Allein der Titel dieser Arbeit mag den einen oder anderen Leser unruhig stimmen, da der Begriff der Handlungsspielräume im Bereich der neueren Täterforschung erst seine Konjunktur erlebt hat und damit vermeintlich die Funktionshäftlinge2 in die Nähe der Täter im Nationalsozialismus rückt. In der Tat verweist der Begriff des Handlungsspielraumes auf das Subjekt und seine Möglichkeiten, innerhalb eines sozialen Raumes zu agieren. Bezogen auf NS-Täter, Mitwisser und –läufer, Schreibtischtäter und so weiter rekurriert der Begriff, auf das Potential „Was wäre möglich gewesen, wenn sich eine Person anders verhalten hätte.“
Gleichzeitig dient er aber auch als Folie, vor dem die zahlreiche Mittäterschaft breiter Bevölkerungsschichten gespiegelt wird, die Schuld nicht mehr nur auf die zwangspathologisierten Eliten des NS-Systems transferiert, sondern die Mitschuld großer Teile der Bevölkerung geschärft wird.3 Im Zusammenhang der neueren Täterforschung hat sich auch unser Wissen über die nationalsozialistischen Konzentrationslager in den vergangenen 15 bis 20 Jahren systematisch erweitert, eine ganze Reihe von Publikationen geben Aufschluss über Planung4, Errichtung, Funktionsweise und Zweck von Konzentrationslagern im Herrschaftsgefüge der Nationalsozialisten.5 Auch die KZ-Gedenkstätten publizieren auf lokaler Ebene, so dass zumindest die deutschen Gedenkstätten nicht nur Eingang in die Forschungslandschaft finden, sonder diese auch zum großen Teil prägen.
Gliederung
1. Einleitung
2. Forschungsstand
2.1 Strukturen und Definitionen im Konzentrationslager: Vom Aufbau des Systems der Funktionshäftlinge bis zur Einlieferung der Häftlinge und ihrer Kennzeichnung
2.2 Zur Frage von Macht und Autonomie einzelner Funktionsstellen
2.3 Von der Gruppenbildung zur Stereotypisierung
2.4 Gruppenspezifische Handlungsformen zwischen 36 Widerstand und „Opfertausch“?
2.5 Anmerkungen zu NSG-Verfahren gegen ehemalige Funktionshäftlinge
2.6 Zusammenfassung und Problemanalyse
3. Das Ermittlungsverfahren 4 Js 798/64 gegen Dr. Stefan Buthner
3.1 Dr. Stefan Budziaszek alias Dr. Stefan Buthner
3.1.1 Vom Krakauer Medizinstudenten Stefan Budziaszek 55 zum polnischen Widerstandskämpfer in Auschwitz-Monowitz?
3.1.2 Aufbau einer neuen Existenz in Westdeutschland als Dr. Stefan Buthner
3.2 Das Ermittlungsverfahren 4 Js 798/64 59 im Rahmen der Frankfurter Auschwitzprozesse
3.2.1 Die Belastungszeugen
3.2.2 Die Entlastungszeugen
3.3 Ergebnis der Vorermittlungen
4. Rekonstruktion der Selektionen in Monowitz anhand weiterer Aktenbestände
4.1 Der zweite Frankfurter Auschwitz-Prozess und das Urteil 70 gegen den SDG Neubert
4.2 Jawischowitz
4.3 Das Verhältnis Buthner - Fischer
4.4 Fazit
5. Schluss
„Aus allen im Rahmen des Auschwitz-Verfahrens gewonnenen Erkenntnissen ist ersichtlich, daß es nicht zu dem Aufgabenbereich eines Häftlingsarztes gehörte, selbst zu selektieren oder gar vorzuschlagen, daß bestimmte Personen in die Gaskammern geschickt würden.“1
1. Einleitung
Allein der Titel dieser Arbeit mag den einen oder anderen Leser unruhig stimmen, da der Begriff der Handlungsspielräume im Bereich der neueren Täterforschung erst seine Konjunktur erlebt hat und damit vermeintlich die Funktionshäftlinge2 in die Nähe der Täter im Nationalsozialismus rückt. In der Tat verweist der Begriff des Handlungsspielraumes auf das Subjekt und seine Möglichkeiten, innerhalb eines sozialen Raumes zu agieren. Bezogen auf NS-Täter, Mitwisser und -läufer, Schreibtischtäter und so weiter rekurriert der Begriff, auf das Potential „Was wäre möglich gewesen, wenn sich eine Person anders verhalten hätte.“ Gleichzeitig dient er aber auch als Folie, vor dem die zahlreiche Mittäterschaft breiter Bevölkerungsschichten gespiegelt wird, die Schuld nicht mehr nur auf die zwangspathologisierten Eliten des NS-Systems transferiert, sondern die Mitschuld großer Teile der Bevölkerung geschärft wird.3 Im Zusammenhang der neueren Täterforschung hat sich auch unser Wissen über die nationalsozialistischen Konzentrationslager in den vergangenen 15 bis 20 Jahren systematisch erweitert, eine ganze Reihe von Publikationen geben Aufschluss über Planung4, Errichtung, Funktionsweise und Zweck von Konzentrationslagern im Herrschaftsgefüge der Nationalsozialisten.5 Auch die KZ Gedenkstätten publizieren auf lokaler Ebene, so dass zumindest die deutschen Gedenkstätten nicht nur Eingang in die Forschungslandschaft finden, sondern diese auch zum großen Teil prägen. Neben dem, was die Forschung bis dato zusammengetragen hat, gibt es aber immer noch blinde Flecken:
Man gerät in erhebliche Schwierigkeiten, wenn man sich den Funktionshäftlingen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern widmet, da kaum Literatur speziell zu diesem Topos publiziert wurde. Es handelt sich hierbei um keinen Forschungsbereich mit klaren Fragestellungen und Abgrenzungen. Vielmehr lassen sich nur wenige Arbeiten in der allgemeinen Konzentrationslagerforschung finden, eine dezidierte Studie nur über Funktionshäftlinge ist nach wie vor ein Desiderat. Der Begriff des Handlungsspielraumes soll hier genutzt werden, um individuelle Handlungsoptionen aufzeigen zu können. Die Abgrenzung zur Täterforschung liegt allerdings darin, dass es sich bei Funktionshäftlingen eben nicht um Täter im NS-System handelt, sondern in erster Linie eben um Häftlinge, um Opfer des Nationalsozialismus. Der Begriff „Handlungsspielraum“ verpflichtet aber, eine individuelle Analyse eines Funktionshäftlings vorzunehmen, was, wie zu zeigen sein wird, dringend geboten ist, um pauschalisierenden Erklärungsansätzen zu entgegnen. Dabei können Gewalttaten von Funktionshäftlingen analysiert werden genauso wie die Bandbreite an solidarischem Handeln in den Konzentrationslagern. Dies muss man als Grundlagenforschung bezeichnen, denn, und auch dies muss in dieser Arbeit aufgezeigt werden, diese ist in Bezug auf Funktionshäftlinge schlichtweg nicht existent.
Im Sinne einer exakten Trennung zwischen Forschung und Überlebendenliteratur, welches keine Abwertung dieser sein soll, beginnt eine wissenschaftliche Beschreibung von Funktionshäftlingen erst mit der Konzentrationslager-Studie von Falk Pingel.6 Ihr folgte 1993 eine soziologisch ausgerichtete Studie von Wolfgang Sofsky, die eher Strukturen und Prozesse aufzeigen will und somit aufgrund dieses Ansatzes verallgemeinernd wirken muss, weswegen sie jedoch nicht unerheblich wird.7
Lutz Niethammers Publikation über die „roten Kapos von Buchenwald“ stand im Trend der Entmystifizierung der antifaschistischen Selbstzuschreibung der DDR.8 Sie löste eine erhitzte und emotionale Debatte über kommunistische Funktionshäftlinge aus, ohne allerdings auf den Kern der Problematik von Funktionshäftlingen zu kommen.9 In ihrem Nachgang erschien ein Band der Gedenkstätte Neuengamme, in denen sich die Autoren zwar mit der „abgeleiteten Macht“ von Häftlingen beschäftigten, die Aufsätze aber lediglich weitere wissenschaftliche Kritik an bzw. Rechtfertigung von Niethammers Thesen enthielten.10 Einzig der Aufsatz von Olaf Mußmann erfasst ein Kernproblem der Funktionshäftlinge, indem er der Frage nach der Gültigkeit der durch die SS vorgegebenen rassistischen Kriterien für die Übernahme von Funktionsstellen nachgeht.11
Die Publikationen von Gideon Greif12 und Revital Ludewig-Kedmi13 sind als Ausnahmen zu werten, da sie die Rolle der jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz bzw. den innerisraelischen Umgang mit den Häftlingen nach dem Krieg in den Focus nehmen. Gerade aber die Studie von Ludewig-Kedmi zeigt, welchen Angriffen die Überlebenden der Sonderkommandos ausgesetzt waren und wie diese mit ihrem Trauma umgegangen sind. Letztlich publizierten noch Karin Orth14 und Kurt Pätzold15 jeweils einen Aufsatz über die Lagergesellschaft und Funktionshäftlinge, weitergehende gruppenspezifische Ansätze16 lassen meist den Blickwinkel der Funktionshäftlinge aus.
