Über die Akzeptanz sprachlicher Relativität im späteren 20. Jahrhundert bemerken Gentner & Goldin-Meadow (2003): „Admitting any sympathy for, or even curiosity about, this possibility was tantamount to declaring oneself to be either a simpleton or a lunatic“ (3). Spätestens ab den 1990er Jahren darf man jedoch ein neues Interesse an der Thematik, eine „Whorf-Renaissance“ (Werlen 2002: 248), konstatieren. Die Quintessenz dieser neueren Forschungslinie wird in einem Sammelband von Bowerman & Levinson (2001) prägnant auf den Punkt gebracht: „Some very moderate form of ’Whorfianism’ may be unavoidable“ (13).
In dieser Arbeit sollen mögliche Auswirkungen dieser Whorf-Renaissance auf den Englischunterricht im deutschsprachigen Raum erörtert werden.
[ca. 100 Titel in der Literaturliste]
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Teil: Sprachliche Relativität
1. Die Entdeckung sprachlicher Relativität
1.1 Frühe Vorgänger
1.2 Wilhelm von Humboldt
1.3 Benjamin Lee Whorf
1.4 Whorfs Rezeption
2. Kritik an sprachlicher Relativität
2.1 Sprachdeterminismus und Politik
2.2 Banalität
2.3 Mentalese
3. Sprache und Kognition
3.1 Sprache als soziales Phänomen
3.2 Sprache als grundlegende kombinatorische Fähigkeit
4. Die Whorf-Renaissance
4.1 Lautwahrnehmung
4.2 Genus
4.3 Raumkognition
4.4 S-Sprachen und V-Sprachen
5. Thinking for Speaking
II. Teil: Implikationen für den Englischunterricht
6. Thinking L1 for Speaking L2?
7. Sprachliche Relativität und Englischunterricht
7.1 Stanley
7.2 Alptekin & Alptekin
7.3 Scheu
7.4 Lee
7.5 Niemeier
7.6 Zusammenfassung
8. Die Rolle der Muttersprache(n)
8.1 Exkurs: Die kommunikative Wende im Englischunterricht
8.2 Die Muttersprache in der modernen kommunikativen Didaktik
8.3 Herkunftssprachen
9. Interkulturelle Kompetenz
10. Language awareness
11. Kognitive Linguistik und sprachliche Relativität
11.1 Konzeptuelle Metaphern
11.2 Konzeptuelle Metaphern im Fremdsprachenunterricht
Fazit
Literatur
Einleitung
Sprachliche Relativität bezeichnet - verallgemeinert ausgedrückt - den Einfluss der Muttersprache auf das Denken1 und wird im sprachwissenschaftlichen Diskurs oft mit dem Namen Benjamin Lee Whorf (1897-1941) assoziiert.2 Teilweise wird auch Bezug auf Whorfs Lehrer Edward Sapir (1884-1939) genommen, so dass das gesamte Theoriekontinuum auch mit dem Namen Sapir-Whorf-Hypothese gleichgesetzt wird. Gentner & Goldin-Meadow (2003) fassen die Sapir-Whorf-Hypothese in der Einleitung zu ihrem viel beachteten Sammelband folgendermaßen zusammen: „(1) Languages vary in their semantic partitioning of the world; (2) the structure of one’s language influences the manner in which one perceives and understands the world; (3) therefore, speakers of different languages will perceive the world differently“ (4).
Meist wird zwischen einer starken und einer schwachen Form dieser Hypothese unterschieden. In der starken Form bestimmt die Einzelsprache geradezu das Denken (Sprachdeterminismus). In der schwachen Form wird zwar ein gewisser Einfluss angenommen, Sprache ist hier jedoch nicht der einzige Einfluss auf das Denken und er wird darüber hinaus nicht als unüberwindbar angesehen. Diese letzte Form entspricht auch der hier zugrunde liegenden Vorstellung von sprachlicher Relativität. Nach Werlen (2002) besagt sprachliche Relativität, „dass jene Sprache(n), die ein Individuum als Teil einer Sprachgemeinschaft erworben und gelernt hat, die Art und Weise mit beeinflussen, wie die Welt von diesem Individuum als Wirklichkeit interpretiert wird; dieser Einfluss kann allerdings reflektierend aufgehoben werden“ (28).
Auf diese Definition wird sich im Folgenden bezogen, wenn von sprachlicher Relativität die Rede ist. In dieser dennoch recht plakativen Form, dass eine Einzelsprache beim Prozess der Weltinterpretation mitwirke, wundert es nicht, dass das relevante Forschungsfeld ein stark umkämpfter Schauplatz ist, in dem sich Befürworter und Gegner der Hypothese hitzige Debatten lieferten und noch liefern.
In der Epoche nach Chomskys generativer Revolution war in einem Großteil der Forschung jedwede Annahme verpönt, die menschliche Sprache gehorche nicht nur universalen Prinzipien, sondern reagiere auch auf Faktoren aus der unmittelbaren (Sprach-) Umgebung. In Chomskys Universalgrammatik wird Sprache als ein von anderen kognitiven Systemen getrenntes System aufgefasst, dass letztlich nur angeborenen Regeln folgt. Die vorherrschende Meinung in der kognitiven Psychologie war die, dass Konzepte bereits im Kopf existieren und die jeweilige Einzelsprache sie nur benennt. Über die Akzeptanz sprachlicher Relativität im späteren 20. Jahrhundert bemerken Gentner & Goldin-Meadow (2003): „Admitting any sympathy for, or even curiosity about, this possibility was tantamount to declaring oneself to be either a simpleton or a lunatic“ (3). Ferner stellen sie fest: „Discussions of language and thought were about as respectable as discussions of flying saucers“ (ebd.: 6).
Spätestens ab den 1990er Jahren darf man jedoch ein neues Interesse an der Thematik, eine „Whorf-Renaissance“ (Werlen 2002: 248),3 konstatieren. Diese Wiederbelebung wird unter anderem von Gopnik (2001) in Bezug auf einen Sammelband mit dem Titel Language acquisition and conceptual development wohlwollend mit den Worten aufgenommen: „If there is one clear conclusion to be drawn from this volume it is that, after decades of obloquy, Benjamin Whorf is back“ (45). Die Quintessenz dieser neueren Forschungslinie wird in selbigem Sammelband von Bowerman & Levinson (2001) prägnant auf den Punkt gebracht: „Some very moderate form of ’Whorfianism’ may be unavoidable“ (13).
In dieser Arbeit sollen mögliche Auswirkungen dieser Whorf-Renaissance auf den Englischunterricht im deutschsprachigen Raum erörtert werden.
