Gewalt im Namen der Ehre wird für die Soziale Arbeit nicht zuletzt durch die Installation speziell konzipierter anonymer Einrichtungen zum praxisrelevanten Tatbestand.
Anliegen dieser Bachelorarbeit ist es, sich der Zielgruppe „jungen von Zwangsheirat betroffenen oder bedrohten Migrantinnen, die sich entschieden haben ihre Familie zu verlassen“ als Nutzerinnen speziell konzipierter Einrichtungen der stationären Jugendhilfe aus dem Blickwinkel soziologischer und sozialarbeiterischer Theorien zu nähern, mit der Zielsetzung, das für die Arbeit mit der Zielgruppe unabdingbare theoretische und fachliche Wissen zu systematisieren und theoretische Anknüpfungspunkte für das vorhandene Fachwissen zu schaffen bzw. dieses um neue Aspekte zu erweitern.
Um zielgruppengerechte professionelle Arbeit leisten zu können, ist zunächst ein fundiertes Wissen über gesellschaftliche und strukturelle Zusammenhänge des Themenkomplexes Migration vonnöten, weshalb ich im ersten Kapitel eine gesamtgesellschaftliche Einordnung ermöglichen und einen Überblick über relevante historische und statistische Fakten darbieten werde sowie die Thematik Zwangsheirat vertiefend skizzieren und anhand von quantitativem und qualitativen Datenmaterial in ihren Hintergründen ausformulieren werde.
Das zweite Kapitel soll die individuellen Lebenslagen der Zielgruppe näher beleuchten. Da die jungen Frauen neben ihrer speziellen Problemlage auch im Kontext ihrer Lebensphase bzw. ihres Migrationshintergrundes und den damit verbundenen Problemen und Anforderungen zu sehen sind, werde ich zunächst auf Anforderungen der Jugendphase und die Identitätsbildung im Allgemeinen eingehen und im Anschluss darlegen, mit welchen strukturellen Ausgrenzungsprozessen die jungen Frauen in der Bundesrepublik konfrontiert sind. Daran anschließend werde ich auf die aus der Thematik der Zwangsheirat bzw. unmittelbar auf den Akt des Verlassens der Familie resultierenden speziellen Problemlagen eingehen.
Das aus den Kapiteln 1 und 2 gewonnene Wissen über die Zielgruppe soll nun in Kapitel 3 aus dem Blickwinkel ausgewählter Theorien der Sozialen Arbeit analysiert und eingeordnet und anhand konkreter Handlungsansätze auf die Zielgruppe übertragen werden.Im vierten Kapitel werde ich schlussendlich das Wissen bündeln und insgesamt sechs Ebenen herauskristallisieren, auf denen Soziale Arbeit mit der spezifischen Zielgruppe agieren muss, diese kategorisieren und in komprimierter Form mit Handlungsempfehlungen versehen.
Inhaltsverzeichnis
Anlagenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Einleitung
1. Allgemeine Einordnung
1.1 Migration in Deutschland
1.1.1 Geschichte der Migration ab
1.1.2 Anteil der Migranten und Migrantinnen an der Bevölkerung
1.1.3 Strukturelle Benachteiligung
1.1.4 Resumée
1.2 Zwangsheirat
1.2.1 Zur Abgrenzung von Zwangsheirat und arrangierter Ehe
1.2.2 Erscheinungsformen
1.2.3 Erläuterung des Datenmaterials und quantitative Einordnung
1.2.4 Strukturelle Kontextbedingungen
1.2.5 Familiäre und normenbedingte Hintergründe
1.2.6 Die Bedeutung der Heirat / der Ehre
1.2.7 Die Rolle des Umfelds
2. Lebenslagen junger von Zwangsheirat betroffener Migrantinnen
2.1 Die Adoleszenz
2.1.1 Weibliche Sozialisation
2.1.2 Die Bedeutung der Jugendphase und Identitätsbildung
2.1.3 Entwicklungsaufgaben
2.1.4 Individueller Ausgestaltungsspielraum
2.1.5 Resumée
2.2 Migration
2.2.1 Marginalisierungs- und Ausgrenzungsprozesse
2.2.2 Zuschreibungen entlang der Diskriminierungslinien Ethnie und Geschlecht
2.2.3 Psychische Belastungsmodelle von Migration
2.2.4 Kulturkonflikthypothese
2.2.5 Resumée
2.3 Aus dem Kontext der Zwangsheirat / dem Verlassen der Familie resultierende Problemlagen
2.3.1 Institutionelle Anbindung
2.3.2 Verlust des sozialen und familiären Netzwerks
2.3.3 Psychosozialer Bereich
2.3.4 Alltagsbewältigung und Erlernen anonymer Verhaltensweisen
2.3.5 Resumée
3. Theorien der Sozialen Arbeit
3.1 Hans Thiersch – Lebensweltorientierung
3.1.1 Dimensionen lebensweltorientierter Sozialer Arbeit
3.1.2 Struktur- und Handlungsmaximen
3.1.3 Praxisbezug in der Jugendhilfe
3.2 Lothar Böhnisch – Lebensbewältigung
3.2.1 Lebensbewältigung
3.2.2 Bewältigungsverhalten
3.2.3 Praxisbezug in der Jugendhilfe
3.3 Feministische Mädchenarbeit
4. Handlungsebenen
4.1 Ebene der strukturellen Diskriminierung
4.2 Institutionelle Ebene
4.3 Ebene der Sozialisation
4.4 Ebene des familiären Hintergrundes
4.5 Ebene der psychischen Belastungen
4.6 Ebene der Alltagsanforderungen
Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Anhang
Anlagenverzeichnis
Anlage 1 Auflistung spezifischer Beratungsstellen bzw. anonymer Zufluchtsstätten für die Zielgruppe junge von Zwangsheirat bedroht oder betroffene Migrantinnen
Anlage 2 Flyer ROSA – Wohnen für junge Frauen nicht-deutscher Herkunft
Abbildungsverzeichnis
Abb.1 Zu- und Fortzüge über die Grenzen Deutschlands von 1991 - 2008
Abb.2 Bevölkerung Deutschlands nach detailliertem Migrationsstatus 2005 – 2007
Abb.3 Bevölkerung mit Migrationshintergrund nach Herkunftsland bzw. Herkunftsland mindestens eines Elternteils 2007
Abb.4 Altersstruktur der Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund 2007
Abb.5 Ausländische und deutsche Schülerinnen und Schüler in Sekundarstufe I und II 2005/2006 nach ausgewählten Nationalitäten und Schularten
Abb.6 Herkunft der Ratsuchenden
Abb.7 Religionszugehörigkeit der Ratsuchenden
Abb.8 Alter der Ratsuchenden
Abb.9 Alter zum Zeitpunkt der Zwangsheirat
Abb.10 Staatsangehörigkeit der Betroffenen
Abb.11 Herkunftskultur der betreuten Mädchen und jungen Frauen in % der gültigen Fälle
Abb.12 Leben in der Kindheit in % der gültigen Fälle
Abb.13 Art der Verheiratung
Abb.14 Bildungsstand der Ratsuchenden
Abb.15 Schulische Situation der in der Biographiestudie unter- suchten Mädchen und jungen Frauen in % der gültigen Fälle
Abb.16 Motive für die Verheiratung
Abb.17 Gewalterfahrungen im Zuge der Zwangsverheiratung
Abb.18 Die Heirat als innerfamiliärer Konflikt
Abb.19 Initiator/innen der Zwangsheirat
Abb.20 Für die Zwangsheirat Verantwortliche
Abb.21 Belastungen der Migration
Einleitung
Kaum ein Sujet hatte im Spätsommer und Herbst 2010 mehr Medienpräsenz zu verzeichnen als das der Integration, in dessen Zusammenhang auch immer wieder Strafbestände aus dem Bereich Gewalt im Namen der Ehre, hier insbesondere der Zwangsheirat, in den Blick der Öffentlichkeit gerückt wurden. Das am 30. August 2010 veröffentlichte Sachbuch „Deutschland schafft sich ab“ des Autors Thilo Sarrazin sowie die Veröffentlichung des Buches „Die große Verschleierung – für Integration, gegen Islamismus“ der Frauenrechtlerin Alice Schwarzer, in dem sie unter anderem das Verbot des Kopftuchs in Schulen fordert und sich mit dem Zusammenhang zwischen Frauenrechten und dem Islam im Allgemeinen auseinandersetzt, sind hier beispielhaft zu nennen. Weiteren Zündstoff lieferten die Rede des Bundespräsidenten Christian Wulff vom 03.10.2010, in welcher er den Islam als integralen Bestandteil der Bundesrepublik deklarierte, und die Forderung nach einem Zuwanderungsstopp des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer in einem Interview mit dem Magazin Focus. Im Zentrum der öffentlichen Debatte stehen nunmehr die Thematik der Zuwanderung in spe sowie die der bereits existenten Migrationsgesellschaft der Bundesrepublik; immer wieder wird hierbei das Thema Gewalt im Namen der Ehre als Indiz für gescheiterte Integration (vorwiegend muslimischer) MigrantInnen instrumentalisiert.