Dieser kurze und zunächst rein quantitative Befund ist sehr erstaunlich, denn in der Literatur der ehemaligen Häftlinge nimmt der Topos des Funktionshäftlings in der Beschreibung des Überlebens und des Lageralltags neben den SS-Wachmannschaften eine zentrale Rolle ein. So wird durch die Außerachtlassung dieses Themenkomplexes in der Forschung ein wichtiger realer Bestandteil des Lageralltags von Häftlingen schlichtweg ignoriert, zumal in den Berichten der Überlebenden Funktionshäftlinge z.T. in extremer Weise und ambivalent konnotiert werden, entweder mit der großen Chance zu überleben oder mit Gewalt, Brutalität und Tod.17 Auch wurden Funktionshäftlinge in größerer Zahl in den 1950er Jahren vor westdeutsche Gerichte gebracht, wo ihre Tätigkeit in den Lagern überprüft wurde. Auch dies ist schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen worden, noch nicht einmal ein Artikel liegt über NSG-Verfahren gegen Funktionshäftlinge vor.18 Standen nur sadistische Ausnahmen vor Gericht?19 Waren diejenigen Verurteilten pathologisch genauso „krank“, wie es die Historiographie z.T. bis heute für die Eliten des NS-Systems konstatiert?
Wenn man sich mit der Überlebendenliteratur eingehender befasst, wird man feststellen, dass Funktionshäftlinge in einer „Grauzone“20 standen. Der von Levi genutzte und schwer fassbare Begriff der Grauzone verweist auf ein breit gefächertes Spannungsfeld, welches mehr ist, als eine bloße Zuschreibung eines Häftlings zur Täter- oder zur Opferseite. Auch andere Autoren wie Hermann Langbein21, Benedikt Kautsky22, Eugen Kogon23, Ella Lingens24 oder H.G. Adler25 können in einer Differenziertheit Schattierungen der einzelnen Verhaltensweisen von Häftlingen nachzeichnen, wie es Historikerinnen und Historiker wohl kaum leisten könnten.
Für die deutsche Forschung kann man konstatieren, dass sie natürlich Häftlinge von Konzentrationslagern als Opfer einstuft, schließlich geht es hier um die Auseinandersetzung mit und Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Andererseits wird unser Wissen zum größten Teil von ehemaligen politischen26 Häftlingen geprägt,27 was zur Folge hat, dass Beschreibungen mindestens einer Gruppe, die der kriminellen Häftlinge, wenn nicht auch die der asozialen und homosexuellen Häftlinge, von der Forschung unhinterfragt weitertradiert wurden. Das äußert sich im Kern z.B. dahingehend, dass der überwiegende Teil der Forscher die Kriterien, die zur Einlieferung in ein Konzentrationslager geführt haben, nicht ernsthaft hinterfragt hat.28 Hingegen sind in Beschreibungen des Lagerlebens, des täglichen Kampfes ums Überleben, gruppenspezifische Charakterisierungen und Wertzuschreibungen gang und gäbe;29 um die Stereotype zugespitzt zu formulieren: kriminelle Häftlinge werden als brutal dargestellt, sie schlugen Mithäftlinge tot und verdienten an der blühenden Korruption. Die SS-Wachmannschaften konnten sie so (gegen die politischen Häftlinge) instrumentalisieren, weil sie „Berufsverbrecher“30 waren; die asozialen Häftlingen werden als dreckig und dumm dargestellt; schwule Häftlinge werden meist als quasi klassische Opfer gezeigt,31 ebenso wie jüdische Häftlinge; die Zeugen Jehovas gelten als die autoritätshörigen Helfer, usw.32
Nun soll hier den politischen Überlebenden nicht der Vorwurf gemacht werden, dass ihre Darstellung nicht differenziert genug wären, denn das ist nicht ihre Aufgabe. Ihre subjektiven Erfahrungen sind aber die Quellen, aus denen die Forschung ihre Schlüsse ziehen muss. Nur ergibt sich daraus für den Forscher eine Quellenproblematik, die er nicht außer acht lassen darf: Erstens war ein Großteil der Überlebenden von Konzentrationslagern Funktionshäftlinge. Ihr Überleben war umso wahrscheinlicher, als dass die Konzentrationslager in der Tat einen sozialen Raum33 unter Extrembedingungen darstellen und ein winziger Vorteil - z.B. eine größere Essensration, eine Arbeit nicht unter freiem Himmel, ein Schlafplatz für sich alleine - ausreichen konnte im Gegensatz zur Masse der Häftlinge die Zeit im Konzentrationslager zu überleben. Zweitens haben nach dem Krieg hauptsächlich politische Häftlinge publiziert. Darstellungen anderer Häftlinge aus anderen Gruppen sind wesentlich seltener zu finden, sie haben zumindest nicht die Forschungslandschaft (mit-)geprägt. Häftlinge anderer Nationalitäten haben natürlich auch publiziert, aber selbst nach einer Übersetzung in die deutsche Sprache haben sie kaum Einfluss auf die Konzentrationslager-Forschung nehmen können.34
Diese Arbeit verfolgt in ihrer Auseinandersetzung mit den Handlungsspielräumen von Funktionshäftlingen zwei prinzipielle Untersuchungsrichtungen: erstens wird der aktuellen Forschung vorgeworfen, durch die Ignoranz gegenüber dem Thema bei gleichzeitig aber stattfindender Forschung über Konzentrationslager die rassistischen Einweisungskriterien der nationalsozialistischen Behörden zu übernehmen und überdies eine Stereotypisierung von Häftlingsgruppen fortzuschreiben.
Ursächlich werden diese Stereotypisierungen zum Großteil durch die Überlieferungen der hauptsächlich ehemaligen politischen Häftlingen geprägt, was aber nicht entscheidend dafür ist, wie die Forschung in den letzten 60 Jahren damit umgegangen ist. Ein wichtiger Bestandteil dieser Stereotypisierung ist aber nicht nur die unterschwellige Festschreibung negativer Attribute zu bestimmten Häftlingsgruppen, sondern allgemein ein exkulpatorischer Umgang mit den Häftlingen. Das Leben im Konzentrationslager wird im Zweifelsfall pauschal vor diesem Hintergrund interpretiert, selbst wenn man genauer auf die Strukturen und Akteure des Systems der Funktionshäftlinge eingeht.35
Dies hängt zusammen mit der sensiblen Antizipierung eines Vorwurfs: die Darstellung von Verfehlungen anderer Häftlinge relativiere die Schuld der Nationalsozialisten. Auch dient dieses Ideologem als eine Art Folie, vor der sich nahezu alles widerlegen lässt, auch der zunehmende Nachweis der letzten Jahre, wie breit die Verstrickung der deutschen Bevölkerung in die Verbrechen der Nationalsozialisten ist. Dieser Vorwurf ist so nicht haltbar, zumal er noch nicht mal den Zweck erfüllt, den vermeintliche „Antifaschisten“ damit erreichen möchten. Es ist fraglich, wie man ein „Nie wieder“ propagieren will, wenn das Wissen über den Nationalsozialismus doch noch solche Lücken aufweist. Nur eine dauerhafte und seriöse wissenschaftliche Auseinandersetzung, auch mit unbequemen Themen, kann die Sensibilität für die uns umgebenden gesellschaftlichen Prozesse heute erhöhen.
Deswegen geht es natürlich in zweiter Linie um den Handlungsspielraum von Funktionshäftlingen und ihre Darstellung in der Forschung bis dato. Dabei werden vier Aspekte miteinander verknüpft: Zum ersten erscheint es angebracht, ein grundsätzliches Verständnis für die Häftlingsstrukturen zu erarbeiten. Es müssen Begrifflichkeiten geklärt und z.T. Definitionen angeboten werden, um überhaupt erst einen gemeinsamen Zugang zum Forschungsgegenstand „Funktionshäftling“ zu ermöglichen. Zum zweiten muss geklärt werden, wie der Handlungsspielraum auf der individuellen Ebene konkret aussehen kann und wie sich unterschiedliche Funktionsstellen auf den Handlungsspielraum auswirken, welche unterschiedlichen Probleme und Chancen unterschiedliche Funktionen im Lager mit sich bringen können. Zum dritten wird auf die Gruppenbildung und die damit einhergehende, wertende Beschreibung der Forschung eingegangen. Letztlich wird untersucht, ob es Handlungen von Gruppen, sofern man sie als kohärent voraussetzt, gegeben hat und wie diese in der Forschung dargestellt werden.