Hierzu soll ein knapper Abriss zur historischen Entwicklung der Theorie der sprachlichen Relativität den Anfang machen (1. Kapitel). Im 2. Kapitel werden einige Argumente der Kritiker aufgegriffen. Der Titel dieser Arbeit verrät jedoch bereits eine gewisse Parteinahme zugunsten eines moderaten Einflusses, den die Einzelsprache haben kann. Diese Parteinahme begründet sich zum einen durch den Stellenwert, der einer natürlichen Sprache und ihrem Erwerb in einem soziokulturellen Kontext für den Aufbau kognitiver Fähigkeiten zukommt (3. Kapitel). Des Weiteren erscheint durch einen umfangreichen Korpus an neueren Studien, die Zusammenhänge zwischen Einzelsprache und kognitiven Fähigkeiten untersuchen, eine gewisse Wechselwirkung zwischen diesen beiden Größen alternativlos (4. Kapitel). Wie genau dieser Einfluss sich darstellt und demzufolge für den Englischunterricht zu bewerten ist, muss freilich erörtert werden. Vorweg sei jedoch ausdrücklich erwähnt, dass eine sprachdeterministische Sichtweise, die dem Sprecher einer
Einzelsprache gewissermaßen mentale Ketten anlegt, in jedem Fall übertrieben und haltlos erscheint. Solch eine Sicht wird auch nicht ernsthaft in der Sprachlehrforschung zu finden sein, deren zentraler Kern schließlich ist, dass fremde Sprachen lehrbar sind. Als Modell, das sich mit der Auffassung von sprachlicher Relativität einigermaßen gut verträgt, bietet sich Slobins (z.B. 2003) Modell des Thinking for Speaking an, welches im 5. Kapitel behandelt wird.
Im II. Teil werden die Implikationen dieser Überlegungen für den Englischunterricht herausgearbeitet. Das 6. Kapitel wird sich mit dem Problem des Thinking L1 for Speaking L2 auseinandersetzen. Dann wird im 7. Kapitel auf einige Autoren eingegangen, die in der Vergangenheit versuchten, die Theorie der sprachlichen Relativität auf die Fremdsprachendidaktik beziehungsweise auf die Erziehungswissenschaft zu übertragen. Im 8. Kapitel wird dann generell die Bedeutung der Muttersprache(n) im Englischunterricht behandelt. Das 9. Kapitel setzt sich mit der Verknüpfung von sprachlicher Relativität und dem übergeordneten Lernziel der interkulturellen Kompetenz auseinander, das 10. Kapitel erörtert die Verknüpfung mit dem didaktischen Ansatz der language awareness. Im 11. Kapitel wird eine Brücke geschlagen zur Kognitiven Linguistik, die eine Anzahl impliziter Annahmen mit der Theorie der sprachlichen Relativität teilt. Besonders Arbeiten von Niemeier (2001; 2003; 2004; 2005a; 2005b), die Erkenntnisse der Kognitiven Linguistik in den Fremdsprachenunterricht übertragen wollen, haben ein dezidiert sprachrelativistisches Gepräge und werden demnach dort behandelt.
I. Teil: Sprachliche Relativität
1. Die Entdeckung sprachlicher Relativität
1.1 Frühe Vorgänger
Überlegungen, dass Sprache und Denken eng miteinander verknüpft sind beziehungsweise dass die Sprache, die wir sprechen einen Einfluss auf unsere Gedanken haben könne, sind keineswegs erst mit Sapir und Whorf populär geworden. Spätestens seit dem 17. Jahrhundert lässt sich die Thematik bei Autoren wie Locke (1632-1704) oder Leibniz (1646-1716) und seit dem 18. Jahrhundert etwa bei Condillac (1715-1780), Michaëlis (1717-1791) oder Herder (1744-1803) finden.4
Bei Leibniz etwa findet man die Auffassung von der Sprache als einem Spiegel des Geistes: „Es ist bekannt, dass die Sprache ein Spiegel des Verstandes ist, und dass die Völker, wenn sie den Verstand hoch schwingen, auch zugleich die Sprache wohl ausüben, welches der Griechen, Römer und Araber Beispiele zeigen“ (Leibniz, hrsg. v. Schmied-Kowarzik 1916: 25, zitiert nach Werlen 2002: 102). Laut Werlen (2002: 103) fordert Leibniz in seinen Unvorgreiflichen Gedanken denn auch zu einer „Reinigung“ der deutschen Sprache auf und offenbart hiermit (zumindest an dieser Stelle) eine geradezu deterministische Sicht, die impliziert, dass das Denken und die dazugehörige Kultur durch entsprechende Maßnahmen an der Sprache verbessert werden könnten.5
Einen schädlichen Einfluss der Sprache auf Auffassungen und sogar auf das Handeln der Menschen hat laut Werlen (2002: 111) Michaëlis im Jahr 1760 betont. Er führt das Beispiel des Wortes Bergmehl an. Dieses Bergmehl bezeichnete eine bestimmte Form von Kalksand und wurde offensichtlich manchmal zu Zeiten von Hungersnöten (mit dementsprechenden gesundheitlichen Schäden) verspeist. Dies führt Michaëlis auf eben die Bezeichnung des Kalksandes mit Bergmehl zurück und unterstellt damit, dass dies bei einer anderen Benennung nicht passiert wäre. Die missverständliche Benennung einer physischen Entität habe hier also innerhalb derselben Sprachgemeinschaft Assoziationen hervorgerufen, die bei einer anderen Benennung nicht inhärent wären.
Herder (und vor ihm Condillac), so führt Werlen (2002) aus, betont den Stellenwert der geographischen und nicht zuletzt klimatischen Gegebenheiten für die Ausbildung einer Einzelsprache: „So wandelte sich diese Pflanze [die Einzelsprache, C.P.] nach dem Boden, der sie nährte, und der Himmelsluft, die sie tränkte“ (B. Suphan 1,2, zitiert nach Werlen 2002: 119). An dieser Aussage, die natürlich auch im übertragenen Sinn zu verstehen ist, wird deutlich, dass Sprache in einer Wechselwirkung zur Umwelt steht, die natürlich auch die soziale Umwelt einschließt. Die Sprache sei im Kontext zu sehen von „Sitte, Charakter und Ursprung des Volkes“ (B. Suphan 5,77f., zitiert nach Werlen 2002: 127). Werlen (2002) spricht in diesem Zusammenhang von einer „relativen Auffassung des Menschen“ (129) bei Herder. Wenngleich der Mensch biologisch überall dieselben Grundvoraussetzungen mitbringe, so sei er doch anpassungsfähig an seine Umgebung und entwickele so jeweils verschiedene Ausdrücke und Formen von Kultur. Herders
Überlegungen gipfeln schließlich in einer Art Sprachtypologie, die eindeutig klassifizierend gemeint ist. Für Herder existieren „Lebensalter“ (Werlen 2002: 120) der Sprachen. In Analogie zu den Lebensaltern des Menschen gibt es für ihn kindliche, jugendliche und reifere Sprachen. Die Einzelsprachen unterscheiden sich demnach in der Art und Weise wie sie fortgeschritten sind.