Unter „Gewalt im Namen der Ehre“ im Allgemeinen ist jede Form der Gewaltanwendung (sowohl psychisch als auch physisch) zu sehen, die das Ziel der Bewahrung oder Wiederherstellung der Familienehre verfolgt (vgl. Böhmecke 2004, 10). In dieser Arbeit soll der Fokus auf die Zwangsverheiratung als eine von vielen Unterkategorien von Gewalt im Namen der Ehre gelegt werden, wobei nicht außer Acht gelassen werden darf, dass Zwangsverheiratung oftmals nur die Spitze des Eisberges langjähriger physischer sowie psychischer Gewaltanwendungen, Zwangsverschleppungen etc. darstellt.
Losgelöst von der aktuellen Debatte lässt sich festhalten, dass es sich bei Zwangsheirat um ein Phänomen handelt, das sich, was seine Ausmaße anbelangt, in einem Graubereich bewegt. Eine breite öffentliche Aufmerksamkeit erlangte das Sujet Zwangsheirat erstmals im Jahre 2003 durch eine bundesweite Kampagne der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes. Darüber hinaus erschienen in den folgenden Jahren zahlreiche autobiographische Romane von jungen Frauen aus dem Kontext der Zwangsheirat, besonders bekannt sind hier die Autorinnen Serap Cileli, Seyran Ateş oder Necla Kelec. Zum akuten politischen Thema wurde Gewalt im Namen der Ehre nach der Ermordung der Deutsch – Türkin Hatun Sürücü, die von ihrem Bruder im Auftrag der Familie erschossen wurde, da sie durch ihren Lebensstil deren Auffassung des Ehrbegriffs nicht gerecht wurde.
Die Bundesregierung verabschiedete am 27.10.10 einen Gesetzesentwurf, welcher unter anderem die Zwangsehe als eigenen Strafbestand deklarieren und mit einer Haftstrafe von bis zu 5 Jahren sanktionieren soll.
Die wissenschaftliche Diskussion zur Thematik ist kontrovers und stark geprägt von der Uneinigkeit darüber, ob der Diskurs im Rahmen einer Migrations- bzw. Integrationsdebatte geführt werden muss oder der gesamtgesellschaftliche Kontext innerfamiliärer Gewalt zutreffender wäre. Gemende et al. sprechen in diesem Zusammenhang von der Problematik um Gleichheit und Differenz und erfassen damit die zwei wesentlichen Hauptströmungen in der Forschung bzw. der öffentlichen Debatte. Die differenzorientierten Sicht, zu deren Vertreterinnen beispielsweise die Autorin Yasemin Karakaşoğlu zählt, auf der einen Seite lenkt ihr Hauptaugenmerk auf eine differenzierte Sicht auf Geschlechter- und Lebensverhältnisse aller MigrantInnengruppen und sieht als Hauptursache für Problematiken die Abschottungspolitik der Bundesrepublik, wohingegen die Gegenströmung auf die Existenz kultureller Differenzen, welche nicht mit den Menschenrechten zu vereinen, sind pochen (vgl. Gemende et al. 2007, 11f.). Hier wäre beispielsweise die Autorin Necla Kelec zu nennen. Diese Kontroverse wird plastisch deutlich an der von den MigrationsforscherInnen Mark Terkessidis und Yasemin Karakaşoğlu verfassten und am 01.12.06 in der Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlichten Petition „Gerechtigkeit für Muslime“, welche von führenden VertreterInnen der Migrationsforschung, wie Franz Hamburger, Ingrid Gogolin, Paul Mecheril, Ursula Boos – Nünning oder Leonie Herwartz – Emden unterzeichnet wurde. In dieser Petition warnen die AutorInnen davor, die Einzelfallfallschilderungen aus den oben genannten autobiographischen Romanen zu pauschalisieren und wissenschaftlich fundierten Kenntnissen gleichzusetzen. Ebenso kritisieren sie, dass die Romane den Anschein erwecken, der Islam als patriarchale und rückschrittige Religion trage alleine die Hauptschuld für Erscheinungen wie Zwangsheirat, womit die strukturellen Bedingungen der Bundesrepublik, die, so die UnterzeichnerInnen, durch ihre rigide Zuwanderungspolitik einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Existenz sogenannter „Heiratsmärkte“ leiste, außen vor gelassen werden (vgl. Karakaşoğlu / Terkessidis 2006).
An dieser Stelle möchte ich explizit darauf hinweisen, dass die Thematik dieser Bachelorarbeit keineswegs repräsentativ für die (muslimische) Migrationspopulation der Bundesrepublik zu sehen ist, sondern sich auf einen Ausschnitt dieser bezieht, in welchem patriarchalische und dörflich tradierte Normen- und Wertvorstellungen vorherrschen.
Für die Soziale Arbeit stellt das Thema einen praxisrelevanten Tatbestand dar. Neben der Konfrontation mit betroffenen jungen Frauen in Bereichen wie der Schulsozialarbeit, der Familienhilfe oder Jugendhilfeeinrichtungen bzw. Beratungstätigkeiten im Allgemeinen verfügt die Bundesrepublik über einige wenige speziell konzipierten Einrichtungen der stationären Jugendhilfe bzw. Beratungsstellen, deren Konzeptionen sich im Regelfall aus praxisnahen Erhebungen und Fachwissen speisen (s. Anlage 1, 78 / Anlage 2, 80)[1].
Anliegen dieser Bachelorarbeit ist es, sich der Zielgruppe „jungen von Zwangsheirat betroffenen oder bedrohten Migrantinnen, die sich entschieden haben ihre Familie zu verlassen“ als Nutzerinnen speziell konzipierter Einrichtungen der stationären Jugendhilfe aus dem Blickwinkel soziologischer und sozialarbeiterischer Theorien zu nähern, mit der Zielsetzung, das für die Arbeit mit der Zielgruppe unabdingbare theoretische und fachliche Wissen zu systematisieren und theoretische Anknüpfungspunkte für das vorhandene Fachwissen zu schaffen bzw. dieses um neue Aspekte zu erweitern. In vielen Punkten lassen sich die theoretischen Ausführungen auch auf die Soziale Arbeit in speziell konzipierten Beratungsstellen übertragen.