Das Vorgehen mittels dieser vier Aspekte erscheint nicht nur logisch, weil sie die verschiedenen Stationen eines Häftlings - von der Einweisung ins Konzentrationslager bis zur Teilnahme an gruppenspezifischen Handlungen - chronologisch nachzeichnen, sondern auch, weil sich die Forschung in Bezug auf die Konkretisierung des Häftlingsalltags unangenehme Fragen gefallen lassen muss. Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden in Bezug auf die bisherige Forschung zu Funktionshäftlingen in vielen Aspekten kritisch ausfallen: zwar ist eine Basis für die Forschung über Funktionshäftlinge durchaus erkennbar, diese ist aber durch erhebliche Lücken gekennzeichnet und das, was vorhanden ist, lässt zudem in weiten Teilen eine Differenzierung missen.
Ergänzt wird die Forschungsstandanalyse durch eine eigene, kurze Analyse der Urteile gegen Funktionshäftlinge vor westdeutschen Gerichten anhand der sogenannten Rüter-Reihe. Dabei können erste Thesen aufgestellt und weitergehende Fragen an die Forschung formuliert werden.
Die Analyse des Forschungsstands nimmt in dieser Arbeit den meisten Raum ein. Sie wird ihrerseits ergänzt durch ein Fallbeispiel aus dem Häftlingskrankenbau Monowitz (KL Auschwitz III): dort war der polnische Häftlingsarzt Dr. Stefan Budziaszek alias Dr. Buthner tätig. Ihm wurde nach dem Krieg vorgeworfen, dass er eigenständig selektiert und es dabei insbesondere auf jüdische Häftlinge abgesehen habe. Zudem soll er an verbrecherischen Experimenten teilgenommen haben. Grundlage für die Auseinandersetzung mit Buthner sind die zu kritisierende Studie von Bernd Wagner36, die Ermittlungsakten gegen Buthner, die Ermittlungs- und Prozessakten zum 1. und 2. Frankfurter Auschwitz-Prozess, die Ermittlungsakten zu Verbrechen im Nebenlager Jawischowitz,37 die Akten des Generalstaatsanwalt der DDR über Buthner und die jüngst erschienene Monographie von Christian Dirks über den SS-Arzt Dr. Horst Fischer38. Dabei müssen gerade die Ermittlungsakten zu Buthner als das angesehen werden, was sie sind: nämlich Quellen ihrer Zeit. Nur wenn dieser Sachverhalt mit einbezogen wird, können diese Quellen hinsichtlich ihres Aussagewertes über die Selektionen in Monowitz adäquat und kritisch überprüft werden. Zudem kann anhand dieses Fallbeispieles der Handlungsspielraum eines einzelnen Häftlings skizziert werden.
Zusammenfassend gesagt sind die Ziele dieser Arbeit:
1. Darstellung und Analyse des Handlungsspielraumes von Funktionshäftlingen anhand des derzeitigen Forschungsstandes
2. Kritik an der Forschung bezüglich des Mangels an empirischen Grundlagen, der Übernahme rassistischer Stereotype und der Überinterpretierung von Gruppenverhalten
3. Darstellung und kritische Analyse eines Fallbeispiels aus den 1960er/70er Jahren sowie Kontextualisierung durch weitere Aktenbestände
2. Forschungsstand
Im folgenden wird der Forschungsstand über Funktionshäftlinge dargestellt. Grundlegend wird dabei die in der Einleitung genannte wissenschaftliche Literatur herangezogen. Darüber hinaus werden Arbeiten einzelner Überlebender mit einbezogen sowie gegebenenfalls Urteile in NSG-Verfahren gegen Funktionshäftlinge. Die Gliederung folgt dabei logisch der Inhaftierungszeit von Häftlingen: so wird der erste Abschnitt genutzt, um neben den wichtigsten Definitionen und den Überblick über die verschiedene Aufgabenbereiche von Funktionshäftlingen auch auf die Bedeutung der Einlieferungsprozedur und der ersten Wochen im Konzentrationslager einzugehen. Der zweite Abschnitt widmet sich noch mit Blick auf die individuelle Häftlingsebene der Frage, wieviel Macht und Autonomie einzelne Funktionsstellen mit sich bringen konnten, wie vielschichtig also das Verhalten auf individueller Ebene und losgelöst von der Häftlingskennzeichnung beschrieben werden kann. Der dritte Abschnitt hingegen nimmt nicht mehr den einzelnen Häftling in den Blick, sondern wendet sich der Gruppenbildung und Gruppenwahrnehmung zu und nimmt somit die kollektive Ebene in den Focus und die damit einhergehende Stereotypisierung von Häftlingsgruppen. Im vierten Abschnitt wird diese Perspektive erweitert um die Frage nach konkreten Handlungsformen der verschiedenen Häftlingsgruppen. Hierbei stehen sich zwei Ansätze konträr gegenüber, entweder jegliches Agieren der Gruppen als Widerstand zu bezeichnen oder diese zu kriminalisieren.
2.1 Strukturen und Definitionen im Konzentrationslager: Vom Aufbau des Systems der
Funktionshäftlinge bis zur Einlieferung der Häftlinge und ihrer Kennzeichnung Wie angekündigt sollen zunächst, bevor auf die Prozedur der Einlieferung und der Häftlingskennzeichnung als Basis ihrer Haftzeit eingegangen werden soll, das System der Funktionshäftlinge breit definiert und dargestellt werden. Insofern die Definitionen nicht durch Ergebnisse anderer Autoren erhärtet werden, handelt es sich um Setzungen. Eingangs wurde darauf verwiesen, dass der Begriff „Funktionshäftling“ hier als Terminus technicus ohne Wertung angesehen wird.39 Negativ abgegrenzt wird der Begriff durch den Ausschluss der Masse der Häftlinge, die in Arbeitskommandos, und dort nicht als Kapos, gearbeitet haben. Dieses Vorgehen ist m.E. dringend geboten, denn einerseits muss man Funktionshäftlinge als integralen Bestandteil jeglicher Lagerstrukturen betrachten, weil sie historische Realität waren und weil sie ein Spezifikum im nationalsozialistischen Konzentrationslager darstellten. Andererseits sollten sie keinesfalls mit bestimmten Verhaltensmustern belegt werden. Dies gilt sowohl für die Zuschreibung von Gewalt und Brutalität, als auch von Resistenz oder Hilfe. Ebenso wenig sollten Funktionshäftlinge mit bestimmten Häftlingsgruppen gleichgesetzt werden, denn all diese Aspekte bedürfen überhaupt erst einer empirischen Analyse.
Als weiterer Begriff wird hier „System der Funktionshäftlinge“ bevorzugt. Er bezeichnet die Gesamtheit aller Funktionshäftlinge und ist somit hier ein offener, nicht normativ besetzter Begriff, der einen analytischen Zugang ermöglicht.40 Das System der Funktionshäftlinge orientiert sich am sogenannten „Dachauer Modell“41, dessen Grundzüge in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern identisch sind, einige lokale Abweichungen v.a. hinsichtlich der lager-internen Arbeitskommandos aber vorkommen können. Beides gilt auch für die Frauenlager.42 Weiterhin dient diese Begrifflichkeit auch als eine technische Sammelbeschreibung aller Funktionsstellen. Diese wiederum waren konkrete Aufgabenbereiche innerhalb des Lagers, die von Häftlingen übernommen wurden.43 Der Begriff der „(Häftlings-)Selbstverwaltung“, den Pingel in die Forschung eingeführt hatte, ist hier nicht stehen zu lassen, da er geradezu demokratische Partizipation unterstellt.44 Sofsky spricht stattdessen in diesem Zusammenhang von „struktureller Perversion sozialer Stellvertretung“45, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Funktionshäftlinge nicht die Gesamtheit aller Häftlinge gegenüber der SS vertraten, sondern allein den Willen der SSWachmannschaften auszuführen hatten.
