Erschreckende Berichterstattung über Misshandlungs- und Missbrauchsfälle, Attentate oder Amokläufe sind schon fast zur Normalität geworden, allerdings eine Normalität, die sich auf die Medien und auf eine fiktiv wirkende Welt bezieht. Niemand kann sich vorstellen, welche Motive einen Menschen veranlassen, seinen Kindern, Ehepartnern oder seinen Mitmenschen derartiges Leid zuzufügen.
Unter anderem möchte ich hier – bei den möglichen psychologischen Grundlagen eines solchen Verhaltens – mit meiner Arbeit ansetzen und meinen Fokus deshalb nach einer allgemeinen Definition des Begriffes Trauma auf die Traumata in Folge menschlicher Aggressivität und Gewalt in Kindheit und Jugend richten– insbesondere auf familiäre Gewalt, physischer, psychischer oder sexueller Art.
Denn aufgrund meiner langjährigen Beschäftigung mit dem Thema „Gewalt“ und „Verhaltensstörungen“ stelle ich die These auf, dass die Ursachen dieser beiden Phänomene in den meisten Fällen, insofern biologische Ursachen ausgeschlossen werden können, in bestimmten Erfahrungen zu suchen sind. Da Erfahrungen auch immer grundlegend von der Gesellschaft, in der ein Kind aufwächst, geprägt sind, möchte ich des Weiteren auf die aktuellen gesellschaftlichen Umstände eingehen und die Frage erörtern, inwiefern sie einen Nährboden für Traumatisierungen darstellen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Definition „Trauma“
3. Traumaforschung
4. Gesellschaftliche Umstände
5. Die Bedeutung von Bindungsbeziehungen
5.1 Deprivation und Hospitalismus
5.2 MutterKindBindung
5.3 Die Bindungstheorie
5.3.1 Grundannahmen der Bindungstheorie
5.3.2 Konzept der Feinfühligkeit
5.3.3 Die „Fremde Situation“
6. Intergenerationale Transmission von Trauma
7. Risiko und Schutzfaktoren
8. Reaktionen auf Traumata
8.1 Dissoziation
8.2 Auswirkungen auf die Hirnentwicklung
8.3 Posttraumatische und akute Belastungsstörung
8.4 „CopingStrategien“ und psychische Folgen
8.5 Verhaltensstörungen
9. Interventionen
9.1 Heimerziehung und die Bedeutung des „therapeutischen Milieus“
9.2 Psychotherapie und Psychoanalyse
10. Implikationen für den pädagogischen Umgang mit traumatisierten Kindern
11. Schlussbemerkung
12. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Auch wenn das Bewusstsein für die Tragweite der Thematik noch lange nicht etabliert ist, ist das Thema „Trauma“ allgegenwärtig.
Die Medien berichten, mal reißerisch, mal seriös, von verschiedensten Phänomenen, die Menschen traumatisieren können: von Naturkatastrophen über Kriege bis hin zu Verkehrsunfällen. Aber besonders die „man-made desaster“, von Menschenhand verursachte Traumata durch interpersoneller Gewalt wie Missbrauch oder Gewalt in der Familie, schockieren. Erschreckende Berichterstattung über Misshandlungs- und Missbrauchsfälle, Attentate oder Amokläufe sind schon fast zur Normalität geworden, allerdings eine Normalität, die sich auf die Medien und auf eine fiktiv wirkende Welt bezieht, niemand kann sich vorstellen, welche Motive einen Menschen veranlassen, seinen Kindern, Ehepartnern oder seinen Mitmenschen derartiges Leid zuzufügen.
Unter anderem möchte ich hier – bei den möglichen psychologischen Grundlagen eines solchen Verhaltens – mit meiner Arbeit ansetzen und meinen Fokus deshalb – nach einer allgemeinen Definition des Begriffes Trauma – auf die Traumata in Folge menschlicher Aggressivität und Gewalt in Kindheit und Jugend, insbesondere auf familiäre Gewalt, physischer, psychischer oder sexueller Art richten. Denn aufgrund meiner langjährigen Beschäftigung mit dem Thema „Gewalt“ und „Verhaltensstörungen“ stelle ich die These auf, dass die Ursachen dieser beiden Phänomene in den meisten Fällen, insofern biologische Ursachen ausgeschlossen werden können, in bestimmten Erfahrungen zu suchen sind. Da Erfahrungen auch immer grundlegend von der Gesellschaft, in der ein Kind aufwächst, geprägt sind, möchte ich des Weiteren auf die aktuellen gesellschaftlichen Umstände eingehen und die Frage erörtern, inwiefern sie einen Nährboden für Traumatisierungen darstellen.
Die Gesellschaft stellt mit ihrer Kultur und ihren Normen die Makroebene dar, die sich unmittelbar auf die Mikroebene, also die zwischenmenschlichen Beziehungen – beispielsweise die innerfamiliären – auswirkt. Da die Familie die erste und wichtigste Sozialisationsinstanz ist, sind die Beziehungserfahrungen, die das Kind hier macht, grundlegend und richtungsweisend für die gesamte Entwicklung. Dies soll anhand der Arbeiten über das Deprivationssyndrom von René Spitz und anderen sowie der Erkenntnisse der Bindungsforschung, initiiert durch die Bindungstheorie des englischen Psychiaters John Bowlby, belegt werden.
Fakt ist, dass nicht jeder Mensch in gleicher Weise auf potentiell traumatisierende Situationen reagiert. Ich möchte verdeutlichen, dass es bestimmte Faktoren gibt, die Einfluss auf die Entstehung eines Traumas haben. Zum Einen die Risikofaktoren, die ein Trauma begünstigen und zum Anderen die Schutzfaktoren, die die Wirkung einer traumatischen Situation mildern können. Vor allem eine stabile – nach Bowlby sicher gebundene – Beziehung zur primären Bezugsperson, die unter anderem auf einer prompten Befriedigung der kindlichen Bedürfnisse basiert, stellt einen wichtigen Schutzfaktor dar. Die Bindungsforschung hat allerdings herausgefunden, dass, wenn das Gegenteil der Fall ist, die Bindung also unsicher ist, diese sich transgenerational überträgt. Das bedeutet, wenn die Bindung, beispielsweise durch Gewalterfahrungen mit dieser Person unsicher ist, der Mensch mit hoher Wahrscheinlichkeit später auch nicht adäquat auf die Bedürfnisse der eigenen Kinder eingehen können wird, was wiederum zu einem unsicheren Bindungsstil der Kinder führen kann. Diese intergenerationale Transmission soll einen weiteren Gegenstand meiner Auseinandersetzungen mit dem Trauma darstellen, woraufhin weitere Schutz- bzw. Risikofaktoren angeführt werden.
