Urteilen Lehrer gerecht oder sind ihre Bewertungen von Vorurteilen geprägt? Dieser Essay gibt einen knappen Einblick, welchen Bedingungen der Leistungsbeurteilung Schüler täglich ausgesetzt sind. Dabei wird auf Studien eingegangen, die Erstaunliches zeigen.
Lehrkräfte beurteilen Schülerleistungen häufig noch im Einzelnen anhand von mündlichen
Beiträgen, Hausaufgaben, schriftlichen Leistungsnachweisen und Abschlussprüfungen sowie als periodische Zusammenfassung in Zeugnissen. Die Bewertung erfolgt im Regelfall durch die Notengebung, die national numerisch festgelegt ist. Zudem kann eine Beurteilung in Form eines Berichtes verfasst werden. Jedoch ist eine Leistungsbeurteilung des Schülers eine recht verantwortungsvolle Tätigkeit für den Lehrer, wenn man bedenkt, dass von schulischen Leistungen der weitere Bildungsweg bzw. die berufliche Laufbahn abhängt. Gegenstand dieses Essays soll demnach die Fragestellung sein: Sind Zensuren geeignete objektive Parameter zur Leistungsbeurteilung von Schülern? Um Diskrepanzen und bestehende Einflüsse dieser Beurteilung durch den Lehrer verdeutlichen zu können möchte ich zu Beginn meines Essays die Ergebnisse der IGLU-Studie anführen, die im Kontrast zur umfassend bekannten PISA-Studie aufzeigen sollen, welche Kompetenzen von Grundschülern in Deutschland derzeit zu erwarten sind. Gegenstand meiner Auseinandersetzung soll es hierbei sein, dass es in heutigen Grundschulen eine Schülerschaft gibt, die minder durch die gesellschaftliche Schichtung beeinflusst ist. So wird für meine Betrachtung eine Basis geschaffen, die es ermöglicht, nicht derart homogene Gruppen zu betrachten, wie es an Sekundarschulen oft der Fall wäre. Mit dem Verlassen der Grundstufe und der Transition in die weiterführende Schule kommt es in den meisten Bundesländern nach der vierten Klasse zu einer umgreifenden Selektion, die die Verschiedenartigkeiten zwischen den gesellschaftlichen Schichtungen zu berücksichtigen hat und dabei einer zutreffenden Leistungsbeurteilung häufig schuldig bleibt. Argumente der Konflikttheorie, die sich in der Schule als Mittel führender Klassen sehen und so den Erhalt des Status Quo stabilisieren möchten, sollen mir hierbei ein hilfreiches Mittel sein, um bei der Selektion entstehende Fehleinschätzungen zu erklären. Im zweiten Abschnitt meines Essays möchte ich aufzeigen, dass sich Varianz in Form von Chancenungleichheit im Bildungssystem, innerhalb Deutschlands, nicht nur auf die Empfehlung für die weiterführende Schule eingrenzt, sondern sich dort fortan auswirkt. „Die Illusion der Chancengleichheit“ von Pierre Bourdieu führt eine Vielzahl von Verläufen auf, die den allgemeinen schulischen Werdegang beeinflussen. Abschließend möchte ich die zusammenfassende Darstellung nutzen, um Ideen möglicher Konsequenzen, dieser „Differenzbildung“ zu präsentieren.
Wir leben in einer Gesellschaft, die in den 60er Jahren eine Bildungsexpansion erfuhr und seither meritokratisch ist. Nach Aussagen Dahrendorfs (1965) ist Bildung Bürgerrecht und wichtig für die gesellschaftliche Modernisierung, aber auch ausschlaggebend für die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit eines Landes (Picht, 1964). Abgeleitet aus diesen Ausführungen muss die Annahme entstehen, dass es aus bildungspolitischer Sicht ein Muss ist, jene gesellschaftliche Schranken zu durchbrechen, die einen einheitlichen Zugang zur Bildung für jedermann gewährleisten. Deutlich verstärkt tritt diese Thematik in Verbindung mit der PISA- Studie in die öffentliche Kritik. Darüber entstehen langwierige Debatten, die die deutlichen Leistungsdefizite und -schwankungen deutscher Schüler1 in den jeweilig vorgefundenen Schultypen des Bildungssystems analysieren und kritisieren. Lange Zeit und auch fortwährend gab es die Überlegung, Schüler nicht voreilig zu selektieren, sondern über einen längeren Zeitraum in der Gruppe der Klassengemeinschaft zu belassen. Auch in dieser durchaus überlegenswerten und in einigen Bundesländern zu Teilen umgesetzten Neuerung, steckt Kritik am fünfgliedrigen Bildungssystem Deutschlands. Gefestigt wird diese Annahme durch eine 2004 vorgelegte Vergleichsstudie 10-jähriger Grundschüler- die IGLU-Studie. Im Vergleich zu den Ergebnissen der Pisa-Studie bei der besonders die Leistungen der Bereiche Lesekompetenz und Textverständnis der zehn- und fünfzehnjährigen Schüler in den Fokus der Kritik gerieten, hielten die deutschen Grundschüler im internationalen LeseverständnisTest (IGLU) mit Rang 7 gut mit und zeigten in ausgewählten Bundesländern Weltspitzenniveau. Diese Rankings legen die Frage nahe, wie es in fünf Jahren zu einer derartig negativen Leistungsentwicklung kommen kann? Werden die Lernenden nachteilig von einem homogenen Lernumfeld beeinflusst oder sind sie Opfer einer fehlerhaften Leistungseinstufung, sodass es zu Über- bzw. Unterforderungen kommt? Diese Vermutungen liegen nahe, wenn bedacht wird, dass durch die internationalen Lernvergleichsstudien festgestellt werden konnte, dass Schülerkompetenzen im deutlichen Kontrast zu den Empfehlungen standen, die die Lehrkräfte am Ende der Grundschulzeit für Viertklässler bescheinigen. Bereits Grundschullehrer sind angesichts dieser Tatsache deutlich damit überfordert aussagekräftige Leistungsstandards einzusetzen.
