Das Leitbild nachhaltiger Entwicklung kann als aufkeimende Antwort auf die wachsenden sozialen und ökologischen Probleme gesehen werden, welche durch anthropogene Eingriffe zumindest mitverursacht wurden. Doch was umfasst das Leitbild nachhaltiger Entwicklung alles? Welche Faktoren beeinflussen individuelles (wirtschaftliches) Handeln? Und ist eine Bildung für nachhaltige Entwicklung im Rahmen des Wirtschaftslehreunterrichts angesichts der "Eigensinnigkeit" des Wirtschaftssystems (Gewinnmaximierung) nicht per se ein Widerspruch?
Zunächst wird in dieser Arbeit ein Überblick über das Leitbild nachhaltiger Entwicklung und die hier vertretene Bildungsauffassung gegeben, diese in einem ersten Schritt verknüpft und in den Wirtschaftslehreunterricht eingeführt. Als Nächstes werden handlungsbeeinflussende Faktoren aus psychologischer und systemtheoretischer Perspektive beschrieben sowie die Systemtheorie als Erklärungsansatz für die Eigensinnigkeit gesellschaftlicher Teilsysteme dargestellt. Schließlich werden die einzelnen Perspektiven zu einer Bildung für nachhaltige Entwicklung zusammengeführt, die Passung zum Wirtschaftslehreunterricht hergestellt und die Möglichkeiten und Grenzen einer ökonomischen Bildung für nachhaltige Entwicklung skizziert.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
0. Vorbemerkung
1. Theoretische Grundlagen
1.1 Das Leitbild nachhaltiger Entwicklung
1.1.1 Geschichte des Begriffs
1.1.2 Ökologische und soziale Probleme als Entstehungshintergrund des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung und deren Zusammenhang mit wirtschaftlichem Handeln
1.1.3 Zentrale Aspekte des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung
1.1.3.1 Inter- und Intragenerationelle Gerechtigkeit
1.1.3.2 Retinitätsprinzip und zentrale Dimensionen der Nachhaltigkeit
1.1.3.3 Managementregeln und Nachhaltigkeitsstrategien
1.1.3.4 Die Bedeutung individuellen Handelns
1.2 Bildung
1.2.1 Der Bildungsbegriff nach ROTH
1.2.2 Das Konzept der kategorialen Bildung nach KLAFKI
1.3 Bildung und nachhaltige Entwicklung - eine erste Synthese
1.4 Der Wirtschaftslehreunterricht
2. Handlungsbeeinflussende Faktoren im Hinblick auf ein nachhaltiges Handeln
2.1 Konstrukte und Erklärungsansätze der Psychologie
2.1.1 Klassifikationskriterien menschlichen Handelns
2.1.2 Situative Barrieren
2.1.3 Kognitionen und Affekte
2.1.4 Wahrnehmung und Lernen
2.1.4.1 Wahrnehmung
2.1.4.2 Lernen
2.1.5 Wissen
2.1.6 Motivation
2.1.7 Attributionsprozesse
2.1.8 Das Selbst
2.1.9 Einstellungen
2.1.10 Normen und Werte
2.2 Die Theorie autopoietischer Systeme nach Luhmann
2.2.1 Beobachtung als systemspezifische Unterscheidung
2.2.2 Komplexität und Kontingenz
2.2.3 Autopoiesis und Selbstreferenz
2.2.4 Soziale und psychische Systeme - Beziehungen und Unterschiede
2.2.4.1 Semantische Codes
2.2.4.2 Reflexion
2.3 Psychologische Erklärungsansätze und Systemtheorie - eine erste Synthese im Hinblick auf das Handeln
2.4 Systemtheorie als Erklärungsansatz für die Eigensinnigkeit des ökonomischen Teilsystems
2.5 Das Sinnmodell der fortschrittsfähigen Organisation nach KIRSCH
3. Bildung für nachhaltige Entwicklung
3.1 Zentrale Aspekte einer Bildung für nachhaltige Entwicklung
3.2 Bildung für nachhaltige Entwicklung im Rahmen des Wirtschaftslehreunterrichts
3.2.1 Grundsätzliche Vereinbarkeit ökonomischer Bildung mit einer Bildung für nachhaltige Entwicklung
3.2.2 Ziele und Abgrenzung einer Bildung für nachhaltige Entwicklung im Rahmen des Wirtschaftslehreunterrichts
3.2.3 Die moralische Dimension einer Bildung für nachhaltige Entwicklung im Rahmen des Wirtschaftslehreunterrichts
3.2.4 Handlungsbeeinflussende Faktoren im Zusammenhang mit einer Bildung für nachhaltige Entwicklung im Rahmen des Wirtschaftslehreunterrichts
3.2.4.1 Wissen
3.2.4.2 Einstellungen, Normen und Werte
3.2.4.3 Wahrnehmung und Lernen
3.2.4.4 Motivation, Attribution und das Selbst
3.2.5 Didaktische und methodische Konsequenzen
3.2.5.1 Didaktische Konsequenzen
3.2.5.2 Methodische Konsequenzen
3.2.6 Konsequenzen für die Wirtschaftspädagogik
4. Fazit
Literaturverzeichnis
Ehrenwörtliche Erklärung
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
0. Vorbemerkung
„Bildung ist eine unerläßliche Voraussetzung für die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung und die Verbesserung der Fähigkeit des Menschen, sich mit Umwelt- und Entwicklungsfragen auseinanderzusetzen.“1
Dieser Satz, der dem 36. Kapitel der Agenda 21 entnommen ist, soll verdeutlichen, welche Bedeutung der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung zugemessen wird.2 Mittlerweile beschäftigen sich viele Wissenschaftsdisziplinen mit Bildung für eine nachhaltige Entwick- lung; besonders hervorzuheben ist hier vor allem die Ökopädagogik.3 Auch die Wirtschafts- pädagogik befasst sich mit diesem Thema, allerdings hauptsächlich in Bezug auf die berufli- che Bildung. Was einen allgemeinen Wirtschaftslehreunterricht betrifft, scheint hier eine Lü- cke zu bestehen, welche im Rahmen dieser Arbeit zumindest ansatzweise geschlossen werden soll.
Zielsetzung dieser Arbeit ist es, einerseits die Grundlagen für eine Bildung für nachhaltige Entwicklung herauszuarbeiten, andererseits deren Möglichkeiten und Grenzen im Rahmen des Wirtschaftslehreunterrichts auszuloten. Damit soll versucht werden, sowohl einen theoretisch fundierten Unterbau für eine Bildung für nachhaltige Entwicklung zu skizzieren als auch Folgerungen für eine Umsetzung im Rahmen des Wirtschaftslehreunterrichts zu ziehen. Dieses Vorhaben erscheint bereits aufgrund der vorgegebenen quantitativen Restriktionen dieser Arbeit beinahe vermessen; angesichts des schier grenzenlosen Umfangs der Thematik und der in diesem Umfang zu bearbeitenden Theorien bleibt alleine die Möglichkeit, nötige theoretische Grundlagen in aller gebotenen Kürze darzustellen.
