Mit der Erarbeitung von Maßstäben für eine Gesellschaftskritik aus biografischen Interviews ist der Soziologie keine leichte Aufgabe gestellt. Wenn es erst gelungen ist verschiedene Typen von Selbst- und Weltverhältnissen aus einer Fülle von Fällen herauszukristallisieren, stellt sich die Frage, wo die Kritik ansetzen kann. Welche Haltung der Welt und dem eigenen Selbst gegenüber stellt sich für das Individuum als defizitär heraus und welche institutionellen Beschaffenheiten (auf die eine kritische Soziologie letztlich zielen muss) sind damit verknüpft?
Ich möchte mich dieser Frage nähern, indem ich die Verbindung der kritischen Praxis der Akteure und ihren Weltverhältnissen untersuche. Um zu zeigen, dass eine Soziologie nur sinnvoll erscheinen kann, wenn sie den Akteuren erlaubt ihre eigene Kritik zu hinterfragen und ihre Kritikfähigkeit zu erweitern, soll im ersten Abschnitt auf das Verhältnis von soziologischer Theorie und Alltagskritik eingegangen werden. Im zweiten Abschnitt soll dann durch Einführung des Begriffes der Entfremdung die Methode zur Diagnostizierung defizitärer kritischer Praktiken näher bestimmt werden. Welche verschiedenen Formen kritischer Praxis im Zusammenhang mit konträren Welthaltungen auftreten können, soll in Abschnitt drei aus zwei biografischen Interviews herausgelesen werden. Zum Schluss möchte ich festhalten, dass auf der Suche nach Maßstäben der Gesellschaftskritik die Kritik der Akteure nur angemessen zur Geltung kommen kann, wenn sie in der Auseinandersetzung mit den Akteuren hinterfragt wird.
Gliederung
1. Einleitung
2. Kritik als wechselseitige Rekonstruktion
2.1 Kritische Soziologie und Soziologie der Kritik
2.2 Das Biografische Interview als Ort der rekonstruktiven Kritik
3. Entfremdung als Indiz für kritische Blockaden
4. Zwei Typen kritischer Praxis
4.1 Frühkindliche Entfremdungserfahrungen Werners
4.2 Werners kritische Praxis
4.3 Frühkindliche Entfremdungserfahrungen Steffens
4.4 Steffens kritische Praxis
4.5 Gegenüberstellung: Zynismus vs. wechselseitige Interpretation
5. Schlussfolgerung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Mit der Erarbeitung von Maßstäben für eine Gesellschaftskritik aus biografischen Interviews ist der Soziologie keine leichte Aufgabe gestellt. Wenn es erst gelungen ist verschiedene Typen von Selbst- und Weltverhältnissen aus einer Fülle von Fällen herauszukristallisieren, stellt sich die Frage, wo die Kritik ansetzen kann. Welche Haltung der Welt und dem eigenen Selbst gegenüber stellt sich für das Individuum als defizitär heraus und welche institutionellen Beschaffenheiten (auf die eine kritische Soziologie letztlich zielen muss) sind damit verknüpft?
Ich möchte mich dieser Frage nähern, indem ich die Verbindung der kritischen Praxis der Akteure und ihren Weltverhältnissen untersuche. Um zu zeigen, dass eine Soziologie nur sinnvoll erscheinen kann, wenn sie den Akteuren erlaubt ihre eigene Kritik zu hinterfragen und ihre Kritikfähigkeit zu erweitern, soll im ersten Abschnitt auf das Verhältnis von soziologischer Theorie und Alltagskritik eingegangen werden. Im zweiten Abschnitt soll dann durch Einführung des Begriffes der Entfremdung die Methode zur Diagnostizierung defizitärer kritischer Praktiken näher bestimmt werden. Welche verschiedenen Formen kritischer Praxis im Zusammenhang mit konträren Welthaltungen auftreten können, soll in Abschnitt drei aus zwei biografischen Interviews herausgelesen werden. Zum Schluss möchte ich festhalten, dass auf der Suche nach Maßstäben der Gesellschaftskritik die Kritik der Akteure nur angemessen zur Geltung kommen kann, wenn sie in der Auseinandersetzung mit den Akteuren hinterfragt wird.