Letztendlich ist noch der Begriff der „Häftlingsgesellschaft“ einzuführen. Pätzold grenzt damit die Insassen der Lager von der SS-Kommandantur, der Politischen Abteilung und den Wachverbänden ab. Auch er nutzt den Begriff der „Gesellschaft“, um deutlich zu machen, dass auch im Lager Verhältnisse herrschten, die denen einer „normalen“ Gesellschaft ähnelten, wozu er „Herrschaft und Unterordnung, Arbeit und Ausbeutung, Organisiertheit und Spontaneität, Ordnung und Chaos, Privilegien und Benachteiligungen, Sattheit und Hunger, Vorteilsnahmen und Verbrechen von Bestechung und Korruption bis zu Denunziation, Diebstahl, Körperverletzung und Totschlag, aber auch gegenseitige Hilfe, Solidarität und Widerstand“46 zählte.
Das System der Funktionshäftlinge kann keineswegs als eine homogene Masse verstanden werden, wie die Begrifflichkeit vermuten lässt. Vielmehr zeichnete sich dieses durch differenzierte Aufgabengebiete und soziale Schichtungen aus. An der Spitze des Systems stand der Lagerälteste, der von der SS, i.d.R. dem Schutzhaftlagerführer eingesetzt wurde. In den sogenannten Außenkommandos konnte auch der lokale SS-Kommandoführer den Lagerältesten ernennen. Der Lagerälteste ernannte die Blockältesten, dies konnte in Absprache mit den Schutzhaftlagerführer oder den SS-Blockführern geschehen. Blöcke konnten je nach Lager auch Stuben beinhalten, für die Stubenälteste durch den Blockältesten ernannt wurden.47 Lager- als auch Blockälteste hatten zumeist Gehilfen bei sich, die von den Überlebenden je nach Sicht mal als Kalfaktor oder Pipel, aber auch irritierenderweise als Kapo bezeichnet werden.
Kapos waren aber diejenigen Häftlinge, die in den verschiedenen externen und lager-internen Arbeitskommandos die Arbeit der anderen Häftlinge überwachten.48 Je nach Größe des Kommandos gab es einen Oberkapo und mehrere Kapos. Dieser Begriff ist wohl am schärfsten mit Gewalt und Missbrauch von Macht konnotiert, sowohl in der Überlebendenliteratur, als auch in der Forschung.
1960b: Selbstverwaltung und Widerstand in den Konzentrationslagern der SS, in VfZ, Jg. 8, Heft 3, S. 221-236, passim.
Die Grundzüge eines jeden Lagers sind somit durch Lager- und Blockältesten sowie den Kapos auf der einen Seite, und den Entsprechungen auf Seiten der SS - Schutzhaftlager- resp. Kommandoführer, Blockführer, Arbeitskommandoführer - determiniert. Die Lagerältesten trugen gegenüber der SS die Gesamtverantwortung für den reibungslosen Tagesablauf im Konzentrationslager. Blockälteste hatten auf ihren Blöcken für Sauberkeit, Ordnung und Disziplin zu sorgen.
Aber es gab noch eine Reihe von weiteren Funktionsstellen, gerade in den großen Konzentrationslagern. Im Häftlingskrankenbau (kurz HKB oder auch Revier) arbeiteten eine Vielzahl von Häftlingsärzten, die meist auch nur Pfleger genannt wurden. Dem HKB stand ein separater Lagerältester vor, der durch den SS-Lagerarzt ernannt wurde, somit nicht dem Lagerältesten unterstand.49 Was die Rekrutierung von dem Lagerältesten HKB weisungsgebundenen Häftlingsärzten anbelangt, so verweist Dirks auf zentrale Vorgaben aus Berlin.50 Allerdings vermag die dortige Quellenangabe die aktive Rolle der SS beim Auswählen der Ärzte nicht zwingend nachzuweisen, zumal eine Reihe von Häftlingsärzten ihre Aufnahme als Funktionshäftling in den HKB völlig losgelöst von der SS schildern. Auch hier mag die Größe des Lagers und der betrachtete Zeitpunkt eine Rolle spielen, aber gerade für Monowitz lässt sich das nicht nachweisen. Vielmehr muss geklärt werden, wie stark die Autonomie im HKB ausgeprägt war, wenn sich die SS aufgrund von Seuchengefahr z.B. kaum in die Revierblöcke traute.
Neben dem HKB und seinen Häftlingsärzten resp. Pflegern gab es innerhalb der Lager eine Vielzahl von weiteren Möglichkeiten, nicht an Arbeitskommandos teilnehmen zu müssen: in der Küche, in der Kleiderausgabe, in den Quarantänestationen bei der Einweisung neuer Häftlinge, in der Gärtnerei, in Werkstätten. Für Buchenwald ist ab 1942 wohl auch eine Art „Lagerschutz“ aus geringfügig bewaffneten Häftlingen zu verzeichnen.51 Der wichtigste Ort war allerdings die Verwaltung, wo Häftlinge der SS halfen, den Überblick über ihren Lagerkosmos zu behalten. Verwaltung ist hier allerdings nicht starr gemeint, denn verwaltet wurde nahezu überall, ob auf dem Block, wo ein Schreiber benötigt wurde, ob im Häftlingskrankenbau, ob in der Politischen Abteilung, der Kommandantur, dem Arbeitsdienstführer oder beim SS-Standortarzt.52
Diese Beispiele sollen lediglich einen Eindruck vermitteln, welches Potential es bei den Funktionsstellen gegeben hat. Sie sind nicht abschließend und umfassend, auch gab es zeitliche und örtliche Unterschiede. Diese Differenziertheit lässt aber keinen Schluss auf die Quantität von Funktionsstellen innerhalb eines Lagers zu, da Funktionshäftlinge zu jedem Zeitpunkt nur einen Bruchteil der Häftlinge darstellten.
Bevor sich der Häftling überhaupt im Lagerleben zu recht finden konnte, musste er die entmenschlichende Einlieferungsprozedur über sich ergehen lassen: Pingel hat zutreffend scharf formuliert, dass sich in der Eingangssituation - die Phase der ersten Wochen nach der Einlieferung in das Konzentrationslager - für jeden Häftling entschied, wie sich die drei wichtigsten Faktoren Arbeit, Nahrung und Schlaf auf ihn persönlich auswirkten. Die Herausstellung dieser drei Faktoren ist immanent wichtig, um retrospektiv überhaupt annähernd den Vernichtungsdruck auf die Häftlinge realisieren zu können. Sie sollten grundsätzlich bei der Erforschung der Konzentrationslager analytisch als strukturierende Elemente des Häftlingsalltags verstanden werden, um sie empirisch in den einzelnen Lagern überprüfen zu können. Denn, wie Pingel weiter zutreffend ausführt, wer die erste Phase im Lager überstand, hatte überhaupt erst die Möglichkeit, weitere Strategien der Resistenz aufzubauen.53
Anhand der Erfahrung der Einlieferungsprozedur jüdischer Häftlinge in Auschwitz will Pingel einerseits Spezifika der jüdischen Häftlinge aufzeigen; andererseits muss man auch betonen, dass ähnliche Voraussetzungen für alle Häftlinge in allen Lagern galten.54 Neben der Ausraubung während der Aufnahmeprozedur und der tiefen Entwürdigung und Entmenschlichung durch z.B. Kahlscheren und primitives Ausstatten der Häftlinge mit Kleidung sind die ersten Wochen geprägt von der Realisierung dessen, was es bedeutet, „durch den Kamin“ zu gehen:
„Die Einsicht, dass die anderen vergast worden waren, dass es einen solchen Mechanismus überhaupt gab, dass regelmäßig auch noch Lagerhäftlinge selektiert würden, griff überaus zögernd Platz. [...] es war ein typisches Neulingsverhalten, sich hierfür zu interessieren, es zum Gesprächsgegenstand machen zu wollen. [...] soweit eine Bestätigung erreicht wurde, wurde die Wahrheit als Hohn auf die ungläubige Skepsis dem Neuling vom Konzentrationär55 dargeboten, falls dieser sich nicht als besonders gefälliger Kamerad erwies.“56
Hefte. Texte der polnischen Zeitschrift „Przeglad Lekarski“ über historische, psychische und medizinische Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz, Bd. 1, erw. 2. Auflage [dt. Erstausgabe 1987], Hamburg, S. 159- 165.
