Aufgrund einer multifaktoriell bedingten Zunahme älterer Bewohnerinnen und Bewohner sehen sich Organisationen im stationären Kontext von Menschen mit einer geistigen Behinderung zunehmend vor neuen Herausforderungen und Fragen gestellt. Eine Frage stellt sich, wie sie dort lebenden Menschen am Ende ihres Lebens angemessen begleiten können.
Eine gesellschaftliche Ausgrenzung und Verdrängung der Themen Sterben und Tod haben Auswirkungen für Betroffene. Damit sich eine Verdrängung nicht zwangsläufig auf die Lebenswelt von Organisationen auswirkt, stellen sich neue Anforderungen, wenn es darum geht, ein würdevolles Sterben zu ermöglichen. Betreffend Menschen mit einer geistigen Behinderung im Sterbeprozess benötigt es spezifische Fachkenntnisse von Menschen mit einer geistigen Behinderung zur Eruierung der spezifischen Bedürfnisse im Zusammenhang des Themas. Organisationen im stationären Kontext sind angehalten sich mit den Themen Sterben und Tod auseinanderzusetzen, um eine Sterbekultur innerhalb der Organisation zu konzeptionieren. Dabei bietet die Sozialpädagogik einen wichtigen Beitrag.
Inhalt
Abstract
Einleitung
1.Sterben und Tod
1.1 Der Tod und seine Definition
1.2 Sterben und seine Definition
1.2 Die Geschichte des Todes
1.2.1 Der gezähmte Tod vs. der verwilderte Tod
1.3 Veränderter Umgang mit dem Tod in der Moderne
1.4 Hospiz und Palliative Care
1.4.1 Selbstverständnis der Palliative Care
1.4.2 Würde der Sterbenden
1.5 Soziale Arbeit in der Palliative Care
1.6 Fazit
2. Geistige Behinderung
2.1 Bezeichnung der Schweregrade geistiger Behinderung
2.2 Besonderheiten der Entwicklung von Menschen mit geistiger Behinderung
2.2.1 Folgen der Einschränkungen im kognitiven Bereich
2.2.2 Angst bei Menschen mit geistiger Behinderung
2.2.3 Menschen mit geistiger Behinderung und kritische Lebensereignisse und altersnormierte Krisen
2.3 Psychosoziale Entwicklung nach Erikson bei Menschen mit einer geistigen Behinderung
2. 4 Menschen mit geistiger Behinderung im Alter
2.4.1 Prozess des Altwerdens bei Menschen mit geistiger Behinderung
2.4.3 Periodeneffekte
2.4.4 Fokus Finanzierung: Übergang von der IV zur AHV
2.5 Fazit
3.Sterben und Tod von Menschen mit geistiger Behinderung im stationären Kontext
3.1 Organisation
3.1.1 Stationärer Bereich
3.2 Professionelle Unterstützung anhand eines interdisziplinären Teams
3.2.1 Unterschiedliche Lebensphasen des sterbenden Menschen und der Fachpersonen
3.3 Sterben und strukturelle Bedingungen
3.4 Eingeschränktes Informationsangebot
3.4.1 Todesverständnis von Menschen mit geistiger Behinderung in der Fremdeinschätzung
3.4.2 Todesverständnis bei Menschen mit geistiger Behinderung in der Selbsteinschätzung
3.5 Fallbeispiele
3.5.1 Fallbeispiel zu Irreversibilität
3.5.2 Fallbeispiel zu Nonfunktionalität
3.5.3 Fallbeispiel zu Universalität
3.6 Kommunikation in der Begleitung von sterbenden Menschen mit geistiger Behinderung
3.7 Sterbeprozess von Menschen mit geistiger Behinderung
3.8 Körperlicher Prozess am Lebensende
3.9 Fazit
4. Sozialpädagogik und Begleitung von sterbenden Menschen mit geistiger Behinderung
4.1 Sterbebegleitung als sozialpädagogisches Handlungsfeld
4.1.1 Orientierung an der Kategorie „Subjekt“
4.1.2 Orientierung an der Kategorie „Ort“
4.1.3 Orientierung an der Kategorie „Pädagogischer Bezug“
4.2 Positionierung und Aufgabenstellung
4.3 Theoretische Ansätze und Arbeitsformen
4.4 Adressatenbezogene Handlungsebene
4.4.1 Hilfsprozessplanung nach Hiltrud von Spiegel
4.4.2 Biografiearbeit
4.4.3 Kreative Verfahren
4.4.4 Raumgestaltung
4.4.5 Angehörigenarbeit
4.4.6 Rituale
4.5 Organisationsbezogene Handlungsebene
4.6 Gesellschaftspolitische Handlungsebene
4.7 Psychohygiene im sozialpädagogischen Alltag
4.8 Fazit
5. Schlussfolgerung
5.1 Überprüfung der Fragestellung
5.2 Weitere Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Quellenverzeichnis
Abstract
Aufgrund einer multifaktoriell bedingten Zunahme älterer Bewohnerinnen und Bewohner sehen sich Organisationen im stationären Kontext von Menschen mit einer geistigen Behinderung zunehmend vor neuen Herausforderungen und Fragen gestellt. Eine Frage stellt sich, wie sie dort lebenden Menschen am Ende ihres Lebens angemessen begleiten können.
Eine gesellschaftliche Ausgrenzung und Verdrängung der Themen Sterben und Tod haben Auswirkungen für Betroffene. Damit sich eine Verdrängung nicht zwangsläufig auf die Lebenswelt von Organisationen auswirkt, stellen sich neue Anforderungen, wenn es darum geht, ein würdevolles Sterben zu ermöglichen. Betreffend Menschen mit einer geistigen Behinderung im Sterbeprozess benötigt es spezifische Fachkenntnisse von Menschen mit einer geistigen Behinderung zur Eruierung der spezifischen Bedürfnisse im Zusammenhang des Themas. Organisationen im stationären Kontext sind angehalten sich mit den Themen Sterben und Tod auseinanderzusetzen, um eine Sterbekultur innerhalb der Organisation zu konzeptionieren. Dabei bietet die Sozialpädagogik einen wichtigen Beitrag.
Keywords: Stationärer Kontext, Umgang mit Sterben und Tod, Menschen mit geistiger Behinderung, Sterbebegleitung, SozialpädagogikVorwort Auf das Thema Sterben und Tod von Menschen mit einer geistigen Behinderung wurde ich während eines Vorpraktikums aufmerksam. Während dieser Zeit durfte ich unter anderem eine alte Frau mit einer leichten geistigen Behinderung auf ihrem letzten Lebensabschnitt betreuen. Sie litt an einem fortgeschrittenen, bösartigen Tumor am Rücken. Neben den physischen Schmerzen schien die Frau in Anbetracht ihres eigenes Todes unter verschiedensten Ängsten zu leiden. Ihre Ängste beeinträchtigten ihr Leben so stark, dass sie nicht alleine sein konnte. Dieses Bedürfnis kollidierte mit den übrigen täglichen Aufgaben. So konnte der sterbenden Frau die benötigte Betreuung nicht gewährt werden. Zudem verfügte keine der Betreuungspersonen über das nötige Wissen im Umgang mit Sterben und Tod von Menschen mit geistiger Behinderung. Nach meiner Beobachtung erhielt die Frau jedoch die nötige Palliativpflege. Niemand konnte - aus welchen Gründen auch immer - auf ihre Ängste eingehen. Ich erlebte eine Art „Vakuumsituation“.
In einer zweiten Begleitung lernte ich eine 76 jährige Frau mit einer mittleren geistigen Behinderung kennen. Die Frau litt an Brustkrebs, welcher schon soweit fortgeschritten war, so dass die Frau sich im Sterbeprozess befand. Der Frau wurde medizinisch soweit versorgt, dass sie sowenig wie möglich unter Schmerzen leiden musste. In den letzten Wochen erzählte die Frau, dass sie keine Angst vor dem Tod habe. Sie werde bald in den Himmel gehen, bemerkte sie. Dabei war die Frau während ihrer letzten Tage äusserst ruhig und strahlte für mich damals eine unfassbare Gelassenheit aus.
Bei beiden Frauen fühlte ich mich in Anbetracht des nahestehenden Todes äusserst unsicher. Zudem hatte ich das Gefühl, dass der Sterbeprozess „nebenbei" im Alltag verlief. Dies hatte auch unterschiedliche Auswirkungen auf die andern Mitbewohner und Mitbewohnerinnen. Die geschilderten Situationen gaben für mich den Anlass meine Bachelorarbeit zum Thema „Sterben und Tod von Menschen mit einer geistigen Behinderung im stationären Kontext" zu schreiben.
Einleitung
Der Umgang mit Sterben und Tod in der Moderne wird gesamtgesellschaftlich verdrängt.
Der Tod ist uns fremd geworden und doch ist er merkwürdigerweise allgegenwärtig. Er wird medial inszeniert und daher haben vermutlich noch nie so viele Menschen so verschiedene Todesarten gesehen. Gleichzeitig erleben wir persönlich äusserst wenig Berührung mit Sterbenden und Leichname. Diese Verdrängung des Todes zeigt sich in vielen Bereichen. Beispielsweise wird in der Debatte zur Sterbehilfe über Sinn und Inhalt eines lebenswerten Leben heftig diskutiert. Zudem verlieren altbewährte Trauerrituale an Bedeutung. Ausgrenzung und Verdrängung haben Auswirkungen auf die Betroffene. Damit sich eine Verdrängung nicht zwangsläufig auf die Lebenswelt von Organisationen auswirkt, stellen sich neue Anforderungen, wenn es darum geht, ein würdevolles Sterben zu ermöglichen. Ältere und alte Menschen mit einer geistigen Behinderung sind erst vor einigen Jahren in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Eine Begleitung im Alter beinhaltet auch eine Begleitung am Ende des Lebens. Damit ein Sterben in Würde von Menschen mit geistiger Behinderung innerhalb des stationären Kontextes möglich wird, müssen Besonderheiten beachtet werden.
Aus dieser Ausgangslage heraus stellen sich folgende zwei Fragen:
- Was muss im Sterbeprozess von Menschen mit einer geistigen Behinderung im stationären Bereich beachtet werden?
- Welche Handlungsperspektiven kann die Sozialpädagogik dazu bieten?
Im ersten Kapitel dieser Arbeit werden die Themen Sterben und Tod sowie die Geschichte des Todes näher erläutert. Zudem wird kurz auf die Hospizbewegung und der daraus resultierenden Palliative Care eingegangen. Im zweiten Kapitel wird auf die Personengruppe von Menschen mit geistiger Behinderung eingegangen. Dabei werden auf deren Besonderheiten im Umgang mit Angst, altersnormierten Krisen und kritische Lebensereignisse und spezifisch auf die Besonderheiten im Alter erklärt.