Den nächsten Eckpfeiler meiner Arbeit stellen die Reaktionen auf Traumata dar, wobei ich mich zu Beginn der traumatischen Situation an sich zuwende.
Die Erfahrungen von hochgradig traumatisierenden Situationen ist oft so schwer mit einem positiven Selbst-, Welt- und Menschenbild zu vereinbaren, dass viele Betroffene während traumatischen Situationen „dissoziieren“, das heißt, ihre Gefühle, Gedanken und somit auch die Erinnerungen abspalten, um ein Minimum an Handlungskontrolle, Selbstsicherheit und Identitätsgefühl zu erhalten (vgl. Fiedler, 2008, S. 2). „Dissoziation“ garantiert somit das Weiterleben mit den zerstörerischen Erfahrungen.
Allerdings manifestieren sich diese, auch wenn sie der bewussten Erinnerung nicht mehr zugänglich sind, im Erleben und Verhalten, was vor allem bei langandauernden Traumata durch die neuronalen Veränderungen im Gehirn bedingt ist. Anhand von Ergebnissen der Hirnforschung möchte ich aufzeigen, dass in solchen Fällen Verhaltensstörungen als die logische Konsequenz aus traumabedingten strukturellen Veränderungen des Gehirns und somit als „Coping-Strategien“, also als Bewältigungsversuche, anzusehen sind. Dabei werde ich zuerst auf „Coping-Strategien“ im Allgemeinen eingehen und dann im Speziellen auf Verhaltensstörungen, wobei ich den Schwerpunkt auf die Posttraumatische Belastungsstörung lege. Sie wird unmittelbar durch traumatisierende Situationen hervorgerufen und stellt oft Hintergrundsymptomatik für andere Störungen dar.
Nach der Entwicklung einer Verhaltensstörung findet das Kind selten von alleine – noch weniger ohne familiären Rückhalt – wieder zu psychischer Gesundheit und die Schwierigkeiten, die bestimmte Störungen im Alltag verursachen oder auch der Leidensdruck bewegen im für das Kind günstigsten Falle die Sorgeberechtigten dazu, professionelle Hilfen für das Kind in Anspruch zu nehmen. Verschiedene Interventionsangebote und Institutionen befassen sich mit den Problemen verhaltensgestörter Kinder und Jugendlicher. Meist werden diese Angebote mit einer therapeutischen Behandlung kombiniert.
Die Vorgehensweisen von Psychotherapie sind vielfältig und zielen darauf, die Störung zu beseitigen und dem Kind Wohlbefinden zurückzubringen, was an einigen Verfahrensbeispielen, wie unter anderem dem der Psychoanalyse nach Sigmund Freud, verdeutlicht wird.
Aus den vorangegangenen Erörterungen möchte ich Schlüsse für den pädagogischen Umgang mit traumatisierten, bzw. verhaltensgestörten Kindern ziehen, wobei diese beiden Begriffe natürlich nicht gleichzusetzen sind.
Zu guter Letzt werden die wichtigsten Ergebnisse meiner Auseinandersetzung mit dem Thema „Trauma“, und die daraus resultierenden Schlussfolgerungen betrachtet.
Meine Arbeit soll zeigen, dass Traumata das Verhalten und Erleben von Kindern und Jugendlichen verändert, sodass eine Pädagogik, die traumatisierten Heranwachsenden adäquat begegnen will, ihre Prioritäten auf eine nicht mit einer allgemeinen Pädagogik vergleichbaren Weise setzen und auf das abweichende Verhalten ausrichten muss.
2. Definition „Trauma“
Traumata können durch verschiedenartige Situationen und Umstände ausgelöst werden, wobei ich hier nach Brisch (2006) die Geläufigsten, welche das höchste Traumatisierungsrisiko beinhalten, auflisten möchte.
„a) Naturkatastrophen (Erdbeben, Vulkanausbrüche, Hurrikane, Überschwemmungen)
b) vom Menschen hervorgerufene Katastrophen (technologische Katastrophen, Verkehrsunfälle (Auto, Schiff, Zug, Flugzeug), Großbrände oder ökologische Katastrophen, z.B. Kernkraftunfälle)
Katastrophen als Folge menschlicher Aggressivität und Grausamkeit: Geiselnahme, Kidnapping, Terrorismus, Folter, Vergewaltigung, Krieg, Genocid
c) Katastrophen innerhalb der Familie (emotionaler, körperlicher und sexueller Missbrauch, massive Vernachlässigung, Erleben schwerer Gewalttätigkeit, schwere Trennungserlebnisse, schwere eigene und familiäre Erkrankungen, Tod)
Das „Traumatisierungspotential“ nimmt in der Reihenfolge der Aufzählung zu“ (vgl. Brisch, 2006, S. 161).
Ein einmalig traumatisierendes Ereignis bezeichnet man als „Monotrauma“, aber nicht immer löst eine spezielle Situation ein Trauma aus. Auch kann das Zusammenwirken von mehreren Ereignissen, die einzeln gesehen zu bewältigen wären, traumatisierend wirken. Hier spricht man von einer „kumulativen“ oder „sequentiellen“ Traumatisierung, wobei der letzte Begriff durch den Mediziner Hans Keilson geprägt wurde (vgl. Wirtgen, 1997, S. 14).
Die verschiedenen Definitionen des Begriffes „Trauma“ gehen teilweise stark auseinander, allerdings ist der gemeinsame Tenor darin zu finden, dass das Hauptmerkmal traumatischer Situationen das Gefühl der Hilflosigkeit, der Angst und des Ausgeliefertseins darstellt („traumatische Zange“). Dieses Gefühl kann grundlegende Folgen für die Emotionen sowie die Kognitionen des Betroffenen haben (vgl. Brisch, 2006, S. 179).
