´Die versunkene Stadt´ von Friedrich Gerstäcker: Erzählung oder Kunstmärchen?
Als Merkmal des Volksmärchens galt lange Zeit die mündliche Überlieferung durch das Volk. Dieses Definitionsmerkmal ist nach dem aktuellen Stand der Forschung allerdings nicht mehr haltbar: „Alle Märchen haben einen Autor, selbst wenn sich dieser heute nicht mehr feststellen lässt.“ (STEFAN NEUHAUS)
"So viel […] als Einleitung, um den Leser mit den ungefähren Verhältnissen […] bekannt zu machen, […] daß er nicht am Ende gar glaubt, ich wolle ihm ein Märchen aufbinden."
Schreibt der Wahlbraunschweiger Friedrich Gerstäcker 1852 in seiner Erzählung (?) ´Die versunkene Stadt´. Ob er dem Leser nicht doch ein Märchen - ein Kunstmärchen - aufbindet, soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden.
Zunächst wird der Terminus Volksmärchen erläutert und auf die Problematik der Begriffsbestimmung eingegangen, um schließlich im Vergleich eine Definition des Kunstmärchens liefern zu können.
Inwieweit nun Gerstäckers Erzählung ´Die versunkene Stadt´ (1852) Merkmale eines Kunstmärchens aufweist oder sich gar als ein solches bezeichnen lässt, wird im weiteren Verlauf der Arbeit untersucht. Bis auf Weiteres wird der neutrale Begriff Erzählung als Gattungsbezeichnung verwendet.
In der Schlussbesprechung finden sich eine Zusammenführung der Ergebnisse und ein abschließendes Fazit.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Kunstmärchen oder Volksmärchen? – Versuch einer Abgrenzung
3. Die versunkene Stadt von Friedrich Gerstäcker
3.1 Publikationsgeschichtliches
3.2 Inhaltliches
3.3 Märchentypisches
4. Schlussbesprechung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
So viel […] als Einleitung, um den Leser mit den ungefähren Verhältnissen […] bekannt zu machen, […] daß er nicht am Ende gar glaubt, ich wolle ihm ein Märchen aufbinden.[1]
In der vorliegenden Arbeit werde ich zunächst den Terminus Volksmärchen erläutern und auf die Problematik der Begriffsbestimmung eingehen, um schließlich im Vergleich eine aussagekräftige Definition des Kunstmärchens[2] liefern zu können.
Inwieweit nun Gerstäckers Erzählung Die versunkene Stadt (1852) Merkmale eines Kunstmärchens aufweist oder sich gar als ein solches bezeichnen lässt, werde ich im Folgenden untersuchen und bis auf weiteres den neutralen Begriff Erzählung als Gattungsbezeichnung verwenden. In der Schlussbesprechung finden sich eine Zusammen-führung der Ergebnisse und ein abschließendes Fazit.
2. Kunstmärchen oder Volksmärchen? – Versuch einer Abgrenzung
Als signifikantes Merkmal des Volksmärchens galt lange Zeit die mündliche Überlieferung durch das Volk. Dieses Definitionsmerkmal ist nach dem aktuellen Stand der Forschung allerdings nicht mehr haltbar: „Alle Märchen haben einen Autor, selbst wenn sich dieser heute nicht mehr feststellen lässt.“[3] Jedoch kann von einer mündliche Phase der Überlieferung nicht vollständig Abstand genommen werden, allerdings sind diese Vorgänge aus heutiger Sicht nicht mehr nachvollziehbar und so sei es nach Stefan Neuhaus „müßig darüber nachzudenken, ob man die Personen, die stoffliche Veränderungen initiierten, als Autoren etikettiert.“[4] So ist zwar durchaus denkbar, dass es sich bei den Volksmärchen um Erzählungen handelt, die einen oder gar mehrere Autoren und / oder Bearbeiter haben, die von den Brüdern Grimm explizit hervorgehobene Überlieferung durchs Volk entspricht hingegen nicht der Wahrheit und gilt als Fiktion. Der Begriff Volksmärchen[5] kann somit nur als ein Idealbegriff angesehen werden und müsste, nach Lothar Bluhm, eigentlich in die treffendere Bezeichnung Buchmärchen[6] umbenannt werden.[7] Es lässt sich somit eine angeblich mündliche Tradierung als Merkmal des Volksmärchens festhalten.