Die Argumentationslinie dieser Bachelorarbeit ist trichterförmig angelegt und orientiert sich daran, was sich aus den dargestellten Zusammenhängen an Zielgruppenspezifika herauskristallisieren lässt, welche im Anschluss jeweils in einem Resumée zusammengefasst werden.
Um zielgruppengerechte professionelle Arbeit leisten zu können, ist zunächst ein fundiertes Fachwissen über gesellschaftliche und strukturelle Zusammenhänge des Themenkomplexes Migration vonnöten, weshalb ich im ersten Kapitel eine gesamtgesellschaftliche Einordnung ermöglichen und einen Überblick über relevante historische und statistische Fakten darbieten werde sowie die Thematik Zwangsheirat vertiefend skizzieren und anhand von quantitativem und qualitativen Datenmaterial in ihren Hintergründen ausformulieren werde. Das zweite Kapitel soll die individuellen Lebenslagen der Zielgruppe näher beleuchten. Da die jungen Frauen neben ihrer speziellen Problemlage auch im Kontext ihrer Lebensphase bzw. ihres Migrationshintergrundes und den damit verbundenen Problemen und Anforderungen zu sehen sind, werde ich zunächst auf Anforderungen der Jugendphase und die Identitätsbildung im Allgemeinen eingehen und im Anschluss darlegen, mit welchen strukturellen und gesellschaftlichen Ausgrenzungsprozessen die jungen Frauen in der Bundesrepublik konfrontiert sind. Daran anschließend werde ich auf die aus der Thematik der Zwangsheirat bzw. unmittelbar auf den Akt des Verlassens der Familie resultierenden speziellen Problemlagen eingehen. Das aus den Kapiteln 1 und 2 gewonnene Wissen über die Zielgruppe soll nun in Kapitel 3 aus dem Blickwinkel ausgewählter Theorien der Sozialen Arbeit analysiert und eingeordnet und anhand konkreter Handlungsansätze auf die Zielgruppe übertragen werden. Entschieden habe ich mich hierbei, auf aktuelle Theorieströmungen des 20. Jahrhunderts einzugehen, zum einen auf den lebenswelt- und alltagsorientierten Theorieansatz des Tübinger Erziehungswissenschaftlers Hans Thiersch sowie Lothar Böhnischs Theoriekonzept der Lebensbewältigung. Beiden Konzepten attestieren Engelke et al. eine hohe Signifikanz innerhalb des wissenschaftlichen Spektrums und der Praxis Sozialer Arbeit (vgl. Engelke et al. 2008, 442f, 475). Darüber hinaus werde ich mich auf Handlungs- und Theorieansätze aus dem Bereich der feministischen Mädchenarbeit beziehen. Im vierten Kapitel werde ich schlussendlich das Wissen bündeln und insgesamt sechs Ebenen herauskristallisieren, auf denen Soziale Arbeit mit der spezifischen Zielgruppe agieren muss, diese kategorisieren und in komprimierter Form mit Handlungsempfehlungen versehen.
Es ist selbsterklärend, dass der Sozialen Arbeit im skizzierten Feld als Überbau ein selbstreflexiver, migrationspädagogischer Pädagogikbegriff zu Grunde liegen muss. Paul Mecheril empfiehlt, statt des Begriffes der Interkulturellen Pädagogik den Begriff der Migrationspädagogik zu verwenden, da der Begriff interkulturelle Pädagogik, so Mecheril, Verschiedenheit ins Zentrum stellt und den Terminus der Kultur als markante Trennungslinie einsetzt (vgl. Mecheril 2004, 15f.).
Allgemein benennt Mecheril als Grundprinzipien der Migrationspädagogik in Anlehnung an Honneth die Anerkennung von Zugehörigkeiten, die Möglichkeit des „kulturellen Hineinwachsens“ in pluralen Zugehörigkeitskontexten sowie die Verschiebung dominanter Zugehörigkeitsordnungen, eingebettet in einen institutionellen Kontext der Anerkennung natio-ethno-kultureller[2] Vielfalt sowie der Reflexion und des lernenden Handelns (vgl. Mecheril 2004, 213 - 225). Auernheimer führt darüber hinaus den Blickwinkel der rassismuskritischen Pädagogik ins Felde und betont die Omnipräsenz von Diskriminierungserfahrungen, seien es konkret erlebte Erfahrungen oder nur deren stets präsente potentielle Bedrohung, welche wahrgenommen und in die Soziale Arbeit mit MigrantInnen mit einfließen müssen. Dasselbe gilt für das Wissen um strukturelle Benachteiligung sowie die ständige Selbstvergewisserung der SozialarbeiterInnen über internalisierte Stereotype (vgl. Auernheimer 2009, 200).
1. Allgemeine Einordnung
Die Arbeit mit der Zielgruppe erfordert eine grundlegende Kenntnis historischer sowie statistischer Hintergründe. Daher soll dieses Kapitel zunächst die Thematik der Migration historisch einordnen sowie einen Überblick über die statistische Signifikanz von MigrantInnen in der deutschen Gesellschaft geben. Im zweiten Schritt soll auf Basis quantitativer und qualitativer Daten die Thematik Zwangsheirat in ihren Hintergründen und Ausprägungen dargestellt werden.
1.1 Migration in Deutschland
Per definitionem versteht man unter Migration die längerfristig angelegte Verlagerung des Wohnorts von Einzelpersonen, Familien sowie ganzen Bevölkerungsgruppen. Was die der Wanderung zugrunde liegende Intention betrifft, so lässt sich zwischen Arbeits- und Siedlungswanderungen, Bildungs-, Ausbildungs- und Kulturwanderungen, Heirats- und Wohlstandswanderungen sowie Zwangswanderungen differenzieren (vgl. Oltmer 2010, 1).
Der Begriff Migration bezeichnet ergo keinen klar definierbaren Sachverhalt, sondern hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich vielmehr eine starke Heterogenität von Zuwanderungskonstellationen und verschiedenen Zuwanderungsbiographien. Diese Heterogenität war in den Statistiken der Bundesrepublik Deutschland jahrelang nicht erfasst worden. So wurden bis zum Jahre 2005 sowohl SpätaussiedlerInnen[3] als auch eingebürgerte MigrantInnen nicht in die Statistiken mit hinein gezählt.
Im Jahre 2005 begann man sich erstmals von dem bis dato gebräuchlichen Ausländerkonzept zum Migrationskonzept hinzuwenden. Mit dem Mikrozensus[4] von 2005 liegen erstmalig komplexe Daten über die Bevölkerung mit Migrationshintergrund im Bezug auf die Merkmale Staatsangehörigkeit, Geburtsort, Zugangsjahr, Einbürgerung, Staatsangehörigkeit, und Einbürgerung und Geburtsort beider Elternteile sowie der Großeltern vor (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, 139ff.).
1.1.1 Geschichte der Migration ab 1945
Wanderungsbestrebungen von Bevölkerungsgruppen ziehen sich durch die gesamte Historie der Existenz menschlichen Lebens. Ich werde an dieser Stelle lediglich auf die Geschichte der Migration ab 1945 eingehen, da diese für die dieser Arbeit zugrunde liegenden Zielgruppe von Relevanz ist.