Hüther (2001) sieht eine traumatische Situation sogar als einen
„Angriff auf die gesamte biologische, psychische und soziale Existenz, der schon beim Säugling zu einer dauerhaften Dysfunktion nicht nur im intrapsychischen und interpersonellen Bereich führen, sondern auch neurobiologische Veränderungen bewirken kann“ (vgl. Hüther 2001 zit. nach Koch-Kneidl/Wiesse, 2003, S.11).
Freud (1917) beschreibt die auslösende Situation etwas neutraler, sieht aber eindeutige Folgen für den Energiehaushalt, der in seiner Lehre grundlegende Bedeutung hat. Nach Freud wird ein Trauma durch ein
„Erlebnis [ausgelöst], welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, dass die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normal gewohnter Weise missglückt, woraus dauernde Störungen im Energiebetrieb resultieren müssen “(vgl. Freud, 1917, S.288 zit. nach Koch-Kneidl/Wiesse, 2003, S. 85).
Die Definition nach Fischer et al. (1999) lässt annehmen, dass diese Störungen durch die Veränderung des Verständnisses vom Selbst und der Welt mitbedingt sind. Nach Fischer et al. besteht Trauma in einem
„vitalen Diskrepanzerleben zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, welches mit dem Gefühl der Hilflosigkeit und schutzlosen Preisgabe einhergeht und so dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (vgl. Fischer et al., 1999 zit. nach Koch-Kneidl/Wiesse 2003, S. 10 f.).
Diese Erschütterung – vor allem des Selbstverständnisses – wird im Werk von Perren-Klingler ebenfalls angesprochen. Dort ist „ein traumatisches Ereignis […] ein Ereignis, bei dem ein oder mehrere Menschen in ihrer körperlichen und/oder seelischen Integrität massiv gefährdet werden.“ Auch wird ein weiterer Aspekt angesprochen, denn „dieses Ereignis kann einem selbst oder einen nahestehenden Menschen betreffen“ (DMS-3-R, Apa, 1987 nach Perren-Klingler, 1995, S. 13). Wie später noch gezeigt wird, können sich Symptome von Traumatisierung von Bezugspersonen auf Kinder übertragen.
Zusätzlich wird der Kulturaspekt als wichtig erachtet:
„ Die dabei erlebte Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein überschreiten die geltende kulturelle Norm. Kulturspezifische Interpretationen des Geschehens lassen die Bedrohung je nachdem noch schwerer werden“ (vgl. Perren-Klingler, 1995, S. 13f.)
Für Kleber (1992) sind drei Aspekte beim Erleben eines Traumas zentral:
„- Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein;
- Einbruch der eigenen Existenz: Sicherheiten lösen sich auf („shattered assumptions“ – Horowitz, 1976)
- außerordentliche negative Belastung“
(Kleber, 1992, zit. nach Perren-Klingler, 1995, S. 14)
Die psychologischen Mechanismen sind dabei das Überschwemmt-Werden und Abblocken oder Angst- und Dissoziationsreaktionen (Perren-Klingler, 1990). Normalerweise erzeugt der Körper durch neuro-humorale Mechanismen massive Stressreaktionen (Übererregung) und richtet sich darauf ein, das Überleben durch Flucht oder Kampf zu schützen. Dabei ist die Aufmerksamkeit auf das Notwendigste fokussiert und verhindert die Perzeption von Angst und Schmerz. Ist jedoch weder Flucht noch Kampf möglich oder gewinnversprechend, setzen Dissoziationsmechanismen ein.
„[Diese (Anm. d. Verf.)] helfen, [den] Organismus vor Übererregung zu schützen, unterstützen [die] Sinnfindung und damit die Integration des Trauma-Erlebens, werden aber andererseits auch pathogen, sobald sie rigide überhandnehmen. Die an sich notwendigen und gesunden Bewältigungsmechanismen können so auch zu pathogenen Mechanismen werden“ (Perren-Klingler, 1995, S. 13 ff.).
Halten die durch die traumatische Situation ausgelösten Symptome länger als ein halbes Jahr an, spricht man von einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).
Die Auswirkungen, die eine traumatische Situation auf die Psyche hat, hängen von verschiedenen Faktoren ab. Zum einen ist der Stand der kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung bedeutend, was Kinder besonders verletzlich macht. Das liegt unter anderem daran, dass Kinder dazu neigen, negative Umstände auf sich zu beziehen, wenn sie die kausalen Gegebenheiten nicht nachvollziehen können. Andererseits können fehlende kognitive Kapazitäten auch vor Traumata schützen. Ein Massaker wäre für einen Jugendlichen äußerst traumatisierend, während ein Baby noch nicht weit genug entwickelt ist, die lebensbedrohliche Situation zu erfassen, solange seine Bezugspersonen emotional stabil bleiben.
Demnach ist die Interpretation der Situation durch den Betroffenen von Bedeutung. Aber auch die Konstellation der traumatischen Gegebenheiten, beispielsweise die Nähe zum Geschehen, ist einflussreich, ebenso wie das Vorhandensein protektiver Faktoren oder postexpositorischer Einflüsse (vgl. Koch-Kneidl/Wiesse, 2003, S. 12 f.). Welche spezielle Bedeutung solchen Schutz- bzw. Risikofaktoren bei der Traumagenese beigemessen werden kann, wird an späterer Stelle erläutert.