Im 1. Kapitel dieser Arbeit wird ein kurzer Überblick über das Leitbild nachhaltiger Entwicklung und die hier vertretene Bildungsauffassung gegeben, diese in einem ersten Schritt verknüpft sowie in den Wirtschaftslehreunterricht eingeführt.
Davon zunächst scheinbar unabhängig werden im 2. Kapitel handlungsbeeinflussende Fakto- ren aus psychologischer und systemtheoretischer Perspektive (die nicht nur in Bezug auf das Handeln eine für diese Arbeit wesentliche Grundlage darstellt) genannt sowie die Systemtheorie als Erklärungsansatz für die Eigensinnigkeit gesellschaftlicher Teilsysteme dargestellt.
Im 3. Kapitel werden die einzelnen Perspektiven des 1. Kapitels zu einer Bildung für nachhaltige Entwicklung verknüpft, die Passung zum Wirtschaftslehreunterricht hergestellt sowie die Möglichkeiten und Grenzen einer ökonomischen Bildung für nachhaltige Entwicklung unter Zuhilfenahme der im 2. Kapitel herausgearbeiteten relevanten Faktoren skizziert.
Im 4. Kapitel erfolgt eine kurze, abschließende Stellungnahme des Verfassers.
Die dieser Arbeit zugrundeliegende erkenntnistheoretische Position ist konstruktivistisch. Es wird davon ausgegangen, dass die reale Welt nicht per se abgebildet, sondern Wirklichkeit auf der Basis vorhandener kognitiver Strukturen konstruiert wird.4 Diese Wirklichkeitskon- struktionen finden im Rahmen einer Kultur und bestimmter sozialer Verhältnisse und Interak- tionen statt, die sich auch auf wissenschaftliche Erkenntnis auswirken; die hier vertretene Auffassung des Konstruktivismus ist daher die eines sozialen Konstruktivismus.5 Im Rahmen dieser Position geht es nicht um Wahrheit, sondern um Viabilität. Es kann keinen absoluten Wahrheitsanspruch im Sinne einer Übereinstimmung der Erkenntnis mit der Realität geben; an dessen Stelle tritt die Viabilität: Was sich als passend, kohärent und kompatibel erweist, wird angenommen.
1. Theoretische Grundlagen
In diesem Kapitel wird das Fundament für die weitere Arbeit gelegt, indem die wesentlichen Grundbegriffe nachhaltige Entwicklung, Bildung sowie der Wirtschaftslehreunterricht inhaltlich dargestellt werden.
1.1 Das Leitbild nachhaltiger Entwicklung
„Die Menschheit steht an einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte. Wir erleben eine zunehmende Ungleichheit zwischen Völkern und innerhalb von Völkern, eine immer größere
Armut, immer mehr Hunger, Krankheit und Analphabetentum sowie eine fortschreitende Schädigung der Ökosysteme, von denen unser Wohlergehen abhängt.“6
Mit diesen Worten beginnt die Agenda 21, das von 179 Staaten unterzeichnete zentrale Ab- schlussdokument der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung, die 1992 in Rio de Janeiro stattfand. Sie stellt ein globales Aktionsprogramm für das 21. Jahrhundert dar, mit dem so- wohl der Schädigung der Ökosysteme als auch der zunehmenden sozialen Ungleichheit ent- gegengewirkt werden soll. Sie zielt auf eine nachhaltige Entwicklung ab und wurde zu einer wichtigen neuen Orientierungsgröße in Politik, Wirtschaft, Forschung und Wissenschaft.7
1.1.1 Geschichte des Begriffs
Nachhaltige Entwicklung ist die mittlerweile im deutschen Sprachraum am weitesten verbreitete und auch in der deutschen Fassung der Rio-Dokumente verwendete Übersetzung des englischen Begriffs sustainable development.8 Dieser entstammt ursprünglich der Forstwirtschaft des 18./19. Jahrhunderts.9 Der Ursprung des Leitbildes nachhaltiger Entwicklung ist jedoch später zu verorten; seine Entstehung steht in engem Zusammenhang mit zwei Diskussionen, die in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts begannen: Die Diskussion um den Nord-Süd- Ausgleich, die sich mit der Frage eines gerechten Ausgleichs zwischen Industrie- und Entwicklungsländern beschäftigt sowie die Diskussion um die Endlichkeit natürlicher Ressourcen, Naturzerstörung und das rapide Bevölkerungswachstum.10
Popularität erlangte der Nachhaltigkeitsbegriff durch den 1987 erschienene Bericht „Unsere gemeinsame Zukunft“ der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, der auch als wichtiger auslösender Faktor für die 1992 in Rio de Janeiro abgehaltene UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gilt.11
1.1.2 Ökologische und soziale Probleme als Entstehungshintergrund des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung und deren Zusammenhang mit wirtschaftlichem Handeln
Wie bereits die in gebotener Kürze dargestellte Geschichte des Begriffs vermuten lässt, kann das Leitbild nachhaltiger Entwicklung als aufkeimende Antwort auf die wachsenden sozialen und ökologischen Probleme gesehen werden, welche durch anthropogene Eingriffe zumindest mitverursacht wurden. Der Bericht „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome aus dem Jahre 1972 kann wohl als das Werk gelten, mit dem zum ersten Mal eine breite Öffentlichkeit auf die vorherrschenden ökologischen und sozialen Probleme aufmerksam gemacht wurde.
Eine vollständige Aufzählung sämtlicher Probleme würde hier zu weit führen, jedoch seien an dieser Stelle einige exemplarisch erwähnt:12
- Ökologische Probleme: Klimaveränderungen, Biodiversitätsverlust, Süsswasserver- knappung, Bodendegradation
- Soziale Probleme: Armut, Benachteiligung sozialer Gruppen, unwürdige Arbeitsbe- dingungen13
Wie sich unschwer erkennen lässt, sind dies nur relativ globale Oberbegriffe, unter denen viele Probleme zusammengefasst sind.
Die vorherrschenden ökologischen Probleme sind zwar bekannt, doch besteht bzgl. der Zusammenhänge im globalen Ökosystem noch Forschungsbedarf. Aufgrund der ungeheuren Komplexität dieser Zusammenhänge und den hier nicht selten auftretenden räumlichen und zeitlichen Unterschieden zwischen Verursachung und Wirkung14 erscheint es durchaus möglich, dass weitere ökologische Problematiken in Zukunft zu Tage treten könnten.