Im dritten Kapitel werden auf die Themen Sterben und Tod von Menschen mit einer geistigen Behinderung im stationären Bereich eingegangen. Im letzten Kapitel wird das sozialpädagogische Handlungsfeld der Sterbebegleitung aufgezeigt. Darauf werden die Handlungsperspektiven auf drei Ebenen aufgeteilt. Zuletzt wird auf die Wichtigkeit der Psychohygiene aufmerksam gemacht.
Zudem werden nach jedem Kapitel die wichtigsten Aspekte in einem Fazit festgehalten.
1.Sterben und Tod
Sterben und Tod bieten in ihrer ganzen Fülle verschiedene Zugänge für Diskurse. Oehmichen (2008) macht den Versuch den Tod über den biologischen Zugang. Als Prozesses stellt der Tod ein genetisch begründetes biologisches Faktum dar. Den unausweichlichen Tod teilt der Mensch mit allen mehrzelligen Organismen (vgl. S.15). Für Oehmichen sind Sterben und Tod nicht dasselbe. Im Gegensatz zum Tod ist Sterben ein Teil des Lebens, die Lebensspanne an seinem Ende (vgl. Oehmichen, 2008, S.16). Mit der Betrachtung des Sterbens als Teil des Lebens und dem Tod als biologisches Faktum betreffen sie alle Lebewesen . Der natürliche Kreislauf von Befruchtung, Geburt, Entwicklung, Lernen, Sterben und Tod findet immer und überall in der Natur statt. Im Laufe des Lebens, zwischen Geburt und Tod wächst und entwickelt sich der Mensch. Als einen lebenslangen Prozess erfasst Erikson (1970) die menschliche Entwicklung, und die Identität entsteht als Stufenfolge einander sich aufbauender Krisenbewältigung. Jede Stufe hält einen bestimmten Konflikt oder Krise bereit. Jede Krise, die bewältigt wird, hilft wiederum bei der Überwindung späterer Krisen. Bei Erikson bedeutet Krise jedoch nicht Störung, sondern ist ein Bestandteil jeder Entwicklung. Nach Zimbardo und Gerrig (2004) wird durch die in der Krise erworbenen Erfahrungen und Problemlösungsstrategien Entwicklung ermöglicht. Die erworbenen Erfahrungen und Problemlösungsstrategien können für zukünftige Probleme hilfreich sein, sie leichter zu bewältigen. Dadurch wird das eigene Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gestärkt Krisensituationen zu meistern (vgl. Zimbardo & Gerrig, 2004, S. 470). Kübler-Ross (1981) meint, dass eine Krise im Zusammenhang mit dem Sterben und dem Tod eine letzte Stufe der Reife darstellt. Ohne den Tod wäre nach Kübler-Ross im Leben nichts schön und wichtig und nichts wäre ohne ihn wesentlich. Im Angesicht des Abschiedes wird dem Menschen die Bedeutung des Lebens und somit er sich seiner Selbst bewusst (vgl. Kübler-Ross, 1981, S. 161).
Mischke (1996) hingegen sieht im Tod einen Akt, der nicht durch den subjektiven Willen geprägt ist. „Geburt und Tod sind gleichermassen unfreiwillig“ (S. 10). Wozu der Tod einer negativen Konnotation unterliegt (vgl. S. 10).
Der Mensch weiss im Gegensatz zu andern Lebewesen, dass er stirbt. Zudem ist der Mensch sich bewusst, dass der Tod jederzeit kommen kann. Dieses Wissen erzeugt Sorge und Angst und wird auf unterschiedlicher Weise verarbeitet (vgl. Oehmichen, 2008; S.15). Rund um das Sterben und den Tod sind in fast allen Kulturen verschiedene Bräuche und Rituale entstanden. Sie wurden von den Betroffenen als Orientierungshilfe beim Sterben eines Angehörigen und beim Abschiednehmen angewandt. In den meisten Religionen und Kulturen wird ein Weiterleben des einzelnen Menschen in einer jenseitigen Welt, in der Welt der Toten konzipiert (vgl. Feldmann, 2008, S.7).
Nach Mischke (1996) lässt sich der Tod nicht definieren. Der Tod ist als Negation des Lebens angesehen, sodass sich jede Sinnfrage hinsichtlich der Grenze Tod rückbezieht auf die Sinngebung des Lebens (vgl. Mischke, 1996, S.14). Demzufolge sind Vorstellungen über den Tod abhängig von Konzepten, Annahmen und von einer metaphorischen Sprache (wie beispielsweise Symbolen, Zeichen und Rituale).
Es kann also aus einer übergeordneten Sicht festgehalten werden, dass der Umgang mit dem Sterben und dem Tod einerseits als Chance, im Sinne von Reifung im Zusammenhang mit Krisenbewältigung, verstanden werden kann. Der Umgang mit Sterben und Tod kann auch als eine Möglichkeit des Scheiterns verstanden werden, durch eine Grenzerfahrung des irdischen Lebens und hin zu einem transzendenten Dasein. Zudem kann festgehalten werden, dass der Umgang mit dem Sterben und dem Tod abhängig von der Sinngebung des Lebens ist.
1.1 Der Tod und seine Definition
Eine allgemeine Definition des Todes gibt es nicht. Je nach wissenschaftlicher Sichtweise existieren unterschiedliche Definitionen. Auch der Zeitpunkt wird in der Regel nicht allgemein definiert, sondern richtet sich nach den kulturellen Anschauungen und Normen. Im Lauf der Geschichte sind verschiedene Definitionen entstanden, diese werden heute noch parallel verwendet. Folgend werden unterschiedliche Todesdefinitionen erläutert.
Sozialer Tod: Radikale Veränderung der gewohnten sozialen Umgebung. Dies steht nicht unmittelbar im Zusammenhang mit dem Todesereignis beim Sterben.
Psychischer Tod: Verlust der kognitiven Fähigkeiten. Zum Beispiel durch Verlust des Bewusstseins durch komatösen Zustand. Der psychische Tod steht nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Todesereignis beim Sterben.
Klinischer Tod: Fehlen der Lebensfunktionen (Atmung und Kreislauf).
Juristischer Tod: irreversibler Funktionsverlust des Gehirns, zumindest des Hirnstammes mit den lebensnotwendigen Regulationszentren von Atmung und Kreislauf. Wird auch als Hirntod bezeichnet.
Biologischer T od: kompletter Zerfall des irdischen Körpers (vgl. May, 2010, S. 18-19).
May (2010) differenziert die körperlichen Vorgänge um den klinischen Tod. Nach May ist Sterben nicht ein Ereignis, sondern ein physischer Vorgang, der fortschreitend den ganzen Menschen betrifft. Er unterscheidet zwischen unsicheren und sicheren Todeszeichen. Unsichere Todeszeichen sind Beobachtungen, die mit dem Begriff „Tod“ in Verbindung gebracht werden. Sie sind jedoch nicht verlässlich für die Feststellung des Todes, da sie auch bei lebenden Menschen beobachtet werden können. Dies sind:
- Fehlen von Atmung, Puls und Herzschlag
- Lähmung aller Muskeln und Verlust der Reflexe
- Bewusstlosigkeit
- Auskühlung
Hingegen sind sichere Todeszeichen:
- Totenflecken: rotviolette Flecken am Körper aufgrund Blutansammlungen
- Totenstarre: Erstarrung der Fasern der Muskel
Gegenwärtig gilt der Hirntod juristisch als Todeszeitpunkt. Durch das Fehlen von Sauerstoff sterben die Zellen ab und die Zersetzung des Körpers beginnt. Da der Hirntod auf ganz selbst zu bestimmenden Parametern beruht, gibt es unterschiedliche Festlegungen in den verschiedenen Ländern (vgl. May, 2010, S.19).
1.2 Sterben und seine Definition
Sterben markiert einen letzten Lebensprozess, der auf das Ereignis Tod hinführt und darin seinen Abschluss findet (vgl. Müller, 2005, S.25).
Oehmichen (2008) definiert Sterben folgendermassen: „ Ein Sterbender ist ein Kranker oder Verletzer, bei dem der Arzt aufgrund einer Reihe klinischen Zeichen zur Überzeugung kommt, dass die Krankheit irreversibel oder die traumatische Schädigung infaust verläuft und der Tod in kurzer Zeit eintreten wird“ (S.21). Weber (1994) hingegen betont, dass der Sterbeprozess nicht auf den physischen Zusammenbruch des Organismus reduziert werden kann]. Er unterscheidet den Sterbeprozess in drei elementare Dimensionen.
Physische Ebene: als Dimension des biochemischen Zusammenbruchs des Organismus
Psychische Ebene: als Dimension des Abbruches komplexer psychisch-sozialer Vorgänge
Soziale Ebene: als Dimension des Zusammenbruches sozialer Bindungen und eines Netzes zwischenmenschlicher Beziehungen
Die dimensionale Vorstellung des Sterbeprozesses von Weber hebt einen engen Zusammenhang der einzelnen Dimensionen hervor (vgl. Weber, 1994 S.308).
Eine differenziertere Beobachtung der Sterbephasen der psychischen Ebene machte die Psychiaterin Kübler-Ross. Auf die Sterbephasen von Kübler-Ross wird im Kapitel 3.7 eingegangen.
1.2 Die Geschichte des Todes
Der französische Historiker Philip Aries (1982/1995) zeigt, dass die Zeit des Sterbens schon immer eine schwere Krise für die betroffenen Menschen war. Die Einstellung unterschied sich jedoch zur Einstellung der Gegenwart. Aries verdeutlicht den Tod, bezogen auf den historischen Kontext des Abendlandes. Besonders deutlich wird der Unterschied der Einstellung im Mittelalter. Aries beschreibt, dass der Tod im frühen Mittelalter ein ständiger Begleiter der Menschen war und dieser zum Leben gehörte. Jeder Mensch trug einen Kern (Erwachsene einen grösseren als Kinder) des Todes in sich und war sich dessen bewusst.
Er bestand als alltägliche Gefahr und war immer gegenwärtig. Ebenfalls war der Übergang zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen fliessend (vgl. Aries,1982/1995, S. 1516).