1.2 Wilhelm von Humboldt
Als direkter Vorläufer der Theorie der sprachlichen Relativität, wie sie im Zusammenhang mit der Sapir-Whorf-Hypothese verstanden wird, wird oft Wilhelm von Humboldt (17671835) genannt.6 Bei Humboldt (1836) ist die enge Verknüpfung zwischen Sprache und Denken wie folgt charakterisiert: „Die Sprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ist ihre Sprache; man kann sich beide nie identisch genug denken“ (LIII).
Hier findet sich die Vorstellung Leibniz’ wieder, dass die Sprachen den Geist ihrer Sprecher widerspiegeln. Auch die enge Verknüpfung einer Einzelsprache mit geistigen Eigenschaften einer ganzen Sprechergemeinschaft, wie sie im obigen Zitat von Herder anklingt, ist hier auffällig. In Humboldts Denken hat die Sprache an dem Aufbau einer Weltansicht eines Individuums wie auch an der einer ganzen Nation ihren Anteil:
„Da aller objectiven Wahrnehmung unvermeidlich Subjectivität beigemischt ist, so kann man, schon unabhängig von der Sprache, jede menschliche Individualität als einen eignen Standpunkt der Weltansicht betrachten. Sie wird aber noch viel mehr dazu durch die Sprache, da das Wort sich der Seele gegenüber auch wieder [] mit einem Zusatz von Selbstbedeutung zum Object macht, und eine neue Eigenthümlichkeit hinzubringt. In dieser, als der eines Sprachlauts, herrscht nothwendig in derselben Sprache eine durchgehende Analogie; und da auch auf die Sprache in derselben Nation eine gleichartige Subjectivität einwirkt, so liegt in jeder Sprache eine eigenthümliche Weltansicht.“ (Humboldt 1836: LXXIV)
Die durch Sprache vermittelte Weltansicht prägt so mitunter den Alltag des Menschen, was in folgendem Zitat deutlich wird: „Der Mensch lebt mit den Gegenständen hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängen, sogar ausschließlich so, wie die Sprache sie ihm zuführt“ (LXXIV f.). Die Sprache hat also die Kraft, dem Menschen bestimmte Vorstellungen von „den Gegenständen“ (ebd,) zu vermitteln. Es wäre allerdings verfehlt bei Humboldt nach einer klassifizierenden Unterscheidung der Sprachen zu suchen. Im Gegenteil hält Humboldt fest: „Die Erlernung einer fremden Sprache sollte daher die Gewinnung eines neuen Standpunktes in der bisherigen Weltansicht sein, und ist es in der That bis auf einen gewissen Grad, da jede Sprache das ganze Gewebe der Begriffe und die Vorstellungsweise eines Theils der Menschheit enthält“ (ebd: LXXV).
1.3 Benjamin Lee Whorf
Die modernere Forschung im 20. Jahrhundert ist, wie erwähnt, untrennbar mit den Namen Sapir und noch mehr mit dem Namen Whorf verknüpft.7 Folgendes oft verwendete Zitat soll den Kern von Whorfs Vorstellungen zu der Beziehung zwischen Sprache und Denken verdeutlichen:
„We dissect nature along lines laid down by our native languages. The categories and types that we isolate from the world of phenomena we do not find there because they stare every observer in the face; on the contrary, the world is presented in a kaleidoscopic flux of impressions which has to be organised by our minds. We cut nature up, organise it into concepts, and ascribe significances as we do, largely because we are parties to an agreement to organise it in this way - an agreement that holds throughout our speech community and is codified in the patterns of our language.“ (Carroll 1956: 213)
Hier wird Sprache als eine Art Instrument vorgestellt, mit dem man die natürlichen Phänomene der Umgebung seziert. Der Stellenwert der Sprache bei diesem epistemologischen Vorgang wird hier sehr hoch eingeschätzt, andere sensorische Möglichkeiten werden zumindest an dieser Stelle ausgeblendet. Die äußere Welt stellt einen „kaleidoscopic flux of impressions“ (ebd.) dar, und dieser Fluss braucht irgendeine Form von sprachlichem System, um ihn zu organisieren und dem „mind“ (ebd.) zugänglich zu machen. Es gibt aufgrund der Verschiedenheit der Sprachen nach Whorf bestimmte Muster nach denen dies geschieht. Diese Muster variieren demnach zwischen den Sprachgemeinschaften und sind in den Sprachen selber mittels „agreement“ (ebd.) enkodiert. In seinem Essay Linguistics As An Exact Science bietet Whorf eine noch genauere Definition für das, was er „linguistic relativity principle“ (Carroll 1956: 221) nennt. Er hält fest, dass „users of markedly different grammars are pointed by their grammars toward different types of observations and different evaluations of externally similar acts of observation, and hence are not equivalent as observers but must arrive at somewhat different views of the world“ (Carroll 1956, 221). Es gibt also sprachinhärente Konventionen („grammars“ (ebd.)), die für den Sprecher einer Einzelsprache jeweils unterschiedliche Phänomene („types of observations“ (ebd.)) in den Fokus rücken. Die Zitate Whorfs implizieren eine starke Korrelation zwischen der Umwelt und dem Geist. Dies ist der eigentliche Kern - und gleichzeitig einer der hauptsächlichen Streitpunkte der Hypothese, denn wenn es so etwas wie einen Einfluss einer Sprache auf das Denken geben sollte, dann muss davon ausgegangen werden, dass das, was wir Denken oder Geist nennen durch äußere Reize formbar ist und eben nicht (nur) angeboren, wie es das universalistische Paradigma vorschreibt. In diesen Zusammenhang passt der folgende Ausspruch Werlens (2002): „Relativität setzt einen Menschen voraus, der nicht schon vollständig vorausbestimmt ist, der vielmehr erziehbar und lernfähig ist und durch Erziehung und Lernen verändert werden kann“ (6). Dieser Glaube an Erziehung und Veränderbarkeit ist letztlich die Prämisse für jeglichen schulischen Unterricht und somit auch für den Fremdsprachenunterricht.
1.4 Whorfs Rezeption
Nach Whorf entwickelten sich Strömungen in der Sprachwissenschaft, die sich vornehmlich mit seiner Thematik, wenngleich sich nicht immer explizit auf ihn beziehend, auseinandersetzten.