Durch anthropogene Einwirkung verursachte ökologische Probleme lassen sich primär als Folge von Ressourcenübernutzungen erklären. Eine Kategorisierung natürlicher Ressourcen kann nun grob einerseits anhand der Ressourcenfunktion als Quelle oder Senke, andererseits anhand der Regenerierbarkeit als erneuerbar oder nicht erneuerbar erfolgen.
Die vorherrschenden sozialen Probleme sind vielseitig; Kategorisierungsversuche erscheinen hier relativ schwierig. Auf Basis einer Kategorisierung nach anthropogeographischen Kriterien lassen sich einerseits Disparitäten zwischen Ländern/Regionen bzw. Ländergruppen (die Disparitäten zwischen Industrie- und Entwicklungsländern), andererseits Disparitäten innerhalb derselben feststellen.15
Hinsichtlich der sozialen Probleme sind besonders deren kulturelle und entstehungsgeschichtliche Hintergründe zu betrachten. Im Hinblick auf die Disparitäten zwischen Ländern/Regionen bzw. Ländergruppen ist dabei in historischem Sinne weit zurückzublicken; besonderes Augenmerk kommt hierbei der Kolonialisierung zu, deren Mitverantwortlichkeit für die heutige Situation vieler Entwicklungsländer (z.B. Monokulturen im Exportsektor etc.) sicherlich nicht zu bestreiten sein dürfte.
Zur wechselseitigen Bedingtheit ökologischer und sozialer Probleme sei hier exemplarisch lediglich die armutsbedingte Landübernutzung erwähnt, welche Bodenerosion verursacht, deren indirekte Konsequenz wiederum weitere Verarmung der Bevölkerung ist.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ökologische und soziale Probleme oft einherge- hen. Wesentliche Bedeutung bzgl. der Verursachung selbiger kommt wirtschaftlichem Han- deln zu, sowohl seitens der Konsumenten, als auch seitens der Produzenten. Die Volkswirt- schaftslehre und die Ökologische Ökonomie analysieren die (externen) Effekte, die Handlun- gen von Akteuren des Wirtschaftssystems auf einzelne Ökosysteme bzw. das globale Ökosys- tem haben.16 Dadurch, dass natürliche Ressourcen nicht mit ihren wahren, sondern zu gerin- gen bzw. keinen Kosten in die Optimierungskalküle der wirtschaftlich handelnden Akteure eingehen, kommt es zu deren Übernutzung.17 Diese Übernutzung steht in eklatantem Wider- spruch zur Tatsache, dass das Wirtschaftssystem langfristig nur auf Basis eines intakten Öko- systems existieren kann; im kurzfristigen Gewinn- und Nutzenmaximierungskalkül der Ak- teure im Wirtschaftssystem wird dies jedoch nicht berücksichtigt. Die kurzfristige ökonomi- sche Rationalität des Maximierungskalküls widerspricht somit einer langfristigen Rationalität, welche auf den Bestandserhalt der Gesellschaft und somit auch des Wirtschaftssystems selbst abzielt.
Wirtschaftliches Handeln ist somit in seinen Konsequenzen nicht ausschließlich auf das Wirtschaftssystem bezogen; diese erstrecken sich auch auf dessen Umwelt und können einerseits ökologischer, andererseits sozialer Art sein.18 Im Zusammenhang mit dem Leitbild nachhaltiger Entwicklung ist dies von besonderer Bedeutung.
1.1.3 Zentrale Aspekte des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung
Das Konzept nachhaltiger Entwicklung ist eine regulative Idee, eine Vision für die Gestaltung einer möglichen und wünschenswerten Zukunft, kurz: ein Leitbild. In der wissenschaftlichen Literatur findet sich mittlerweile eine kaum mehr überschaubare Vielfalt an Definitionen zum Leitbild nachhaltiger Entwicklung, die sich teils nur begrifflich, teils aber auch inhaltlich un- terscheiden. Eine erste inhaltliche Annäherung liefert der Brundtland-Bericht (s.o.), in dem nachhaltige Entwicklung beschrieben wird als „...Entwicklung, die die Bedürfnisse der Ge- genwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“19
1.1.3.1 Inter- und Intragenerationelle Gerechtigkeit
Bereits in diesem ersten Zugriff wird ein erster Aspekt deutlich: Den Bedürfnissen künftiger Generationen wird eine hohe Bedeutung zugemessen. Dies ist der zukunftsethische Aspekt des Leitbildes nachhaltiger Entwicklung, der auf intergenerationelle Gerechtigkeit abzielt.
Jedoch wird nicht nur Gleichheit bzgl. der Lebenschancen zwischen einzelnen Generationen, sondern auch innerhalb einer Generation angestrebt; als gegenwartsethischer Aspekt des Leit- bilds nachhaltiger Entwicklung steht somit die Forderung nach intragenerationeller Gerech- tigkeit.
Hieraus folgt jedoch keineswegs eine einheitliche inhaltliche Sichtweise einer nachhaltigen Entwicklung, sondern es finden sich die unterschiedlichsten Positionen, sei es hinsichtlich der vertretenen ethischen Grundposition (ökozentrisch oder anthropozentrisch), sei es hinsichtlich des zugrundeliegenden Gerechtigkeitskonzepts (Bedürfnis-, Leistungs- oder Verteilungsgerechtigkeit) oder sei es hinsichtlich des Primats intra- oder intergenerationeller Gerechtigkeit.20
Betont werden muss, dass das Leitbild nachhaltiger Entwicklung keinesfalls auf eine rein ökologische Komponente reduziert werden darf (auch wenn diese ein essentieller Bestandteil des Leitbilds ist); ebenso zentral wie die ökologische Komponente, welche direkt aus dem zukunftsethischen Aspekt ableitbar ist, da ein intaktes globales Ökosystem die zentrale Le- bensgrundlage (nicht nur) für künftige Generationen darstellt, ist die aus dem gegenwartsethi- schen Aspekt folgende soziale Komponente, welche auf einen Abbau sozialer Disparitäten abzielt.