Der Tod wurde anhand einfacher Todesrituale konzipiert. Kam der Tod allerdings ohne Vorzeichen, beispielsweise Ertrinken in einem Flussbett, so wurde der Tod mit einem Fluch begründet. Ein weiterer Wesenszug war seine Präsenz in der Öffentlichkeit. Bis ins 19. Jahrhundert konnte in Europa jeder Mensch, sogar der Familie unbekannte Personen, wenn das Viatikum zu einem Kranken getragen wurde, sich dem Priester auf der Strasse anschliessen und das Haus des Sterbenden betreten. Der Sterbende war somit im physischen Sinne nicht alleine. Sterben wurde nicht als ein individueller, sondern als ein sozialer Vorgang betrachtet. So hatte der Sterbende, bei einer Versammlung, im Mittelpunkt zu sein. Zudem wurde der Tod nicht als Ende sondern als Übergang angesehen. Die Vorstellung einer absoluten Negativität, eines Bruches angesichts eines Abgrundes ohne Erinnerung gab es nicht. Der Tod wurde im Sinne eines Übergangs betrachtet (vgl. Aries,1982/1995, S.30-35).
Auch der Friedhof unterschied sich zur heutigen Zeit. Im Mittelalter war der Friedhof kein ruhiger, bedachter Ort. Er war bewohnt und diente als Forum, als ein Haupt- und Spielplatz, wo sich Einwohner versammelten, Geschäfte erledigten und Belustigungen trieben (vgl. Aries,1982/1995, S.86).
Zudem war es für die Menschen des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit die Todesursache für die Bestattung von grosser Bedeutung. Handelte sich beispielsweise um einen Selbstmörder, so wurde seinen Leichnam der Friedhof verweigert. War der Betroffene Opfer einer Hinrichtung, so war man bemüht den Leichnam vermodern zu lassen (vgl. S.61). Während Epidemiephasen, wie beispielsweise die Pest, wurden Gemeinschaftsgräber, die bis zu 1500 Leichname fassten, errichtet. Gemeinschaftsgräber waren aber auch Bestattungsorte für Arme, vor allem zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert. Die Bestattungsformen unterschieden sich zur heutigen Zeit. Doppelte Bestattungsverfahren waren gängig. Dabei wurden die Knochen aus den Gemeinschaftsgräbern genommen und nahm sie in Gebeinhäuser auf. Zudem wurden sie mit einem Epitaph (eine Art Grabdenkmal) verschlossen (vgl. vgl. Aries,1982/1995, S.75 -78).
Außerdem unterschieden sich die Formen der Bestattung zur heutigen Zeit. Bis zum 16. Jahrhundert wurde ein Gottesdienst ohne Präsenz des Leichnams abgehalten (vgl. S. 226). Mit der medizinischen Forschung und der Ablösung der Priester hatte sich im Laufe der Zeit auch der Umgang den Toten geändert. Der Tod und der tote Körper wurden während des 17. und 18. Jahrhunderts zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Man sah sich den toten Körper an, so wie man sich den Kranken auf dem Bett ansah (vgl. S.452). Mit der Sezierung wurde die Anatomie für viele zugänglich und der Umgang mit Leichen im täglichen Leben änderte sich. Beispielsweise konnte ein reicher Mann ein privates Anatomiekabinett besitzen wie ein Chemielabor (vgl. Aries,1982/1995, S. 468).
Aries ist der Ansicht, dass mit der medizinischen Wissenschaft die wahre Angst vor dem Tod aufkam. Bis anhin fürchteten die Menschen den Tod und sprachen es auch aus, fürchteten den Tod aber nicht. Jedoch die Angst der Menschen im 17. und 18. Jahrhundert überschritt diese Schwelle, indem sich diese Furcht von der Imagination in die gelebte Wirklichkeit verlagerte. Mit der medizinischen Forschung unter anderem der Einbalsamierung der Leichen wurde man sich der Gefahr der Scheintoten bewusst und eine neue Auseinandersetzung der Lebend -Toten hat stattgefunden. Fragen, Wünsche und Bedürfnisse der leblosen Körper erstreckten sich auf den ganzen Komplex des Mythos Tod (vgl. Aries, 1982/1995, S. 513- 517).
1.2.1 Der gezähmte Tod vs. der verwilderte Tod
Nach Aries Studie kann allgemein gesagt werden, dass eine gravierende Veränderung im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert stattfand. Bis zu jenem Zeitpunkt waren Sterben und Tod in gesellschaftliche und soziale Abläufe integriert, der Sterbende war bis zu seinem Tod Mitglied der Gemeinschaft, der er zeit seines Lebens angehörte.
Aries definiert diese Veränderung folgendermassen: In der alten Einstellung war der Tod ein vertrauter Begleiter, ein Bestandteil des Lebens. Er wurde akzeptiert, war nah und vertraut. Aries nennt die alte Einstellung als den „gezähmten Tod“. Dies steht im Gegensatz zur Einstellung der Gegenwart, in der er als Angst einflössend wahrgenommen wird. Diese Furcht ist so gross, dass nicht mehr gewagt wird, den Tod beim Namen zu nennen. Aries ist der Ansicht, dass der Tod heute wild geworden ist, während es früher nicht so war (vgl. Aries, 1982/1995, S. 42).
1.3 Veränderter Umgang mit dem Tod in der Moderne
In der westlichen Gegenwartsgesellschaft begegnet der Mensch dem Tod nicht mehr in lebenslanger persönlicher Auseinandersetzung. Der Tod wird weit in die Zukunft verlegt. In der persönlichen Auseinandersetzung wird der Tod als brutal und als ein unausweichlicher
Fakt erachtet. Er wird auf spezifische Art gewünscht: Man erleidet einen Herzschlag und ist sofort tot. Oder man stirbt auf der Stelle bei einem schmerzlosen, gründlich tötenden Verkehrsunfall. Der bewusste Umgang mit dem Tod als Moment der Lebensführung wird weitgehend vermieden. Gegenwärtig wird der Tod in medizinische Organisationen abgeschoben. In der Einsamkeit des Krankenhaus, soll die Illusion vermitteln werden, dass es so etwas wie den Tod nicht gibt. Der Tod findet als Drama eines Unfalles auf der Strasse statt, als Verbrechen an einem Opfer, als Ende einer langen und ertragenen Krankheit auf der Intensivstation, als Erlösung nach dem langen Leiden. Tod und Sterben verschwinden mehr und mehr aus dem öffentlichen Bewusstsein, indem das Sterben dem Krankenhaus, das Einsargen dem Bestattungsunternehmer, die Pflege des Grabes oft dem Gärtner überlassen wird. Der direkte Umgang mit Sterben, Tod und Trauer wird auf diese Weise institutionalisiert. Öffentliches Bekunden von Trauer wird verpönt und Todesriten verlieren an Ansehen. Diese Verdrängung des Todes widerspiegelt sich ebenfals auf dem Friedhof. Vor der Bestattung wird der Leichnam geschminkt und hübsch gemacht. Er wird hergerichtet und behandelt, als sei er ein Lebender (vgl. Anders, 1981, S. 280).
Aries meint sogar, dass Kliniken das Sterben verhindern sollen. Ein Mensch, der hier stirbt, kann deshalb als „Betriebsunfall“ gelten. Er provoziert eine Situation, die es zu vermeiden gilt. Wenn dies nicht mehr gelingt, muss die Sachlage verheimlicht werden - und mit ihr das Sterben an sich und der sterbende Mensch. Ein Sterben in Würde ist unter diesen Umständen kaum möglich (vgl. Aries, 1982/1995, S. 729-730).
1.4 Hospiz und Palliative Care
Sterben, Tod und Trauer sind Themen, die in der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft tabuisiert werden. In solchen Grenzsituationen benötigen Betroffene Unterstützung. Die Hospizbewegung widmet sich dieser Aufgabe seit Jahren. Sie fordert Raum für die Bedürfnisse der Sterbenden und Trauernden innerhalb der modernen Gesellschaft. Anhänge der Hospizbewegung entwickeln seit den 60-iger Jahren vorerst in England und seit den 70- iger Jahren weltweit Initiativen, die zu einem andern Umgang mit dem Tod und dem Sterben ermutigen. Die Hospizarbeit sieht ihren Auftrag in der ambulanten Lebenshilfe und Sterbebegleitung in der letzten Lebensphase, sowie der Unterstützung der Angehörigen zu Hause. Die letzte Phase des Lebens wird nicht nur als Last, sondern auch als eine Erfüllung gesehen. Zudem sind Anhänger und Anhängerinnen der Bewegung der Überzeugung, dass das relative Wohlbefinden, wie im gesamten Leben, von den jeweiligen Umständen in Grenzen beeinflussbar ist (vgl. Student, Johann-Christoph, Student, Ute & Mühlum, Albert, 2007, S.14). Der Begriff „Hospiz“ war bereits im frühen Mittelalter gebräuchlich und wird assoziiert mit Gastfreundschaft, Herberge, Freundlichkeit und Sorge für Mitmenschen. Mary Akinhead eröffnete Ende des 19. Jahrhunderts in Dublin das erste „moderne“ Hospiz. Sie war Gründerin des Ordens „Irish Sisters of Charity“. Eine der Aufgaben des sozial-karitativen Ordens war die Pflege und Versorgung sterbender Menschen. Akinhead entschied sich für die Bezeichnung „Hospiz“, weil das Haus genau wie ein traditionelles Hospiz einen Ort sein sollte, an dem Mensch alles finden und bekommen konnten, was sie für den letzten Abschnitt der Pilgerreise benötigen (vgl. Kränzle, 2010,S.2). Das Konzept der Palliative Care entstand aus der Hospizbewegung bzw. Hospizarbeit. Der Begriff „Palliative Care“ stammt aus dem englischen Sprachgebrauch und wurde aufgrund mangels treffender Übersetzung ins Deutsche übernommen. Die WHO erstellte 2002 eine Definition für ein ganzheitliches Betreuungskonzept zur Begleitung von Sterbenden: „ Palliative Care ist ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit den Problemen konfrontiert sind, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen, und zwar durch Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen, Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art“. Somit besteht der Unterschied der kurativen Medizin und der Palliativmedizin in der symptomlindernden Behandlung. Die kurative Medizin strebt eine Heilung an, die Palliativmedizin hingegen eine symptomlindernde Behandlung (vgl. WHO, 2010, S.1, zit. in Kränzle, 2010, S. 3).
