitstheoretische Annäherung an das vieldiskutierte und gleichwohl umstrittene Phänomen WikiLeaks. Es soll aufgezeigt werden, welche Rolle Öffentlichkeit für die Organisation WikiLeaks spielt - sowohl als Lebensraum, in dem sie sich bewegt, als auch als herzustellenden Zielzustand - und welche konkrete Vorstellung von Öffentlichkeit den Funktions- und Handlungsweisen der Organisation zugrunde liegt. Zu diesem Zweck soll versucht werden, ein 2009 vom Öffentlichkeitstheoretiker Rudolf Stöber ursprünglich zur systematischen Analyse verschiedener Öffentlichkeitskonzepte entwickeltes Kategoriensystem auf die Öffentlichkeitsvorstellung der Organisation WikiLeaks anzuwenden, um auf dieser Basis eine kritische Betrachtung des Phänomens zu ermöglichen.
2. Das Phänomen WikiLeaks
2.1 Daten und Fakten
Bei WikiLeaks handelt es sich um eine international tätige Organisation, welche auf die anonyme Veröffentlichung geheimer Dokumente und Informationen im Internet spezia- lisiert ist. WikiLeaks wurde im Jahr 2006 von einer größtenteils namentlich unbekann- ten Gruppe Dissidenten, Journalisten und Mathematikern als „not-for-profit media or- ganisation“ (WikiLeaks: What is WikiLeaks?) gegründet. Seitdem pflegt und betreut ein wechselnder Kreis hauptsächlich unentgeltlich tätiger Mitarbeiter unter der Leitung des ehemaligen australischen Hackers Julian Assange die Internetplattform wikileaks.org, über die in loser Folge geheime Dokumente, Videos und andere Aufzeichnungen aus anonymen Quellen veröffentlicht werden (vgl. SZ: Wer ist WikiLeaks?). Finanziert wird das Projekt WikiLeaks durch Spenden von privaten Unterstützern und Stiftungen - diese Spenden umfassen sowohl direkte finanzielle Zuwendungen als auch die kosten- lose Bereitstellung von Dienstleistungen wie beispielsweise juristischen Beistand (vgl. Medien-Ökonomie-Blog: Leak-o-nomy. Die Ökonomie hinter WikiLeaks).
In den Fokus der breiten Öffentlichkeit rückte WikiLeaks erstmals im April 2010, als die Organisation im Rahmen einer Pressekonferenz Originalaufnahmen eines Luft- waffeneinsatzes der US-Armee in Bagdad präsentierte, bei dem insgesamt zwölf mut- maßlich unbewaffnete Zivilisten getötet wurden (vgl. WikiLeaks: Collateral Murder). Neben zahlreichen weiteren Veröffentlichungen führte vor allem die Publikation hun- derttausender geheimer Einsatzprotokolle aus dem Afghanistankrieg im Juli 2010 und tausendender interner US-Botschaftsdepeschen im November 2010 zu großem Medi- enecho. Regierungen und staatliche Institutionen rund um den Globus - allen voran die US-Regierung - kritisierten WikiLeaks für diese Veröffentlichungen und bezichtigten die Organisation des Verrats von Staatsgeheimnissen und der Sabotage. In den USA wird momentan geprüft, rechtliche Schritte gegen WikiLeaks und ihren Vertreter As- sange einzuleiten (vgl. u.a. N24: USA prüfen Anklage wegen Verschwörung).
2.2 Ziele, Vorgehensweise und Legitimation
Der Organisation WikiLeaks liegt die Leitidee des freien Zugangs zu jeder Form von öffentlich relevanter Information zugrunde: Hauptziel ist nach eigenen Angaben „to bring important news and information to the public“ (WikiLeaks: What is WikiLeaks?). WikiLeaks stellt die nötige Infrastruktur bereit, um der Öffentlichkeit Informationen zu- gänglich zu machen, die ihr bisher vorenthalten wurden. Im Gegensatz zu klassischen journalistischen Medien versucht WikiLeaks, politisch brisante Informationen möglichst ungefiltert, ungekürzt und anonymisiert zu veröffentlichen. Auf diese Weise soll größtmögliche Transparenz hinsichtlich welt- und wirtschaftspolitischer Entscheidungsprozesse geschaffen werden.