Für das Verständnis der Entstehung einer traumatischen Situation wurde auf Grundlage der entwicklungspsychologischen Arbeiten von Anna Freud, Erik Erikson und Jean Piaget eine entwicklungspsychologische Matrix, der Entwicklungspsychopathologische Referenzrahmen – in Kombination mit der obengenannten Trauma-Definition von Fischer et al. (1999) entwickelt. Die Idee des Referenzrahmens geht davon aus, dass in der traumatischen Situation
„ zahlreiche bewusste und unbewusste Inhalte und Mechanismen wirksam sind. Diese hängen von Zahl und Intensität der bedrohlichen Ereignisse, von der Nähe zum Geschehen [und] davon ob die Ereignisse überraschend eintreten oder erwartet wurden [ab], von Art und Enge der Beziehung zum Täter und zu anderen Opfern, [vom] Ausmaß der körperlichen Schmerzen und Schuldgefühle, die durch – manchmal auch magische – Kausalitätszuschreibungen oder Gedanken an versäumte Interventionen entstehen können [ab] […] [Der Referenzrahmen] erleichtert die Nebeneinanderstellung die für die Auswirkungen eines belastenden Ereignisses entscheidenden Faktoren, die Analyse der traumatischen Situation, die entwicklungspsychologische Einordnung altersspezifischer Alarmreaktionen und Bewältigungsanstrengungen, die Identifizierung von Symptomen und die Entwicklung therapeutischer und präventiver Maßnahmen“,
wobei dieser Rahmen weiterführender als das herkömmliche PTBS-Schema ist (vgl. Koch-Kneidl/ Wiesse 2003, S. 12 ff.).
3. Traumaforschung
Die Psychotraumatologie, die Lehre von der Entstehung, der Diagnostik und der Therapie seelischer Verletzungen wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts etabliert. Einflussreich war dabei die Traumatheorie von Sigmund Freud, die auf Studien zur Hysterie basiert und Ursachen hierfür im „Trauma der sexuellen Verführung in der Kindheit“ sucht. Dieses Kindheitstrauma, die sogenannte Neurose, bleibt nach Freud im Unbewussten als „Komplex“, der Energien an sich bindet, erhalten.
Zur Traumaforschung von medizinischer Seite aus haben Anfang dieses Jahrhunderts vor allem die Untersuchungen von Armeeärzten beigetragen, die versuchten, Soldaten so schnell wie möglich wieder einsatzfähig für den Krieg zu machen, auch wenn diese traumatische Reaktionen zeigten. Die lange bestehende Annahme, „Kriegszitterer“ seien schon vorher „psychisch labil“ gewesen, konnte aber erst im Anschluss an den Vietnamkrieg widerlegt werden. Untersuchungen zeigten, „dass mit stärkerer Exposition im Kampfgeschehen prozedural mehr Soldaten mit PTBS reagierten“ (Davidson/Baum, 1993 zit. nach Perren-Klingler, 1995, S.25). Auch gab es gleichzeitig Untersuchungen, die hervorbrachten, dass Opfer sexuellen Missbrauchs häufig ähnliche Symptome wie die untersuchten Soldaten zeigten. Aus den beschriebenen Reaktionen auf traumatische Situationen und der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskussion darum entwickelte sich das Konstrukt der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die heute die Grundlage zum diagnostischen Verständnis aller Folgestörungen nach schweren traumatischen Belastungen darstellt (vgl. American Psychiatric Association APA, 1980 nach Brisch/Hellbrügge, 2006, S.272). Das Thema „Trauma“ wurde zunehmend ernst genommen und entsprechende Hilfsangebote entwickelt.
Auch befassten sich seit dem Zweiten Weltkrieg Psychoanalytiker mit dem Thema Holocaust und dessen Auswirkungen auf die Psyche der Betroffenen. Der Fokus lag allerdings auf der Pathogenetik, also den Entstehungsbedingungen psychischer Abweichungen, und dem Individuum. Die große Gesundheitsstudie von Antonovsky 1979 befasste sich dann mit der Frage, welche „Coping-Mechanismen“ diejenigen Überlebenden aufwiesen, die frei von psychischen Krankheiten blieben (vgl. Perren-Klingler, 1995, S. 23 ff.).
Die Öffentlichkeit entwickelte allmählich eine Sensibilität für Traumata, was auch das Bewusstsein für das Thema Kindesmisshandlung förderte. Dieses wurde in der Kinderheilkunde bis in die 50er Jahre für ein eher seltenes Phänomen gehalten, was sich mit der Veröffentlichung über das „Battered Child Syndrom“ von Kempe aus Denver änderte (vgl. Brisch/Hellbrügge, 2006, S. 160). Das Syndrom definiert sich als
„nicht unfallbedingte, aber gewaltsame, körperliche oder seelische Schädigung eines Kindes durch aktives verletzendes Verhalten oder durch unterlassenen Schutz durch ein Familienmitglied oder eine Eltern-/Erwachsenen- oder Betreuungsperson“ (ICD-10, WHO-Version 2006 ).
Die Ergebnisse der Untersuchungen des Phänomens trugen dazu bei, dass Fachleute endlich gezielter und effizienter darauf hinweisen konnten, dass jegliche Arten von Gewalt, vor allem an Kindern „für viele bis dahin als psychopathisch abgetane Symptome verantwortlich gemacht werden müssen“ (Finkelhor, 1986 nach Perren-Klingler, 1995, S. 25).
Trotz der zahlreichen weiteren Forschung, beispielsweise über die neurobiologische Basis, die Speicherung oder die Vorbeugung sowie die effektive Behandlung von Traumata, wird die Thematik weiterhin unterschätzt. Dies lässt sich beispielsweise an der inflationären, alltagsgebräuchlichen Verwendung des Begriffes oder an der Unterdiagnostizierung von PTBS (vgl. Brisch, 2006, S. 199) festmachen.
Das wachsende Wissen um die Verletzlichkeit der kindlichen Psyche hat zwar dazu geführt, dass die Öffentlichkeit sich zunehmend mehr mit dem Thema „Trauma“ befasst und eine höhere Sensibilität entwickelt, allerdings ist die „professionelle Trauma-Blindheit“ noch nicht gänzlich verschwunden (vgl. Brisch, 2006, S. 160). Fehlende Erinnerungen und ein dadurch fehlendes Bewusstsein auf Seiten der Patienten, aber möglicherweise auch die Konzentration auf komorbide, also gleichzeitige Störungen tragen dazu bei, dass selbst Fachleute Traumata teilweise nicht erkennen.