1.4.1 Selbstverständnis der Palliative Care
Der Schwerpunkt des Konzepts der Palliative Care liegt in der Orientierung am Menschen. Dies zeichnet sich durch die psychosoziale Begleitung, die spirituelle Begleitung und durch die Verbesserung der Lebensqualität, aus. Die psychosoziale Begleitung umfasst den emotionalen Beistand der Sterbenden und ihrer Angehörigen. Dabei beinhaltet die Funktion der Begleitung in der Unterstützung wie beispielweise Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeit aller Beteiligten. Die spirituelle Begleitung kann sich auf einen Prozess einlassen, der die Auseinandersetzung der Sterbenden nach dem Sinn von Leben, Tod und Sterben und des transzendenten Daseins, beinhaltet. Die Verbesserung der Lebensqualität umfasst die ganzheitliche Leidenslinderung durch moderne Palliativmedizin und wird als höchste Priorität für würdig gelebte letzte Tage betrachtet. Ein weiteres Merkmal der Palliative Care ist die Arbeit im interdisziplinären Team. Jede Disziplin bringt ihre speziellen Kenntnisse und Erfahrungen ein und trägt so gleichwertig zur Erfüllung des Auftrages bei. Dies beinhaltet die Vernetzung, im Interesse der Sterbenden, von unterschiedlichen Einrichtungen. Aktive und passive Tötung wird im Sinne der Palliative Care demzufolge negiert (vgl. Kränzle, 2010, S. 4.). Somit besteht der Unterschied der kurativen Medizin, die eine Heilung anstrebt, der Palliativmedizin auf die symptomlindernde Behandlung, wenn eine Heilung nicht mehr zu erwarten ist (vgl. Student et al., 2007, S. 32.).
1.4.2 Würde der Sterbenden
Wünsche der Sterbenden sind so vielfältig wie die Frage der Wünsche ans Leben. Allerdings gibt es Anliegen, die immer wieder vorhersehbar sind. Sie lassen sich in vier Dimensionen einordnen; sozial, körperlich, psychisch und spirituell (vgl. Student et al., 2007, S.25). Sterbende wünschen sich laut Umfragen vor allem, dass sie nicht alleine sterben müssen. Das heisst, sie möchten von nahestehenden Menschen umgeben sein und zuverlässig versorgt werden (soziale Dimension). Die körperliche Dimension ist der Wunsch, ohne Schmerzen und quälende Beschwerden sterben zu können. Die Möglichkeit letzte Dinge noch zu erledigen und Beziehungen zu klären, wird zur psychischen Dimension gezählt (vgl. Student et al., 2007, S. 25-26). Der Wunsch sich über den Sinn des Lebens und des Sterbens mit Menschen austauschen zu können, falls diese bereit sind dies auszuhalten, wird zur Dimension der Spiritualität zu gezählt. Diese lauten wie folgt:
Die Bedingungen für ein Sterben in Würde formuliert Kessler (1997/2003) als „Rechte der Sterbenden“.
„ 1. Das Recht, als lebender Mensch behandelt zu werden und sich ein Gefühl der Hoffnung zu bewahren - wie subjektiv dies auch sein mag;
2. das Recht, Gedanken und Gefühle zum Thema Tod auf eigne Weise zum Ausdruck zu bringen;
3. das Recht, an allen die eigene Pflege betreffenden Entscheidungen teilzuhaben;
4. das Recht, von mitfühlenden, sensiblen und kompetenten Menschen gepflegt zu werden, die sich bemühen, die Bedürfnisse des Kranken zu verstehen;
5. das Recht, den Prozess des Todes zu verstehen und auf alle Fragen ehrliche und vollständige Antworten zu erhalten;
6. das Recht, Trost in geistigen Dingen zu suchen;
7. das Recht körperlich schmerzfrei zu sein;
8. das Recht friedlich und in Würde zu sterben;
9. das Recht, nicht einsam zu sterben,
10. das Recht, dass die Unantastbarkeit des Körpers nach dem Tod respektiert wird“ (vgl. Kessler, 1997/2003, S. 7-8).
1.5 Soziale Arbeit in der Palliative Care
Student et al.(2007) sind der Meinung, dass der Auftrag und das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit auf die Bedürfnisse der Sterbenden sowie der Trauernden ihre besondere Lebenslage geradezu zugeschnitten sei. Der Begriff Soziale Arbeit wird hier als Oberbegriff für berufliche Sozialarbeit und Sozialpädagogik verstanden (vgl. Student et al., 2007, S. 1820). Der Umgang mit Sterben, Trauer und Tod ist zweifellos in seinen Aspekten relevant für die Soziale Arbeit. Aspekte können beispielweise sein:
- die Erfahrung, allein gelassen und ausgegrenzt zu werden
- die seelische Belastung in einer Grenzsituation
- die existenzielle (Sinn-)Krise,
- die Verlusterfahrung (Personen, Beziehung, Lebensperspektive)
- das Zerbrechen vermeintlicher Sicherheiten und
- das gesellschaftliche Tabu (vgl. Student et al., 2007, S. 21-22).
Sterbende Menschen befinden sich in einem Prozess der Marginalisierung. Allerdings weniger in sozioökonomischer, vielmehr in psychosozialer, familiärer und soziokultureller Hinsicht. Um die berufliche Kompetenz Sozialer Arbeit dafür einzusetzen, Betroffene zu begleiten und zu unterstützen, damit sie die letzte und schwierigste Phase ihres Lebens in Würde und in relativem Wohlbefinden leben können, dazu gibt es verschiedene Gründe. Ein naheliegender Grund ist die Einbeziehung der Angehörigen und des sozialen Umfelds.
Im Unterschied zur Sozialpolitik zielt die Soziale Arbeit nicht direkt auf sozialstrukturelle Probleme, sondern auf konkrete lebenspraktische Umstände hin. Die Soziale Arbeit geht von einer doppelten Aufgabe der menschlichen Existenz aus. Einerseits aus der Sicht des Individuums, das die Aufgabe hat in seinen Leben unterschiedliche Anforderungen und Phasen zu bewältigen. Andererseits besteht auch aus der Sicht der Gesellschaft, die soziale Teilhabe und Integration zu erhalten und zu fördern. Bei Gefährdung eines dieser Anliegen ist die Soziale Arbeit ein wichtiges gesellschaftliches Angebot an Hilfe und Unterstützung (vgl. Student et al., 2007, S. 21-22).
1.6 Fazit
Die Zeit des Sterbens war für die Menschen in der westlichen Gesellschaft schon immer eine schwere Krise für die betroffenen Menschen. Jedoch unterscheidet sich deren Umgang mit den Themen Sterben und Tod. Nach Aries Studie kann allgemein gesagt werden, dass eine gravierende Veränderung im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert stattfand. Vor dieser Zeit war der Tod ein ständiger Begleiter. Hingegen in der modernen Zeit wird der Tod als brutal und als ein unausweichlicher Fakt erachtet. Tod und Sterben verschwinden aus dem öffentlichen Bewusstsein und der direkte Umgang mit Sterben, Tod und Trauer wird institutionalisiert. Die Hospizbewegung versucht dieser Tabuisierung entgegenzuwirken und fordert Raum für die Bedürfnisse der Sterbenden und Trauernden innerhalb der modernen Gesellschaft. Aus ihr entstand das Konzept der Palliative Care. Palliative Care ist ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Adressierenden und ihren Familien. Die Verbesserung der Lebensqualität umfasst die ganzheitliche Leidenslinderung durch moderne Palliativmedizin und wird als höchste Priorität für würdig gelebte letzte Tage betrachtet. Ein weiteres Merkmal der Palliative Care ist die Arbeit im interdisziplinären Team. Bezogen auf die Geschichte des Todes von Menschen mit einer geistigen Behinderung gaben Aries Studien wenige Anhaltspunkte. Dies ist ein Grund, weshalb es eine genauere Betrachtung dieser Personengruppe bedarf.
2. Geistige Behinderung
Der Begriff „geistige Behinderung“ wird erst seit Ende der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts verwendet. Damit ist lediglich die Einführung eines Begriffes gemeint (vgl. Meyer, 2003, S. 4).
Menschen, denen es aufgrund kognitiver und intellektueller Beeinträchtigung nicht möglich ist, ihre Interessen und Bedürfnisse ohne Unterstützung zu artikulieren und durchzusetzen, hat es immer gegeben. Menschen, deren uneingeschränkten Lebensrecht niemals zugestanden worden ist und die von der Gunst und dem Wohlwollen der Mitmenschen abhängig gewesen sind. Noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden Kinder mit einer geistigen Behinderung als bildungsunfähig beurteilt. Diese Entwicklung hatte ihren negativen und traurigen Höhepunkt während des Nationalsozialismus, wo Tausende dieser getötet wurden. Zu jener Zeit wurden Betroffene als lebensunwerte Menschen bezeichnet (vgl. Meyer, 2003, S. 4).
Gegenwärtig gibt es keine eindeutige und allgemein akzeptierte Definition für „geistige Behinderung“, da Menschen mit geistiger Behinderung keine einheitliche Gruppe mit fest umschriebenen Eigenschaften bilden. Der Begriff „geistige Behinderung“ dient als eine Art Sammelbezeichnung für vielfältige Erscheinungsformen und Ausprägungsgrade intellektueller Einschränkungen und affektiven Verhaltens. Medizinisch orientierte Definitionen sprechen von einer Minderung oder Herabsetzung der maximal erreichbaren Intelligenz. Auch die internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme bezeichnet dieses Phänomen als Intelligenzminderung. Die WHO hat im Mai 2001 ihr klinisch-psychologisch orientierten Klassifikationskonzept „international classification of functioning disability and health“ (ICF) angenommen. Anhand der ICD- 10 festgestellten Intelligenzminderungen werden in der ICF als Folge auf die Bereiche der Körperfunktionen und Körperstrukturen, der Aktivitäten und der Partizipation (vgl. WHO, 1999, S.13 zit. in Meyer, 2003, S. 17).
Anhand derartiger Diagnosen werden zielgerichtete, kompensierende Massnahmen wie beispielsweise besondere Beschulungsmöglichkeiten oder technische Unterstützung benötigt.
(vgl. Meyer, 2003, S. 16-19) . Meyer kritisiert an den Klassifikationssystemen die mangelnde Sensibilität hinsichtlich der Bedeutung der Diagnose „geistige Behinderung“. Für die Betroffenen sowie deren Angehörigen wird ein Bild von Menschen mit geistiger Behinderung vermittelt, das vielen Betroffenen nicht gerecht wird und diese unnötigen sozialen Diskriminierungen aussetzt (vgl. Meyer, 2003, S. 5).
Im Rahmen dieser Arbeit wird der Begriff Menschen mit einer geistigen Behinderung verwendet. Der Begriff Mensch steht bewusst an erster Stelle.