Für den deutschsprachigen Raum sind hier laut Lehmann (1998) etwa Weisgerber8 mit seiner inhaltsbezogenen Grammatik,9 oder Leisi10 sowie Gipper zu nennen. Gipper (1972), wiederum Schüler Weisgerbers, setzte sich dezidiert mit der Sapir-Whorf Hypothese auseinander und schloss so im Sinne einer schwachen Form sprachlicher Relativität:
„Der menschliche Geist hat die Freiheit, von den endlichen Mitteln der verfügbaren Sprache unendlichen Gebrauch zu machen. Doch was er auch immer sprachlich zum Ausdruck bringen mag nie kann er völlige Unabhängigkeit und Absolutheit erreichen. In diesem eingeschränkten und modifizierten Sinne darf von einem sprachlichen Relativitätsprinzip gesprochen werden“ (248).
Im angloamerikanischen Raum konstatiert Werlen (2002) für die fünfziger und sechziger Jahre drei Tendenzen der Auseinandersetzung mit dem Thema:
1. Die psycholinguistische Tendenz, die Hypothese empirisch zu überprüfen. Hierher gehören etwa die Untersuchungen zu den Farbbezeichnungen in verschiedenen Sprachen und deren Einfluss auf Farbwahrnehmung. Verknüpft ist diese Herangehensweise etwa mit Lenneberg und Brown, die laut Werlen auch dazu beitrugen, dass die deterministische Seite Whorfs Theorie zu Unrecht fokussiert wurde.
2. Die ethnosemantische und ethnolinguistische Tendenz, die etwa mit Lounsbury oder Goodenough verbunden ist. Hier wird naturgemäß ein großer Fokus auf die Kulturen gelegt und versucht, Unterschiede in den Sprachen aus den kulturellen Gegebenheiten heraus zu erklären.
3. Tendenzen in der Soziolinguistik. Werlen sieht hier Berührungspunkte mit der Defizithypothese, die besagt, dass mangelnde Sprachkenntnisse (auch innerhalb einer Sprachgemeinschaft) zu mangelnden kognitiven Fertigkeiten führen. (Nach Werlen 2002: 241f.).
Die Sapir-Whorf Hypothese erfuhr ab den 1970ern zwar weniger Aufmerksamkeit, dennoch kam Bloom (1981) nach einer umstrittenen Studie11 mit englischsprachigen und chinesischsprachigen Teilnehmern zu dem Schluss, „that distinct languages, by labelling certain perspectives on reality as opposed to others, act (1) to encourage their speakers to extend their repertoires of cognitive schemas in language-specific ways and (2) to define for their speakers that particular sets of schemas they can make use of to mediate their linguistic acts and to establish explicit points of mental orientation for giving direction to their thoughts“ (83). Bloom wertet die Ergebnisse seiner Untersuchung folglich als Beleg für eine abgeschwächte Form der sprachlichen Relativität.
Seit den 1990ern gibt es, wie oben erwähnt, ein neues Interesse an der sprachlichen Relativität. Dieses wird gesondert im 4. Kapitel behandelt.
Im Zuge der Diskussion um die Validität der Hypothese sei noch erwähnt, dass laut Werlen (2002) einige befürwortende Autoren von einer wissenschaftlichen NichtÜberprüfbarkeit der Hypothese ausgehen und in ihr eher eine metaphysische Einsicht verstehen. In dieses Spektrum zählt Werlen (2002: 244) Autoren wie Friedrich, Alford oder Fishman. Solche Interpretationen führten auf der relativitätskritischen Seite zu noch deutlicherer Ablehnung und sogar zur Diskreditierung Whorfs als Mystiker, wie dies bei
Pinker (1994) offensichtlich ist: „No one is really sure how Whorf came up with his outlandish claims, but his limited, badly analyzed sample of Hopi speech and his long-time leaning toward mysticism must have contributed“ (63). Pinker exemplifiziert hier zudem eine Position in der Sprachwissenschaft, die Whorf schon alleine deswegen nicht ernst nimmt, weil er als Quereinsteiger zu gelten hat, der weder einen akademischen Abschluss in Linguistik hatte, noch hauptberuflich in einem sprachwissenschaftlichen oder assoziierten Feld gearbeitet hat, sondern bei einer Versicherung tätig war. Whorfs extensive Auseinandersetzung mit etwa den nordamerikanischen Sprachen und seine Publikationen, auch in angesehenen Fachorganen, werden bei dieser Darstellung jedoch gerne vernachlässigt.
2. Die Kritik an sprachlicher Relativität
Die Überlegungen zur sprachlichen Relativität und deren Eingang in sprachwissenschaftliche Theorien sind, wie oben angedeutet, nicht ohne Kritik geblieben. Einige Kritikpunkte beziehungsweise Gegenpositionen sollen im Folgenden dargestellt werden.
2.1 Sprachdeterminismus und Politik
Das obige Zitat von Pinker, in dem er Whorf aufgrund seiner „mystischen“ Interessen (Pinker 1994: 63) als für die Sprachwissenschaft unwürdig diskreditiert, verrät eine kategorische Ablehnung der sprachlichen Relativität respektive des Sprachdeterminismus, denn für Pinker gibt es offensichtlich keinen wirklichen Unterschied zwischen diesen beiden Formen.12 Seine kategorische Ablehnung wird möglicherweise verständlicher, wenn man sich das folgende Zitat Willa & Edwin Muirs (1966) anschaut: „One could deduce Hitler’s Reich from the ruthless shape of the German sentence“ (96). Hier wird die formale Seite der Sprache einer bestimmten Sprechergemeinschaft mit Charaktereigenschaften eines Volkes, mehr noch, mit der ganzen politischen Organisation eines Volkes verknüpft.13 Dabei wird auf besonders drastische Weise ein Einfluss der Sprache auf Verhaltensweisen von Menschen postuliert und implizit Whorfs Theoriekomplex zugeschrieben. House (2000) bemerkt zu solchen Lesarten: „Reading cognitive-behavioral implications into language structure in this way is, of course, a total misuse of Humboldt and Whorf“ (75). Wer solcherart sprachdeterministisch Sprache und Wirklichkeit analysieren möchte, der kann letztlich alle politischen und sozialen Phänomene mit der Struktur einer Einzelsprache in Verbindung bringen. Was für ein absurder und unzulässiger Vorgang dies ist, dürfte unbestritten sein. Wenn man solche Auswüchse als einzige Lesart Whorfs annimmt, scheint eine kategorische Ablehnung à la Pinker gerechtfertigt.
Solche Schlussfolgerungen aus Whorfs Theoriekomplex zu ziehen, sind allerdings mehr als verkürzt und werden dem Humanismus Whorfs nicht gerecht. Im Gegenteil hat Chapman (2006) darauf hingewiesen, dass Whorf „was keen to point out that there was no difference in sophistication, or in expressive power, between a Native American language and English“ (109). In Whorfs eigenen Worten wird dies ebenso deutlich: „We shall no longer be able to see a few recent dialects of the Indo-European family, and their rationalizing techniques elaborated from their patterns, as the apex of the evolution of the human mind“ (Carroll 1956: 218). Herders „Lebensalter“ der Sprachen lassen sich also bei Whorf nicht finden.