Da ich schon während der Klärung des theoretischen Rahmens Bezug zu den Aussagen eines Interviewten nehmen möchte, soll dieser Fall hier kurz vorgestellt werden. Es handelt sich dabei um Werner F., der 1978 als Sohn eines NVA-Offiziers und einer Lehrerin geboren wurde. Das Verhältnis zu seinen Eltern beschreibt er als innig. Er genoss große Freiheiten in seiner Jugend und Beistand nach Rückschlägen.[1] Er bewohnt seit jeher die Plattenbauten der Randgebiete Jenas und hat nach dem Realschulabschluss eine Ausbildung als Stahlbetonbauer angefangen, die er aber nach einem gewalttätigen Angriff auf seinen Vorarbeiter abbrechen musste. Der Startpunkt einer „Karriere in Anführungsstrichen“[2] wie der Interviewte seinen Werdegang betitelt: Streckenweise suchte er als Mitglied einer rechtsradikalen Band seinen Lebensmittelpunkt in gewalttätigen Auseinandersetzungen mit rivalisierenden Gangs oder der Staatsgewalt. Berufstätig war er während dieser Zeit in verschiedenen Gerüstbau-Firmen, in der letzten auch als Vorarbeiter. Durch den „bewusstseinserweiternden“ Kontakt zu Drogen[3] und zumindest einen teilweisen Wechsel des Freundeskreises gewinnt er Abstand von Gewalttätigkeit und Vorurteilen gegenüber Ausländern. Nach erneuter Arbeitslosigkeit begann er Drogen zu verkaufen, was er jedoch wieder aufgab. Es folgte ein Wechselspiel aus Arbeitslosigkeit und amtlich beschaffter Arbeit (vornehmlich Hilfstätigkeiten in Jugendzentren). Heute möbliert er Veranstaltungsräume und betreut einen Proberaum für Jugendbands in einem Kulturzentrum. In nächster Zeit läuft jedoch auch diese Maßnahme aus und Werner überlegt, ob er einen Teil der freien Zeit in Arbeitslosigkeit, die er schon früher mit Online-Rollenspielen, Fernsehen, Alkohol und Treffen mit Freunden immer zu genießen schien, gegen eine unwesentlich über dem Hartz IV-Satz vergütete Honorartätigkeit an seiner jetzigen Arbeitsstelle eintauschen soll.
2. Kritik als wechselseitige Rekonstruktion
2.1 Kritische Soziologie und Soziologie der Kritik
Da ich in besagtem Kulturzentrum zu Gange bin und auch weiterhin Kontakt zu Werner F. pflege, stehe ich jetzt vor der Aufgabe ihm bei seiner Entscheidung, wie sie auch ausfallen wird, bei zu stehen. Aber kann ich ihn in seinem Entschluss nur bekräftigen oder gibt es noch eine bessere Möglichkeit ihm zu helfen?
Vielleicht sollte ich alles darauf setzen, ihn von meiner Sicht der Dinge zu überzeugen und ihn darauf hinweisen, dass seine Gedanken, wie er sie gewohnt ist zu denken, nur Ausdruck gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse und Unterdrückung sind, dass seine Sympathie für die Wohn-Atmosphäre in Plattenbauten[4], (oder für die Einfachheit seines Lebens) nur zur Tugend gemachte Not ist. Tugenden, die einen Unterschichten-Habitus formen, der Werner anhaftet und der die gesellschaftliche Ungleichheit nur reproduzieren kann.[5]
Mitleid und Empörung würde in mein Gesicht geschrieben stehen, aber würde es Werner wirklich bei seiner Entscheidung helfen, sich als Opfer übermenschlicher Strukturen zu begreifen? Folgt man der kritischen Soziologie Pierre Bourdieus, wäre eine solche Vorgehensweise denkbar. Dass der aufklärerische Impetus einer solchen Theorie jedoch im krassen Widerspruch zu der Machtlosigkeit steht, in der sie die Individuen zurücklässt – außerstande ein freies Leben zu führen, haben Bourdieus Nachfolger gezeigt.
Mit der pragmatischen Soziologie der Kritik weht ein frischer Wind. Sie stürzt sich auf die Deutungen der Akteure, zeigt auf welche unterschiedlichen Spielarten der alltäglichen Kritik es gibt, wie die Grundlagen ihrer Rechtfertigungen aussehen, welche Wirkungen sie im spannungsgeladenen Verhältnis mit dem kapitalistischen Akkumulationsprinzip haben und wie sich daraus ein kapitalistischer Geist entwickelt, den es wiederum gegen die Machtspielräume des Kapitalismus auszulegen gilt.[6] Jedoch sehe ich Werners genügsame Zurückgezogenheit kaum in Bezug auf die Rechtfertigungsordnung eines projektbasierten, flexiblen Kapitalismus durchsetzbar. Und wenn ich Werners Beurteilung der Situation folge, ist es für ihn das Beste, abzuwarten und auf das nächste Angebot der Agentur zu hoffen, zumal der geringere Verdienst und Status der Honoraranstellung seinen Stolz verletzen würden.[7] Ich glaube, dass Werner sich nicht seines Anwesens im Plattenbau schämen muss, aber soll ich ihn wirklich, ohne mit der Wimper zu zucken, zurück in seine vier Wände zu Bier und Fernseher schicken?
Mit dem hier skizzierten Fall möchte ich zwei Fragen aufwerfen, die für den Umgang und für die Erarbeitung einer Typologie von alltagspraktischen Kritikverständnissen von Bedeutung sind: Zum einen steht das richtige Maß an Demut gegenüber den Ansichten der Akteure (speziell bei der Interpretation Biografischer Interviews) zur Debatte, zum anderen die Suche nach Maßstäben einer Soziologie, die sich auch als Kritik der Formen kritischer Alltagspraxis verstehen will.