Den ersten Migrationsstrom stellten nach 1945 mit Ende des Zweiten Weltkrieges deutsche Flüchtlinge vorwiegend aus Polen und der Tschechoslowakei dar. Als zweiter Migrationsstrom lässt sich die GastarbeiterInnenmigration identifizieren, die zugleich den Migrationsstrom mit der höchsten Relevanz für die Zielgruppe dieser Arbeit darstellt. Sie lässt sich grob in drei Phasen unterteilen. In der ersten Phase, der Phase der Anwerbung, wurden im Zeitraum von 1955 bis 1973 aufgrund des Wachstums der deutschen Wirtschaft, welches mit den autochthonen und von den Folgen des zweiten Weltkrieges gezeichneten Bevölkerung nicht zu bewältigen war, insgesamt 14 Millionen Arbeitskräfte aus dem Ausland vornehmlich zur Übernahme niedrig qualifizierter Stellen angeworben. Das erste Anwerbeabkommen wurde zwischen der Bundesrepublik und Italien geschlossen, es folgten weitere Verträge mit Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Tunesien und Jugoslawien.
Politisch war die Anwerbung ausländischer GastarbeiterInnen als Übergangslösung angelegt, woran sich auch die Ausländerpolitik der Bundesrepublik orientierte, die sich daher in dieser Phase lediglich auf arbeitsmarktorientierte Inhalte beschränkte.
Gemäß des im Jahre 1965 verabschiedeten Ausländergesetzes sollte der Aufenthalt der MigrantInnen, auf Basis eines sogenannten Rotationsprinzips, zunächst auf ein Jahr beschränkt werden und im Einzelfall gegebenenfalls verlängert werden. Auf die Phase der Anwerbung folgte in der Periode von 1973 bis zum Ende der 70er Jahre die Phase des Anwerbestopps, die mit dem Nachzug von im Heimatland verbliebenen Familienangehörigen verbunden war, und so lebten bis 1989 bereits 4,9 Millionen Menschen ausländischer Herkunft in der Bundesrepublik.
Mit dem Zusammenbruch der DDR und dem Fall des Eisernen Vorhangs entstand ein neuer Migrationsstrom, insbesondere bestehend aus Asylsuchenden und Aussiedlern (von 1950 – 2007 4,5 Millionen Menschen) vornehmlich aus der UdSSR und aus Polen (vgl. Oltmer 2010, 40 – 59). Die Zahl der Asylsuchenden ist seit 1992 konstant gesunken und der 8. Migrationsbericht konstatiert für das Jahr 2008 mit einem Gesamtwanderungssaldo von – 55.743 (Deutsche und Ausländer) erstmals seit 1984 mehr Fort- als Zuzüge (s. Abb.1, 81) (vgl. BAMF 2010, 17f.).
1.1.2 Anteil der Migranten und Migrantinnen an der Bevölkerung
Nach dem Migrationskonzept betrug der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an der Bevölkerung der Bundesrepublik im Jahre 2007 18,4%. Dies entspricht 15,4 Millionen Menschen (s. Abb.2, 81), davon 8,1 Millionen Deutsche und ca. 7,3 Millionen Ausländer (vgl. BAMF 2010, 211 – 214). Das Geschlechterverhältnis betrachtend ergibt sich eine egalitäre Verteilung von 50% zu 50%, womit die Gruppe der Migranten und Migrantinnen einen insgesamt niedrigeren Frauenanteil aufweist, als die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (Frauenanteil 51,5%) (vgl. BMFSFJ 2009, 25).
Neben rechtlichem Status und Migrationserfahrung ist auch das Miteinbeziehen des Herkunftslandes für die Darstellung der Komplexität der Migrationsprozesse in Deutschland von Bedeutung. Den größten Anteil an der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bilden hierbei Menschen mit türkischem Hintergrund mit einem Gesamtanteil von 16,4%, gefolgt von polnischen (7,5%) bzw. russischen Spätaussiedlern (6,7%) und Menschen mit italienischem Migrationshintergrund (s. Abb.3, 82) (vgl. BAMF 2010, 214 ff.)
Diese Zahlen verdeutlichen die ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt der deutschen Gesellschaft, die sich auch in der Art der Ausrichtung der sozialen Institutionen niederschlagen muss.
Es lässt sich weiter feststellen, dass die Bevölkerung mit Migrationshintergrund im Durchschnitt deutlich jünger ist, als die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. So entspricht der Anteil der MigrantInnen von 15 bis unter 20 Jahren an der Gesamtaltersgruppe 24,0%, der Anteil an der Gruppe der 20 bis unter 25 - Jährigen 23,3%. Dies sind rund 6 Millionen Menschen (s. Abb.4, 82) (vgl. BAMF 2010, 216f.).
Diese Zahlen machen deutlich, dass sich die Bundesrepublik Deutschland und somit auch die Institutionen der Sozialen Arbeit bzw. die theoretischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, die jenen zugrunde liegen, nicht mit einer kleinen Randgruppe an Migrantinnen konfrontiert sieht, sondern dass es sich bei der Erscheinung Migration vielmehr um ein signifikantes Strukturmerkmal der jungen Generation handelt.
1.1.3 Strukturelle Benachteiligung
MigrantInnen sind, was ihre Partizipation in den Bereichen Bildung und Arbeitsmarkt angeht, immer noch strukturellen Ausgrenzungserscheinungen unterworfen.
Aus den Daten des statistischen Bundesamts ergibt sich, dass im Schuljahr 2005/2006 nur rund 15% der Deutschen eine Hauptschule besuchten. Der Anteil bei den Schülern mit ausländischer Staatsbürgerschaft lag hingegen bei knapp über 40%. Genau Gegenläufiges lässt sich für den Besuch des Gymnasiums feststellen. So befanden sich rund 45% der deutschen Schüler im untersuchten Schuljahr an einem Gymnasium, der Anteil der ausländischen Schüler, die ein Gymnasium besuchten lag bei 21% (s. Abb.5, 83) (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2007, 42f.).
Ähnliches ergibt sich, betrachtet man die SchulabgängerInnen des Jahres 2005. So verließen 7,2% der deutschen SchülerInnen die Schule ohne Abschluss und 23,2% mit einem Hauptschulabschluss. Der Anteil bei den SchülerInnen ausländischer Herkunft lag hier deutlich höher: 17,5% wurden ohne Schulabschluss, 41,7% mit Hauptschulabschluss aus dem Schulsystem entlassen. Die Hochschulreife erlangten hingegen 25,7% der deutschen Schüler, bei den Schülern mit ausländischer Staatsbürgerschaft lag der Anteil bei rund 8% (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2007, 43f.). Ebenfalls alarmierend sind die hohen Übergangsquoten von jungen MigrantInnen in Förder- und Hauptschulen (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, 165). So hatten im Schuljahr 2002/03 15,8% der Sonderschüler keine deutsche Staatsbürgerschaft (vgl. Herwartz-Emden 2007, 15).
Ähnliche Tendenzen lassen sich auch im Bezug auf die Beteiligung am Arbeitsmarkt feststellen. So liegt die durchschnittliche Erwerbsquote[5] bei Menschen ohne Migrationshintergrund bei 75%, bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bei rund 68%. Noch deutlicher wird der Unterschied, wenn man die realisierte Erwerbsquote[6] betrachtet. So ergibt sich hier bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund eine Quote von rund 68%, bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund liegt diese bei 56%. Genau gegenläufig verhält sich wiederum die Arbeitslosenquote. Sie liegt bei den Personen ohne Migrationshintergrund bei 9,8%, bei den Personen mit Migrationshintergrund hingegen bei 18% (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2007, 60f.).
Zusammenfassend lässt sich eine ganz klare Benachteiligung der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bezüglich ihrer Partizipation an elementaren gesellschaftlichen Bereichen konstatieren.