Es erscheint wichtig, diesen humanistischen Charakter Whorfs zu betonen, denn wenn man sich von der gefährlichen Lesart emanzipiert,14 dann kann man gerade diese Theorie dazu verwenden, interkulturelles Verständnis aufzubauen. Die Einsicht, dass viele zwischenkulturelle Konflikte auf unterschiedlichen Wahrnehmungen der sozialen Realität15 beruhen und diese Wahrnehmungen sowohl kulturell als auch sprachlich weitertransportiert werden, kann helfen, die tatsächlichen Unterschiede aufzudecken und zu überbrücken. Eine universalistische Sichtweise wie sie Pinker und Chomsky vertreten, die zwar augenfällig den Sprechern verschiedener Sprachen je gleiche Denkmuster zugesteht, sich also implizit Völker verbindend gebärdet, bietet sich für diese Bewusstmachung ungleich schlechter an. Hier scheinen real existierende Unterschiede systematisch ausgeblendet zu werden.
Altertum als hoch entwickelte Kulturen zu gelten haben, eben so eine hohe Entwicklung auch für ihre Sprachsysteme bescheinigt wird.
Es geht in der hier unterstützten Lesart der sprachlichen Relativität aber eben nicht darum, diese Unterschiede klassifizierend im Sinne Herders „Lebensalter“ der Sprachen zu bewerten, sondern zum besseren Verständnis (das fremdsprachendidaktische Stichwort hierzu ist Fremdverstehen)16 zu benutzen, um so völkerverbindend zu wirken. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, die Wirkungen der Sprache auf Individuen besonders im Kontext des Fremdsprachenlernens - weder zu unterschätzen noch zu überschätzen. Es gibt keine Sprache, die einem vorschreiben könnte, was man denken soll. Darüber hinaus gibt es keine Sprache in der Faschismus, Imperialismus oder sonst eine Ideologie angelegt sein könnte. Dennoch transportiert Sprache kulturelle Inhalte.
2.2 Banalität
Eine weitere Traditionslinie der Kritik versucht die vermeintliche Banalität der Whorfschen Erkenntnisse darzustellen. Besonders eindeutig ist das bei Devitt und Sterelny (1987) zu sehen, die ungewollt in der Formulierung ihrer Kritik einen wichtigen Impetus hinsichtlich des Nutzens der sprachlichen Relativität nicht übergehen können: „The argument for an important linguistic relativity evaporates under scrutiny. The only respect in which language clearly and obviously does influence turns out to be rather banal: language provides us with most of our concepts“ (Devitt and Sterelny 1987: 178, zitiert nach Gentner & Goldin-Meadow 2003: 3).
Zumindest aus der Sicht der Sprachlehrforschung und der Fremdsprachendidaktik ist es kaum vorstellbar, dass jemand den Umstand, dass Sprache uns mit unseren „concepts“ (ebd.) versorgt, als banal klassifiziert. Devitt and Sterelny mögen dabei daran gedacht haben, wie banal es ist, von verschiedenen Worten für Schnee in der Inuit-Sprache auf eine reichere Schnee-Kategorie in ihren Vorstellungen zu schließen.17 Es gebe zwar in dieser Sprache mehr Worte für Schnee als etwa im Gebrauch des durchschnittlichen Englischsprechers, weil die physische Realität in der Umgebung der Sprecher mehr verschiedene Sorten von Schnee bereithält. Das sei aber noch kein Beweis dafür, dass die Sprache das Denken beeinflusse. Das antirelativistische Argument lautet an dieser Stelle, dass es immer da wo die örtlichen Gegebenheiten es erfordern, zu Ausdifferenzierungen von Kategorien kommt. Pinker (1994) hat darauf hingewiesen, dass es im Englischen ebenfalls mit sleet, slush, blizzard, avalanche, hail, hardpack, powder, flurry, dusting, snizzling Ausdifferenzierungen und ergo ebenfalls mehrere Konzepte in der Schnee- Kategorie gibt (Pinker 1994: 64). Dieser Darstellung lässt sich sicherlich kaum widersprechen.
Es ist aber unter fremdsprachendidaktischer Sicht keineswegs banal, wenn bestimmte Konzepte in einer Sprache enkodiert sind und in einer anderen nicht. Dieser Umstand wird im II. Teil der Arbeit wieder berücksichtigt.
2.3 Mentalese
Eine große Rolle bei der Ablehnung der sprachlichen Relativitätstheorie spielt die Vorstellung einer Gedankensprache (mentalese), die allen Menschen gleich ist, und aus der und in die immer übersetzt wird, wenn ein Mensch eine sprachliche Äußerung produziert oder rezipiert. Die Vorstellung dieser Sprache des Geistes ist ebenso eng verknüpft mit einer angenommenen Modularität des menschlichen Geistes. Die Verfechter dieser Modularity of mind 18 sehen die verschiedenen kognitiven Fertigkeiten des Menschen als voneinander getrennte Systeme an. Pinker (1994) kommentiert den Übersetzungsprozess wie folgt: „Knowing a language, then, is knowing how to translate mentalese into strings of words and vice versa. People without a language would still have mentalese” (82).
Mentalese ist also eine universale Sprache, deren jeder mächtig ist, und die sich unabhängig von äußeren Reizen in jedem Individuum gleich ausbildet. Die Einzelsprache des Menschen ist nichts anderes, als eine reine Repräsentation dieses mentalese. Der Geist funktioniert demnach wie der Prozessor eines Computers, der mit einem „fixed set of reflexes“ (Pinker 1994: 78) nichtsprachliche Symbole miteinander kombiniert, um sie dann in Sprache zu übersetzen. Die Hauptaufgabe der kognitiven Psychologie sei es demnach „to figure out what kind of representations and processors the brain has“ (Pinker 1994: 78). Diese auch computational theory of mind genannte Vorstellung ist für Pinker der Beleg, dass eine Einzelsprache gar keinen Einfluss auf unser Denken ausüben könne, weil a) wir alle mit derselben kognitiven Ausstattung auf die Welt kommen und b) die Modularität der kognitiven Systeme im Grunde keine Verbindung zwischen äußeren Reizen und innerer Verarbeitung zulässt. Die einzige Richtung, in der hier Informationen laufen können, ist die vom Prozessor des Geistes zur Sprachäußerung.