WikiLeaks tritt als Medium der Informationsvermittlung auf, welches publikati- onswürdige Interna aus verschiedensten Quellen zusammenträgt und diese dann ver- öffentlicht. Grundvoraussetzung für den Erfolg dieses Modells ist die Bereitschaft von privilegierten Besitzern einer Information, diese öffentlich zugänglich zu machen. Wiki- Leaks bietet seinen Informanten die Möglichkeit, Informationen anonymisiert, ver- schlüsselt und ohne persönlichen Kontakt online einzusenden (vgl. WikiLeaks: What is WikiLeaks?). Wird eine Information von der Organisation als veröffentlichungswürdig eingestuft, kann die Veröffentlichung je nach Umfang und Komplexitätsmaß des Mate- rials auf verschiedenen Wegen erfolgen: Einzelne Dokumente, Mitschnitte oder Bilder werden in der Regel direkt über das organisationseigene Internetportal zur Verfügung gestellt. Diese Veröffentlichungen werden gelegentlich öffentlichkeitswirksam durch Pressekonferenzen begleitet, wie es beispielsweise bei der Veröffentlichung von Origi- nalaufnahmen eines Luftwaffeneinsatzes der US-Armee in Bagdad im April 2010 der Fall war (vgl. Rosenbach/Stark 2011: 124f). Handelt es sich um große Datenmengen, die eine vorhergehende Selektion und umfassende Prüfung erfordern, arbeitet Wiki- Leaks zudem mit renommierten Printmedien zusammen - so geschehen beispielswei- se im Zuge der Veröffentlichung hunderttausender geheimer Einsatzprotokolle aus dem Afghanistankrieg im Juli 2010. WikiLeaks stellte die Dokumente dem deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel, der New Yorker Tageszeitung New York Times so- wie dem britischen Guardian zur Verfügung, welche diese dann prüften, journalistisch aufbereiteten und schließlich in einer koordinierten Aktion zeitgleich veröffentlichten (vgl. Rosenbach/Stark 2011: 158f).
Durch die Veröffentlichung oftmals brisanter, von staatlichen Stellen als geheim eingestufter Informationen rückte die Organisation ins Kreuzfeuer der Kritik verschie- dener Regierungsorganisationen und staatlicher Institutionen. Kritiker werfen Wiki- Leaks Spionage, Geheimnisverrat und Sabotage vor - WikiLeaks gefährde durch seine Enthüllungen das Leben von Soldaten (vgl. u.a. Phoenix: Kritik an WikiLeaks nach Veröffentlichung von US-Dokumenten hält an) und vergifte das diplomatische Klima (vgl. u.a. Spiegel Online: Empörung über Depeschenenthüllung). Die Organisation hält dagegen, man trage lediglich zur Transparenz politischer Entscheidungsprozesse bei und leiste einen unverzichtbaren Dienst an der Demokratie. WikiLeaks schreibt sich selbst die Rolle des Kämpfers für eine umfassende Informationsfreiheit zu, welche es um jeden Preis zu verteidigen gelte: „We are fearless in our efforts to get the unvarnished truth out to the public” (WikiLeaks: What is WikiLeaks?). WikiLeaks erhebt den Anspruch, journalistische Qualitätsstandards zu erfüllen und mit journalistischen Maßstäben gemess]en zu werden - es sieht sich als Teil des journalistischen Systems, von dem es sich jedoch gleichzeitig abzuheben versucht:
„WikiLeaks has provided a new model of journalism. […] Like a wire service, WikiLeaks reports stories that are often picked up by other media outlets. We encourage this. We believe the world’s media should work together as much as possible […].” (WikiLeaks: What is WikiLeaks?)
Aus diesem Selbstverständnis schöpft die Organisation einen wesentlichen Teil ihrer Legitimation. Sie tritt auf als Vorreiter einer Journalismuskultur, deren oberstes Primat Transparenz ist, und leistet Dienste am Allgemeinwohl, zu denen sie traditionelle jour- nalistische Formate nicht in der Lage sieht. Welches Verständnis von Öffentlichkeit diesem Anspruch zugrunde liegt, soll im Zuge der folgenden Analyse herausgearbeitet werden.