Pingel beschreibt hiermit ein Informations- und Verarbeitungsdefizit der neuangekommenen Häftlinge, welches „sie eher den Sterbenden näherbrachte, als den Lebenden erhielt“.57 Dies gilt in der Form natürlich nur für Auschwitz und seine Nebenlager - in Abstrichen auch für Lublin-Majdanek -, da es als Konzentrations- und Vernichtungslager eine Doppelstruktur aufwies. Auch wenn Pingels Abstrahierung keine universelle Gültigkeit für alle Lager beanspruchen darf, so erfasst er hier das Kernproblem der permanenten Todesbedrohung, der in ähnlicher Form nahezu alle Neuankömmlinge ausgesetzt waren.58
Zwei Ergebnisse sind indes für den Aspekt der Aufnahmeprozedur und des Überlebens in den ersten Wochen entscheidend:
1. Wie und in welcher Form gelang es dem Häftling in den ersten Wochen an den drei entscheidenden Ressourcen Arbeit, Nahrung und Schlaf zu partizipieren? Gelang es ihm, Vorteile zu erreichen, sei es vermittelt durch kameradschaftliche Kontakte oder durch eigene Fähigkeiten oder aber lediglich durch Glück und Zufall? Das Erreichen einer Funktionsstelle und damit der Vorteilnahme in allen drei Bereichen bedeutete in fast allen Lagern einen Quantensprung in Sachen Überlebenschancen.
2. Gelang es dem Häftling, die Transformation vom „neuen“ Häftling zum „alten“ „Konzentrationär“59 zu vollziehen und die „vorkonzentrationären“60 Erfahrungen aus dem Leben vor der Einweisung mit den permanenten Normbrüchen im KZ in Einklang zu bringen? Diese beiden Ergebnisse sollten immer bedacht werden, wenn man Todesraten von Konzentrationslagern betrachtet. Für einige Lager kann sicher der Nachweis des Zusammenhangs zwischen hoher Todesrate und relativ kurzer Inhaftierungszeit erbracht werden.
Abschließend soll nun auf die bislang nicht betrachtete Häftlingskennzeichnung und - kategorisierung eingegangen werden, welche einen weiteren wichtigen Aspekt der Einlieferungsprozedur darstellt und weitreichende Folgen für das Leben im Konzentrationslager - und für manche auch danach - hatte.
Zuerst muss bei jeglicher Analyse auf verschiedene Entwicklungsphasen61 der und Einlieferungsschübe in die Konzentrationslager geachtet werden. Waren in der Frühphase der nicht auch erfahrene Häftlinge gab, die keine Funktionshäftlinge waren. Der Begriff geht allerdings mindestens auf Adler zurück, siehe Adler 1960a, S. 668.
Konzentrationslager diese noch fast exklusiv kommunistischen und sozialdemokratischen Häftlingen vorbehalten, so änderte sich die Häftlingsgesellschaft mit der Ausweitung und Schärfung der Feinddefinitionen durch v.a. Himmler und Heydrich. Nach Eberle lassen sich für das Jahr 1936 bereits alle weiteren Kategorien wie Asoziale, Kriminelle, Homosexuelle und Bibelforscher (Zeugen Jehovas) nachweisen.62 Allerdings waren die Häftlingszahlen keineswegs konstant, sondern gingen nach 1933 kontinuierlich zurück und stiegen erst aufgrund verschiedener Terror- und Verhaftungswellen ab 1936 auf einen Wert von ca. 21000 Gefangenen im Herbst 1939 an.63
Neben der Ausweitung der Feindkategorien spielten die territorialen Eroberungen des Deutschen Reiches eine entscheidende Rolle für die Internationalisierung der Häftlingsgesellschaften: während im Jahr 1938 neben Österreichern auch Tschechen ins Visier rassistischer Ordnungsvorstellungen gelangten, so erweiterten sich mit Kriegsbeginn die Kategorien auch auf Polen, Franzosen, Niederländer, Russen usw.64 Dabei wurde das Farbschemata der roten (politisch), grünen (kriminell, SVer und BVer), schwarzen (asozial), rosafarbenen (homosexuell), braunen (Zigeuner), gelben (jüdisch) und violetten (Zeugen Jehovas oder Ernste Bibelforscher) Winkel ausdifferenziert, Angehörige ausländischer Nationalitäten mit einem kenntlichmachenden Buchstaben versehen sowie die Häftlingsnummer ergänzt.65 Diese Einheitlichkeit in den Lagern wurde nach Eberle wohl erst nach 1938 erreicht.66
Welche Bedeutung hat das System der Kennzeichnung für das System der Funktionshäftlinge, welche für die Lagergesellschaft insgesamt? Bei Sofsky beginnt seine ausführliche Beschreibung der Funktionshäftlinge mit der Häftlingskennzeichnung: die Klassifikation ist für ihn entscheidend für die soziale Ordnung des Konzentrationslagers, welche als „Taxonomie der Farben“67 charakterisiert ist. Dabei diente diese Taxonomie nicht der Erkenntnis im analytischen Sinn, sondern eher der Wiedererkennung, der Diskriminierung und des Machterhalts;68 Für Sofsky geht damit ein Vernichtungsdruck einher, der umso stärker wurde, je weiter weg eine Gruppe von dem „rassistischen Ideal“ der SS klassifiziert wurde.69 Allerdings ist Sofskys Modell des sozialen Standes im Konzentrationslager komplexer und spiegelt sich anhand vierer, hierarchisch gestaffelter Kriterien: Bestimmend war das rassistische Merkmal Mensch-Untermensch, wobei Zigeuner und Juden teilweise noch nicht mal in die Kategorie Untermensch fielen. Gleichzeitig wären sowjetische Kriegsgefangene einer doppelten Bedrohung ausgesetzt gewesen, da sie sowohl Kriegsgegner darstellten, als auch als Angehörige der Slawen zu den Untermenschen gezählt wurden.70
Die zweite Kategorie wird durch die regionale Herkunft bestimmt. Hier stünden Häftlinge aus Nordeuropa dem rassistischen Ideal der SS näher als West- und Südeuropäer.71 Die Kategorien 3 und 4 betrafen vorwiegend reichsdeutsche Häftlinge, denn dabei handelte es sich einerseits bei 3. um den Grad der politischen Feindschaft und andererseits bei 4. um die Devianz von der sozialen Norm. Während ausländische Gefangene in der Regel als politische Gefangene galten,72 differenzierte man bei den reichsdeutschen Weltanschauungsgegnern zwischen den Bibelforschern und dem weiten Feld der Kommunisten und Sozialdemokraten.73
Am Ende der Skala der sozial Devianten wären Asoziale und Homosexuelle, deren Rang Sofsky als so niedrig einstuft, dass sie nicht wirklich bekämpft worden wären. Da sie von der SS als „anormal, schädlich und überflüssig“74 angesehen wurden, hätte man sie mit Spott und Verachtung gestraft, bevor man sie tötete.
Das Merkmal der „Nähe“ zum rassistischen Ideal der SS war somit nach Sofsky eine wichtige Determinante des Überlebens; die „Ferne“ zum Ideal dagegen war die Grundbedingung des Sterbens. Insgesamt sind diese Klassifikationen aber nicht als statisch anzusehen, da es eine Eigenschaft der „absoluten Macht“75 sei, unter bestimmten Umständen auch Veränderungen in der Taxonomie vorzunehmen, wofür Sofsky das Beispiel der „Rotspanier“ und der Bibelforscher vorbringt.76
Somit gibt es nach Sofsky einen direkten Konnex zwischen Kategorisierung und der Chance auf eine Funktionsstelle und somit aufs Überleben. Dies wird soziologisch weiter unterfüttert, indem er den Begriff des „sozialen Kapitals“ einführt: Es umfasste jene Ressourcen, „die sich aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ergaben, aus der Stellung in einem Netz guter Beziehungen, das die Basis bildete für den Austausch lebenswichtiger Informationen, Güter und solidarischer Hilfe.“77 Dieses soziale Kapital sei das einzige gewesen, welches dem destruktiven Charakter des Konzentrationslagers habe trotzen können, auch wenn es nicht in der Lage gewesen sei, die Klassifikationen aufzuheben.
Demnach teilt Sofsky die verschiedenen Gruppen auch nach den Zugängen zu Funktionsstellen und zum Sozialkapital ein:78 An der Spitze stünden demnach die BVer und die politischen Häftlinge, die den Großteil des Kampfes zwischen den Gruppierungen bestimmten. In der oberen Mittelklasse befänden sich die Bibelforscher, Tschechen und mit Abstrichen an der Funktionsmacht auch die Asozialen. Zur unteren Mittelklasse würden Polen, Franzosen und Italiener zählen. Dabei wären nationale Konflikte zwischen Polen, Tschechen und Franzosen Kämpfe innerhalb einer Schicht gewesen, während die Kämpfe der Polen gegen Deutsche und BVer ein Kampf nach oben bedeutete, der Kampf gegen die Juden hingegen ein Abwehrkampf nach unten. Sofsky betont dabei, dass der Übergang von der Ober- zur Mittelklasse gravierend war, während der Sprung zwischen Mittel- und Unterklasse meist nicht mehr als aus einem Stückchen Brot bestand.