Auf der einen Seite wird psychoanalytischen Autoren vorgeworfen, neben der Beschäftigung mit der Welt der Phantasie die differenzierte Erforschung realer Traumata zu vernachlässigen (vgl. Brisch/Hellbrügge, 2006, S. 160), auf der anderen Seite werden auch Stimmen laut, die Psychotherapeuten unterstellen, durch bestimmte Behandlungsweisen in Patienten so genannte „falsche“, also eingebildete Erinnerungen an nicht existente traumatische Erfahrungen hervorzurufen.
Daran wird deutlich, wie „empfindlich“ das Thema Trauma ist, welcher breit angelegten Forschung und Aufklärung es noch bedarf und wie wachsam und empathisch jegliche pädagogische Berufsgruppe, aber auch jeder Privatmensch sein muss, der mit Kindern zu tun hat und welcher Behutsamkeit und Fachkompetenz es bedarf, um Traumafolgestörungen zu behandeln.
4. Gesellschaftliche Umstände
Jean Leidloff äußert in ihrem Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“, in dem sie der gesellschaftlichen Tendenz zu Angst, körperlicher Verklemmung und mangelndem Selbstvertrauen auf den Grund geht, eine grundlegende Aussage über das Wesen des Menschen:
„Das einzige positive Selbstgefühl, das er, als das Tier, das er ist, kennen kann, gründet auf der Voraussetzung, dass er richtig, gut und willkommen ist. Ohne diese Überzeugung ist ein Mensch, welchen Alters auch immer, verkrüppelt durch Mangel an Vertrauen, an vollem Selbstgefühl, an Spontanität und Würde“ (Leidloff, 1977/1980, S. 48).
Sie unterstreicht die Abhängigkeit des Menschen von der Umgebung, von der Behandlung und der sozialen Rückmeldung, die er erfährt. Dabei bedingen sich die gesellschaftlichen Gegebenheiten sowie die zwischenmenschlichen Beziehungen gegenseitig, wobei letzteres für die Entwicklung eines Kindes vorerst primärer Einflussfaktor ist. Im negativen Sinne wird so laut Habermas (1990) die Familie ein Ort,
„…wo sich die soziökonomischen Lebensumstände in sozioökologischen Bedingungen und in sozialschichtenspezifischen Verhaltensmustern sedimentierten Belastungen auf Sozialisationsprozesse auswirken und in Gewaltdispositionen umsetzen“ (Habermas 1990, S.182 zit. nach Warzecha, 1997, S. 4).
Die politische, soziale, kulturelle und historische Situation ist sowohl für die Sozialisation durch die Familie oder die „peer-group“ als auch durch Institutionen wie die Schule oder Vereine und Jugendzentren von immenser Bedeutung.
Angesichts der Vielschichtigkeit des Themas, ganz gleich ob im Bezug auf die Politik, die Soziologie, die Geschichtsschreibung oder den Kulturenvergleich, möchte ich mich auf die aktuelle Situation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland beschränken und dabei den Fokus auf mögliche Einflussfaktoren für die Entstehung von Verhaltensstörungen legen.
„Risikogesellschaft, Gewaltakkumulation, Konsumismus, Medienüberflutung, Individualisierung, Beliebigkeit und Oberflächlichkeit sind Schlagworte, die besonders für die Pädagogik von Relevanz sind, ist sie doch genau jener Ort der Synchronisation zwischen Subjekt und Gesellschaft […], der heute mehr denn je Sammelbecken von Krisen ist …“(vgl. Warzecha 1994 et al. zit. nach Warzecha, 1997a, S.7).
Dieses Zitat der Sonderschullehrerin und Professorin für Verhaltensgestörtenpädagogik Birgit Warzecha spricht das bereits erwähnte Abhängigkeitsverhältnis von Gesellschaft und Subjekt, bzw. der Interaktion zwischen Subjekten an und weist hierbei auf die besondere Rolle der Pädagogik hin. Diese wird durch verschiedene gesellschaftliche Tendenzen strapaziert, auf die ich nun eingehen möchte.
Grundlegend hat ein auf Konventionen bezogener Wandel stattgefunden. Ein Wandel hin zu fehlenden Werten. Modernisierung, Pluralisierung, Rationalisierung und der Kapitalismus haben dazu geführt, dass die „Normalbiographie“ an Bedeutung verliert und Lebensentwürfe zunehmend experimenteller werden. Traditionelle Bindungen wie Nachbarschaft, Kirche oder Handwerksbetriebe nehmen ab und neue Agenten sozialer Kontrolle wie Ausbildungsinstitute, pädagogische Experten und vor allem die Medien- und Freizeitindustrie werden wichtig.
Die Institution Familie entstrukturiert sich, durch den Anstieg der Scheidungsraten kommt es immer häufiger vor, dass Mütter oder Väter als einzige Bezugsperson fungieren oder das traditionelle Familienbild durch das Konzept der „Patchwork-Familie“ ersetzt wird.
Die Lebensphase Jugend ist nicht mehr das „Jugendmoratorium“, was bisher als Schutzraum der sekundären Teilhabe und des Lernens vor der vollkommenen Integration in die Gesellschaft diente. Eine solide Zukunft ist nicht mehr selbstverständlich, das Risiko des Scheiterns und der Wettbewerb durch den Überschuss an Bildungskapital lässt ein Mithalte- und Flexibilisierungsmodell entstehen, das kein Experimentieren, keine „Reibung am Gesellschaftlichen“ mehr erlaubt (vgl. Böhnisch, S. 25 ff. in Ködelpeter/Nitzschke, 2008).
Der schulische Leistungsdruck erhöht sich beispielsweise durch die „Pisa-Studie“ und die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur auf 12 Jahre („G8“) zunehmend. Dabei scheint es, als sei der Grundgedanke des Lernens Ökonomisierung anstelle von Effektivität. Da ungünstige familiäre Bedingungen oft wesentlichen Einfluss auf die Leistung von Kindern haben, reproduziert die Schule, trotz augenscheinlicher Chancengleichheit, dennoch Ungleichheiten.
Der Pluralismus und Werteverfall sowie die daraus resultierende Identitätsunsicherheit und Anomietendenz begünstigen den Einfluss jugendlicher Subkulturen auf Heranwachsende. Dort spielen Drogen oder fanatische Ideologien oft eine erhebliche Rolle.