3. Öffentlichkeit als Phasenraum
3.1 Ausgangslage
In seinem Aufsatz „Öffentlichkeit/Öffentliche Meinung als Phasenraum“ (vgl. Stöber 2009) erarbeitet Rudolf Stöber ein Kategoriensystem zur systematischen Analyse von Öffentlichkeit und Öffentlichkeitskonzepten. Laut Stöber stelle Öffentlichkeit und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr ein „prinzipiell unabschließbares Thema“ dar (Stöber 2009: 53), zu dem es „tausendundeine Darstellung“ gebe (ebd.). Ziel Stö- bers ist folglich nicht, den zahlreichen Definitionen von Öffentlichkeit eine weitere hin- zuzufügen, sondern vielmehr durch die Exegese bestehender Konzepte und For- schungsansätze eine „historisch begründbare Systematik“ zu entwickeln (Stöber 2009: 53), mit der sich Formen und Funktionen von Öffentlichkeit kategorisieren und bewer- ten lassen. Grundgedanke der Ausführungen Stöbers ist die Annahme, bei dem wis- senschaftstheoretischen Konstrukt ‚Öffentlichkeit‘ handele es sich um einen stetigem Wandel unterworfenen „Phasenraum“, der je nach Ausprägung verschiedener ordnen- der Dimensionen unzählige Erscheinungsformen annehmen kann. Die von Stöber ge- nannten ordnenden Dimensionen ‚Verortung‘, ‚Trägerschaft‘, ‚Thema‘, ‚Modus‘ und ‚Zweck‘ sollen im Folgenden kurz erläutert werden, um sie anschließend als Heuristik auf das aus öffentlichkeitstheoretischer Sicht hochgradig interessante Phänomen WikiLeaks anwenden zu können.
3.2 Analysedimensionen von Öffentlichkeit nach Stöber
Die erste von Stöber erläuterte Analysedimension von Öffentlichkeit ist die ‚Verortung‘. Stöber skizziert die Entwicklung von Öffentlichkeit seit der Antike und zeigt auf, wie sich Öffentlichkeit räumlich betrachtet verändert hat. In der Antike sei die Grundvo- raussetzung für die Herstellung von Öffentlichkeit stets die Existenz öffentlich zugängli- cher Plätze und öffentlich agierender politischer Institutionen gewesen, es handelte sich folglich um stadt- bzw. siedlungsinterne Versammlungsöffentlichkeiten (vgl. Stöber 2009: 53). Auch im Mittelalter und noch in der frühen Neuzeit galten Städte als beson- dere Rechtsräume mit lokal eingrenzbaren Öffentlichkeiten. Mit der Herausbildung und Festigung von Territorialstaaten sei eine räumliche Erweiterung des Geltungsbereichs von Öffentlichkeit erfolgt, es handele sich jedoch immer noch um Versammlungsöffent- lichkeiten, die sich an konkreten Orten wie Parlamenten oder Gerichten manifestierten. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts seien dann vermehrt auch Massenmedien als öffent- licher Ort des Meinungsaustausches betrachtet worden. Massenmediale Öffentlichkeit sei jedoch nicht als Versammlungsöffentlichkeit zu verstehen, sondern vielmehr als „virtuelles Forum“ (Stöber 2009: 55). Dies kann in besonderem Maße auch für das In- ternet gelten. Aus der dargelegten historischen Entwicklung der räumlichen Dimension von Öffentlichkeit von der Versammlungsöffentlichkeit der Antike zur virtuellen mas- senmedialen Öffentlichkeit der Gegenwart leitet Stöber für die Dimension ‚Verortung‘ die Ausprägungen ‚Größe‘ und ‚Realität‘ ab.
Grundlage der Dimension ‚Trägerschaft‘ ist die öffentlichkeitstheoretisch gängi- ge antagonistische Unterscheidung von elitärem und antielitärem Öffentlichkeitsver- ständnis. Während beim elitären Konzept gesellschaftliche Eliten und Intellektuelle die Öffentlichkeit beherrschen und die Öffentliche Meinung prägen, dient Öffentlichkeit beim antielitären Konzept dazu, allen Mitgliedern einer Gesellschaft die Möglichkeit zur Artikulation eigener (öffentlicher) Meinungen einzuräumen, welche sich dann zu einer Öffentlichen Meinung verdichten. Die Massenmedien sind fester Bestandteil beider Konzepte: Je nach Öffentlichkeitsverständnis können sie als meinungsbildende Akteu- re oder als Orte des Meinungsaustausches auftreten, sie können eine elitäre Organ- funktion der öffentlichen Meinung oder eine nichtelitäre Spiegelfunktion der selbigen einnehmen.
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- Citar trabajo
- Jan Horak (Autor), 2011, Öffentlichkeit als Dogma? Eine öffentlichkeitstheoretische Annäherung an das Phänomen WikiLeaks, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/169711
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