Schülerleistungen, vor allem in den Kernfächern, werden nur unzureichend in ihren Fähigkeiten erfasst und bewertet, so dass Lernende mit annähernd identischem Leistungspotenzial an unterschiedliche Schulformen verwiesen werden (IGLU, 2004). Daraus entstehen für alle Beteiligten nachteilige Konsequenzen, die vermeidbar wären, der z.B. überwertete Schüler wechselt an das Gymnasium und kann den Anforderungen nicht Stand halten, so dass er gezwungen ist die Klassenstufe zu wiederholen oder einen erneuten Schulwechsel auf sich zu nehmen. Andererseits gibt es leistungsstarke Real- und Hauptschüler, die unterfordert sind und ihrem Potenzial nicht gerecht werden können. Hieraus entstehen Ungerechtigkeiten, wie z.B. in der späteren Berufswahl, die für jeden ersichtlich, aber nicht neu sind.
Wie kann dem entgegengewirkt werden oder vielmehr warum existiert diese Ungerechtigkeit in einem sozialen Staat wie Deutschland noch? Jutta Allmendinger und Silke Aisenbrey liefern mittels einer von ihnen erhobenen Studie erste Antworten auf die Frage. Ergebnisse von Leistungstests einer vierten Klasse wurden mit den väterlichen Schulabschlüssen und den jeweiligen Empfehlungen für die weiterführende Schule in Relation gesetzt. Unerwartet ergab die Auswertung, dass das Kind eines Vaters mit Hochschulabschluss lediglich 65 Punkte erreichen musste, um eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen, das Kind des Vaters ohne Schulabschluss aber geradezu chancenlose 98 Punkte (Allmendinger/Aisenbrey, 2002). Allmendinger und Aisenbrey leiten aus dieser Erkenntnis ab, ,,dass IQ-Unterschiede zwischen den einzelnen Schichten die Unterschiede im Zugang zu Bildung zwischen diesen Schichten nicht erklären können“ (Allmendinger/Aisenbrey, 2002, S.47). Eine ähnliche Studie wurde 1999 deutschlandweit an weiterführenden mit 1000 Lehrern durchgeführt. Die Lehrer bewerteten denselben Deutschaufsatz sowie eine Mathearbeit mit Noten zwischen „sehr gut“ und „mangelhaft“, nachdem sie zuvor darüber in Kenntnis gesetzt worden waren in welchem sozialen Milieu sich der Schüler bewegt, also beispielsweise welchem Berufsstand der Vater angehört (vgl. Ziegenspeck 1999). Auch diese Studie zeigt, dass die Subjektivität des Lehrers unter Einfluss der Kenntnis über die soziale Situation des Schülers, Auswirkungen auf die Leistungsbeurteilung hat. Sinnhaft der Konflikttheorie entsprechend, hat die Schule die Funktion zur Reproduktion der herrschenden Schichten, die die Arbeiterkinder disziplinieren soll und die Kinder der Oberschicht zum selbständigen Denken anregen soll. (Allmendinger/Aisenbrey, 2002).
[...]
1 Da in der deutschen Sprache bzw. Literatur noch immer hauptsächlich die ausschließlich männliche Form in der Schreibweise gebraucht wird, werde ich auf eine ständige Berücksichtigung beider Geschlechter zugunsten der Lesbarkeit verzichten.
- Quote paper
- Julia Böhm (Author), 2011, Zur Gerechtigkeit von Lehrerurteilen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/167486
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.