2.1 Bezeichnung der Schweregrade geistiger Behinderung
Bezeichnend für klinisch-psychologische Klassifikationssysteme (beispielsweise die ICD- Klassifikation der WHO) zur Diagnose der geistigen Behinderung gehen von der Annahme aus, dass diese gekennzeichnet ist durch eine Beeinträchtigung in den Bereichen Intelligenz und soziale Anpassung, sowie eine Diagnose erstmalig im Kindes- oder Jugendalter festgestellt worden ist. Um die Bezeichnungen leichte, mittelgradige, schwere, schwerste Intelligenzverminderung bzw. geistige Behinderungen inhaltlich abgrenzen zu können, werden deren Merkmale anhand des ICD-10 der WHO erklärt. Bei Menschen mit einer leichten Intelligenzminderung bzw. geistiger Behinderung ist die Sprachentwicklung verzögert. Die Sprache ist meist in einem für das tägliche Leben, einem alltäglichen verbalen Austausch, ausreichend ausgebildet. In der Regel besteht eine volle Unabhängigkeit in der Selbstversorgung und in praktischen und häuslichen Tätigkeiten. Betroffene Menschen haben Probleme beim Lesen und Schreiben, sind jedoch fähig angelernte bzw. ungelernte Hausarbeiten auszuführen (vgl. Meyer, 2003, S. 16).
Bei Menschen mit einer mittelgradigen Intelligenzminderung bzw. geistige Behinderung besteht eine verlangsamte Entwicklung des Sprachverständnisses und des Sprachgebrauchs. Zudem sind Betroffene in den Bereichen der Selbstversorgung und der Motorik beeinträchtigt. Häufig benötigen sie eine lebenslange Beaufsichtigung. Bei einer schweren Intelligenzminderung bzw. geistigen Behinderung besteht eine deutlich ausgeprägte motorische Schwäche. Allgemein besteht eine schwerere Ausprägung als bei einer mittelgradigen geistigen Behinderung. Menschen mit einer schwersten Intelligenzminderung bzw. geistige Behinderung können Aufforderungen und Anweisung in der Regel nicht verstehen. Zudem haben sie eine stark eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Die Kommunikation besteht in einfacher nonverbaler Kommunikation und jene Menschen sind auf ständige Hilfe und Anwesenheit anderer Menschen ohne geistige Behinderung angewiesen (vgl. Meyer, 2003, S. 16).
2.2 Besonderheiten der Entwicklung von Menschen mit geistiger Behinderung
Wie im vorigen Kapitel erklärt wurde, ist geistige Behinderung mit einer Beeinträchtigung im
Bereich der Intelligenz verbunden. In diesem Zusammenhang ergeben sich auch
Besonderheiten in der Entwicklung. Folgend wird zunächst auf den Entwicklungsverlauf eingegangen und darauf kurz die kognitive Entwicklung erklärt.
Der Begriff „Entwicklung“ wird in der Psychologie unterschiedlich definiert. Übereinstimmungen bestehen jedoch darin, dass „Entwicklung“ Veränderung eines Organismus bedeutet. Hobmayer et al. (1996) definieren folgendermassen: „Entwicklung ist eine gerichtete, zeitlich geordnete Reihe von miteinander zusammenhängenden Veränderungen des Erlebens und Verhaltens“. Die Veränderungen sind auf ein Ziel hingerichtet und können einzelnen Altersstufen zugeordnet werden (vgl. Hobmayer, 1996, S. 196).
Senckel (2003) meint, dass sich Menschen mit geistiger Behinderung nach denselben Prinzipien wie Menschen ohne geistige Behinderung entwickeln. Daher gilt auch für Menschen mit einer geistigen Behinderung die biologische Reifung der Funktionen als Grundlage für die psychische Ausdifferenzierung. Ebenso vollzieht sich ihre Entwicklung zum grossen Teil als wechselseitiger Interaktions- und Lernprozess im sozialen Zusammenhang. Dieser ist mithin vom Beziehungsangebot und von konkreten Anregungen abhängig. Gleichermassen folgen die einzelnen Entwicklungsschritte weitgehend einer sachimmanenten Logik. So werden beispielsweise zuerst Grundelemente wie Häuser mit Fenstern und Türen erst konstruiert, bevor Einzelheiten wie Türme gebaut werden. Der Entwicklungsfortschritt geschieht auch bei Menschen mit einer geistigen Behinderung stets in zwei gegenläufige Richtungen. Einerseits verfeinern sich die einzelnen psychischen Funktionen, sie werden voneinander unabhängiger und reichhaltiger strukturiert. So löst sich etwa das Denken zunehmend vom Handlungs- und Wahrnehmungszusammenhang und eine Vielfalt von Gefühlsschattierungen kann sich aus wenigen elementaren Emotionen entwickeln. Anderseits steht diesem Differenzierungsprozess eine Tendenz zur Zentralisation gegenüber. Parallel zu der steigenden Zahl abgegrenzter Einzelleistungen und Erlebnisqualitäten werden übergeordnete, zentrale Steuerungsfunktionen ausgebildet, die nun die ursprünglichen selbstständigen Funktionen koordinieren. Zugleich steht der Erweiterung von Fähigkeiten auch eine Tendenz zur Kanalisierung bei (vgl. Senckel, 2003, S. 81).
Allerdings kommt die Entwicklung bei Menschen mit einer geistigen Behinderung auf einem niedrigen Niveau zum Stillstand, wobei sich die einzelnen Funktionsbereiche in den seltenstens Fällen gleichmässig entfalten. Besonders sind diese im Bereich der kognitiven Fähigkeiten (Wahrnehmung, Denken und Sprache) zu verzeichnen (vgl. Senckel, 2003, S. 81).
Zudem betont Senckel, dass die Entwicklungsniveaus der verschiedenen Funktionsbereiche auseinanderklaffen und sich somit Menschen mit einer geistigen Behinderung keinem einheitlichen Entwicklungsstand zuordnen lassen. Allgemein kann gesagt werden, dass je leichter eine geistige Behinderung ist, desto ähnlicher ist deren Entwicklung zur Entwicklung eines Menschen ohne geistige Behinderung. Umso schwerer hingegen die Behinderung ist, desto grösser sind die Hemmnisse (vgl. Senckel, 2003, S. 82-83).
2.2.1 Folgen der Einschränkungen im kognitiven Bereich
Böhm (2005) definiert Kognition folgendermassen: „Kognition (lat.:erkennen) bezeichnet in Abhebung zu voluntativen und emotionalen Abhebung alle Prozesse, durch die ein Individuum Kenntnis von Gegenständen erhält bzw. sich seiner Umwelt bewusst wird, also Wahrnehmung, Erkennen, Vorstellen, Urteilen“ (S. 362). Folgend werden die Folgen der Einschränkung im kognitiven Bereich von Menschen mit einer geistigen Behinderung nach Senckel (2003) beschrieben. Senckel nennt, dass die geistige Behinderung meistens mit einer Schwäche der Reizverarbeitung einhergeht. Damit wird eine erschwerte Verarbeitung der Reize, die aus dem Körperinnern oder der Aussenwelt stammen, gemeint. Zudem fällt es Menschen mit einer geistigen Behinderung schwerer die Reize in sinnvolle Informationen umzuwandeln und angemessen darauf zu reagieren. Dadurch kann die Wahrnehmung verzögert oder möglicherweise gar nicht organisiert werden. Es besteht auch eine Schwierigkeit Erfahrungen zu speichern und Schlüsse zu ziehen, Erfolg und Misserfolg klar einzuschätzen und das Verhalten darauf abzustimmen. So kostet es für die Betroffenen viel Mühe, Zusammenhänge zu erfassen und Handlungen entsprechend zu planen. Die Fähigkeit Transferleistungen zu erbringen, ist reduziert und weiterführende Lösungen für neuartige Probleme werden relativ selten selbstständig gefunden. Anpassungen an unbekannte Situationen gelingen nur mühsam. Deshalb bleiben die einzelnen psychischen Funktionen vergleichsweise undifferenziert und wenig koordiniert. Dies hat die Folge, dass eine Kanalisierung früh beginnt und Gewohnheiten zunehmen und einen breiten Raum einnehmen (vgl. Senckel, 2003, S. 84-85).
Aufgrund der Reizverarbeitungsschwäche erlebt der Mensch mit einer geistigen Behinderung die Welt als weitgehend unbegreiflich und sich selbst aber als wenig wirkungsmächtig. Nur in geringem Masse kann die Erfahrung gemacht werden, die Gegebenheiten nach seinen Wünschen mitzugestalten. Vielmehr erlebt er sich als hilflos und abhängig von den Anderen, die er oder sie als mächtig wahrnimmt. Diese behinderungsbedingte Grunderfahrung kann sich im Identitätsgefühl verankern. Die schwer begreifliche Welt bleibt potenziell bedrohlich. Diese Bedrohung kann durch ritualisierte Handlungsmuster und durch Abwehr von Neuem gebannt werden. Die Bezugsperson kann hingegen durch emotionale Verfügbarkeit und einfühlsame Lebensraumgestaltung ausgleichenden Schutz bieten (vgl. Senckel, 2003, S. 84-85).
Einen weiteren Aspekt, dem Beachtung geschenkt werden muss, sind mögliche Entwicklungsdiskrepanzen im kognitiven Bereich. Dies bedeutet, dass sich einzelne
Teilfunktionen besser entwickeln als andere. Derartige Entwicklungsdiskrepanzen erweisen sich in folgender Hinsicht problematisch. Einerseits stellen sie eine starke Belastung für die Persönlichkeitsentwicklung dar. Ein Mensch mit einer geistigen Behinderung ist mit stärkeren Gegensätzen zwischen Vermögen und Versagen konfrontiert. Zugleich besteht eine Schwierigkeit einerseits diese im kognitiven Bereich zu integrieren und anderseits bestehen oft unterschiedliche Entwicklungen der einzelnen Ebenen (emotionaler, lebenspraktischer, grob-feinmotorischer sowie körperlich-sexueller Bereich). Der uneinheitliche Entwicklungsstand kann aber auch zu Irritationen in sozialen Beziehungen führen. Aufgrund von Unsicherheiten bezüglich Leistungsanforderungen werden Betroffene oft unterfordert oder überfordert. Bei unbewussten Überforderungen besteht, von seitens des Menschen ohne geistige Behinderung, die Gefahr daraus falsche Interpretationen zu formulieren (z. B. „Faulheit“, „Provokation“). Solche Missverständnisse und Unsicherheiten können sich belastend auf die Beziehung zwischen des Adressaten oder der Adressatin und den Professionellen auswirken (vgl. Senckel, 2003, S. 101).