Riegel legt dar, dass die Kategorie Bildung für junge Migrantinnen einen Schlüssel zur Autonomie darstellt und somit als Ressource innerhalb ihres eingeschränkten Handlungsspielraumes dienen kann. Diese Ressource innerhalb des Familiengeflechts wird jedoch in der deutschen Gesellschaft ad absurdum geführt, da hier wiederum Diskriminierungsmechanismen wirken, die auf Basis symbolischer Fremdzuschreibungen und entlang den Differenzlinien Ethnie, Geschlecht, Klasse und Nationalität zum Tragen kommen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund den Zugang zu Bildung bzw. den Übergang zwischen den Bildungsinstitutionen erschweren. Dies kann zur Folge haben, dass Resignationsmechanismen bei den jungen Frauen einsetzen, welche sie dazu veranlassen, trotz ihres Widerwillens auf familiär erwünschte Zukunftspläne wie beispielsweise die Heirat zurückzugreifen (vgl. Riegel 2007, 266ff.).
1.1.4 Resumée
Zusammenfassend lassen sich für die Soziale Arbeit als elementare Zielgruppenspezifika die Heterogenität, sei es bezogen auf die Nationalität oder auf die individuelle Zuwanderungsgeschichte, sowie die strukturelle Benachteiligung in der Bundesrepublik herauskristallisieren.
Betroffen sind junge Frauen, die in der Bundesrepublik geboren und sozialisiert wurde, genauso wie junge Frauen, die selbst (ggf. sogar im Zuge der Zwangsverheiratung) migriert sind. Gleiches lässt sich, sofern die jungen Frauen nicht über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügen, für den Aufenthaltsstatus[7] festhalten. Einige von ihnen leben zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme von Einrichtungen der Sozialen Arbeit bereits in der erzwungenen Ehe, andere sind davon bedroht bzw. kommen aus einem familiären gewaltgeprägten und unterdrückenden Umfeld.
1.2 Zwangsheirat
In einer Veröffentlichung der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes benennt die Autorin Myria Böhmecke mögliche psychische und physische Formen von Gewalt im Namen der Ehre. So kann sich diese auf der psychischen Ebene in Form von Unterdrückung, Bedrohung oder Erpressung ausdrücken, in physischer Art erfolgen Gewalterfahrungen durch Misshandlungen, Folter oder Mord. Darüber hinaus benennt sie die Zwangsheirat und das Verstoßen aus dem Familienbund als Formen, in denen Gewalt sowohl physisch als auch psychisch wirkt (vgl. Böhmecke 2004, 10f.).
1.2.1 Zur Abgrenzung von Zwangsheirat und arrangierter Ehe
Für die Betrachtung des Sujets findet sich in der Literatur zumeist eine begriffliche Unterscheidung zwischen den beiden Termini „arrangierte Ehe“ und „Zwangsheirat“. Ob und welcher Art eine Unterscheidung vorgenommen werden muss, ist in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung kontrovers diskutiert. Die Lawaetz Stiftung legt der in Kapitel 1.2.2 aufgeführten Untersuchung im Auftrag der Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz Hamburg folgende Definition von Zwangsheirat zu Grunde:
„Zwangsverheiratungen liegen dann vor, wenn mindestens einer der Eheleute durch eine Drucksituation zur Ehe gezwungen wird und mit seiner Weigerung kein Gehör findet oder es nicht wagt, sich zu widersetzen, weil Eltern oder andere Familienangehörige erheblichen Druck ausüben. Die Druckmittel reichen von emotionaler Erpressung und psychischen Druck, über physische und sexuelle Gewalt. Hierzu gehören auch gewaltsam durchgesetzte Handlungen wie Einsperren, Entführen und in drastischen Fällen auch Ehrenmorde“ (Mirbach et al. 2006, 8f.).
Der Bericht des Directorate General of Human Rights verweist eindeutig auf die Problematik der Differenzierung und definiert arrangierte Ehen in Abgrenzung zur Zwangsheirat folgendermaßen:
„In other words, in the tradition of arranged marriages, the families of the future spouses are understood to play a central role in arranging the marriage, but the choice of whether or not to marry rests with the spouses” (Directorate General of Human rights 2005, 21).
Die Soziologin Necla Kelek sieht keinen Unterschied zwischen den beiden Tatbeständen. Sie vertritt die These, dass im Falle einer arrangierten Ehe mitnichten von freier Willensentscheidung von Seiten der Braut in spe zu sprechen sei, sondern auf psychologischer bzw. sozialer Ebene massiver Druck auf die junge Frau ausgeübt wird oder deren subtile Formen der Weigerung (weinen) nicht als solche wahrgenommen würden (vgl. Kelek 2007, 93 – 96).
Gaby Straßburger, welche sich eingehend mit dem Heiratsverhalten türkischer Migranten und Migrantinnen auseinandersetzt, spricht sich für eine grundlegende begriffliche Differenzierung und gegen die Pauschalverurteilung arrangierter Ehen aus. Sie versteht unter arrangierter Ehe die Auswahl des Partners durch Eltern, Verwandte oder eigens engagierte Heiratsvermittler, die letztendliche Vermählung setzt aber die Zustimmung beider Ehepartner voraus (vgl. Straßburger 2007, 76 – 82). Darüber hinaus formuliert Straßburger, dass es auch einen Graubereich gebe, in dem die Grenzen zwischen freiem Willen der Partner und den Wünschen der Eltern verschwimmen, vor allem in Familien, in denen die Heiratspläne nur implizit kommuniziert werden. Auch macht sie deutlich, dass die Tatsache, dass innerfamiliär vom Heiratswillen des Kindes, und zwar im Rahmen einer heterosexuellen Partnerschaft, ausgegangen wird, bereits die Beeinträchtigung des freien Willens beinhalte (vgl. Straßburger 2007, 74f.)
Westphal und Katenbrink schließen sich in weiten Teilen dieser Auffassung an. Auch sie sprechen sich gegen die Verurteilung arrangierter Ehen per se aus und weisen vielmehr auf deren positive Facetten (Unterstützung bei der Partnerwahl) hin. Dennoch führen sie auch an, dass es eine Bandbreite an Partnerwahlmodi gibt, zwischen welchen die Grenzen fließend sind und somit die Gefahr des missbräuchlichen Umgangs mit dem Vorgang der arrangierten Ehen durchaus besteht (vgl. Westphal / Katenbrink 2007, 142f.).
Strobl und Lobermeier kritisieren Straßburgers Definition, da, so die Autoren, die Verweigerung einer von der Familie angedachten Heirat in gewalttätig geprägten Familienstrukturen ohne Konsequenzen für die junge Frauen eher nicht denkbar sei. Sie plädieren dennoch für die begriffliche Trennung von arrangierter Ehe und Zwangsheirat, wobei sie erstere ebenfalls nicht per se verurteilen, aber darauf hinweisen, dass Zwangsheiraten vor allem in kulturellen Kontexten, in denen das Arrangieren von Ehen praktiziert wird, vorkommen. Darüber hinaus impliziert für die Autoren der Terminus arrangierte Ehe das Mitspracherecht beider Beteiligten, was über ein schlichtes Vetorecht hinausgehen muss. Weiterhin halten sie fest, dass Zwangsverheiratung keiner religiösen Überlieferungstradition entspringt, sondern vielmehr im Zusammenhang ländlicher kultureller Traditionen gesehen werden muss. Sie verstehen unter Zwangsverheiratung das Arrangement einer Ehe unter Ausübung von Macht oder Gewalt gegen mindestens einen der beiden Ehepartner. Dazu zählt auch die Anwendung von psychischem Druck, der die potentielle Möglichkeit des Einsatzes von Gewalt mit einschließt (vgl. Strobl / Lobermeier 2007, 27 - 30).
Schlussendlich möchte ich mich in meinen nachfolgenden Ausführungen in weiten Teilen an der Definition der Hamburger Lawaetz Stiftung orientieren und schließe mich der Auffassung von Strobl /Lobermeier an eine begriffliche Differenzierung vorzunehmen, jedoch unter dem Vorbehalt der von ihnen formulierten Implikationen.