Nach Sofsky bringt also Funktionsmacht einem Häftling soziales Kapital ein.79 Aber bei allem Charme, den so ein Modell bietet, ist hier zu fragen, ob der Grad der Vereinfachung, die jedem Modell anheim steht, nicht zu weitgehend ist. Dem Modell fehlt es nicht nur an empirischer Belastbarkeit, es hält auch keiner zeitlichen Differenzierung stand. Somit kann es maximal für den Zeitraum 1941/42 Gültigkeit beanspruchen. Denn es ist zu fragen, wie die Vielzahl an Ausnahmen, seien es asoziale Blockälteste oder auch jüdische Häftlingsärzte, zu erklären sind. Das bedeutet, dass die von Olaf Mußmann aufgestellte These überprüft werden muss, und zwar nicht nur, ob spätestens ab 1944 die Häftlingskennzeichnung für das Erreichen einer Funktionsstelle unerheblich war, sondern auch wie die Entwicklung dorthin verlief.80 Die Gewichtung der individuellen Faktoren - Durchsetzungsvermögen, Geschick, Überlebenswillen, aber auch Glück und Zufall- muss analysiert werden.81 Denn Sofsky geht zu weit, wenn er behauptet, dass über Funktionsmacht letztendlich die Taxonomie der Farben, also die rassistisch zugewiesene Stellung im System entschied.82 Dies muss durch eine Vielzahl von empirischen Untersuchungen differenziert werden, die individuelle Bandbreite, wie man im Lager überleben konnte - trotz einer ungünstigen Farb-Taxonomie - erscheint dafür einfach zu breit.
2.2 Zur Frage von Macht und Autonomie einzelner Funktionsstellen
Nachdem der Aufbau des Systems der Funktionshäftlinge dargestellt wurde, soll nun der Frage nach verschiedenen Formen von Macht von Funktionshäftlingen nachgegangen werden. Welchen Handlungsspielraum hatten Funktionshäftlinge, wie war dieser konturiert, wie spiegeln sich dabei diese Handlungsspielräume in den hierarchischen Abstufungen einzelner Funktionsstellen? Dieser Abschnitt soll noch mehrheitlich auf der Analyse der individuellen Freiheiten einzelner Häftlinge beruhen, während im folgenden Abschnitt der Wechsel auf die gruppenbezogenen Prozesse stattfindet.
In der Publikation der Gedenkstätte Neuengamme schreibt Kaienburg in Antwort auf die Arbeit von Niethammer folgendes: „Kein Funktionshäftling konnte es wagen, sich einem Befehl der SS offen zu widersetzen. Eine Weigerung oder auch nur eine Zögerung zog unausweichlich die Absetzung, eventuell sogar eine Bestrafung nach sich.“83 Kaienburg weiter: „Dennoch besaßen Funktionshäftlinge große Macht.“84 Dies versucht er mit folgender Aussage eines ehemaligen Häftlings zu belegen: „Ich übertreibe nicht.
[...]
1 Fritz Bauer Institut (FBI), 4 Js 798/64, Ermittlungsverfahren gegen Dr. Stefan Buthner, Verfügung zur Verfahrenseinstellung vom 22.09.1973, Blatt 1440, [Unterstreichung im Original, J.O.].
2 „Funktionshäftling“ wird in dieser Arbeit als Terminus technicus verwendet und wie folgt definiert: Ein Funktionshäftling in nationalsozialistischen Konzentrationslagern ist ein Häftling, der innerhalb des Lagers eine Tätigkeit, eine Funktionsstelle, übernimmt, die im weitesten Sinne der Verwaltung der Häftlinge und damit der Unterstützung der SS-Wachmannschaften dient. Darunter fallen auch die Kapos der Arbeitskommandos. Er stellt somit einen umfassenden Überbegriff für alle möglichen Funktionsstellen dar. Der Begriff ist wertneutral zu verstehen und sagt gar nichts darüber aus, ob sich ein Häftling „moralisch“ integer, ob er sich „gut“ oder „schlecht“ verhalten hat. Jegliche a priori normative Belegung des Begriffs ist unzulässig und hinderlich. Eine Übersicht über die verschiedenen Funktionsstellen folgt in Kapitel 2.1.
3 Vgl. Gerhard Paul 2002: Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und „ganz gewöhnlichen“ Deutschen. Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung, in ders. [Hrsg.]: Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, Göttingen, S. 13-92, hier S. 86-92.
4 Vgl. Johannes Tuchel 1998: Planung und Realität des Systems der Konzentrationslager 1934-1938, in U. Herbert / K. Orth / C. Dieckmann [Hrsg.]: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager - Entwicklung und Struktur, Bd. 1, Göttingen, S. 43-59.
5 Einen allgemeinen Überblick über den Forschungsstand geben Ulrich Herbert / Karin Orth / Christoph Dieckmann 1998: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Geschichte, Erinnerung, Forschung, in dies. [Hrsg.]: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Bd. 1, Göttingen, S. 17-40. Diese zwei Bände vermitteln einen guten Eindruck über die Breite der Forschung in den letzten Jahren. Im Erscheinen befindet sich die auf acht Bände angelegte Reihe von Wolfgang Benz und Barbara Distel: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bislang sind davon drei Bände publiziert worden.
6 Falk Pingel 1978: Häftlinge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Vernichtung im Konzentrationslager. Hamburg. Vgl. zum Forschungsstand auch Gudrun Schwarz 1990: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, Frankfurt, S. 10-16.
7 Wolfgang Sofsky 1997: Die Ordnung des Terrors: das Konzentrationslager, [1. Auflage 1993], Frankfurt. Zur Kritik siehe Johannes Tuchel 1996: Möglichkeiten und Grenzen der Solidarität zwischen einzelnen Häftlingsgruppen im nationalsozialistischen Konzentrationslager, in R. Streibel / H. Schafranek [Hrsg.]: Strategien des Überlebens. Häftlingsgesellschaften in KZ und GULAG, Wien, S. 220-235, hier S. 222 und Endnote 9 auf S. 234.
8 Lutz Niethammer 1994: Der „gesäuberte“ Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald, Berlin.
9 Vgl. Tuchel 1996, S. 222.
10 Vgl. dazu die Aufsätze in dem Band von Hermann Kaienburg 1998: „Freundschaft? Kameradschaft? ... Wie kann das dann möglich sein?“ Solidarität, Widerstand und die Rolle der „roten Kapos“ in Neuengamme, in KZGedenkstätte Neuengamme [Hrsg.]: Abgeleitete Macht - Funktionshäftlinge zwischen Widerstand und Kollaboration. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 4, Bremen, S. 18-50 und Karin Hartewig 1998: Wolf unter Wölfen? Die prekäre Macht der kommunistischen Kapos im Konzentrationslager Buchenwald, in ebd., S. 117-122, sowie Harriet Scharnberg 1998: Tätertausch? Anfragen an die Diskussion um die kommunistischen Funktionshäftlinge im Konzentrationslager Buchenwald, in ebd., S. 123-133. Vgl. auch Karin Hartewig 1996: Wolf unter Wölfen? Die kommunistischen Kapos im Konzentrationslager Buchenwald, in R. Streibel / H. Schafranek [Hrsg.]: Strategien des Überlebens. Häftlingsgesellschaften in KZ und GULAG, Wien, S. 124-144.
11 Olaf Mußmann 1998: „Bunte Lagerprominenz”? Die Funktionshäftlinge im Rüstungs-KZ Mittelbau-Dora, in KZ-Gedenkstätte Neuengamme [Hrsg.]: Abgeleitete Macht - Funktionshäftlinge zwischen Widerstand und Kollaboration. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 4, Bremen, S. 82-96.
12 Gideon Greif 1995: „Wir weinten tränenlos [...]“. Augenzeugenberichte der jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz, Köln; Gideon Greif 1998: Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, in U. Herbert / K. Orth / C. Dieckmann: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager - Entwicklung und Struktur, Bd. 2, Göttingen, S. 1023-1045.
13 Revital Ludewig-Kedmi 2001: Opfer und Täter zugleich? Moraldilemmata jüdischer Funktionshäftlinge in der Shoah. Gießen.
14 Karin Orth 2000: Gab es eine Lagergesellschaft? „Kriminelle“ und politische Häftlinge im Konzentrationslager, in N. Frei / S. Steinbacher [Hrsg.]: Ausbeutung - Vernichtung - Öffentlichkeit. Studien zur Geschichte des nationalsozialistischen Lagersystems, München, S. 109-133. Sie hat sich bereits in einer vorhergehenden Monographie den Funktionshäftlingen gewidmet, allerdings nur auf knapp acht Seiten, siehe Karin Orth 1999: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg.
15 Kurt Pätzold 2005: Häftlingsgesellschaft, in W. Benz / B. Distel [Hrsg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 1. Die Organisation des Terrors, München, S. 110-125.