2.2.2 Angst bei Menschen mit geistiger Behinderung
Student et al. (2007) benennen im Zusammenhang von Sterben und Tod, dass Menschen mit Gefühl der Angst konfrontiert werden (vgl. S. 105). Aus diesem Grund wird folgendermassen Angst bei Menschen mit geistiger Behinderung erläutert.
Das Gefühl „Angst“ hat einen erheblichen Einfluss auf viele andere Gefühle sowie auf die Motivation. Auch wenn die Angst in der Regel als unangenehm empfunden, aufgrund der starken Beunruhigung, Unsicherheit oder gar Panik empfunden wird, handelt sich doch um ein überlebensnotwendiges Gefühl. Die Angst dient als Warnsignal, das auf Gefahren hinweist und gleichzeitig bestimmte Warnsignale bereitstellt. Grundsätzlich schwingt die Angst um die grossen Lebensthemen wie beispielsweise Wandel und Beständigkeit. Als ursprünglichste Form der Angst gilt eine unspezifische Angst vor Unbekannten, der allerdings oft eine unspezifische Neugier gegenübersteht. Während der ganzen Lebensspanne treten Ängste zur jeweiligen Lebenssituation auf. Mit zunehmendem Alter jedoch wächst die Sorge um die körperliche Gesundheit, die Angst vor Krankheit nimmt zu. Schliesslich geht es um die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit und der Angst vor dem Tod (vgl. Luxen, 2003, S. 244).
Luxen (2003) betont, dass Ängste sich bei Menschen mit einer geistigen Behinderung häufig und stark auftreten. Die Ursache kann darin liegen, dass sie Situationen nur bedingt einschätzen können. Oft leben Menschen mit einer geistigen Behinderung unter einschränkenden, überfordernden oder unterfordernden Bedingungen. Sei dies in Form eines pädagogischen Umgangsstils, der ihren Besonderheiten nicht genügend Raum ermöglicht oder ein institutionelles Umfeld, welches ihre Eigenarten nicht ausreichend berücksichtigt. Weiter sind nur Menschen mit einer leichten oder mittelgradigen Behinderung fähig, sich sprachlich zu äussern und ihre Angst mitzuteilen. Menschen mit einer schwersten Behinderung reagieren ähnlich wie Säuglinge auf extreme Reizüberflutung wie Licht oder Lärm. Sie bringen ihre Angst durch Unruhe, Schreien und eventuell durch Selbstverletzung zum Ausdruck. Verlassenheits- und Trennungsängste können bei Menschen mit einer Behinderung sich äussern, indem sie ihre Aktivitäten einstellen und Bezugspersonen auf Schritt und Tritt verfolgen. Unbekannte Situationen und fremde Menschen können oft zu starken Ängsten führen, aufgrund der Schwierigkeit sich auf neue Situationen und Menschen einzustellen. Die zahlreichen Trennungserfahrungen und Beziehungsabbrüche, die Menschen mit einer geistigen Behinderung oft erleben, verstärken diese zusätzlich. Bei Betroffenen mit einer mittelgradigen und leichten Behinderung spielt die Angst vor Autonomieverlust und Leistungsversagen eine bedeutende Rolle (vgl. Luxen, 2003, S. 245246).
Um mit Ängsten umgehen zu lernen, benötigen Menschen mit einer geistigen Behinderung, eine hilfreiche Bezugsperson, die eine tragfähige und akzeptierende Beziehung herzustellen vermag. Erst auf dieser Basis gelingt es, die Angst vor Autonomieverlust aufzufangen und das Gefühl der Selbstwirksamkeit zu verstärken, indem Autonomiebestrebungen unterstützt werden. Ebenso ist es notwendig zur Realitätsprüfung anzuleiten, indem versucht wird, die Ängste gemeinsam möglichst konkret auf den Realitätsgehalt zu überprüfen (vgl. Luxen, 2003, S. 246).
2.2.3 Menschen mit geistiger Behinderung und kritische Lebensereignisse und altersnormierte Krisen
In der Life - Eventforschung wird zwischen altersnormierten Krisen und kritischen Lebensereignissen unterschieden. Altersnormierte Krisen können im Lebenslauf bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben vorkommen. Hingegen ereignen sich kritische Lebensereignisse in einem nicht-normativen Einschnitt. Altersnormierte Krisen können dem Individuum und seiner Umwelt eine Chance für eine positive Entwicklung bieten. Trotz der Chance schliesst eine altersnormierte Krise aber auch ein Risiko für Fehlanpassungen und Störungen ein (vgl. Irblich, 2003, S. 371).
Neben den zur Verfügung stehenden Bewältigungsmöglichkeiten beeinflusst auch der Zeitpunkt des Ereignisses, dessen subjektive Bewertung und die jeweils wirksamen Stressoren die Art und Weise, wie solche Krisen zu bewältigen sind (vgl. Montada, 1998, S. 46). Für manche Menschen mit einer geistigen Behinderung stellen selbst altersnominierende Umbruchsituationen wie Aufnahme in den Kindergarten schwierig zu bewältigende Entwicklungsaufgaben dar. Gerade bei einer starken kognitiven Behinderung ist den Betroffenen oft nicht möglich sich auf die Veränderungen einzustellen. Manche dieser Entwicklungsaufgaben, wie beispielsweise nach Erikson (1970), stellen sich für Menschen mit einer geistigen Behinderung nur in modifizierter Form, zu anderen Zeitpunkten des Lebens oder überhaupt nicht als eine Schwierigkeit dar. Dafür erweisen sich andere Entwicklungsaufgaben als unüberwindbare Hürden, die bei einem Menschen ohne geistige Behinderung kaum als Herausforderung in Erscheinung treten (vgl. Irblich, 2003, S. 371). Bisweilen wird die Anpassungsfähigkeit von Menschen mit einer geistigen Behinderung oftmals auch unterschätzt. So können sich betroffene Menschen mit einer neuen Situation oft erstaunlich aktiv und kompetent auseinandersetzen (vgl. Irblich, 2003, S. 371).
Einschnitte im Lebenslauf, wie Unfälle, der Verlust naher Angehöriger, aber auch Erkrankungen und Behinderungen, gelten als kritische Lebensereignisse, die praktisch handelnde und psychische Bewältigungsbemühungen gleichermassen erfordern. In Biografien von Menschen mit einer geistigen Behinderung finden sich gehäuft Erfahrungen, die mit psychischen Belastungen der Eltern, medizinischen Eingriffen und häufig wechselnden Bezugspersonen einergehen (vgl. Irblich, 2003, S. 372).
Wenn die sprachliche Vermittlung im Zusammenhang mit normativen Entwicklungsaufgaben nicht gelingt, sind Hilfen unter anderem in geeigneten Beratungs- und Übergangsangeboten zur Vorbereitung sich abzeichnender Veränderungen nötig. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang die Inszenierung des Übergangs selbst. Dies kann beispielsweise durch Erarbeiten von Ritualen und Symbolen geschehen, die den Übergang begreifbar machen.
Bei der Bewältigung von kritischen Lebensereignissen hingegen besteht ein zentrales Problem in der eingeschränkten Mitteilungsfähigkeit der Betroffenen. Um schmerzliche Gefühle und belastende Erfahrungen ausdrücken zu können, benötigt es weitaus mehr als eine ausreichende Sprachbeherrschung. Die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen und die Wahl, unter Umständen nicht sprachlicher Ausdruckmöglichkeiten, können bei einem Menschen mit einer geistigen Behinderung Zugangswege zur Symbolisierung innerer Prozesse eröffnet werden (vgl. Irblich, 2003, S. 371-372).
2.3 Psychosoziale Entwicklung nach Erikson bei Menschen mit einer geistigen Behinderung
Erikson (1970) gründete seine Theorie auf der psychosozialen Entwicklung. Erikson entwarf ein Entwicklungskonzept, das die gesamte Lebensspanne umfasst, die er in acht grosse Stufen einteilt. Jede der acht Stufen ordnet er einer Entwicklungsaufgabe zu, die sich aus der Konfrontation mit einem zentralen Lebensthema ergeben soll. Jede Phase geht einer Krise voraus (vgl. Erikson, 1970, S. 55-61).
Die Entwicklungstheorie Eriksons ermöglichen das Verständnis der gesamten Lebensspanne von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Nur in den Fällen, wo die bewusste Wahrnehmung der Lebensphase nicht zu erfolgen scheint, also allenfalls bei schwerst- und schwer geistiger Behinderung, bleiben die Entwicklungsaufgaben vermutlich auf den ersten beiden Stufen begrenzt. Weil zudem eine gelungene Lösung der Entwicklungsaufgabe in beträchtlichem Ausmass von emotionalen Bedingungen und weniger durch kognitiven Kompetenzen geprägt wird, vermögen Menschen mit geistiger Behinderung selbst dann hinlängliche Lösungen der Konflikte des höheren Lebensalters zu erreichen, wenn ihre Fähigkeiten deutlich eingeschränkt sind. Voraussetzung dafür ist eine weitgehend harmonische emotionale Entwicklung (vgl. Senckel, 2003, S.136). Folgend werden kurz die jeweiligen Phasen von Erikson erläutert. Eine grössere Beachtung wird jedoch der psychosozialen Entwicklung für Menschen mit einer geistigen Behinderung geschenkt.
Das Säuglingsalter: Urvertrauen vs Misstrauen
Im ersten Lebensjahr besteht die Hauptaufgabe des Kindes darin, Urvertrauen gegenüber dem Leben aufzubauen und damit den Grundstein für eine gesunde Persönlichkeit zu legen (vgl. Erikson, 1970, S. 63-74). Dieser Prozess bedarf keiner bewussten Wahrnehmung und auch keiner eindeutigen Eigeninitiative des Kindes. Die Bildung zum Urvertrauen bietet das Beziehungsangebot, welches sich auf die Bedürfnisse eines Menschen im ersten Lebensjahr einstellt (vgl. Senckel, 2003, S.136)
Spielalter: Autonomie vs. Scham und Zweifel
Mit zunehmender motorischer und intellektueller Fähigkeit entsteht beim Kind das Gefühl von Selbstständigkeit und Selbstkontrolle. Damit Autonomie aufgebaut werden kann, benötigt das Kind soziale Unterstützung. Werden Erfolgserlebnisse verhindert, so besteht das Risiko, dass das Kind Scham und Zweifel entwickelt (vgl. Erikson, 1970, S. 87-97).