2.2 Das Biografische Interview als Ort der rekonstruktiven Kritik
Auf der Suche nach handlungsleitenden Werten
Bei dem Versuch, die Form der Sorgfalt bei der Deutung von Interviews zu erörtern und somit das Verhältnis von Forscher und Akteur, von soziologischer Theorie und den Weltdeutungen der Interviewten zu bestimmen, möchte ich den rekonstruktiven Charakter von biografischen Interviews deutlich machen und zunächst auf die Schwierigkeit eingehen, die moralischen Werte einer Person, welche sich sicher nicht nur in expliziten Rechtfertigungen äußern, herauszufinden.
Die immanente Gesellschaftskritik, also eine Kritik, die ihre Maßstäbe zur Beurteilung sozialer Schieflagen aus der Gesellschaft selbst entnimmt (also aus Interviews, Literatur, Presse (Kunst?) etc.), hat ein Interesse daran, dass diese moralischen Prinzipien auch einen gewissen Grad an Stabilität, bzw. Validität aufweisen und sich tatsächlich im Leben der Akteure, in ihren Entscheidungen und praktischen Vollzügen widerspiegeln. Bei der Analyse eines Interviews ist es dabei oft schwer zu sagen, ob man sich gerade auf der Spur wirklich handlungsleitender Werte befindet, oder ob man die Lebensgeschichte der interviewten Person unter dem falschen Licht mal hier mal da eingestreuter Allgemeinplätze, die den Gesprächsverlauf beschleunigen oder vermeintliche Sünden rechtfertigen sollen, rekonstruiert.[8]
[...]
[1] WF: Werner bekommt eines Tages die gesammelten Ausgaben seiner Eltern für ihn, die hauptsächlich aus Bußgeldern bestehen vorgelegt: „Da wusst 'sch dann erst ma was 'sch eigentlich meinen Eltern zu verdanken hab, so. Wenn die mich da nich, wenn die mir da nich geholfen(..)da hätt'sch(..)pf(..)würd'sch wahrscheinlich jetz immer noch im Knast sitzen“.
[2] WF: „So naja un dann ging das halt so 'n bisschen los mit der(.) mit der Karriere in Anführungsstrichen. Also ich hab dann ehm(.) ich glaub erstma 'n Jahr oder so war ich erstma arbeitslos. So, 'ne neue Lehre wollt ich erstma überhaupt nich anfangen“.
[3] WF: „[…] ich hab's dann auch regelmäßich geraucht un dann irgendwann täglich - dass du(.) bist du 'n komplett anderer Mensch geworden so. […] un dann haste irgendwelche Filme geguckt, so ganz andere als früher - früher haste Kriegsfilme geguckt un Aktionfilme un rumgeballer – un dann […] was komplet anderes halt so, was friedliches, was ruhiges so. […] Irgendwie is is auch ehm 'n Schwarzer is auf eenmal keen blöder Nigger mehr oder sowas, wisste. 'S halt dann(.) es hat komplet den Horizont irgendwie bei mir um 300% erweitert. […] Jo un seit ich dann mit kiffen angefangen hab, […] seit dem hab ich mich ein einzches mal wieder geprügelt und da hab ich, selbst da war es Notwehr“.
[4] WF: „Jedenfalls fühl ich mich hier total wohl. Weil's halt och alles so relativ unkompliziert is, ne. Was jetz(.) du hast gleich Verkehrsanbindung, du hast halbwegs vernünftche Leute. […] So also ich wiss nich, da wo ich irgendwie grade bin, da fühl ich mich och wohl. Wenn's halt nich so is, dann zieh ich woanders hin. Aber 's hatt ich ja noch nie. (I: mhm)“.
[5] Bourdieu, Pierre: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz: UVK 1997 [franz. Orig. 1993], S. 163.
[6] Boltanski, Luc und Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus . Konstanz: UVK 2003 [franz. Orig. 1997].
[7] Da ich nach dem Interview noch einige Eindrücke von Werner sammeln konnte, möchte ich diese hier auch zur Stützung meiner Interpretation anbringen und wie folgt kennzeichnen. Memo: Die Tatsache, dass Werner nur ein viertel seines eigentlichen Honorars über den HartzIV-Satz hinaus verdient, wurmt ihn und er klagt darüber, als er mir das erste mal von dem neuen Arbeitsangebot berichtet. Ich denke es ist auch die Halbseitenheit dieser Anstellung, mit der er unzufrieden ist, da sie ihm die Fürsorge für den Band-Proberaum entreißt.
[8] Das Phänomen der „sozialen Erwünschtheit“ oder „sensibler Fragen“ ist in der Psychologie hinreichend dokumentiert. Vgl. Zimbardo, P.G. und Gerrig, R.J.: Psychologie. 16. Auflage, München: Pearson, S. 43.
- Quote paper
- Norbert Sander (Author), 2010, Weltverhältnisse und kritische Praxis. Die Gesellschaftskritik der Biografien, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/168629
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