16 Vgl. hierzu die Beiträge von Magdalena Sacha, Silvija Kav i , Anna Hájková und Else Rieger in S. Moller / M. Rürup / C. Trouvé [Hrsg.] 2002: Abgeschlossene Kapitel? Zur Geschichte der Konzentrationslager und NSProzesse, Tübingen.
17 Vgl. Orth 2000, S. 109, die hier aber die negative Konnotation betont.
18 Zum allgemeinen Umgang mit NSG-Verfahren als Quelle vgl. immer noch grundlegend Johannes Tuchel 1984: Die NS-Prozesse als Materialgrundlage für die historische Forschung. Thesen zu Möglichkeiten und Grenzen interdisziplinärer Zusammenarbeit, in J. Weber / P. Steinbach [Hrsg.]: Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren? NS-Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland, München, S.134-144. Dabei stellt er neun Thesen zur Einbeziehung und Analyse von Prozessakten vor. Vgl. auch Wolfgang Scheffler 1988: NS- Prozesse als Geschichtsquelle. Bedeutung und Grenzen ihrer Auswertbarkeit durch den Historiker, in ders. / W. Bergmann [Hrsg.]: Lerntag über den Holocaust als Thema im Geschichtsunterricht und der politischen Bildung, Berlin, S. 13-27 (Lerntage des Zentrums für Antisemitismusforschung Nr. 5). Mit gleicher Intention, aber zu kritisierender Herleitung vgl. Peter Steinbach 1997: NS-Prozesse nach 1945. Auseinandersetzung mit der Vergangenheit - Konfrontation mit der Wirklichkeit, in: Dachauer Hefte, 13, S. 3-26.
19 Vgl. Primo Levi 1990: Die Grauzone, in ders.: Die Untergegangen und die Geretteten. [Italienische Originalausgabe 1986], München, Wien, S. 33-68., hier S. 45. Vgl. auch Primo Levi 1991: Ist das ein Mensch? Die Atempause, München, Wien, S. 83-97.
20 Siehe Levi 1990, S. 33ff.
21 Exemplarisch Hermann Langbein 1995: Menschen in Auschwitz. [Originalausgabe 1972, Wien], München.
22 Benedikt Kautsky 1946: Teufel und Verdammte. Erfahrungen und Erkenntnisse aus sieben Jahren in deutschen Konzentrationslagern, Zürich.
23 Eugen Kogon 1946: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München.
24 Ella Lingens 1966: Eine Frau im Konzentrationslager. Wien und dies. 1962: Selektionen im Frauenlager, in H.
G. Adler, H. Langbein, E. Lingens [Hrsg.]: Auschwitz. Zeugnisse und Berichte, Frankfurt, S. 126-132.
25 Vgl. z.B. die Charaktertypologisierung bei H.G. Adler 1960a: Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Geschichte, Soziologie, Psychologie, Tübingen, hier S. 669-674 und ders. 1960b: Selbstverwaltung und Widerstand in den Konzentrationslagern der SS, in VfZ, 8 Jg., Heft 3, S. 221-236.
26 Hier und im folgenden wird auf die Setzung von Anführungszeichen bei der Wiedergabe von Häftlingskategorien verzichtet. Damit wird nicht zum Ausdruck gebracht, dass die durch die SS und andere einweisende Stellen vergebenen Kategorien zutreffend sind, sondern es wird hier damit gerade keine a priori Wertung verbunden. Es erscheint aber geradezu bizarr, dass in der Forschungsliteratur in einer Form der „political correctness“ Anführungszeichen gesetzt werden, um Distanz zur nationalsozialistischen Sprache auszudrücken, wenn gleichzeitig im großen Stile auf der inhaltlichen Ebene weiterhin Stereotype über Häftlingsgruppen transportiert werden. Dieser Vorwurf an die Forschung ist im folgenden ein Hauptbestandteil der Analyse in dieser Arbeit.
27 Zur Entwicklung der Überlieferung siehe Orth 2000, S. 112-116. Sie betont, dass bezüglich der kriminellen und asozialen Häftlinge kein Quellenmangel bestünde, sondern die Forschung ihre Zeugnisse in Nachkriegsermittlungen und -prozessen bisher nicht systematisch ausgewertet hat. Diesem muss angesichts der Fülle der (Ermittlungs-)Verfahren nachdrücklich zugestimmt werden.
28 Es gibt m.E. keine Arbeit, die systematisch die Häftlingskennzeichnung durch die einweisende NS-Stelle hinterfragt und somit den Zusammenhang zwischen Subjekt und seinen „vorkonzentrationären Erfahrungen“ (Pingel 1979, S. 51-60) und der Kategorisierung herstellt.
29 Vgl. kritisch Pätzold 2005, passim. Pätzold kennt an Literatur von Überlebenden anscheinend neben Eugen Kogon, den er ausführlich zitiert, nur noch Harry Naujoks und Walter Poller. Für einen Aufsatz über die Häftlingsgesellschaft ist das zu wenig, siehe Endnoten auf S. 124f, von der Fortschreibung festgefahrener Stereotype ganz zu schweigen.
30 Die Bezeichnung Berufsverbrecher ist ein Ausdruck des Lagerjargon und karikiert die Abkürzung B.V., die eigentlich für „Befristeter Vorbeugehäftling“ stand.
31 Vgl. Kogon 1946, S. 210f.
32 Vgl. hierzu auch Sofsky 1997, S. 143f.
33 Pätzold dagegen möchte nicht von einer eigenen sozialen Struktur im Lager sprechen, da man die Häftlinge aus ihren alten sozialen Verhältnissen gerissen habe. Die Struktur bestand demnach nur zu den Zeitpunkten, während der die Häftlinge zur Zwangsarbeit eingesetzt waren; war dies vorbei, so gingen sie in der Masse unter: „Eine soziale Struktur ergab das nicht, denn die den Häftlingen während des Arbeitsprozesses zukommende Eigenschaft - anders denn bei freien Arbeitern - verlor sich in dem Moment, da sie ihre einzeln oder gruppenweise verrichtete Tätigkeit beendet hatten und wieder nichts als Teil und Nummer in der grauen Masse der Häftlinge wurden“, Pätzold 2005, S. 114. Diesem ist strikt zu widersprechen, da es sich bei den Häftlingsgesellschaften im Konzentrationslager sehr wohl um sozial verfasste Gemeinschaften handelte, auch wenn sie unter Zwang gebildet wurden. Sie lassen sich mit den entsprechenden Analyseinstrumenten aus Soziologie, Politikwissenschaft, Geschichtswissenschaft und Psychologie analysieren. Pätzold abstrahiert das Individuum als Teil einer Masse und monolithisiert die Häftlinge zur Unkenntlichkeit. Die Feststellung expressis verbis, dass es Häftlingsgruppen und -kategorien gegeben habe, aber keine Häftlingsklassen, ist für ihn anscheinend von sehr hoher Bedeutsamkeit.
34 Vgl. u.a. Elie A Cohen 1954: Human Behaviour in the Concentration Camp, London; Oszkár Betlen 1962: Leben auf dem Acker des Todes. Budapest, Berlin; Rudolf Vrba 1964: Ich kann nicht vergeben. München; Hermann Sachnowitz 1981: Ein norwegischer Jude überlebte. Frankfurt, Wien, Zürich.; Tibor Wohl 1990: Arbeit macht tot. Eine Jugend in Auschwitz. Frankfurt; Siegfried Halbreich 1991: Before - During - After, New York; Ernest W. Michel 1993: Promises to keep. New York; Eugeniusz Brzezicki u.a. 1995: Die Funktionshäftlinge in den Nazi-Konzentrationslagern. Eine Diskussion, in HIS [Hrsg.]: Die Auschwitz-Hefte. Texte der polnischen Zeitschrift „Przeglad Lekarski“ über historische, psychische und medizinische Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz, Bd. 1, erw. 2. Auflage [dt. Erstausgabe 1987], Hamburg, S. 231-239. Ausnahme: Jean Améry 1988: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. [Originalausgabe von 1970], München. Dies kann nur eine unvollständige Auswahl darstellen.
35 Vgl. die einführenden Worte seiner Rede von Bernd C. Wagner beim Treffen der Überlebenden von Buna/Monowitz 1998 in Frankfurt a.M., Bernd C. Wagner 2004: Zur Rolle der Funktionshäftlinge im Konzentrationslager Monowitz, in Fritz Bauer Institut [Hrsg.]: Begegnung ehemaliger Häftlinge von Buna/Monowitz. Zur Erinnerung an das weltweite Treffen in Frankfurt am Main 1998, Frankfurt, S. 140-170, hier. 140f. Auch im folgenden charakterisiert Wagner mit den Begriffen von Wolfgang Sofsky die Funktionshäftlinge, vgl. S. 147 und 154f.