1.1.3.2 Retinitätsprinzip und zentrale Dimensionen der Nachhaltigkeit
Da nun wirtschaftliches Handeln, wie bereits oben erwähnt, in seinen Folgen nicht ausschließ- lich auf das Wirtschaftssystem beschränkt bleibt, sondern auch ökologische sowie soziale Auswirkungen hat, ist im Rahmen des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung das Retinitätsprin- zip von zentraler Bedeutung: Aufgrund der vielfältig vernetzten Zusammenhänge innerhalb des globalen Ökosystems, zwischen diesem und den menschlichen Gesellschaftssystemen sowie innerhalb dieser ist es unerlässlich, diese holistisch zu betrachten, um auch die Wech- selwirkungen zwischen ökologischem, ökonomischem und sozialem System zu erfassen und somit die Verantwortbarkeit der Auswirkungen entscheiden zu können.21 Die jeweiligen, in diesen Systemen angestrebten Ziele sollen nicht voneinander abgespalten, sondern in einem globalen Zusammenhang miteinander vernetzt und integrativ betrachtet werden. Dies impli- ziert nun einerseits eine globale Betrachtungsweise, andererseits sind stets kulturelle Belange einzelner Gesellschaften mit zu berücksichtigen. Insgesamt kann somit von drei zentralen Dimensionen des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung gesprochen werden: der ökonomischen, der ökologischen und der sozialen Dimension.22
Als Ziele einer nachhaltigen Entwicklung sind für die ökonomische Dimension etwa eine Steigerung der Lebensqualität anstelle quantitativen Wirtschaftswachstums (dies ist mit nach- haltiger Entwicklung nicht vereinbar, da eine weitere Übernutzung der natürlichen Ressour- cen die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit immer mehr gefährdet; als unmittelba- re Konsequenz für eine nachhaltige Entwicklung ergibt sich zunächst in Bezug auf das öko- nomische System eine „... Abkehr vom traditionellen wirtschaftlichen Wachstums- und Fort- schrittsmodell.“23), ein hoher Beschäftigungsgrad und Preisniveaustabilität zu nennen; als zentrales Ziel im Rahmen der ökologischen Dimension gilt die Erhaltung des Naturkapitals; die Ziele im Rahmen der sozialen Dimension beziehen sich auf die Verwirklichung inter- und intragenerationeller Gerechtigkeit und den Abbau sozialer Disparitäten, z.B. soziale Sicher- heit, Wohlstand, Frieden und Gleichberechtigung.24
1.1.3.3 Managementregeln und Nachhaltigkeitsstrategien
Zur Umsetzung der ökologischen Ziele wurden Managementregeln und Nachhaltigkeitsstrategien formuliert. Die Managementregeln stellen Bedingungen für anthropogene Eingriffe in das globale Ökosystem dar und beziehen sich auf den Abbau erneuerbarer und nicht erneuerbarer Quellen, das Ausmaß der Nutzung von Senken, die zeitliche Dimension anthropogener Eingriffe sowie auf die Vermeidung von Gesundheitsgefährdungen.25 Von den Nachhaltigkeitsstrategien, welche nach FISCHER entwickelt wurden, um die Managementregeln realisieren zu können, seien hier die vier populärsten kurz angeführt:26
- Die Effizienzstrategie, die auf eine Steigerung der Ressourcen- und Energieprodukti- vität abzielt.
- Die Suffizienzstrategie, die eine umweltverträglichere Gestaltung von Konsum- und Lebensstilen anstrebt.
- Die Konsistenzstrategie, deren Ziel die Vereinbarkeit anthropogener Stoff- und Ener- gieströme mit den natürlichen Stoffwechselprozessen ist.
- Die Permanenzstrategie, deren Ansatzpunkte langlebigere bzw. dauerhaftere Produkte und Materialien sind.
Ähnlich konkretisierte Leitlinien zu ökonomischen und sozialen Nachhaltigkeitszielen liegen jedoch bisher nicht vor.
Zur Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung ist eine globale Zusammenarbeit unvermeidlich, da die sozialen, ökologischen und ökonomischen Auswirkungen der Wirtschafts- und Lebensweise einer Nation nicht auf deren Region, Gesellschaft und Kultur beschränkt, sondern global sind. Wesentliche Bedeutung kommt hier der Schaffung geeigneter Rahmenbedingung seitens der politischen Handlungsträger zu.
1.1.3.4 Die Bedeutung individuellen Handelns
Im Rahmen des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung ist jedoch dem individuellen Handeln eine mindestens ebenso große Bedeutung zuzumessen, die umso größer wird, je weiter der Prozess der Globalisierung, also das „...erfahrbare Grenzenloswerden menschlichen Han- delns...“27 fortschreitet, da die Konsequenzen individuellen Handelns immer mehr globaler Natur sind.28 Somit ist für eine nachhaltige Entwicklung das verantwortliche Handeln von Individuen von zentraler Bedeutung; da individuelle Freiheit, hier konkret auf das Entschei- den und Handeln bezogen, zugleich Bedingung wie (soziales) Ziel einer nachhaltigen Ent- wicklung ist, kann eine nachhaltige Entwicklung nicht seitens politischer Handlungsträger „oktroyiert“ werden (wobei hier keinesfalls geleugnet wird, dass seitens dieser geschaffene Rahmenbedingungen im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung unterstützend wirken können), sondern muss auf gesellschaftlicher Ebene diskutiert werden, da eine nachhaltige Entwicklung letztlich von der Gesellschaft getragen werden muss. Deutlich wird hier, dass die Bedeutung, die dem Individuum zukommt, sich keineswegs alleine aus dessen Konsumhand- lungen ableitet, sondern auch aus dessen Partizipation am gesamtgesellschaftlichen Diskurs.
Bereits aus dieser besonderen Bedeutung, die verantwortlichem individuellem Handeln im Rahmen des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung zukommt, kann auch die Bedeutung von Bil- dung im Zusammenhang mit einer nachhaltigen Entwicklung abgeleitet werden, welche das Leitbild impliziert. Auch im Rahmen der Agenda 21 spielt Bildung für eine nachhaltige Ent- wicklung eine zentrale Rolle; ihr wurde darin nicht nur ein eigenes Kapitel gewidmet, sondern auch in anderen Kapiteln wird immer wieder auf die Bedeutung von Bildung für eine nachhaltige Entwicklung hingewiesen.
1.2 Bildung
Der Bildungsbegriff - ein Begriff, dessen Geschichte bis zu Platon zurückreicht und der einen vielfachen Bedeutungswandel erfuhr - nimmt innerhalb der Pädagogik eine zentrale Stellung ein und ist aus dieser Disziplin nicht wegzudenken.29 Dies war jedoch nicht immer so; beson- ders in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts war der Bildungsbegriff in heftige Kritik geraten.30 Dass der Bildungsbegriff diesen Angriffen standhielt, liegt an seinem beson- deren Gehalt, der über den anderer pädagogischer Begriffe wie Qualifikation oder Kompetenz hinausgeht. Bildung dient im Rahmen der Pädagogik als übergeordnete Orientierungs- und Beurteilungskategorie für pädagogische Maßnahmen; Bildung ist somit der oberste Maßstab.