Auch ein Mensch mit einer schwersten geistigen Behinderung empfindet und äusserst durchaus Zeichen eines eigenen Wollens und strebt nach der Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung erreichen vermutlich das Bewusstsein der Autonomie nur ansatzweisen. Viele ringen offenbar mit dieser Entwicklungsaufgabe (vgl. Senckel, 2003, S. 137).
Schulalter: Werksinn vs Minderwertigkeit
Die motorischen Fähigkeiten sind ausgeprägt und das Kind ist in der Lage seine äussere Umwelt zu erforschen. Das Kind wird neugierig und initiativ. Während seines Forschungsdrangs kann es zu Grenz- und Normüberschreitungen kommen. Je nach Reaktionen des Gegenübers erlebt das Kind seinen Forschungsdrang als verletzend oder kränkend. Dabei können sich Schuldgefühle entwickeln. Können diese psychosozialen Krisen gelöst werden, so sind angemessene Lösungen wichtige Voraussetzungen zur Bewältigung der nächsten bevorstehenden Phase (vgl. Erikson, 1970, S. 98-99).
Für Menschen mit einer geistigen Behinderung besteht die Gefahr, dass sie sich im Konfliktfall mit der Bezugsperson nicht akzeptiert und deshalb sich selbst als minderwertig erleben. Für eine befriedigende Bewältigung des Konfliktes gilt es zu helfen, ihre sozialen Erfahrungen bewusst auszuwerten, einzuordnen und damit zu verarbeiten (vgl. Senckel, 2003, S.136).
Adoleszenz: Identität vs. Identitätsdiffusion
Menschen in dieser Phase müssen ein Selbstkonzept der eigenen Persönlichkeit entwickeln. Haltungen, Werte, Fähigkeiten, Berufswünsche und Vorstellungen sollen hinsichtlich der Gestaltung der sozialen Beziehungen und des Lebensstils ein stimmiges Gesamtbild ergeben. Kann dies nicht geschehen, so bildet sich eine Identitätsdiffusion (vgl. Erikson, 1970, S. 106-114).
Die bewusste Auseinandersetzung mit der pubertären Identitätsthematik kann bei einer leichten geistigen Behinderung auch später erfolgen und ist, egal zu welchem Zeitpunkt, wichtig für das weitere Leben. Die Möglichkeit eine klare Identität zu erarbeiten, bleibt beschränkt. Jedoch auch eine einfache strukturierte Identität, wenn sie in einer stabilen Emotionalität gegründet ist, bietet ein tragfähiges Fundament fürs Erwachsenenalter (vgl. Senckel, 2003, S.138-139).
Junges Erwachsenenalter: Intimität und Solidarität vs. Isolierung
Die weitere Entwicklung führt im jungen Erwachsenenalter zum Wunsch nach intimem, körperlichem, seelischem und geistigem Austausch. Intimität ereignet sich nicht nur in sexuellen Beziehungen, sondern auch in nahen Freundschaften. Der Aufbau von Solidarität der sozialen Beziehungen birgt aber die Gefahr der Bedrohung der eigenen Identitätsstruktur bis zum Identitätsverlust in sich. Werden wirkliche, intime Beziehungen vermieden, kann sich eine Krise in einer seelischen Isolierung äussern (vgl. Erikson, 1970, S. 114-117).
Senckel (2003) erklärt diese Intimität des Erwachsenenalters folgendermassen: „Die Intimität des Erwachsenenalters aber impliziert das Vertrauen, vom Sein (d.h. vom Partner und vom eigenen Selbst) „gehalten" zu werden, ebenso wie der Partner vom Sein (also von beiden Beteiligten) gehalten wird." (S. 139). Menschen mit einer schwerst und schwerer geistigen Behinderung erleben die Verbundenheit ähnlich wie bei den Säuglingen als eine symbiotische Verschmelzung. Bei Personen mit einer mittleren oder einer leichten Behinderung können, unter günstigen Bedingungen, eine reifere Form der Intimität erleben. Zudem kann bis zu einem gewissen Grad Solidarität ausgebildet werden. Damit ist eine
innere Verbundenheit und ein Einstehen für die andere Person, unter Wahrnehmung und Achtung der eigenen Persönlichkeit, gemeint. Zudem müssen Freundschafts- und Partnerbeziehungen unterstützt und begleitet werden, sowie Hilfestellungen beim Umgang mit Nähe und Distanz und bei der Lösung von Konflikten sind notwendig (vgl. Senckel, 2003, S.139).
Mittleres Erwachsenenalter: Generativität vs. Selbstabsorption
Im voranschreitenden Erwachsenenalter entsteht das Bedürfnis nach Erzeugung, Erziehung und Gestaltung des Lebens bei der nächsten Generation beizutragen. Gelingt ein Hinauswachsen des eigenen Interessens nicht, droht eine übermässige Selbstbezogenheit (Stagnation und Selbstabsorption) (vgl. Erikson, 1970, S. 117-118). Menschen mit einer geistigen Behinderung entwickeln und äussern den Wunsch nach einem Kind. Aus verschiedenen Gründen kann dieser Wunsch meist nicht Wirklichkeit werden. So lässt sich die generative Sehnsucht eher im Sinne der Nützlichkeit für die Gemeinschaft befriedigen. In diesem Zusammenhang muss auch die Wichtigkeit der Arbeit für Menschen mit einer Behinderung, unabhängig welchen Behinderungsgrades, betont werden. Die tägliche Arbeit kann als ein Beitrag fürs Gemeinwohl erlebt werden (vgl. Senckel, 2003, S. 139-140).
Hohes Alter: Integrität vs. Verzweiflung
Die letzte Entwicklungsaufgabe besteht darin, für das eigene Leben mit allen Möglichkeiten und Versagen ein annehmbares Verständnis zu gewinnen und die Begrenztheit des Lebens zu akzeptieren. Gelingt dies nicht, in die realen Gegebenheiten abzustimmen, so droht die Gefahr seelischer Verhärtung, quälender Selbstvorwürfe, Lebensverachtung und Verzweiflung (vgl. Erikson, 1970, S. 118-119).
Für diesen Konflikt ist es entscheidend, welche Fähigkeiten Menschen besitzen, um über sich selbst unter zeitlicher Perspektive (Lebenslauf) nachdenken zu können. Menschen mit einer schweren oder schwersten geistigen Behinderung erfahren ihr Bewusstsein im „Hier und Jetzt" und durchleben ihre fortdauernde Gegenwart entweder mit einem eher zufriedenen oder einem problematischen Grundgefühl. Hingegen entwickeln Menschen mit einer leichten geistigen Behinderung eine bewusste Haltung zur Qualität ihres Lebens. Sie setzen sich mit dem eigenen Gewordensein auseinander und halten Rückschau.
Aufbauende und schmerzliche Erfahrungen werden registriert und Wünsche und Ziele verabschiedet. Dabei werden Phasen der Trauer oder Depressionen erlitten, aber auch innere Annahmen der Realität erreicht. Die Bewältigung der Krise ist abhängig von der Integration in die Gemeinschaft, der allgemeinen Grundstimmung und der Bescheidenheit der persönlichen Ansprüche. Unterstützen lässt sich diese Konfliktbewältigung durch verständnisvolle Begleitung und alle Formen der biografischen Arbeit (vgl. Senckel, 2003, S. 140).
Im weiten Sinne wird unter biografische Arbeit die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte, verstanden (vgl. Lindmeier, 2008, S. 15).
2. 4 Menschen mit geistiger Behinderung im Alter
Das wissenschaftliche Interesse für alte Menschen mit einer geistigen Behinderung ist erst vor einigen Jahren in den Fokus gerückt. Ein Grund dafür ist die früher dominierende Auffassung, dass der Mensch mit einer geistigen Behinderung ein „ewiges Kind" sei. Die alten Menschen mit einer geistigen Behinderung in ihrer Persönlichkeit wurden auf ein Alter bis zu vier Jahren reduziert. Es bestand eine verbreitete Auffassung, dass ein Kind mit einer geistigen Behinderung in einer frühen Phase der Entwicklung stehen geblieben sei.
Die Betrachtung der weiteren Lebensphasen war bei dieser Sichtweise kaum relevant, da die Meinung vertreten war, dass diese nicht wesentlich zur weiteren Reifung und Bildung beitragen würde. Zudem bestand aufgrund medizinischer Gründe eine geringe Lebenserwartung. Erst ab den 80-iger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde auf diesem Gebiet Forschungsarbeit geleistet und das wissenschaftliche Interesse einer bedürfnisorientierten Sichtweise ist seither gestiegen (vgl. Haveman & Stöppler, 2010, S.16).
2.4.1 Prozess des Altwerdens bei Menschen mit geistiger Behinderung
Alter ist ein mehrdimensionaler Begriff. Durch multiple Bedingungen wie Gesundheitszustand, Geschlecht, Persönlichkeit, ökologische Einflüsse, sozialen Status, soziale Integration, gesellschaftliche Differenzierung und ökonomische Einflüsse wird das Altern beeinflusst (vgl. Haveman & Stöppler, 2010, S.16). Das Alter hat verschiedenste Aspekte und kann nicht in einem einheitlichen Begriff gefasst werden. So unterscheidet Rüberg (1991) unter anderem zwischen einem sozialen Alter (Übernahme von altersspezifisch üblichen Rollen und Positionen), einem chronologischen Alter (seit der Geburt vergangenen Zeit) und einem personalen Alter (Zusammenwirken und Integration aller Altersaspekte zur personalen und sozialen Identität) (vgl. Rüberg, 1991, S.13 zit. in Havemann & Stöppler, 2010, S. 18).
Das Älterwerden umfasst einen biologischen, physiologischen, psychischen und sozialen Veränderungsprozess. Biologische Altersveränderungen in einzelnen Organsystemen können die körperliche Leistungsfähigkeit reduzieren. Das biologische Altern verläuft bei Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht anders als bei der Gesamtbevölkerung. Der biologische Veränderungsprozess aufgrund des Alters verläuft individuell genauso unterschiedlich. Das psychologische Altern betont unter anderem die kognitive und die emotionale Veränderung. Havemann und Stöppler sind bezüglich der kognitiven Möglichkeiten von Menschen mit geistiger Behinderung der Ansicht, dass auch hier grundsätzlich nicht von einem andern Altern ausgegangen werden kann. Besonderheiten bestehen im Verstehen des Veränderungsprozesses. Den Menschen mit einer geistigen Behinderung fällt es häufig schwer den körperlichen Veränderungsprozess zu begreifen, wenn beispielsweise mehr Pausen im Alltag aufgrund zunehmender körperlicher Erschöpfung, benötigt werden (vgl. Havemann & Stöppler, 2010, S. 38).