Eine steigende Zahl von Kindern und Jugendlichen lebt in relativer Armut.
„Dabei bedeutet das Aufwachsen in einem Milieu materieller Unterversorgung heutzutage weniger, unmittelbare materielle Not zu erleiden, als vielmehr verstärkt gesundheitlichen Belastungen und psychosozialen Benachteiligungen ausgesetzt zu sein, wie psychische Erkrankung eines Elternteils, konflikthafte Familienbeziehungen oder ein negatives Wohnumfeld“ (Brisch/Hellbrügge, 2006, S. 53).
Gewaltbereitschaft in Familien und bei Kindern und Jugendlichen wird zu einem ernst zu nehmenden Thema.
Nicht selten ist auch das Phänomen der Vereinsamung: 15% aller Schulkinder leiden unter dem Fehlen verlässlicher Sozialbindungen (vgl. Jürgens 1993, S. 69 nach Warzecha, 1997a, S. 7).
Medien prägen heutzutage die Wirklichkeit von Kindern und Jugendlichen. Dabei bieten sie zwar Lebensgestaltungsmuster, diese sind allerdings so unverbindlich, wandelbar und teilweise realitätsfern – man betrachte nur einmal das aktuelle Schönheitsideal –, dass sie oft eher verunsichern, als zur Identitätsfindung beitragen.
„[Auch (Anm. d. Verf.)] ersetzen sie im Alltag zunehmend die konkreten und realen Kontakt- und Begegnungsmöglichkeiten zwischenmenschlicher Interaktion und produzieren die relative Beliebigkeit und Austauschbarkeit jeglicher Erfahrungen und Erlebnisse zugunsten einer narzisstischen Befriedigungsillusion des Konsumenten: Er kann sich als allmächtiger Dirigent fühlen, der sein Erlebnisprogramm selber wählt, das heißt die Medien – und konsequenterweise – auch die Menschen“ (Warzecha, 1997, S. 6).
Die Digitalisierung der Kommunikation, die „grenzenlosen“ Möglichkeiten, die beispielsweise das World Wide Web bietet, tragen dazu bei, dass sich zunehmend interaktive Welten, so genannte Pseudorealitäten bilden, die zwar auf den ersten Blick so wirken, als würden sie das Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Interaktion umfänglich befriedigen können, in Wirklichkeit allerdings zu Vereinsamung führen.
„Es entwickeln sich zufällige und brüchige Sozialbeziehungen in offenen sozialen und unverbindlichen Räumen. Schwindet jedoch die äußere Struktur, die Orientierung, Beständigkeit und Überschaubarkeit gewährt, dann sind grade jene überfordert, deren psychisches Regulationssystem aufgrund schlechter, unzureichender und traumatisierender Sozialisationserfahrungen instabil ist“ (Finger-Trescher/Trescher 1992, S. 93 zit. nach Warzecha, 1997a, S. 9).
Auch die vieldiskutierten „Killerspiele“ bergen aufgrund der impliziten Botschaften Gefahren in sich.
Hierzu schreibt Warzecha beispielsweise:
„Kinder und Jugendliche werden über Medien sozialisiert, d.h. Sekundärerfahrungen strukturieren unmittelbar erlebte Wirklichkeit (Haller/Wolff 1992, S. 52), wobei Gewalt als erfolgreiche Handlungsstrategie ebenso zur zentralen Botschaft wird wie stereotype geschlechtsspezifische Rollenklischees. Dies trifft besonders auch auf Videospiele zu, die Krieg zum Zeitvertreib werden lassen (vgl. Heidrich 1991). Gefühle wie Schmerz oder Trauer bleiben in diesen Spielen außen vor, werden als existenzielle Erfahrung ausgeblendet“ (Warzecha, 1997a, S. 6 f.).
Die erwähnten Rollenklischees und die Freizeitindustrie, die Kinder zunehmend zu Investitionsobjekten macht, vermitteln realitätsferne und unauthentische Ideale. Warzecha verdeutlicht dies am Beispiel vom „Mythos des angstfreien Helden“:
„Die Orientierung an Eigenschaften dieser „Helden“ (wie zum Beispiel Billy the Kid, Lucky Luke als Cowboy, Rambo u.a.) ist vordergründig nicht nur die Nachahmung oder Inszenierung eines männlichen Chauvinismus (Schnack /Neutzling 1990, S. 46), sondern zeigt den immensen Bedarf kleiner Jungen, sich als unverletzlich, stark und überlegen zu empfinden. Die Inszenierung von Stärke und Überlegenheit dient dann vor allem dazu, „hilflos machende, klein machende Gefühle abzuwehren“ (Schnack/ Neutzling 1990, S. 47)“ (Warzecha, 1997a, S. 96).
Weiter thematisiert Birgit Warzecha die Rolle der Bezugspersonen.
„Vor allem Erwachsene unterstützen diese Transformation ängstlicher oder trauriger Gefühle in Bewegung und Aktivität verstärkt bei Jungen, da sie selbst Schwierigkeiten damit haben, Jungen unsicher, bekümmert oder verwirrt zu sehen“ (Warzecha, 1997a, S. 96).
Jungen müssen sich also nach Warzecha folgendes gesellschaftliches Konzept von Männlichkeit aneignen:
„ - Härte gegen sich selbst und andere
- Durchsetzungsvermögen um jeden Preis
- Herrschafts- und Erfolgsorientierung
- Rücksichtslosigkeit gegen Schwächere
- Betonung des Individuellen gegenüber dem Sozialen
- Unterdrückung weicher Anteile
- Verdrängung von Ängsten (vgl. Heiliger/ Permien 1995, S. 34)“
(Warzecha, 1997, S. 96)
Ähnlich klingt die Überzeugung des Psychoanalytikers Arno Gruen, der die Ursache von Gewalt in einer emotionsfeindlichen Erziehung sieht. Wenn der Individualismus eines Kindes nicht anerkannt wird und negative Emotionen unterdrückt werden, um den „Schein zu wahren“, so ist es wahrscheinlich, dass sich Wut auf diejenigen richtet, die „menschlich“ sind und eben diese Schwäche zeigen, die zuhause nie gezeigt werden darf (vgl. Gruen/Weber, 2001).