1.2.1 Der Bildungsbegriff nach ROTH
Im Gegensatz zur Erziehung, welche stets in einem bestimmten Kommunikations- und Handlungszusammenhang erfolgt, bezeichnet des weiteren der Bildungsbegriff einerseits den Prozess sowie andererseits das Ergebnis; die starke prozessuale Komponente wird besonders bei ROTH deutlich, der Bildung beschreibt als „...nicht endende[n; G.H.] Entwicklungszustand, der den Menschen befähigt, möglichst umfassend die Welt zu erkennen, sich in ihr zurechtzufinden, sich mit den Problemen der Welt und mit den Fragen der Zeit auseinanderzusetzen, sie zu verstehen sowie wertend und verantwortungsvoll damit umzugehen.“31
Ebenso lassen sich hieraus die beiden wesentlichen Aspekte des Bildungsbegriffs extrahieren:
- Aneignung und Gestaltung von Kultur
- Entfaltung der Persönlichkeit
Aneignung und Gestaltung von Kultur umfasst einerseits eine rezeptive Komponente, d.h. die Auseinandersetzung mit materiellen, sozialen sowie geistigen kulturellen Errungenschaften (Regeln, Deutungsmuster, Sprache, Gebäude, etc.), um dadurch die Welt erkennen, sich darin zurechtfinden sowie die Probleme der Welt und die Fragen der Zeit verstehen zu können. Ein rein rezeptives Aneignen von Kultur wäre jedoch verkürzt und an sich noch nicht „bildungsgerecht“, würde hier nicht andererseits noch die gestaltende Komponente hinzukommen. Bildung soll in diesem Sinne zu gesellschaftlicher Partizipation, zur aktiven Teilhabe, zur Mitbestimmung an kulturellen Veränderungsprozessen befähigen.
Der Aspekt der Entfaltung der Persönlichkeit findet sich auch in der Auseinandersetzung mit den Problemen der Welt und den Fragen der Zeit. Diese soll nicht mittels einfacher Hinnahme ohne jegliches Hinterfragen, sondern kritisch erfolgen; auch die in einer Gesellschaft vorherr- schenden Werte sind davon betroffen. Im Rahmen der Persönlichkeitsentfaltung im hier auf- gefassten Sinne des Bildungsbegriffs kann sich eine Persönlichkeit nicht im Sinne eines Transfers von Normen, Werten und Maßstäben entfalten, sondern durch kritische Reflexion derselben sollen in ihr eigene Maßstäbe und Werthaltungen entstehen. Hier findet sich das emanzipative Moment, welches im Bildungsbegriff enthalten ist wieder, das auf Selbstbe- stimmung abzielt. Ebenso gleichberechtigt ist jedoch der verantwortungsvolle Umgang des Menschen mit seiner Mitwelt. Bildung zielt nicht auf individualistische Monaden ab, sondern soll auch zur Wahrnehmung und Übernahme von Verantwortung gegenüber der Gesellschaft befähigen. Ein wichtiges Element ist hierbei die Solidaritätsfähigkeit.
1.2.2 Das Konzept der kategorialen Bildung nach KLAFKI
Eine sehr ähnliche Bildungsauffassung hat KLAFKI, der den Ansatz der kategorialen Bildung vertritt. Dieser besagt, dass Bildung sowohl Erschlossensein einer Wirklichkeit für den Men- schen (objektiver bzw. materialer Aspekt) als auch zugleich Erschlossensein eines Menschen für diese Wirklichkeit (subjektiver bzw. funktionaler Aspekt) bedeutet.32 KLAFKI versteht Bildung als selbsttätig erarbeiteten und personal verantworteten Zusammenhang von Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit.33 Für KLAFKI bedeutet Allgemeinbildung „...ein geschichtlich vermitteltes Bewußtsein von zentralen Problemen der Gegenwart und - soweit voraussehbar - der Zukunft zu gewinnen, Einsicht in die Mitverant- wortlichkeit aller angesichts solcher Probleme und Bereitschaft, an ihrer Bewältigung mitzu- wirken.“34 Er bezeichnet diese auch als epochaltypische Schlüsselprobleme der Gegenwart und der vermuteten Zukunft, auf welche eine Konzentration im Rahmen allgemeinbildender
Prozesse erforderlich sei. KLAFKI erkennt auch die Prognoseproblematik hinsichtlich der
vermuteten Zukunft, nennt exemplarisch als epochaltypische Schlüsselprobleme trotzdem:35
- Die Friedensfrage
- Die Umweltfrage
- Die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit
- Gefahren und Möglichkeiten der neuen technischen Steuerungs-, Informations- und Kommunikationsmedien
Im Rahmen einer Konzentration auf solche epochaltypischen Schlüsselprobleme sollen nicht nur problemspezifische strukturelle Erkenntnisse erarbeitet werden, sondern auch Einstellun- gen und Fähigkeiten von übergreifender Bedeutung, von denen KLAFKI besonders Kritikbe- reitschaft und -fähigkeit, Argumentationsbereitschaft und -fähigkeit, Empathie im Sinne der Einnahme von Perspektiven anderer sowie Fähigkeit zu vernetztem Denken betont.36
Die Bildungsauffassungen von ROTH und KLAFKI stimmen letztlich dahingehend überein, dass Bildung auf ein selbstbestimmtes, informiertes und verantwortliches Individuum ab- zielt37; die Tatsache, dass im folgenden mehr auf KLAFKI Bezug genommen wird, beruht hauptsächlich auf dessen expliziter Betonung der Relevanz epochaltypischer Schlüsselprob- leme. Wenn die hier vorgenommenen Ausführungen zur Bildung auch in quantitativer Hin- sicht bescheiden erscheinen, werden dennoch die hohen Ansprüche deutlich, welche die hier vertretene Bildungsauffassung impliziert. Bildung geht weit über eine Anhäufung von Wissen hinaus; zwar ist ein gewisses Maß an Wissen eine conditio sine qua non, aber deswegen noch lange nicht hinreichend. Bildung enthält auch emotionale und motivationale Komponenten, Kritikfähigkeit, Partizipationsfähigkeit, Empathie, Reflexionsfähigkeit, etc. Bildung ist aber letztlich mehr als nur die Summe von Fähigkeiten; Bildung umfasst das gesamte Verhältnis des Menschen zur Welt und sich selbst.
1.3 Bildung und nachhaltige Entwicklung - eine erste Synthese
Sowohl die hier herausgearbeitete Auffassung des Leitbildes nachhaltiger Entwicklung als auch diejenige von Bildung greifen nahtlos ineinander; man kann durchaus feststellen, dass sich Bildung und das Leitbild nachhaltiger Entwicklung wechselseitig implizieren.