1.2.2 Erscheinungsformen
Zwangsverheiratung tritt in vielen Kulturen auf und findet sich hauptsächlich in muslimisch sowie in hinduistisch oder christlich geprägten Kulturen wieder (vgl. Strobl / Lobermeier 2007, 28).
Es lassen sich vier Erscheinungsformen von Zwangsheirat unterscheiden. Zunächst ist als erste Erscheinungsform die Verheiratung zweier in Deutschland lebender Migranten zu benennen. Als zweite Erscheinungsform lässt sich die herbeigeführte Heirat eines in Deutschland lebenden Migranten mit einer jungen Frau aus seinem Herkunftsland, die dann im Zuge des Ehegattennachzugs nach Deutschland geholt wird, festhalten. In diesen Fällen spricht man von sogenannten „Importbräuten“. Darüber hinaus treten oftmals Fälle von „Ferienverheiratungen“ auf, in deren Rahmen junge Frauen unter dem Deckmantel des „Urlaubsbegriffs“ in ihr Heimatland gebracht werden, wo sie dann gegen ihren Willen verheiratet und festgehalten werden. Schließlich lässt sich als vierte Erscheinungsform die sogenannte „Heirat für ein Einwanderungsticket“ differenzieren. In Deutschland lebende Migrantinnen werden mit einem Mann aus ihrem Herkunftsland verheiratet, um diesem die Einwanderung in die Bundesrepublik zu ermöglichen (vgl. Ausländerbeauftragter der Landesregierung Baden - Württemberg 2006, 18f.).
Was den Vollzug der Ehe an sich angeht, so kann man für muslimische Kulturkreise zwischen der religiös vollzogenen („Imam-Ehe“) und der standesamtlich vollzogenen Ehe unterscheiden. Die Imam-Ehe ist zwar rechtlich nicht wirksam, jedoch für viele gläubige Muslime in ihrer Verbindlichkeit unanfechtbar und bietet den Familien die Möglichkeit, ihre minderjährigen Töchter, trotz rechtlicher Einschränkungen, zu verheiraten (vgl. Ausländerbeauftragter der Landesregierung Baden - Württemberg 2006, 21f.).
1.2.3 Erläuterung des Datenmaterials und quantitative Einordnung
In der Bundesrepublik kommt und kam es immer wieder zu Fällen von Zwangsverheiratung unter Migrantengruppen, deren quantitative Einordnung jedoch bis dato nur schwer möglich ist. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend führte im Zeitraum von Februar bis Oktober 2003 eine Untersuchung zur Gewalterfahrung von Frauen in der Bundesrepublik auf Basis standardisierter Interviews mit einer repräsentativen Stichprobe von 10.264 Frauen durch. Zusätzlich wurden je 250 Interviews mit Migrantinnen in türkischer bzw. russischer Sprache geführt und qualitative Erkenntnisse auf Basis von Gruppendiskussionen gewonnen. Von den 250 Frauen mit türkischem Migrationshintergrund machten 150 Frauen, die verheiratet sind oder waren, auf einem Zusatzfragebogen Angaben zum Thema Zwangsheirat. 143 Frauen waren mit einem türkischen Partner verheiratet, 25% von ihnen kannten den Partner vor der Heirat nicht. In ca. 50% der Fälle wurde der Partner durch die Verwandtschaft ausgewählt. Hier waren 75% der Frauen mit der Wahl einverstanden, 23% hätten es vorgezogen, den Partner selbst auszuwählen. 25% der Frauen, deren Partner von der Familie ausgesucht worden war, waren nicht nach ihrem Einverständnis gefragt worden, und 17% hatten das Gefühl, mit Zwang zur Heirat getrieben worden zu sein (vgl. BMFSJ 2004, 3-7, 27). Die Beratungsstelle YASEMIN[8] hat für den Zeitraum vom 01.07.2007 bis 31.08.2010 insgesamt 1189 Beratungskontakte sowie 648 Nutzerinnen aus Baden - Württemberg (174 im Alter von 12 – 17 Jahren, 255 im Alter von 18 – 21 Jahren, 151 Nutzerinnen im Alter von 22 – 27 Jahren) ihres Angebotes zu verzeichnen. Von diesen 648 jungen Frauen sind 196 konkret von Zwangsheirat bedroht (vgl. Beratungsstelle Yasemin 2010, 1f.). Wenngleich repräsentative bundesweite Daten bis dato nicht vorhanden sind, halte ich, besonders da es sich bei der Thematik um ein absolutes Dunkelfeld handelt, vor allem die Fallzahlen der Beratungsstelle YASEMIN für signifikant hoch und bewerte diese als Indiz dafür, dass junge von Zwangsheirat betroffene und bedrohte Migrantinnen durchaus eine nicht geringe Zielgruppe der Sozialen Arbeit darstellen.
Neben diesen quantitativen Einschätzungen zur Häufigkeit von Zwangsheirat gibt es einige qualitativ ausgerichtete empirische Untersuchungen in verschiedenen Städten bzw. spezifischen Kriseneinrichtungen, aus denen ich explizit drei Erhebungen, an ausgewählten Stellen in Ergänzung dreier weiterer wissenschaftlicher Einschätzungen, exemplarisch vorstellen möchte. Gemein ist allen Untersuchungen, dass sie keinen repräsentativen Charakter haben und keine definitiven Zahlen liefern können, was die Häufigkeit von Zwangsverheiratungen in der Bundesrepublik angeht. Allerdings können sie Aufschluss darüber geben, in welchem Maße Einrichtungen der Sozialen Arbeit mit der Thematik konfrontiert sind, sowie Hintergründe und Kontextbedingungen darlegen, welche schlussendliche präventive und für die praktische Soziale Arbeit essentielle Schlüsse zulassen.
Ich möchte zunächst auf die Methodik der von mir verwendeten Studien eingehen. Die Autorin und Soziologin Nekla Kelek beruft sich, was die quantitative Einschätzung von Zwangsverheiratungen angeht, auf Zahlen des Auswärtigen Amts zur Vergabe von Visa. So wurden im Jahre 2000 21.447 Visa an Personen aus der Türkei zum Zwecke des Ehegattennachzugs bzw. der Familienzusammenführung vergeben (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2002, 302f.). Die Autorin geht davon aus, dass die Hälfte dieser auf diese Weise geschlossenen Ehen arrangiert wurde, was ihrer Definition nach einer erzwungenen Ehe gleichkommt (vgl. Kelek 2007, 93).
Westphal und Katenbrink stellen auf der anderen Seite fest, die Heiratsmigration aus der Türkei in die Bundesrepublik sei kein frauenspezifisches Problem, und untermauern dies mit Daten der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Integration und Flüchtlinge bezüglich der Verteilung von Visa im Jahre 2003. Hierbei wird, den Familiennachzug aus der Türkei betrachtend, der Anteil der vergebenen Visa an Ehefrauen zum Zwecke des Nachzugs zu einem ausländischen Ehemann mit 21% angegeben, der Anteil der Visa, die an Ehemänner mit einer ausländischen Frau in der Bundesrepublik vergeben wurden, beträgt 16% (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2004, 26ff.). Neben der methodischen Fragwürdigkeit dieser „Schätzungen“ Keleks möchte ich an dieser Stelle anmerken, dass ich den Bezug auf die Vergabe von Visa für wenig aussagekräftig halte, da sie, wenn überhaupt, lediglich die Situation der sogenannten „Heiratsmigration“ als nur eine von vier Hauptformen der Zwangsheirat widerspiegeln könnte und somit keine Rückschlüsse auf die tatsächliche quantitative und qualitative Einordnung des Phänomens zulassen.