Die Sozialisation von Mädchen ist zwar in gewissem Maße emotionsbezogener, dafür werden allerdings andere hohe Ansprüche an weibliche Heranwachsende gestellt. Das bereits erwähnte Schönheitsideal ist für Mädchen, deren Selbstbild um einiges mehr von sozialen Beziehungen abhängig ist als das männliche, implizit verpflichtend. In der Jugend wird im Vergleich zur männlichen Sexualität wichtig, dass die Jugendliche in dieser Hinsicht eher zurückhaltend bleibt, eine feste Beziehung und im besten Falle so bald wie möglich die Gründung einer Familie anstrebt. Diese vorgeformten Lebensentwürfe werden allerdings durch die aktuellen Tendenzen zur beruflichen Unabhängigkeit von Frauen in Frage gestellt und neu überdacht. Diese Rollenunsicherheit sowie die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, vor allem bei frühen Schwangerschaften ist ein weiterer Punkt, der die Identitätsfindung und -festigung erschweren kann. Warzecha beschreibt die Folgen von Überforderung durch die immensen gesellschaftlichen Ansprüche.
„Der Untererfüllung der weiblichen Verhaltensstandards begegnen wir phänomenologisch auch in Essstörungen und Autoaggression. Der eigene Körper wird zum Kriegsschauplatz nicht erfahrener Anerkennung, damit aber auch verhinderter positiver weiblicher Individuation. Dabei verschaffen sich Widerstand und Protest nicht sprachlich einen Ausdruck, sondern symbolisch“ (Warzecha, 1997a, S. 106).
Mädchen und Frauen neigen doppelt so häufig wie Jungen und Männer dazu, anstatt offenes und destruktives Verhalten zu zeigen, unbewältigte Konflikte gegen sich selbst zu wenden, depressiv, selbst-verletzend oder mit Krankheitssymptomen zu reagieren.
Auch die folgende Untersuchung verdeutlicht, dass möglicherweise unauffällige Kinder nicht gleich problemfrei sind.
„So berichtet Luthar (1991), dass aus stark belasteten Verhältnissen kommende Kinder, die über eine hohe soziale Kompetenz verfügten, ähnlich hohe Depressions- und Angstwerte aufweisen wie die Vergleichsgruppe der wenig kompetenten Kinder. Die genannten Erlebensprobleme waren bei den Kindern aus belasteten Verhältnissen deutlich stärker ausgeprägt als bei Kindern aus einem weniger belasteten Milieu. In einer Untersuchung von Farber und Egeland (1987) zeigten misshandelte und vernachlässigte Kinder zwar eine erfolgreiche soziale Anpassung, gleichzeitig fanden sich aber erhebliche emotionale Probleme“ (Fooken/Zinnecker, 2007, S. 16).
Es wird deutlich, dass die Modernisierung und die neue „Ego-Gesellschaft“ immer mehr Modernisierungsverlierer produzieren. Warzecha ist der Meinung, was auch die Anomietheorie von Merton besagt, dass Devianz theoretisch die logische Folge von Benachteiligung ist.
„Gewaltpräferenzen und Verwahrlosungssyndrome sind ein Indiz dafür, dass die Segregation innerhalb bestimmter Bevölkerungsgruppen voranschreitet. In dem Maße, wie die Reputation über Supercodes, als Ausdruck von Macht, Geld und Reputation, immer ungleicher verteilt wird, wird Devianz zur Reputation der Erfolglosen, um in unserer „rentseeking-society“ überhaupt ein Gefühl für soziale Existenz zu erfahren“(Hennen, 1991, S. 55 f. zit. nach Warzecha, 1997a, S. 4).
Die gesellschaftlichen Bedingungen tragen ihren Teil zur Entstehung von Verhaltensstörungen bei, denn das Gefühl von Ausgegrenzt-Sein, die fehlende gesellschaftliche Integration, können die Wirkung von traumatischen Erfahrungen, beispielsweise innerhalb der Familie, noch verstärken. Das stigmative Verhalten der umgebenden Gesellschaft wirkt sich hier in einer sich selbst potenzierenden Spirale aus. Die Ablehnung der Gesellschaft, resultierend aus dem „auffälligen“ Verhalten des Kindes, bestärkt dieses in seinem negativen Selbstbild.
Die Gesellschaft verurteilt auf paradoxe Weise das Verhalten, an dessen Entstehung sie selbst beteiligt ist.
Tobias Brocher schreibt hierzu:
„Die Jugendkriminalität ist ein Spiegel der Erwachsenengesellschaft; das will offenbar niemand wahrhaben. Aber solange dies verleugnet wird, scheinen alle Versuche einer Resozialisierung eine Farce zu sein“ (Brocher zit. nach Seibert, 1974, S. 147).
5. Die Bedeutung von Bindungsbeziehungen
Im Vergleich zu den meisten Tierarten ist der menschliche Säugling eine lange Zeit unmittelbar abhängig von seinen Bezugspersonen. Da die Verhaltensweisen des Menschen um einiges differenzierter und weniger durch angeborene Mechanismen determiniert sind, sind sie auf die kontinuierliche und wechselseitige Interaktion von Individuum und Umwelt angewiesen. Dabei ist die Herausbildung einer Bindungsbeziehung zur Pflegeperson sowie deren konstante Verfügbarkeit in Bezug auf sowohl physische als auch emotionale Bedürfnisse von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung.
5.1 Deprivation und Hospitalismus
Wird Kindern jegliche Zuwendung versagt und werden ihnen nur die physischen Bedürfnisse befriedigt, wie es beispielsweise in Zeiten der Kollektiverziehung in Kinderheimen der Fall war – in der Zeit von 1967 bis 1970 waren 2 % der deutschen Kinder in einem Säuglingsheim untergebracht (vgl. Seibert, 1974, S. 27) –, so können Symptome der Deprivation auftreten.