Im Rahmen des Leitbildes nachhaltiger Entwicklung kommt einer übergreifenden, gesamt- vernetzten Sichtweise (Retinitätsprinzip) sowie verantwortlichem individuellem Handeln (sowohl im Sinne von Alltagshandlungen als auch im Sinne von Partizipation) ein hoher Stel- lenwert zu. Diese Elemente finden sich auch explizit bei KLAFKI wieder. Ebenso sind die von KLAFKI genannten epochaltypischen Schlüsselprobleme (Frieden, Umwelt, soziale Dis- paritäten, etc.) im Rahmen des Leitbildes nachhaltiger Entwicklung von zentraler Bedeutung. Somit kann einerseits festgehalten werden, dass das Leitbild nachhaltiger Entwicklung hohe Bildungsbedeutung hat, andererseits, dass Bildung im Rahmen des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung ein unerlässlicher Bestandteil ist. Festzuhalten ist hier jedoch, dass Bildung kei- neswegs in einem instrumentalisierten Sinne - also im Sinne einer konkreten erzieherischen Beeinflussung hinsichtlich eines „gewünschten Endverhaltens“ - betrachtet werden kann und darf, da dies in eklatantem Widerspruch zur hier vertretenen Bildungsauffassung im Sinne von Selbstbestimmung und Persönlichkeitsentfaltung stehen würde. Auch darf eine Bildung für nachhaltige Entwicklung nicht in einem instrumentalisierten Sinne wörtlich genommen werden; Bildung kann hinsichtlich der individuellen Handlungsmöglichkeiten einen wertvol- len Beitrag leisten, darf aber keinesfalls als Instrument zur „Verordnung“ von Auffassungen im Sinne einer Fremdbestimmung missbraucht werden.
1.4 Der Wirtschaftslehreunterricht
Der Einkauf von Lebensmitteln, der abendliche Kinobesuch oder der Wochenendausflug nach Österreich sind triviale Beispiele für alltägliche Konsumhandlungen, die schnell verdeutli- chen, dass wirtschaftliches Handeln, hier am Beispiel des Konsums, unser Leben durchdringt. Wirtschaftliches Handeln stellt einen dermaßen elementaren Bestandteil des menschlichen Lebens dar, dass „...ökonomische Bildung als eine generelle Aufgabe des Bildungssystems erkannt und damit als Teil der Allgemeinbildung gesehen werden [muss; G.H.].“38 KRAFFT argumentiert, dass sich „die Notwendigkeit Ökonomischer Bildung...aus den gesellschaftlichen Anforderungen der heutigen Zeit [ergibt; G.H.].“39 Aber auch bei den Gefährdungen,
Problemen und Chancen der Wirtschafts- und Arbeitswelt handelt es sich im Sinne KLAFKIS um epochaltypische Schlüsselprobleme, was ökonomische Bildung ebenso zu einem essentiellen und integralen Bestandteil allgemeiner Bildung qualifiziert.40
Ökonomische Bildung ist nun oberster Maßstab eines Wirtschaftslehreunterrichts. In diesem Sinne ist es das Ziel des Wirtschaftslehreunterrichts, die Educanden zu mündigen Wirt- schaftsbürgern zu erziehen, also sie „...mit solchen Kenntnissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Verhaltensbereitschaften auszustatten, die sie befähigen, sich mit den ökonomischen Bedingungen ihrer Existenz auseinander zu setzen, und zwar auf privater, betrieblicher, volks- und weltwirtschaftlicher Ebene.“41 Im Sinne ALBERS lässt sich diese Mündigkeit über drei Kriterien operationalisieren:42
- Tüchtigkeit (im Sinne sachgerechter und effizienter Problemlösung)
- Selbstbestimmung (freie Gestaltung des eigenen Lebens)
- Verantwortung (im Sinne der Bereitschaft, das eigene Handeln vor sich selbst und ggf. der Gesellschaft zu rechtfertigen)
Um diese Anforderungen nun einerseits erfüllen zu können, andererseits um wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen und Prozesse verstehbar machen zu können, sind nach KAMINSKI im Rahmen des Wirtschaftslehreunterrichts auch „...stets die sozialen, politischen, rechtlichen, technischen und ethischen Dimensionen in den Blick zu nehmen.“43 Somit sind auch „unökonomische“ Dimensionen im Rahmen des Wirtschaftslehreunterrichts soweit zu berücksichtigen, als sie benötigt werden, um ein umfassendes Verständnis und somit auch vernetztes Denken in Zusammenhängen zu ermöglichen.
Da es aus zeitlichen Gründen unmöglich ist, sich im Rahmen eines Wirtschaftslehreunter- richts mit der gesamten wirtschaftlichen Wirklichkeit in all ihren Grundlagen, Strukturen, Prozessen und Wirkungen zu befassen, erscheint eine quantitative Reduktion unumgänglich. Die meisten ökonomischen Bildungskonzepte - hier seien exemplarisch DAUENHAUER sowie MAY erwähnt - zielen nun auf eine Reduktion auf das Stoffallgemeine, Elementare, auf Einsichten in die Grundstrukturen des ökonomischen Bereiches ab. DAUENHAUER nennt nun 11 wirtschaftswissenschaftliche Stoffstrukturen, welche eher institutionell ausgerichtet sind; MAY legt 14 wirtschaftswissenschaftliche (nicht fachdidaktische) Kategorien mit eher mikroökonomischer Ausrichtung vor. Beide, in ihrem Kern ähnlichen Stoffkategorien, sind nach KRUBER zwar geeignet, in das Funktionieren ökonomischer Prozesse einzuführen und diese verstehbar zu machen, greifen im Sinne einer ökonomischen Bildung jedoch zu kurz, da politische, ökologische und ethische Aspekte zu wenig berücksichtigt werden.44 Da aufgrund dessen nicht auf die Kategorien von DAUENHAUER oder MAY zurückgegriffen wird, die von KRUBER vorgelegten Kategorien zwar politische, ökologische und ethische Aspekte berücksichtigen, allerdings hauptsächlich fokussiert auf staatliche Aktivitäten, scheint auch diese nicht im Sinne einer ökonomischen Bildung geeignet, welche auf verant- wortliches individuelles ökonomisches Handeln abzielt. In diesem Sinne wird kein Versuch unternommen, eine der Kategorienlisten zu modifizieren bzw. eine eigene vorzulegen; statt- dessen soll von den drei zentralen Situationsfeldern, denen sich ökonomische Lebenssituatio- nen zuordnen lassen, ausgegangen werden: dem Konsum, der Arbeit sowie der Wirtschaftsge- sellschaft.45
Bevor nun im Zusammenhang mit verantwortetem individuellem Handeln eine genauere Be- trachtung dieser Lebenssituationen erfolgt, sind jedoch im folgenden Kapitel noch wesentli- che Grundlagen zu klären: Welche Faktoren das Handeln beeinflussen. Selbstverständlich liegt - besonders im Hinblick auf die oben herausgearbeitete Auffassung sowohl bzgl. der Bildung als auch der Nachhaltigkeit der Fokus auf individuellem Handeln. Aus dieser Per- spektive ist das 2. Kapitel auch primär zu betrachten. Jedoch kommt auch dem Handeln sozia- ler Systeme eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu; daher nimmt das Kapitel 2.2 eine Sonderstellung ein, da es sich auf Systeme, also sowohl auf Individuen - personale Systeme - als auch auf soziale Systeme bezieht. Handeln wird durch viele Faktoren beeinflusst, sowohl Faktoren des handelnden Systems als auch durch Faktoren aus dessen Umwelt. Entsprechend schwer überschaubar stellt sich der Vorgang des Handelns dar; alleine die Psychologie hat mittlerweile schier zahllose Theorien hervorgebracht, die das menschliche Handeln betreffen. Im Folgenden wird nun der Versuch unternommen, aus der Vielfalt der vorliegenden Erklä- rungsansätze wichtige Faktoren zu extrahieren, um diese für eine Bildung für nachhaltige
Entwicklung im Rahmen des Wirtschaftslehreunterrichts fruchtbar zu machen und daraus möglichst fundierte Konsequenzen ableiten zu können.