Die Lawaetz – Stiftung führte von Juli bis September 2006 im Auftrag der Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz in Hamburg eine Befragung an Institutionen der Jugendhilfe, Frauenhäusern sowie an Beratungsstellen für MigrantInnen bezogen auf den Zeitraum 2005 mit dem Ziel der quantitativen Einordnung der Ursachenforschung und der Einschätzung der Beratungspraxis durch.
Die Untersuchung erfolgte in zwei Schritten. Im ersten Schritt wurden insgesamt 84 Fragebögen an Einrichtungen der oben beschriebenen Einrichtungen versandt mit quantifizierbaren Fragestellungen sowie einzelnen Fragen zur persönlichen Einschätzung. Insgesamt war ein Rücklauf von 59 Fragebögen zu verzeichnen. Im zweiten Schritt wurden acht leitfragengestützte Interviews mit Expertinnen geführt (vgl. Mirbach 2006, 4- 11). 27 Einrichtungen gaben an, im Jahre 2005 Beratungen zum Thema Zwangsheirat durchgeführt zu haben, und zwar in insgesamt 210 Fällen (26 der Einrichtungen nannten explizite Fallzahlen). Davon waren 94,8 % weiblich (vgl. Mirbach 2006, 16ff.).
Da nicht alle Fragen von jeder Einrichtung beantwortet wurden, nehmen die AutorInnen analog dazu in der Auswertung der Daten n = 210 / n = 27 bzw. n = die Anzahl der Einrichtungen, die die Frage beantwortet haben, an.
Die Fachkomission Zwangsheirat der Landesregierung Baden - Württemberg versandt im Rahmen einer Untersuchung im Zeitraum von Januar bis Oktober 2005 ebenfalls zahlreiche Fragebögen zum Thema Zwangsheirat an verschiedene Institutionen innerhalb Baden - Württembergs (Beratungsstellen, Frauen- und Kinderschutzhäuser, Kommunalverwaltung, RechtsanwältInnen), von denen von insgesamt 93 Einrichtungen summa summarum 282 Fragebögen zurückgesandt wurden, 67 davon mit dem Vermerk, dass innerhalb des zu erhebenden Zeitraums keine Berührungspunkte mit der Thematik vorliegen. Insgesamt berichten die befragten Einrichtungen in den zurückgesandten Fragebögen von 215 Fällen von Zwangsheirat im Zeitraum von Januar bis Oktober 2005, wovon 105 Personen bereits zwangsverheiratet wurden und 110 akut von Zwangsheirat bedroht sind. In 10 Fällen wurde der Zeitpunkt der Zwangsheirat im Jahre 2005 datiert.
Lediglich in zwei der 215 genannten Fälle waren die betroffenen Personen Männer (vgl. Ausländerbeauftragter der Landesregierung Baden - Württemberg 2006, 25 – 30).
Rainer Strobel und Olaf Lobermeier führten im Jahre 2006 eine Untersuchung mit der Zielsetzung der besseren Identifikation familiärer Risikofaktoren durch und leisten somit einen Beitrag zur Einordnung der familiären Hintergründe der Zielgruppe. Hierzu wurde eine quantitative Erhebung von Datenmaterial aus den Jahren 1986 bis 2006 der Kriseneinrichtung PAPATYA[9], welches 331 in dieser Einrichtung betreute junge Frauen umfasste, vorgenommen. Ergänzt wurden diese Daten mit der biographischen Analyse von 100 jungen Frauen aus der Gesamtmenge von 331 sowie 10 telefonischen Interviews mit im Feld tätigen Expertinnen.
Die Autoren weisen daraufhin, dass ihre Studie nicht die Zielgruppe Zwangsheirat in ihrer Gänze repräsentiert, da ausnahmslos junge Frauen erhoben wurden, die die Hilfe einer Kriseneinrichtung in Anspruch genommen haben und somit lediglich ein Ausschnitt der Thematik beleuchtet werden kann.
Der Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak führte im Jahre 2005 qualitative Interviews mit 15 in Deutschland sozialisierten türkischstämmigen Männern, welche eine arrangierte Ehe mit einer Frau aus dem Heimatdorf ihrer Eltern eingegangen sind. Dabei handelt es sich um Interviewpartner, die allesamt einen niedrigen Bildungsstatus aufweisen und aus ländlichen, konservativen Gebieten der Türkei stammen. Der Autor weist ausdrücklich darauf hin, dass seine Untersuchung keinerlei Rückschlüsse auf die türkische Migrantenbevölkerung per se zulasse, sondern lediglich die Sichtweise solcher jungen Männer widerspiegle, die aus dem ländlich-agrarischen Milieu stammen und eine Ehe eingegangen sind, die von der Familie arrangiert wurde (vgl. Toprak 2007, 16f.).
Was soziodemographische Faktoren wie Alter, Nationalität und Religion anbelangt, so lässt sich für die Studie der Lawaetz – Stiftung festhalten, dass 54,3% der ratsuchenden Personen einen türkischen Migrationshintergrund haben, die zweitgrößte Gruppe bilden Ratsuchende afghanischer Herkunft mit einem Anteil von 16,1%, gefolgt von Personen kurdischer Herkunft (9,1%) und Ratsuchenden aus dem Nahen Osten (7,5%) (vgl. Abb.6, 83). Die Religionszugehörigkeit betrachtend lässt sich eine klare Mehrheit aus dem muslimischen Religionskreis (82%) konstatieren, die zweitgrößte Gruppe stellen Frauen aus Afrika dar (sonstige Religionen 6%), gefolgt von Hinduistinnen (5%). Nur 1% der Ratsuchenden hat eine christliche Religionszugehörigkeit (s. Abb.7, 84) (vgl. Mirbach et al. 2006, 18ff.).
Was die Altersstruktur anbelangt, so waren 39% der Frauen zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme von Beratungsangeboten zwischen 18 und 21 Jahren alt, die zweitgrößte Gruppe bilden die 22 - 29 - jährigen mit 24%. Eine Person war zum Zeitpunkt der Beratung erst 13 Jahre alt, allgemein gesehen waren allerdings 80% zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme bereits volljährig (s. Abb.8, 84) (vgl. Mirbach et al. 2006, 18ff.).
Ähnliche Tendenzen zeigt die Untersuchung der Fachkommission Zwangsheirat. Was die Altersstruktur angeht, so sind ca. 66% der Betroffenen knapp 23 Jahre alt, 12% sind 18 Jahre alt, 18% sind minderjährig. Von den bereits zwangsverheirateten Personen waren 40% zum Zeitpunkt der Eheschließung minderjährig, der Hauptausschlag liegt bei 19 Jahren (s. Abb.9, 85).
40% der Personen besitzen die türkische Staatsbürgerschaft, fast 20% besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft, wovon 60% einen türkischen Migrationshintergrund haben. 5% stammen aus dem Kosovo und jeweils 4% aus Albanien, dem Libanon und Serbien - Montenegro (s. Abb.10, 86). Neben den 38 Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft haben 36 einen unbefristeten Aufenthaltstitel, 19 einen befristeten Aufenthalt, 11 sind Asylbewerberinnen und 4 leben illegal bzw. geduldet in der Bundesrepublik. 95% der Personen, über die Angaben zur Religionszugehörigkeit vorliegen, waren Muslima, 3% sind Christen und eine betroffene Person gehörte dem Hinduismus an (vgl. Ausländerbeauftragter der Landesregierung Baden - Württemberg 2006, 30 – 33).