Der Begriff der Deprivation kann in zweierlei Hinsicht verwendet werden. Er kennzeichnet zum Einen Situationen, die einen Mangel an sensorischer, emotionaler und sozialer Stimulation aufweisen, also Lebensbedingungen, die das Individuum in seinen motorischen Aktivitäten und in den Möglichkeiten zur Übung seiner psychischen Funktionen einschränken. Zum Anderen versteht man unter Deprivation ein umfassendes Erklärungsprinzip. Es stellt das theoretische Bindeglied zwischen den als deprivierend beschriebenen Umweltbedingungen und ihren verschiedenen nachteiligen Folgen dar.
Analog hierzu ist der Begriff des Deprivationssyndroms, auch Hospitalismus (Pfaundler, 1924, Spitz, 1945, 1967), anaklitische Depression (Spitz, 1946), Pflegeschaden oder chronisches Verlassenheitssyndrom (Meierhofer und Keller, 1966) genannt, der die nachteiligen Folgen der Entbehrung ausreichender sozialer Zuwendung, meist aufgrund eines Krankenhaus- oder Heimaufenthaltes beschreibt (alle oben genannten Autoren nach Moog/ Moog, 1973, S. 8 ff.).
Harry Harlow forschte zu diesem Thema anhand eines Experimentes mit jungen Rhesus-Affen. Er ließ diese zwischen zwei verschiedenen „Mutter-Attrappen“ wählen, einer Drahtgestellattrappe, die Milch spendete und einer mit Plüsch überzogenen Attrappe, die keine Nahrungsquelle darstellte. Die Drahtgestellmutter wurde ausschließlich zur Nahrungsaufnahme aufgesucht, während Schutz- und Nähebedürfnis bei der plüschigen Ersatzmutter befriedigt wurden. Die jungen Affen konnten durch die Erfüllung dieser Bedürfnisse zwar ihre Umwelt erkunden, zeigten allerdings keine große Entwicklung, da ihnen ein Vorbild fehlte.
Das Experiment wurde ein zweites Mal, diesmal ohne Plüschattrappe durchgeführt. Die Affen zeigten Angst, Stereotypie der Bewegungen und Aggressionen, auch teilweise gegen sich selbst gerichtet (vgl. Seibert, 1974, S. 20).
Durch fehlende Reaktion auf Bedürfnisäußerungen entwickeln Kinder Todesangst, die traumatisierend wirkt. Das natürliche Vertrauen, das „Urvertrauen“ in die Eltern als Schutz und Geborgenheitsquelle wird erschüttert, was mit Wut und dem zumindest vorübergehenden Zusammenbruch der positiven Wahrnehmung des eigenen Körpers und seiner Funktionen einhergeht.
Die „anaklitische Depression“ mit ihren Symptomen wurde von René Spitz unter anderem auch in Filmen beschrieben. Seine Untersuchungen an deprivierten Kindern zeigen, dass die Entbehrung der Mutterliebe, dem „größten Bedürfnis des Kleinkindes“, häufig körperliche und psychische Krankheit („affektive Mangelerkrankung") trotz guter Ernährung und Hygiene nach sich zieht. Anfällig seien Kinder im Alter zwischen drei Monaten und fünf Jahren, besonders zwischen zwei und drei Jahren. Die Dauer der Entbehrung, der Entwicklungsstand des Kindes und die vor der Trennung entwickelte Mutter-Kind-Bindung bestimmen das Ausmaß der Störung. Je jünger das Kind ist und je länger die Trennung dauert, desto gravierender sind die Folgen, wohingegen Trennungen von kurzer Dauer oder direkt nach der Geburt selten schwere Schäden hervorrufen.
Im ersten Monat nach der Muttertrennung verzeichnete Spitz Weinerlichkeit, während im zweiten schon ein Entwicklungsrückstand mit zunehmender Kontaktverweigerung, Schlaflosigkeit, Gewichtsverlust und erhöhter Anfälligkeit für Infektionskrankheiten, eine verlangsamte Motorik und ein starrer Gesichtsausdruck zu beobachten waren.
Der vierte und fünfte Monat markierten ein Übergangsstadium in dem eine Verschlimmerung der Symptome stattfand, die allerdings im Falle einer Mutterrückführung verschwanden.
Spitz grenzte die oben genannten Begriffe noch einmal voneinander ab und sprach bei bis zu 3 Monaten Muttertrennung von den Symptomen einer „anaklinitischen Depression“ während er die Folgen einer fünfmonatigen oder längeren Trennung als „Hospitalismus“ bezeichnete. Deren Symptome seien zwar verringerbar, könnten aber nie völlig ausheilen. Weiter zeigten die deprivierten Kinder Passivität oder Aggressivität, Stagnation und Kontaktverweigerung, pathognomische Stellung, teilweise Gewichtsverlust, Schlaflosigkeit und keine Entwicklung der Motorik, Mimik oder der Sprache. Es war ein Absinken des Intelligenzquotienten zu verzeichnen und ohne Therapie stellte sich ein Zustand von raschem körperlichem Verfall (Marasmus) ein.
Untersuchungen zeigen, dass bis Ende des zweiten Lebensjahres die Sterblichkeitsquote hospitalisierter Kinder bis auf das Zehnfache von jener von Kindern mit einer ausreichenden Bemutterung ansteigt (vgl. Spitz nach Moog/Moog, 1973, S. 29 ff. und nach Brisch/Hellbrügge, 2006, S. 39 f.).
Auch ist das Phänomen der „Retardation“ häufig unter deprivierenden Bedingungen zu beobachten. Dies ist das Verharren in einem nicht dem Alter gemäßen Zustand der psychischen Unreife und die starke Einschränkung des Repertoires an verfügbaren Verhaltensweisen, was sich auf alle Bereiche der Persönlichkeit beziehen kann und die oben bereits angesprochene Störung der emotionalen und sozialen Anpassung und der geistigen Leistungsfähigkeit einschließt. Auf einzelne Verhaltensweisen beschränkt kann sich auch eine partielle oder Teilretardation entwickeln (vgl. Moog/Moog, 1973, S.6).
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- Citar trabajo
- Lara Luckwaldt (Autor), 2011, Trauma in Kindheit und Jugend und die Folgen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/168823
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