2. Handlungsbeeinflussende Faktoren im Hinblick auf ein nach-haltiges Handeln
Handeln wird häufig durch das Kriterium der Intentionalität vom Verhalten unterschieden;46 diese Vorannahme engt den Begriff des Handelns jedoch ein, daher erscheint es sinnvoller, mit WILLKE von Handeln zu sprechen, wenn nicht lediglich eine Reaktion auf Umweltreize vorliegt.47 Damit soll keineswegs eine deterministische Auffassung des Handelns herausgestellt werden, da eine solche ja auch der oben entwickelten Bildungsauffassung und dem hier vertretenen Menschenbild eklatant widerspräche, jedoch wäre eine Beschränkung des Handelns auf die eine Form des zielgerichteten Handelns verkürzend.48 Nach Ansicht des Verfassers zeichnen sich zwei wissenschaftliche Disziplinen durch ihre Erklärungsansätze und Konstrukte im Zusammenhang mit Handeln für den Zweck einer Bildung für nachhaltige Entwicklung besonders aus: die Psychologie und die Soziologie.
2.1 Konstrukte und Erklärungsansätze der Psychologie
Psychologie wird häufig definiert als Wissenschaft vom „...Erleben, Verhalten und Bewusst- sein des Menschen, deren Entwicklung über die Lebensspanne sowie deren innere (im Indivi- duum angesiedelte) und äußere (in der Umwelt lokalisierte) Bedingungen und Ursachen“.49 Das Individuum befindet sich in ständiger Interaktion mit seiner Umwelt; Individuum und Umwelt beeinflussen sich wechselseitig: Einerseits werden die Kognitionen des Individuums durch die Umwelt beeinflusst, andererseits wirkt das Individuum durch sein Handeln auf die Umwelt ein.50
[...]
1 BMU (1997), S. 261 (Herv. d. Verf.).
2 Vgl. Kap. 1.1.
3 Besonders erwähnenswert erscheint hier DE HAAN, der ein Konzept einer Bildung für nachhaltige Entwicklung für allgemeinbildende Schulen vorgelegt hat, dessen Ziel der Erwerb von Gestaltungskompetenz ist. Dieses Konzept wird im Rahmen eines 5-jährigen Förderprogramms der BLK (1999- 2004) an 180 sich beteiligenden allgemeinbildenden Schulen eingesetzt. Vgl. de Haan (2002), S. 5 ff. Dennoch wird im Rahmen dieser Arbeit nicht dem Entwurf von DE HAAN gefolgt, da dies nicht spezifisch auf den Wirtschaftslehreunterricht zugeschnitten ist.
4 Diese Position ist jedoch nicht mit einer solipsistischen zu verwechseln; ontologisch wird hier von der Existenz einer realen Welt ausgegangen.
5 Leider kann hier nicht weiter ausgeführt werden, welche Auswirkungen Lebenswelt, Kultur und Sprache auf die Erkenntnis haben; im Rahmen der noch zu erörternden psychologischen Theorien kann dies ebenso nur kurz angesprochen werden. Vgl. Kap. 2.1.4.1.
6 BMU (1997), S. 9 (Herv. d. Verf.).
7 Vgl. BLK (1999), S. 16.
8 Andere Übersetzungen waren z.B. zukunftsfähig, dauerhaft, dauerhaft-umweltgerecht oder ökologisch tragfähig. Vgl. Huber (1995), S. 10, Fischer (1998), S. 9 sowie Gebhard (1999), S. 44 f.
9 Die Bedeutung bezog sich auf eine Forstwirtschaft, bei der die Holzernte die natürliche Regenerationsrate des Waldes nicht überschritt. Vgl. Breidenbach (1996), S. 108.
10 Vgl. BLK (1999), S. 14. Als Ausgangspunkt der öffentlichen Debatte über die Umweltzerstörung wird von vielen Autoren jedoch das Jahr 1972 betrachtet, in dem der Bericht “Grenzen des Wachstums” des Club of Rome veröffentlicht wurde, die erste Umweltkonferenz der UN in Stockholm stattfand und die Aktivitäten des Umweltprogramms der UN aufgenommen wurden.
11 Das Dokument wurde unter dem Namen „Brundtland-Bericht“, der vom Namen der Vorsitzenden der Weltkommission herrührt, bekannt; vgl. BLK (1999), S. 15.
12 Eine Zuordnung zu einem der beiden Problemkomplexe erfolgt in einem gewissen Masse akzentuierend, da ökologische und soziale Probleme teils eng miteinander verbunden sind bzw. sich wechselseitig bedingen können.
13 So muss laut Weltentwicklungsbericht 2000 der Weltbank ein Fünftel der Weltbevölkerung, 1,2 Milliarden Menschen, mit weniger als einem US-Dollar am Tag auskommen; 20 % der Kinder in den ärmsten Ländern sterben, bevor sie fünf Jahre alt sind; die Hälfte aller Kinder in den Entwicklungsländern ist unterernährt; das Durchschnittseinkommen in den 20 reichsten Ländern beträgt das 37-fache des Durchschnittseinkommens in den 20 ärmsten Ländern - eine Kluft, die sich in den letzten 40 Jahren verdoppelt hat. Vgl. Elliesen (2003) (ohne Seitenangabe).
14 Hier sei auf das durch Emission von FCKW verursachte Ozonloch sowie die durch anthropogene CO2-Emissionen verursachte globale Erderwärmung hingewiesen.
15 Diese Darstellung ist jedoch stark vereinfacht; genauer vgl. Kreutzmann (2002), S. 59.
16 Im physischen Sinne kann das ökonomische System als offenes Teilsystem des geschlossenen öko- logischen Systems betrachtet werden. Da das offene ökonomische System auf die Quellen und Senken des geschlossenen ökologischen Systems zurückgreift, bildet dieses auch die Grenze für das Wachs- tum des ökonomischen Systems. Die Wachstumsgrenzen des ökonomischen Systems, auf die schon im 1972 erschienenen Bericht „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome hingewiesen wurde, scheinen zumindest teilweise bereits erreicht zu sein, da der Einfluss des Ökonomischen Systems mittlerweile dazu geführt hat, dass natürliche Kreisläufe und damit „...auch die künftigen Lebens- und Wirtschafts- bedingungen der Menschen weltweit bedroht sind.“ [Gebhard (1999), S. 4]. Vgl. hierzu auch Willke (1994), S. 49 f.