Es kann angenommen werden, dass oft nicht über den biologischen und psychologischen Veränderungsprozess informiert wurde oder eine Vorbereitung auf diesen Prozess oft überhaupt nicht stattfand. Eine weitere Abweichung des Alterns der Gesamtbevölkerung besteht aus soziologischer Sichtweise. Aus der Perspektive der Soziologie sind alte Menschen mit einer geistigen Behinderung im gesellschaftlichen Kontext in zweifacher Hinsicht stigmatisiert. Eine soziale Abwertung bedingt sich einerseits durch die geistige Behinderung und zudem durch das Alter (vgl. Havemann & Stöppler, 2010, S. 54).
Bleeksma (1998/2009) beschreibt, dass an dem chronologischen Alter bei Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht orientieren lässt. Beispielsweise kann eine 50 jährige Person als alt wahrgenommen werden, hingegen wirkt eine 70 jährige Person viel jünger. Bleeksma spricht von einem alten Menschen, wenn im späten Erwachsenenalter Anzeichen körperlicher Alterung beobachtet werden, wie beispielsweise graue Haare, faltige Haut und eine schwächere Kondition. Zudem spricht sie von einem alten Menschen mit geistiger Behinderung, wenn das Tempo und womöglich die Qualität der Selbstständigkeit am Abnehmen sind. Im Weiteren spricht Bleeksma von einem alten Menschen, wenn das Bedürfnis nach einem ruhigen Leben wahrgenommen wird (vgl. Bleeksma, 1998/2009, S. 27).
Kruse (2006) fasst für die Rehabilitation und Förderung alter Menschen relevante Erkenntnisse aus der Altersforschung zusammen, indem er von Kompetenzen und nicht von Defiziten bei Menschen mit einer geistigen Behinderung ausgeht. Die Kompetenz im Alter ist im hohen Masse vom Schweregrad der geistigen Behinderung beeinflusst. Zudem konnte Kruse feststellen, dass im Alter die Kompetenz im hohen Masse vom Grad der Förderung beeinflusst wird, die ein Mensch im Lebenslauf erfahren hat. Eine weitere Kompetenz ist die Kreativität von Menschen mit einer geistigen Behinderung im Alter, der genauso wenig eine Grenze gesetzt wird, wie im in früheren Lebensjahren. Zudem konnte Kruse festhalten, dass Gefühle der Selbstverantwortung und Mitverantwortung genauso vorhanden sind, wie bei Menschen im Alter ohne geistige Behinderung. Die Belastungs- und Trauerreaktionen sind aufgrund verringerter affektiver und emotionaler Kontrolle intensiver. Aus diesem Grund, so hält Kruse fest, muss nach dem Auftreten von Verlusten eher mit tief greifenden psychischen Reaktionen gerechnet werden. Weitere Besonderheiten sind die körperliche Ermüdung und die seelische Erschöpfung, die bei Menschen mit einer geistigen Behinderung im Alter besonders stark zunehmen und demzufolge den Antrieb verringern. Daneben besteht die
Gefahr bei einzelnen Formen von geistiger Behinderung (beispielsweise Menschen mit dem Trysomie 21), dass demenzielle Erkrankungen im Alter oft auftreten (vgl. Kruse, 2006, S. 118-146).
Clemens (1993) meint, dass die Biografie jedes Menschen den Alterungsprozess beeinflusst. Auswirkungen von kritischen Lebensereignissen wie Tod von Angehörigen oder Übergang in Organisationen befinden sich in starker Abhängigkeit von der psychischen Kompetenz. Zudem besteht ein Zusammenhang damit, wie Menschen im Leben gelernt haben mit Statuspassagen, Diskontinuitäten und Verlusten umzugehen (vgl. Clemens, 1993, S. 69). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Altwerden bei Menschen mit geistiger Behinderung von der psychischen Kompetenz abhängt und die Biografie den Alterungsprozess beeinflusst. Hingegen gibt das chronologische Alter oft keine Orientierung darüber.
2.4.3 Periodeneffekte
Die Haltung gegenüber und der Umgang mit Menschen, welche eine geistige Behinderung haben, unterlag in den letzten Jahrzehnten einer enormen Veränderung.
Havemann und Stöppler (2010) beschreiben, dass viele von den heutigen alten Menschen mit geistiger Behinderung Invalidität und gesundheitliche Schäden durch medizinische Unterversorgung und Unterernährung erfahren haben. In den psychiatrischen Kliniken, Pflegeheimen und Grosswohneinrichtung erfuhren die Menschen oft eine rigide und unpersönliche Erziehung und mussten sich der Verwahrung unterwerfen. Das Leben in der Wohneinrichtung war oft ein schlechtes Abbild der Normen und Werte, die damals in der Gesellschaft vorherrschend waren. Viele der alten Menschen mit geistiger Behinderung weisen in ihrer Biografie systematische Verwahrlosung, pädagogische Vernachlässigung und soziale Isolation auf (vgl. Havemannn & Stöppler, 2010, S.61-65).
Clemens (1993) meint, dass die Biografie eines jeden Menschen seinen Alterungsprozess beeinflusst. Auswirkungen von kritischen Lebensereignissen wie Tod von Angehörigen oder Übergang in Organisationen befinden sich in starker Abhängigkeit von der psychischen Kompetenz. Zudem besteht einen Zusammenhang damit, wie Menschen im Leben gelernt haben mit Statuspassagen, Diskontinuitäten und Verlusten umzugehen (vgl. Clemens, 1993, S.69 zit. in Havemann & Stöppler, 2010, S. 21).
2.4.4 Fokus Finanzierung: Übergang von der IV zur AHV
Durch das Gesetz stehen Menschen mit einer geistigen Behinderung meist in einer finanziellen Abhängigkeit. Finanzielle Ressourcen entscheiden unter anderem auch über die Organisation, in welcher ein Mensch mit einer Behinderung leben kann. Mit dem Eintritt ins Pensionsalter und zugleich dem Wechsel der Versicherung kann dies Auswirkungen auf das
Bleiberecht der Betroffenen haben. Bühlmann (2009) fasst die zurzeit ungelöste Situation in der Schweiz vom Übergang der IV zur AHV folgend fest: Mit der Pensionierung treten Menschen mit einer geistigen Behinderung von der Invalidenversicherung (IV) zur Altersund Hilfslosenversicherung über (AHV). Das Renteneinkommen bleibt gleich. Hilfsmittel und Hörgeräte oder Gehhilfen werden weiter bezahlt und auch die Hilflosenentschädigung ist nicht infrage gestellt. Jedoch ist die Frage der Pflege von betagten Menschen mit geistiger Behinderung aus finanzieller Sicht nicht geklärt. Denn die Krankenkassen übernehmen nur Pflegeleistungen in Organisationen, die auf der kantonalen Pflegeheimliste aufgeführt sind. Es ist schon vorgekommen, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung von ihren bisherigen Organisation in eine von der AHV finanzierte Organisation (Pflegeheim) zwangsverlegt wurden.
Bühlmann zitiert in seinem Artikel Heidi Lauper von der Elternvereinigung der Insieme Schweiz. Lauper fordert, dass die Wohnheime für Menschen mit Behinderung über das Pensionsalter hinaus bis zum Tod begleiten können.
Mit dem neuen Finanzausgleich sind jetzt die Kantone und nicht mehr die IV für Werkstätte und Wohnheime zuständig. Bühlmann zitiert Ivo Loetscher, Geschäftsführer von Insos (Soziale Institution für behinderte Menschen). Darin kritisiert Loetscher die ungenügende Regelung des Übergangs zwischen IV und AHV, die sich auf die Praxis auswirke, das heisst auf die Betroffenen. Loetscher fordert eine Integration im AHV-Alter (vgl. Bühlmann, 2009).
2.5 Fazit
Diagnosen mit geistiger Behinderung sind mit gewisser Vorsicht zu betrachten. Einerseits gewähren Klassifikationssysteme eine Orientierung und geben wichtige Anhaltspunkte für die Arbeit mit Menschen mit einer geistigen Behinderung. Anderseits müssen Klassifikationssysteme mit hoher Sensibilität verwendet werden und sollten für die Betroffenen keine diskriminierende Wirkung haben. Daher muss der Mensch als Individuum mit seinen Stärken und Schwächen im Vordergrund stehen. Hingegen ist Wissen in der Arbeit mit Menschen mit einer geistigen Behinderung beispielsweise über den Entwicklungsverlauf und die Folgen der kognitiven Einschränkung, Umgang mit Ängsten, altersnormierten Krisen oder kritischen Lebensereignissen unweigerlich, um Missverständnisse oder Über- und Unterforderungen zu vermeiden. Die Möglichkeit des sprachlichen Ausdruckes von Menschen mit einer geistigen Behinderung ist ein wichtiger Aspekt. Hierbei ist zu betonen, um schmerzliche Gefühle und belastende Erfahrungen ausdrücken zu können, sind günstige Rahmenbedingungen erforderlich. Gerade im Umgang mit Ängsten und bei der Bewältigung von altersnormierten Krisen und kritischen Lebensereignissen benötigen Menschen mit einer geistigen Behinderung zudem eine hilfreiche Bezugsperson, die eine tragfähige und akzeptierende Beziehung herzustellen vermag.
Spezifisch bei Anzeichen körperlicher Alterung, da das chronologische Alter keine wirkliche Orientierung bietet, benötigen betroffene Menschen eine der Behinderung entsprechend sinnvolle Aufklärung über die biologischen und psychologischen Veränderungen des Alters. Ebenfalls ist zu beachten, dass alte und ältere Menschen mit einer geistigen Behinderung in ihrer Biografie oft systematische Verwahrlosung, pädagogischer Vernachlässigung und sozialer Isolation ausgesetzt waren. Abschliessend lässt sich festhalten, dass alte und ältere Menschen mit einer geistigen Behinderung eine Begleitung benötigen, welche ein Wissen über die Besonderheiten der jeweiligen Personengruppe verfügt. Ebenso muss die Begleitung über die Besonderheiten des Alterungsprozesses und der spezifischen Informationen über die Biografie des betroffenen Menschen in Kenntnis sein. Zudem kommt es, aufgrund der Finanzierung, ebenfalls auf die Organisation an, wo ein Mensch mit geistiger Behinderung den Lebensabend verbringen kann und letztlich im Sterbeprozess begleitet wird. Auf diesen Aspekt wird im folgenden Kapitel näher eingegangen.
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- Martina Woodgate-Bruhin (Author), 2010, Sterbebegleitung von Menschen mit geistiger Behinderung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/168360
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