Im Gegensatz zum Volksmärchen ist das idealtypische Kunstmärchen das Werk eines einzelnen, benennbaren Autors und weist zudem diverse inhaltliche Besonderheiten auf.[8] Anstelle des formelhaften Anfangs (und Schluss) des Volksmärchens finden sich im Kunstmärchen oft präzise Orts- und Zeitangaben. Der einfachen, volkstümlichen Sprache ist eine künstlerische mit kompliziertem Satzbau und schwierigen Ausdrücken entgegengesetzt. Wir haben es zudem nicht mehr mit einsträngigen und stereotypen, sondern mehrsträngigen und originellen Handlungen zu tun: Es finden Nebenhandlungen und zeitliche Rückblenden statt. So wird schon an dem erweiterten Spektrum der Handlung deutlich, dass die Autoren vom einfachen Weltbild der Volksmärchen absehen und eine komplexere Welt darstellen. Die stereotypen Schauplätze wandeln sich zu charakteristischen, die die Stimmung und Handlung der Erzählung stützen. Das Kunstmärchen vermeidet die eindimensionale Darstellung der Charaktere und nimmt eine Psychologisierung der wichtigen Figuren vor. Dementsprechend können die Figuren des Kunstmärchens eine Entwicklung durchleben und durchaus mehrere Seiten und Charaktereigenschaften haben: Die Figuren sind mehrschichtiger angelegt und nicht mehr nur schemenhaft gut oder böse. Dem Happy-End des Volksmärchens, dessen „Grundtendenz [...] die aktive Wiederherstellung einer zeitweilig gestörten Ordnung“[9] ist, setzt das Kunstmärchen einen schlechten Ausgang entgegen, oder bietet dem Leser ein nicht eindeutig als glücklich zu interpretierendes Ende an.
Zu den Unterschieden finden sich Merkmale, die für das Volks- sowie das Kunstmärchen spezifisch sind. So zieht der Protagonist aus, um eine Aufgabe zu lösen oder sein Glück zu suchen und kann dabei auf magische Requisiten zurückgreifen. Die Zahlen- und die Natursymbolik kommen ebenfalls als gemeinsame Merkmale in Betracht, obwohl die Verwendung im Kunstmärchen origineller und durchdachter ist. Eine wichtige Gemeinsamkeit ist das Vorhandensein des Wunderbaren oder Übernatürlichen (Tiere können sprechen; Hexen, Riesen und andere Wesen treten auf; feststehende Tatsachen und Naturgesetze werden aufgehoben bzw. relativiert: Veränderung der Kohärenz von Raum und Zeit, Aufhebung der Schwerkraft usw.; phantastische Kausalbeziehungen werden hergestellt u.a.m.). Im Kunstmärchen ist die Wahrnehmung des Wunderbaren und Übernatürlichen allerdings subjektabhängig und kann nicht von allen Personen registriert werden. Neuhaus spricht hier von zwei Handlungs- bzw. Wahrnehmungsebenen.[10]
[...]
[1] Gerstäcker, Friedrich: Die versunkene Stadt. In: Blau Wasser. Aus dem Matrosenleben. Aus der See. 3. Aufl. Costenoble, Jena o.J., S. 421
[2] Die durch die unterschiedlichen Strömungen in den jeweiligen Epochen bedingten unterschiedlichen Ausprägungen der Erzählgattung werde ich hier nicht berücksichtigen können und werde lediglich eine Definition des Dachbegriffs Kunstmärchen liefern.
[3] Neuhaus, Stefan: Märchen. Franke, Tübingen 2005, S. 3
[4] Ebd., S. 4
[5] Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werde ich – trotz aller Problematik des Begriffs – weiterhin den Terminus Volksmärchen verwenden.
[6] Mit Buchmärchen meint Lothar Bluhm schriftlich festgehaltene Erzählungen, die der an das Volksmärchen herangetragenen Erwartungshaltung entsprechen: also Märchen, die durchaus durchs Volk mündlich über- liefert sein könnten.
[7] Vgl. Neuhaus, Stefan: Märchen. Franke, Tübingen 2005, S. 4
[8] Für die Aufzählung der Unterschiede bzw. Übereinstimmungen von Volks- und Kunstmärchen gehe ich davon aus, dass das Volksmärchen als eine Art Folie für das Kunstmärchen fungiert. Es existiert also eine Vorzeitigkeit: Das Volksmärchen wird hier als Grundlage des Kunstmärchens angesehen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass in der Jetztzeit keine Volksmärchen, im Sinne des Buchmärchens nach der Definition von Lothar Blum, mehr verfasst werden könnten
[9] Tismar, Jens: Kunstmärchen. Metzler, Stuttgart 1977, S. 2
[10] Vgl. Neuhaus, Stefan: Märchen. Franke, Tübingen 2005, S. 8
- Quote paper
- Adrian Gunkel (Author), 2006, "Die versunkene Stadt" von Friedrich Gerstäcker: Erzählung oder Kunstmärchen?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/168653
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