17 Selbstverständlich wird hier nicht davon ausgegangen, dass jede Konsumhandlung nach einem rein wirtschaftlichen Optimierungskalkül erfolgt.
18 In diesem Zusammenhang sei auf die Bedeutung der Systemtheorie verwiesen, deren Grundlagen an späterer Stelle dargestellt werden; vgl. Kap. 2.2.
19 Hauff (1987), S. 46.
20 Diese Zuordnungen verstehen sich akzentuierend, da sich zu den jeweiligen Positionen auch Unter- bzw. Mischformen finden lassen. Vgl. Fischer (1998), S. 50 ff. sowie Birnbacher/Brudermüller (2001), S. 20 ff. zur ethischen Grundposition, Huber (1995), S. 87 f. zum Gerechtigkeitskonzept sowie zum Konflikt zwischen inter- und intragenerationeller Gerechtigkeit de Haan (1998), S. 135 f.
21 Vgl. Fischer (1998), S. 53 f.
22 Die BLK sieht mindestens fünf Dimensionen, nämlich noch eine globale sowie eine kulturelle Dimension. Vgl. BLK (1998), S. 20 ff. Unstrittig ist, dass im Leitbild nachhaltiger Entwicklung sowohl eine globale als auch eine kulturelle Perspektive einschlägig zu berücksichtigen sind (s.o.); der Auffassung, sie als eigenständige Dimensionen zu betrachten, wird hier nicht gefolgt (die Eigenständigkeit der globalen und kulturellen Dimension wird auch in der Machbarkeitsstudie „Berufsbildung für eine nachhaltige Entwicklung“ des BMBF bezweifelt). Vgl. BMBF (2001), S. 31.
23 SRU (1994), S. 9.
24 Vgl. Gebhard (1999), S. 48 ff.
25 Vgl. Hirschmann (2002), S. 9.
26 Vgl. Fischer (2000), S. 3.
27 Beck (1997), S. 44.
28 Hierzu lassen sich unzählige Beispiele aus dem mittlerweile selbstverständlichen „Konsumalltag“ nennen, begonnen bei Nahrungsmitteln (v.a. Frischwaren) über Textilien und Bekleidung bis hin zu Automobilen, Computern, Möbeln etc., deren Wertschöpfung teilweise oder auch ganz in anderen Ländern stattfindet bzw. dazu benötigte Rohstoffe aus anderen Ländern importiert werden, wodurch sich z.B. durch den Konsum eines solchen Artikels Auswirkungen ökonomischer, ökologischer und/oder sozialer Art auf die Wertschöpfungsregionen ergeben können. Vgl. hierzu auch Kap. 3.2.4.1.
29 Vgl. Wehnes (2001), S. 280.
30 Vgl. Gudjons (2001), S. 200.
31 Roth (1997), S. 16.
32 Vgl. Klafki (1963), S. 43. Dieser Ansatz ist somit eine Synthese materialer und formaler Bildungs- theorien.
33 Vgl. Klafki (1994), S. 52.
34 Klafki (1994), S. 56.
35 Klafki nennt als 5. Beispiel die Erfahrung der Liebe, der menschlichen Sexualität u.a.; diese erscheint dem Verfasser hinsichtlich einer Bildung für nachhaltige Entwicklung jedoch nicht in einem primären Sinne relevant. Vgl. Klafki (1994), S. 56 ff.
36 Vgl. Klafki (1994), S. 63 f.
37 Wobei hier abermals angemerkt werden soll, dass der Begriff “informiert” weit über eine materiale Bildung hinausgeht - bei ROTH ist es das umfassende Erkennen und Zurechtfinden in der Welt bzw. deren Problemen und Fragen, bei KLAFKI die epochaltypischen Schlüsselprobleme.
38 May (2001), S. 3 (Herv. i. O.). Zur historischen Entwicklung des Verhältnisses von ökonomischer und allgemeiner Bildung vgl. Albers (1988), S. 3 ff. Auch wird hier nur auf ökonomische Bildung im Rahmen eines allgemeinen Wirtschaftslehreunterrichts eingegangen; auf das Feld der beruflichen Bildung wird hier nicht Bezug genommen.
39 Krafft (1999), S. 17.
40 Vgl. hierzu Kruber (1997), S. 55 ff., der ausführlicher argumentiert.
41 Kaminski (2001), S. 9.
42 Vgl. Albers (1995), S. 3 f.
43 Kaminski (2001), S. 9.
44 Vgl. hierzu Kruber (1997), S. 58 ff. Bei Kruber finden sich jedoch nur 11 der vorhin genannten 14 wirtschaftswissenschaftlichen Kategorien MAYS; dies kann nach Ansicht des Verfassers daran liegen, dass KRUBER mit der „Arbeitslehre“ MAYS ein relativ frühes Werk desselben bearbeitet hat und MAY sein Bildungskonzept mittlerweile verfeinert hat. Vgl. MAY (2001), S. 8.
45 Vgl. May (2001), S. 4. Diese Kategorisierung ökonomischer Lebenssituationen erfolgten in Anlehnung an MAY. Zu den Situationsfeldern Konsum und Wirtschaftsgesellschaft scheinen keine weiteren Erläuterungen nötig, da diese relativ eindeutig scheinen. Unter dem Situationsfeld Arbeit scheint MAY nach Ansicht des Verfassers speziell Erwerbstätigkeit zu begreifen, also unentgeltliche Tätigkeiten auszuschließen; somit ist Arbeit im Sinne von Produktion wirtschaftlichen Mehrwerts gemeint, welche die komplette Wertschöpfungskette umfasst.
46 Vgl. Zimbardo (1999), S. 2, Wiswede (2002), S. 11 sowie Thommen et al. (1988), S. 42.
47 Vgl. Willke (1993a), S. 105.
48 Vgl. hierzu 2.1.1.
49 Zimbardo (1999), S. 2 (Herv. d. Verf.). Der Verhaltensbegriff ist hier jedoch nicht in einem engen, behavioristischen Sinne hinsichtlich der Reaktionen auf Reize zu verstehen, sondern schließt o.g. Handlungsbegriff mit ein.
50 Diese Aussage ist jedoch nicht in einem deterministischen Sinne aufzufassen, da einerseits die menschliche Wahrnehmung äußerst selektiv ist, andererseits das menschliche Handeln nur in den seltensten Fällen in uneingeschränkt „voluntaristischer“ Art und Weise erfolgt, da auch Handlungsrestriktionen durch situative Barrieren eine Rolle spielen.
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- Gerhard Hirschmann (Autor), 2003, Grundlagen, Möglichkeiten und Grenzen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung im Rahmen des Wirtschaftslehreunterrichts, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16916
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