Diese Position ist in der kognitiven Psychologie lange Zeit populär gewesen, doch sie wirft ein unmittelbares Problem auf: Wie gelangen unter diesen Voraussetzungen und bei absoluter kognitiver Modularität neue Konzepte in unseren Kopf? Kommen Kinder mit der Vorstellung von Atomenergie oder Quantenphysik auf die Welt und warten nur darauf, dass sie über das entsprechende Lexem stolpern, um dieses Konzept endlich zu benennen? Das nächste Kapitel wird sich ausführlicher mit der Rolle der Sprache für die Ausbildung kognitiver Fähigkeiten, und so mit einer Überbrückung der Modularität der kognitiven Systeme befassen, hier sei nur kurz auf eine direkte Antwort auf obiges Zitat von Pinker verwiesen, nachdem Menschen ohne Sprache trotzdem mentalese hätten. Bowerman & Levinson (2001) bemerken hierzu „As any scholar knows , acquiring a new representation can radically alter the way one thinks about a problem“ (12). Sie verweisen etwa auf den Bereich verschiedener Zahlensysteme. Komplexe Rechenoperationen lassen sich mit dem arabischen Zahlensystem leichter vollführen als mit den römischen Zahlen. Die Übernahme des arabischen Systems stellte den Erwerb einer neuen Repräsentation dar, welche die kognitive Fähigkeit des Rechnens erleichterte. Diese neue Repräsentation musste gelernt werden, und sie muss auch heute von Kindern gelernt werden, um sie erfolgreich anzuwenden.19 Es mag also sein, dass jemand ohne Sprache jene Gedankensprache besitzt, jedoch muss bezweifelt werden, dass dieses mentalese für die Erklärung der einzigartigen menschlichen Intelligenz ausreicht. In der dem Menschen eigenen Intelligenz, die ihn ganz offenbar von anderen Lebewesen unterscheidet, könnte durchaus die Entwicklung einer Sprache eine bedeutende Rolle spielen. Diese Sprache, die freilich nicht immer verbal sein muss, hilft uns beim Erschließen der Welt und befähigt uns zum Lernen von abstrakten Konzepten. Dies wird im nächsten Kapitel eingehender behandelt.
3. Sprache und Kognition
“Es ist aber bei dem Gebrauch der Sprache auch dieses sonderlich zu betrachten, dass die Worte nicht nur der Gedanken, sondern auch der Dinge Zeichen sind, und dass wir Zeichen nötig haben, nicht nur unsere Meinung andern anzudeuten, sondern auch unsern Gedanken selbst zu helfen.“ (Leibniz, hrsg. Schmied-Kowarzik 1916: 26, zitiert nach Werlen 2002: 103)
Bisher wurde versucht, die Debatte um sprachliche Relativität historisch zu fassen. Einige Traditionslinien wurden angedeutet und einige Argumente der Kritiker wurden vorgestellt.
In den folgenden zwei Kapiteln soll die implizite Parteinahme für eine moderate sprachliche Relativitätstheorie auf eine solidere Basis gestellt werden. In diesem Kapitel soll auf die Rolle der Sprache an sich, also jedweder erworbenen natürlichen Sprache, in ihrer Bedeutung für die menschliche Kognition, eingegangen werden. Wie obiges Zitat von Leibniz verdeutlicht, ist auch die Vorstellung einer kognitiven Funktion der Sprache nicht neu. Humboldt (1836) sprach bekanntermaßen in diesem Zusammenhang von Sprache als „bildendem Organ des Gedanken“ (LXVI). Zur Verdeutlichung des Stellenwertes einer natürlichen Sprache für die kognitive Entwicklung schauen wir uns folgendes Zitat von Helen Keller (1880-1968) an, die nach einer Krankheit im Alter von 19 Monaten gehörlos wurde und ihre Sehkraft verlor. Dies ist zugegebenermaßen ein wissenschaftlich nicht verifizierbares Zitat, dennoch ist es geeignet, die Problematik dieses Kapitels zu umreißen: „Before my teacher came to me, I did not know that I am. I lived in a world that was a no-world. I cannot hope to describe adequately that unconscious, yet conscious time of nothingness. I did not know what I knew aught, or that I lived or acted or desired. I had neither will nor intellect” (Keller 1909: 141, zitiert nach Silby 2000: 45). Diese Lehrerin, Anne Sullivan, die hier dafür verantwortlich gemacht wird, Keller aus dieser „no-world“ (ebd.) in der sie „neither will nor intellect“ (ebd.) hatte, herausgeholt zu haben, hat ihr im Alter von 6 Jahren ein Mittel an die Hand gegeben, mit dem sie anfangen konnte, die Phänomene der physischen Welt, die sie hauptsächlich natürlich haptisch begreifen musste, zu ordnen und intellektuell zu verarbeiten. Diese Lehrerin schrieb ihr Worte in die Hand, etwa das Wort Wasser nachdem sie Keller Wasser hat anfassen lassen. Daraufhin kam es auch bei Helen Keller zu einer Art naming explosion, denn sie hatte nun die Möglichkeit die Phänomene, die sie umgaben, zu benennen. Sie berichtete später, dass dies sie befähigte einen inneren Monolog zu entwickeln, der die Form von Worten hatte, die in ihre Hand geschrieben wurden. Dieses Beispiel deutet die Funktion einer natürlichen Sprache für die menschlichen kognitiven Fähigkeiten an. Es scheint in diesem Fall so zu sein, dass erst der Erwerb eines Sprachsystems, das Schreiben von Worten in Kellers Hand, sie befähigt hat in einen Austausch mit der Welt zu treten beziehungsweise die Phänomene der Welt gedanklich zu fassen.