36 Bernd C. Wagner 2000: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Konzentrationslagers Monowitz 1941-1945. München.
37 Zum Umgang mit und zur Würdigung von Prozessunterlagen, Ermittlungsakten und der Erinnerung von Zeugen vgl. Christian Bitterberg 1995: Der Bielefelder Prozess als Quelle für die deutsche Judenpolitik im Bezirk Bialystok. Magisterarbeit an der Universität Hamburg sowie Dick de Mildt 2003: Memory on Trial. Eyewitness testimony assessment in West German “Nazi trials”, in ders. [Hrsg.]: Staatsverbrechen vor Gericht. Festschrift für Christian Frederik Rüter zum 65. Geburtstag, Amsterdam, S. 146-157 und Thomas Wöhler 2004: Historische Realität versus subjektive Erinnerungstradierung? Überlegungen anhand von Zeugenaussagen des „Majdanek-Prozesses“ in R. Gabriel / E. Mailänder Koslov / M. Neuhofer / E. Rieger [Hrsg.]: Lagersystem und Repräsentation. Interdisziplinäre Studien zur Geschichte der Konzentrationslager, Tübingen, S. 140-155.
38 Christian Dirks 2006: Die Verbrechen der anderen. Auschwitz und der Auschwitz-Prozeß der DDR: Das Verfahren gegen den KZ-Arzt Dr. Horst Fischer, Paderborn. Zur Rolle der DDR in der Strafverfolgung nationalsozialistischer Täter vgl. auch Christian Dirks 2002: Strafverfolgung zwischen Antifaschismus und SED- Kampagnenpolitik. Der Prozess gegen den KZ-Arzt Dr. Horst Fischer, in S. Moller / M. Rürup / C. Trouvé [Hrsg.]: Abgeschlossene Kapitel? Zur Geschichte der Konzentrationslager und NS-Prozesse, Tübingen, S. 158- 172.
39 Vgl. Fussnote 1.
40 Bei Karin Orth ist der Begriff funktional gedacht, vgl. Orth 2000, S. 110.
41 Siehe Pingel 1978, S. 56.
42 Insofern wird in der folgenden Darstellung auch der Aufbau der Frauenlager charakterisiert, auf die weiblichen Sprachformen wird der Übersichtlichkeit halber aber verzichtet.
43 Beispiele hierfür werden im folgenden vorgestellt.
44 Auch Niethammer führte die Tradition dieses Begriffes fort, vgl. Niethammer 1994, S. 24. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass der Begriff durch die Überlebenden tradiert wurde, siehe z.B. H.G. Adler
45 Sofsky 1997, S. 154.
46 Pätzold 2005, S. 111.
47 So zumindest Pingel 1978, S. 56.
48 Vgl. Levi 1990, S. 42.
49 Diese Unterscheidung ist in der Beschreibung der Kämpfe zwischen politischen und kriminellen Häftlingen durchaus zentral, wenn ausgesagt wird, dass die eine Seite den Lagerältesten, die andere den Lagerältesten des HKB stellte.
50 Siehe Dirks 2006, S. 92f.
51 Vgl. Niethammer 1994, S. 47 und Adler 1960b, S. 226.
52 Als Grund für die weitreichende Verwaltung gibt Adler das „Prinzip möglichst geringer Unkosten“ an, Adler 1960b, S. 223. Zur immensen Verwaltungstätigkeit im HKB Auschwitz-Stammlager vgl. Tadeusz Paczula 1995: Organisation und Verwaltung des ersten Häftlingskrankenbaus in Auschwitz, in HIS [Hrsg.]: Die Auschwitz-
53 Siehe Pingel 1978, S. 152.
54 Siehe Pingel 1978, S. 155.
55 So bezeichnet Pingel schon länger sich im Konzentrationslager befindliche Häftlinge. Soweit Pingel hier die Verbindung zwischen „alten“ Häftlingen und Funktionshäftlingen herstellt, dann gilt der Satz, dass man Funktionshäftlinge zu den erfahrenen Häftlingen zählen kann, was im Umkehrschluss aber nicht heißt, dass es
56 Pingel 1978, S. 154.
57 Pingel 1978, S. 155.
58 Vgl. Adler 1960a, S. 668.
59 Adler 1960a, S. 668.
60 Pingel 1978, S. 53.
61 Zu den Entwicklungsphasen vgl. Johannes Tuchel 1999: Dimensionen des Terrors: Funktionen der Konzentrationslager in Deutschland 1933-1945, in D. Dahlmann / G. Hirschfeld [Hrsg.]: Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation. Dimensionen der Massenverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945, Essen, S. 371-389 und ders. 1998, passim.
62 Siehe Anette Eberle 2005: Häftlingskategorien und Kennzeichnungen, in W. Benz / B. Distel [Hrsg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 1. Die Organisation des Terrors, München, S. 91-109, hier S. 93.
63 Siehe Tuchel 1999, S. 371f.
64 Eine tabellarische Übersicht findet sich bei Eberle 2005, S. 102-106.
65 Zur Winkelkennzeichnung vgl. Anhang Kogon 1946.
66 Vgl. Eberle 2005, S. 92.
67 Sofsky 1997, S. 138.
68 Siehe ebd., S. 138.
69 Siehe ebd., S. 139.
70 Siehe ebd., S. 139.
71 Siehe ebd., S. 140.
72 Es sei denn, sie gehörten einer aus Sicht der SS noch minderwertigeren Kategorie wie Juden, Zigeunern oder Homosexuellen an.
73 Sofsky erwähnt hier nicht, dass es auch noch andere reichsdeutsche, politische Häftlinge gab, die nicht der Sozialdemokratie oder dem Kommunismus zuzurechnen sind, wie z.B. Eugen Kogon. Auch hier ist das Feld der politischen Häftlinge wesentlich differenzierter, wenn auch die Masse den beiden zuerst genannten zuzurechnen ist.
74 Siehe Sofsky 1997, S. 141.
75 Begriffliches Instrument bei Sofsky, welches letztendlich immer wieder auf die SS als letzte und in jeglicher Hinsicht entscheidende Instanz verweist. Der Begriff wird dabei nicht klar definiert, sondern lediglich charakterisiert: absolute Macht ist organisiert, ist Etikettierungsmacht, ist gestaffelte Macht, hat keine Legitimationszwänge, ist Selbstzweck, verändert den Sinn menschlicher Arbeit, ist vollkommene Macht, ihr Ausdruck ist schiere Gewalt, bewirkt Ohnmacht, löscht die Trennlinie zwischen Leben und Tod und will sich im Endeffekt selbst steigern, siehe ebd., S. 29-39.
76 Siehe ebd., S. 141. Hier gibt es auf der individuellen Ebene eine Vielzahl von Abweichungen.
77 Ebd., S. 147.
78 Vgl. im folgenden ebd., S. 149-151.
79 Dies bedeutet erst mal, dass die Ausübung einer Funktion relativ schnell auch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe ermöglichte, und zwar auch dann, wenn man bei der Einlieferung nicht einer Gruppe angehörte, man also ein worst case Szenario der sozialen Isolation annimmt. Es erscheint außerdem weiter richtig, dass die Umkehrung des Zusammenhangs zwischen Funktionsmacht und sozialem Kapital nicht schlüssig ist, soziales Kapital muss also nicht Funktionsmacht hervorbringen.
80 Siehe Mußmann 1998, S. 93. Aber auch bereits Pingel hat darauf hingewiesen, dass die Bedeutung der Häftlingskennzeichnung unter den verschärften Bedingungen des Rüstungseinsatzes der Häftlinge zurückginge, vgl. Pingel 1978, S. 168.
81 Dabei muss man sehr sorgfältig mit den Quellen, wie Zeugenaussagen und Urteilen umgehen, denn z.B. die Angabe in einem Fall, dass es bereits 1938 einen gewalttätigen und homosexuellen Lagerältesten in Flossenbürg gegeben haben soll, stimmt offensichtlich nicht, vgl. Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1966, Bd. I-XXII, bearb. von C.F. Rüter, hier 1974, Bd. XI, lfd. Nr. 379, Urteil gegen Helmrich Heilmann, S. 509. Hier vermischt sich die Kategorie entweder mit einer Vorurteilsstruktur oder aber mit dem Faktum der Homosexualität, welches aber nichts mit der Häftlingskennzeichnung zu tun hat.
82 Siehe Sofsky 1997, S. 149.
83 Kaienburg 1998, S. 23.
84 Ebd., S. 23.
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