Die Zusammensetzung der untersuchten Gruppe der Studie von Strobl und Lobermeier weist einen bedeutend hohen Anteil türkischstämmiger Migrantinnen auf (62,2% Türkei allgemein, 9,4% kurdisch). Darüber hinaus stammen 7,9% der jungen Frauen aus Ex-Jugoslawien, 8,2% aus dem Libanon und 7,9% aus sonstigen arabischen Ländern (s. Abb.11, 87). 62,8% der untersuchten Mädchen hat keine eigene Migrationserfahrung vorzuweisen, 16,3% besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft und 63,4% einen gesicherten Aufenthaltsstatus (vgl. Strobl / Lobermeier 2007, 30 – 34). Diese Ergebnisse machen deutlich, dass die erhobenen jungen Frauen durchaus in der Bundesrepublik sozialisiert wurden bzw. aus Familien stammen, die schon über einen gewissen Zeitraum in der BRD verweilen. Das durchschnittliche Alter, in welchem über die Verheiratung der jungen Frauen entschieden wurde, beträgt 16 Jahre.
Darüber hinaus ist festzuhalten, dass ein auffallend großer Teil der jungen Frauen aus Familien kommt, in denen die Eltern getrennt oder in Scheidung leben. Strobl und Lobermeier stellen fest, dass 63,4% der von ihnen untersuchten Gesamtstichprobe mit beiden Elternteilen zusammen lebten, in 8,2% der Fälle waren die Eltern getrennt, in 28% der Fälle geschieden. Lediglich 51,1% der jungen Frauen wuchsen bei beiden Elternteilen auf, 29,3% lebten bei Verwandten (s. Abb.12, 87) (vgl. Strobl / Lobermeier 2007, 34f).
Mirbach et al. erfragten unter der Vorgabe von Kategorien die Art und Weise, auf welche die Zwangsverheiratungen vollzogen wurden. 27,6% der Fälle wurden „innerdeutsch“ zwangsverheiratet, in 23,4% der Fälle handelte es sich um sogenannte Importbräute, 21,9% der Ratsuchenden wurden im Rahmen einer sogenannten Ferienverheiratung zwangsverheiratet und 20,3% für ein Einwanderungsticket (s. Abb.13, 88). Was den Ort der Verheiratung anbelangt, so wurde in 57% das Ausland angegeben (vgl. Mirbach et al. 2006, 28ff).
Was den Vollzug der Ehe anbelangt, zeigen die Ergebnisse der Fachkomission Zwangsheirat leichte Abweichungen. So wurde am häufigsten die Ferienverheiratung angegeben (44 Nennungen), gefolgt von der sogenannten Importehe (38 Nennungen) und der Heirat für ein Einwanderungsticket (31 Nennungen). Deckungsgleich jedoch, die Ergebnisse zum Ort der Eheschließung. Nur 11 % der Ehen wurde in der Bundesrepublik geschlossen, hingegen fanden 60% der Eheschließungen in der Türkei statt.
Darüber hinaus wurden in 58 Fällen Angaben zum konkreten Vollzug der Ehe gemacht. Hier entfallen auf die Eheschließung per Imam 51,7 % (vgl. Ausländerbeauftragter der Landesregierung Baden - Württemberg 2006, 33, 35).
1.2.4 Strukturelle Kontextbedingungen
Was den sozioökonomischen Hintergrund anbelangt, nannten die Befragten der Hamburger Studie vor allem den Aspekt der Bildungsarmut, welcher in vielen Fällen als ausschlaggebend für eine Zwangsverheiratung angesehen wurde. Gekoppelt war dieser meist mit einer nicht gelungenen Integration aufgrund von Barrieren und Diskriminierungserfahrungen, welche, so die Befragten, zu einer Rückbesinnung auf dörflich tradierte Werte führen kann (vgl. Mirbach et al. 2006, 26f.).
Strobl und Lobermeier halten erkenntnisgewinnend fest, dass die ökonomische Situation der Herkunftsfamilie lediglich in 0,3% der Fälle als gut eingestuft werden kann, in 50,2% der Fälle ist die materielle Situation als schlecht zu klassifizieren. 36,6% der Väter der erhobenen jungen Frauen sind Sozialhilfeempfänger, darüber hinaus ergibt sich aus dem biographischen Material eine Häufung beengter Wohnverhältnisse. Des weiteren liegt in 23,3% der Familien eine Suchtproblematik vor (vgl. Strobl / Lobermeier 2007, 35ff.).
Mirbach et al. erfragten im Rahmen der Hamburger Studie Daten zum Bildungsstand der Ratsuchenden. 35% der betroffenen Personen verfügen über einen in der Bundesrepublik anerkannten Schulabschluss, über eine in Deutschland anerkannte Berufsausbildung nur 11%. Darüber hinaus wurde nach den Deutschkenntnissen der Betroffenen gefragt. Hier ergab sich ein prozentualer Anteil von 64%, was das Beherrschen der deutschen Sprache in Wort und Schrift anbelangt (s. Abb.14, 88). Die Expertinneninterviews zeigten darüber hinaus, dass junge Frauen, die im Rahmen der Familienzusammenführung in die Bundesrepublik zwangsverheiratet wurden, oftmals nicht die Möglichkeit bekommen, die deutsche Sprache zu erlernen (vgl. Mirbach et al. 2006, 21f.).
Der Studie von Strobl / Lobermeier zufolge besuchen von den 100 jungen Frauen aus der biographischen Untersuchung zum Zeitpunkt der Erhebung 42 die Schule, 16 von ihnen eine Hauptschule, 3 eine Sonderschule, 10 eine Gesamtschule, 8 eine Realschule und 5 ein Gymnasium (s. Abb.15, 89). Daraus lässt sich schließen, dass auch Frauen, die einen höheren Bildungsabschluss anstreben, gefährdet sind (vgl. Strobl / Lobermeier 2007, 29f.).
[...]
[1] Eine ausführliche Liste auf Basis einer Veröffentlichung der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes sowie ein exemplarischer Flyer der Einrichtung ROSA mit skizzenhafter Darlegung der Angebotspalette finden sich im Anhang.
[2] Mecheril weist eindeutig auf die Diffusität der Begriffe Ethnizität, Nation und Kultur und die damit verbundene Problematik hier eine begriffliche Trennung vorzunehmen hin (vgl. Mecheril 2004, 20ff.)
[3] Nachkommen der SiedlerInnen, die als Minderheit in Teilen der Sowjetunion lebten; sind meist im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft
[4] Stichprobenartige Befragung von ca. 1% der bundesdeutschen Haushalte
[5] Der Anteil der Erwerbspersonen (Erwerbstätige und Erwerbslose) an der Wohnbevölkerung im erwerbsfähigen Alter (15 bis 65 Jahre)
[6] Setzt man die Erwerbstätigen ins Verhältnis zur Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (15 bis unter 65 Jahre), so ergibt sich die „Erwerbstätigenquote“. Die
Erwerbstätigenquote gilt als Maßgröße der (realisierten) „Erwerbsbeteiligung“
[7] Für Nicht-EWR-Bürgerinnen zu differenzieren nach: Visum, befristeter Aufenthaltserlaubnis, unbefristeter Niederlassungserlaubnis und unbefristetem Daueraufenthalt sowie der Aufenthaltsgestattung für Asylbewerberinnen; vertiefende quantitative Darstellung in Kapitel 1.2.2
[8] YASEMIN ist eine Beratungsstelle in Stuttgart für junge Migrantinnen zwischen 12 und 27 Jahren, die Schwierigkeiten mit ihrer Familie, mit ihren Verwandten und mit ihrem sozialen Umfeld haben.
[9] PAPATYA ist eine anonyme Kriseneinrichtung für junge Migrantinnen in Berlin.
- Citar trabajo
- Jessica Wagner (Autor), 2010, Gewalt im Namen der Ehre, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/168358
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