3.1 Sprache als soziales Phänomen
Die gerade dargestellten Überlegungen stehen im Einklang mit Piagets Postulat einer „egocentric speech“ (Piaget 1932: 9, zitiert nach Silby 2000: 39) bei Kindern. Kinder produzieren (im Normalfall) sprachliche Laute und dabei ist beachtenswert, dass “a child does not bother to know to whom he is speaking nor whether he is being listened to” (ebd.). Dies ist von Piaget so interpretiert worden, dass hier Sprache nicht zur kommunikativen Verwendung produziert wird, sondern ganz offensichtlich einem anderen Zweck dient. Der naheliegendste Zweck ist wohl der, dass das Kind hier die Sprache benutzt, um Phänomene der realen Welt epistemologisch zu strukturieren und einzuordnen. Die Sprache hilft dem Kind also, allgemein gesprochen, beim Denken.20 Sie funktioniert als Werkzeug zur Welterschließung und je nach Akzeptanz dieses Sachverhaltes könnte man soweit gehen zu sagen, dass die Sprache hier nicht nur eine kognitive Funktion erfüllt, sondern geradezu kognitiv ist.21 Zumindest aber weist dieser Sachverhalt auf eine starke Korrelation zwischen Sprache und Denken hin und scheint die Einsicht zu ermöglichen, dass mitunter tatsächlich in der Sprache gedacht wird, ohne stets mentalese gebrauchen zu müssen.22
Dies deckt sich mit den Annahmen Vygotskys (1978), der behauptet: „The child begins to perceive the world not only through his eyes, but also through speech. As a result, the immediacy of ‘natural’ perception is supplanted by a complex mediated process; as such, speech becomes an essential part of the child’s cognitive development” (32, zitiert nach de Villiers & de Villiers 2003: 348). Wir haben es hier also mit einem starken soziokulturellen Einfluss zu tun, mit dem die sprachliche Umwelt direkt auf die kognitive Entwicklung des Kindes einwirkt.23 Diese Vorstellung stellt die logische Ergänzung zu Piagets egocentric speech dar, denn logischerweise kann das Kind nur anfangen die Sprache als kognitives Instrument zur Welterschließung zu verwenden, wenn es eine Sprachumgebung hat, die ihm Bezeichnungen für Phänomene (also Worte) zur Verfügung stellt. Vygotskys soziokulturelle Theorie des Geistes hat der Fremdsprachendidaktiker Zydatiß (2001) zusammengefasst. Er erklärt,
„dass die psychologischen Prozesse und kognitiven Funktionen des Menschen (also auch Sprache und Denken) zunächst über ein ’externalisiertes’ kooperatives Interaktionsverhalten mit anderen Menschen in sozialen Bezügen und mithilfe semiotischer ’Werkzeuge’ entstehen, bevor sie vom Individuum ’internalisiert’ werden und damit dem Einzelnen als persönlicher ’Besitz’ zur freien Verfügbarkeit und zur Vermittlung (mediation) seiner physischen, sozialen und mentalen Aktivitäten bereitstehen“ (52).
Diese Sicht von Sprache als einem sozialen Phänomen, das zudem eine konkrete kognitive Aufgabe hat, verträgt sich natürlich nicht mit der Vorstellung von absoluter Modularität, in der Sprache nur ein Vehikel darstellt, um das mentalese zu übersetzen. Bei Pinker (1994) sind die Konzepte inhärent und werden durch Sprache nur öffentlich. Er schreibt: „Since mental life goes on independently of particular languages, concepts of freedom and equality will be thinkable even if they are nameless” (82).24 Vielleicht gibt es ein angeborenes diffuses Freiheitsgefühl, vielleicht sogar einen Freiheitsdrang, doch dass ein Konzept wie freedom, in all seinen Facetten und vor allem mitschwingenden Konnotationen komplett ausgeprägt sein soll, bevor wir eine Sprache lernen, erscheint zumindest problematisch. Ist es nicht eher die Sprache in ihrer sozial-kognitiven Funktion, die maßgeblich dazu beiträgt, dass wir abstrakte Konzepte in all ihren Facetten ausbilden können? Dies entspräche wohl eher der Vorstellung Vygotskys, nach der die Konzepte von außen sprachvermittelt an das Kind herangetragen werden können.
Es mag grundlegende Konzepte geben, die tatsächlich angeboren sind und im Pinkerschen Sinne tatsächlich keine Sprache brauchen, um für das Individuum konzeptualisierbar zu sein,25 doch für die Mehrheit der abstrakten Konzepte muss dies bezweifelt werden. Levinson (2003) bemerkt hierzu: „If languages only label antecedently existing concepts, the set of those concepts must include every possible concept lexicalizable in every possible language - a billion or more to be sure. So how will knowing that the needle is already in the haystack help the child find the one correct concept to match to a particular acoustic wave?” (42). Ähnlich kritisch in Bezug auf angeborene Konzepte formuliert Tomasello (2003): „It is difficult to think of how or why, in the absence of linguistic communication, a child or adult might choose to construct all of the many different perspectives on things that are routinely symbolized in human languages” (53). Diese beiden Autoren lehnen also eine Angeborenheit aller Konzepte deutlich ab. Die Sprache als Medium hat für sie einen ganz deutlich konstitutiven Charakter und fungiert eben nicht nur als Transportmittel. Dies wird auch besonders deutlich von Jäger (2002) formuliert:
„Die im Zuge ihrer Prozessierung in Zeichenhandlungen material erscheinende Medialität von Sprachzeichen fungiert nicht lediglich als Transportmittel sprachunabhängiger, medienindifferenter mentaler Entitäten, sondern gleichsam als Möglichkeitsbedingung solcher Entitäten. Medialität ist insofern eine wesentliche Voraussetzung von Mentalität (als Gesamtheit aller mentalen Prozesse und Strukturen)“ (Jäger 2002: 49).
Wir halten also fest, dass Sprache ganz dezidiert daran beteiligt ist, dass Konzepte überhaupt erst im Kopf repräsentiert werden können. Diese Behauptungen von einem Zusammenhang zwischen Sprache und Kognition sind in verschiedenen Studien überprüft worden.26 Bei de Villiers & de Villiers (2003) wurden gehörlose Kinder und deren Fähigkeit abstrakte Gedanken zu haben, untersucht. Die Ergebnisse deuten klar darauf hin, dass jene die früher eine Zeichensprache erlernten auch früher diese abstrakte kognitive Fähigkeit zeigten.27 Nach de Villiers und de Villiers ist „language [] intricately entwined with the meanings and concepts it conveys, and the emphasis is on learning by doing” (347). Die Konzepte werden also sprachlich vermittelt und maßgeblich durch die sprachliche Anwendung gelernt.
3.2 Sprache als grundlegende kombinatorische Fähigkeit
Eine überzeugende Erklärung für die Wirkung der Sprachfähigkeit auf unsere kognitiven Fähigkeiten liefert Spelke (2003). Sie behauptet, dass „natural languages provide humans with a unique system for combining flexibly the representations they share with other animals” (291). Spelke möchte erklären, wie es kommen kann, dass Menschen überhaupt verstehen, was sie hören oder lesen „when virtually every sentence they encounter is new to them” (295f.). In einer Reihe von Studien hat sie nachgewiesen, dass sowohl Tiere als auch Kleinkinder dieselben core knowledge systems (278) besitzen. Das sind verschiedene Wissenssphären, wie etwa Raumkognition oder Farbwahrnehmung. In ihrer kognitiven Grundausstattung, so könnte man also annehmen, unterscheiden sich Mensch und Tier gar nicht. Es ist nach Spelke die kombinatorische Fähigkeit des Menschen, die ihn vom Tier unterscheidet und so seine einzigartige Intelligenz erklärt.
In ihren Untersuchungen stellte Spelke heraus, dass die core knowledge systems gewisse Beschränkungen aufweisen.28 Aufgrund dieser Beschränkungen ist es Tieren und Kleinkindern nicht möglich, diese miteinander zu verbinden. So zeigten Ratten in einem Versuch zwar die Fähigkeit sich innerhalb der geozentrischen Wissenssphäre zu orientieren.
[...]
1 Ein grundlegendes Problem in der Diskussion ist sicher die Frage, was man unter Denken genau zu verstehen hat. Hier wird der Rahmen zunächst bewusst weit gehalten und mit Werlen (2002) darunter „die Aufnahme, Speicherung, Verarbeitung und Produktion von Information“ (22) verstanden.
2 Whorfs Aufsätze sind größtenteils in den 1930er Jahren entstanden. Die prominenteste gesammelte Veröffentlichung einer Auswahl seiner Schriften erfolgte durch Carroll (1956).
3 Die deutlichsten Ergebnisse dieser Renaissance sind in Gumperz & Levinson (1996), Niemeier & Dirven (2000), Bowerman & Levinson (2001) sowie Gentner & Goldin-Meadow (2003) zusammengefasst.
4 Siehe hierzu ausführlich Werlen (2002: 91-131).
5 Siehe jedoch Werlen (2002), der darlegt, dass Leibniz’ Ansichten in dieser Sache keineswegs deutlich dem universalistischen oder relativistischen Spektrum zugeordnet werden können: „Leibniz’ Theorie ist also abstrakt universal, antideterministisch und konkret relativ und teilweise deterministisch“ (105).
6 So bemerkt etwa Lehmann (1998), „dass Humboldt eigentlich alle wesentlichen Elemente der modernen Version der Relativitätshypothese (der deutschen und amerikanischen) klar ausgedrückt und diskutiert hat nur eben in der wissenschaftlichen Terminologie des 19. Jahrhunderts“ (58).
7 Siehe ausführlich dazu Carroll (1956), oder für eine modernere Zusammenfassung Whorfs Schriften etwa Lee (1996) sowie Werlen (2002).
8 Lehmann (1998) spricht gar von einer Sapir-Whorf-Weisgerber Hypothese.
9 Z.B. Weisgerber (1962) Von den Kräften der Deutschen Sprache.
10 Z.B. Leisi (1957) Der Sprachinhalt.
11 Untersucht wurden Reaktionen auf kontrafaktische Konstruktionen. Die chinesischen Probanden lösten diese Probleme signifikant schlechter als englischsprachige, was Bloom auf das Fehlen der Möglichkeit eines Irrealis im Chinesischen zurückführt. Siehe jedoch Au 1983, die die Ergebnisse anzweifelt und Blooms Antwort 1984, der die Anzweiflung anzweifelt.
12 Zwar unterscheidet Pinker (1994) zwischen „linguistic determinism“ (57) und „its weaker version, linguistic relativity“ (ebd.) jedoch gleich im Anschluss heißt es: „But it is wrong, all wrong. The idea that thought is the same thing as language is an example of what can be called a conventional absurdity“ (ebd.). Die völlige Identität von Sprache und Denken wird aber allgemein nur mit der deterministischen Lesart assoziiert.
13 Ähnlich liegt der Fall im obigen Zitat von Leibniz gelagert, wo Griechen, Römer und Araber, die im 9
14 Siehe House (2000), die bemerkt, diese Lesart sei „perhaps not completely absent from much of today’s allegedly deconstructuvist, politically correct, feminist and critical discourse analysis“ (75). Auch bei Pinker wird man den Eindruck nicht los, dass er stets die deterministische Lesart angreift, wenn er sprachliche Relativität diskutiert.
15 Hier wird keineswegs ausgeschlossen, dass Menschen in ihren grundlegenden sensorischen Wahrnehmungen, wie etwa der Farbwahrnehmung, eine universelle Grundausstattung haben, die auch durch eine Einzelsprache nicht verändert werden kann. Die soziale Realität ist aber ungleich komplexer, und es wird sehr wohl davon ausgegangen, dass diese Realität durch die habituelle Aufnahme von verschiedenen Meinungen, Traditionen, Vorurteilen usw. verschieden interpretiert wird. An diesem Aufnahmeprozess hat auch die Sprache ihren Anteil.
16 Siehe Bredella & Christ 1995.
17 Dieses ist eines der Lieblingsbeispiele der Whorf-Kritik, siehe Pinker (1994: 64f.), der genüsslich aus Pullum (1991) zitiert. Dieser hatte sich in diesem Zusammenhang ausführlich über sprachliche Relativität belustigt.
18 So der Titel eines der programmatischen Werke aus dieser Strömung (Fodor 1983).
19 Siehe jedoch Wynn (1992), wo dargelegt wird, dass bereits Kinder im Alter von fünf Monaten, Fähigkeiten der Substraktion und Addition zeigen. Die grundlegende Fähigkeit zu rechnen scheint also durchaus angeboren zu sein. Das schließt jedoch nicht aus, dass über Sprache ein System erworben wird, dass diese grundlegende Fähigkeit ausbaut.
20 Mit Bezug auf Werlens Definition von Denken (Fußnote 1) hieße das wohl, dass die Sprache die Prozesse der Aufnahme, der Speicherung, sowie der Verarbeitung von Information (mit)ermögliche.
21 Siehe Tomasello (2003), der sagt, dass „language does not affect cognition; it is one form that cognition can take” (56).
22 Zur Kritik an Piagets Entwicklungsstufen und deren Vereinbarkeit mit linguistischer Entwicklung siehe Bowerman & Levinson( 2001: 10).
23 Siehe hierzu auch Gentner & Goldin-Meadow (2003: 7).
24 Pinker bezieht sich hier auf den bekannten Roman 1984 von George Orwell, in dem Orwell die künstliche Sprache Newspeak kreierte, mit dessen Hilfe die Freiheit der Menschen in einem utopisch-totalitären Staat unterdrückt werden sollte.
25 Man denke etwa an die Konzepte von Raum oder Gleichgewicht, die notwendigerweise in jedem Lebewesen ausgebildet sein müssen. Doch schon bei den allgegenwärtigen und haptisch fassbaren Phänomenen wie Wasser und Erde oder Materialien wie Holz, Pflanzen, etc. kann man nicht sicher sein, dass diese Konzepte jedem Menschen vertraut sind, bevor er sie zum ersten mal sieht oder erlebt. Die Tatsache, dass jeder Mensch Wasser kennt, schließt nicht aus, dass er das Konzept Wasser erst einmal lernen musste.
26 Siehe etwa de Villiers & de Villiers (2003) oder Tomasello (2003).
27 Zu den Details siehe de Villiers & de Villiers (2003: 344f.).
28 Diese sind nach Spelke (2003: 291) domain specific, task specific, encapsulated, und isolated.
- Quote paper
- Christofer Pape (Author), 2010, Sprachliche Relativität und ihre Implikationen für den Englischunterricht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/169274
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