Jean-Jacques Rousseaus werden viele Patenschaften zugeschrieben. Er soll ideologischer Vater für den Sozialismus gewesen sein oder ihm wird die theoretische Verwandtschaft mit dem Nationalsozialismus zugeschrieben. Gleichwohl ist Rousseau jedoch auch Exponent der Idee der Aufklärung und der Vernunft. Dieser Zwiespalt in der Interpretation Rousseaus soll Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein. Sie verfolgt dabei die Frage, inwiefern Rousseau als Gedankengeber totalitärer Ausprägungen oder als Vordenker des liberalen Verfassungsstaates gewertet werden kann.
Inhalt
1. Einführung
2. Die Spannung zwischen Sein und Ursprung – Rousseaus Menschen- und Weltbild
3. Die Überwindung der Gegenwart – der contrat social
3.1. Der Zweck des Vertrages und die Erweiterung des kontraktualistischen Ansatzes
3.2. Die volonté générale – Wille oder Norm?
4. Rousseaus Philosophie als Wegbereiter für den Totalitarismus?
4.1. Rousseau als Antagonist des Pluralismus – Ernst Fraenkels Kritik
4.2. Eine Gegenrede zu Fraenkel – die Rousseausche Gerechtigkeitskonzeption
5. Die Ambivalenz im Werk Rousseaus - eine Schlussbetrachtung
6. Literatur
1. Einführung
Im Jahre 1946 schreibt Victor Klemperer: „Indem Rousseau als Genfer Bürger schreibt, also die Verhältnisse eines Stadtstaates vor Augen hat, ist es seiner Phantasie fast etwas zwangsläufig Selbstverständliches, der Politik antike Formen zu geben, sie in städtischen Grenzen zu halten. […] Es war die Große Idee Sowjetrusslands […] die raumbegrenzte Methode der Alten und Rousseaus ins Unbegrenzte auszudehnen“ (Klemperer 2004: 56). Neben der Patenschaft für Sowjetrussland unterstellt Klemperer dem Nationalsozialismus auch die theoretische Verwandtschaft mit den Theorien Jean-Jacques Rousseaus (Vgl. ebd.: 65, 72). Gleichwohl ist Rousseau aber auch Exponent der Idee der Aufklärung und der Vernunft (Vgl. Imboden: 5).
Dieser Zwiespalt in der Interpretation Rousseaus soll Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein. Sie verfolgt dabei die Frage, inwiefern Rousseau als Gedankengeber totalitärer Ausprägungen oder als Vordenker des liberalen Verfassungsstaates gewertet werden kann.
Dazu werden zunächst die Zusammenhänge von Rousseaus Menschenbild und seiner Kritik an der Gesellschaft nachgezeichnet, um anschließend sein politisch einflussreichstes Werk, den contrat social darzustellen. Dabei wird genaues Augenmerk auf die kontraktualistische Dimension und auf die volonté générale gelegt, da im Anschluss zwei Autoren, die jeweils aus einer der beiden Dimensionen ihre Position zu Rousseau beziehen, gegenübergestellt werden.
Ersterer ist Ernst Fraenkel, der Rousseau Antipluralismus nachweist und somit als Paten totalitärer Demokratievorstellungen herausstellt. Andreas Edmüller hingegen hebt auf den kontraktualistischen Ansatz bei Rousseau ab und ersucht eine Relativierung des Absolutheitsanspruches, der dessen Theorie oft vorgeworfen wurde. Abschließend soll geklärt werden, welche Dimension tatsächlich die andere überlagert, ob sich die Thesen Fraenkels oder Edmüllers halten lassen und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.
Die Argumente der vorliegenden Arbeit fußen - neben den Aufsätzen der genannten Autoren - auf einem breiten Spektrum von Fachliteratur, Vorträgen und Fachzeitschriften. Besonders sind dabei die Werke „Jean-Jacques Rousseau“ von Dieter Sturma, „Rousseaus politische Philosophie“ von Iring Fetscher und Maximilian Forschners „Rousseau“ hervorzuheben, da diese umfangreich belegt und zugleich in ihrer Detailtreue, sowie Perspektivenvielfalt die faktische Argumentationsgrundlage dieser Arbeit bilden.
In ihrer Gesamtheit fordert die vorliegende Arbeit im qualitativen und quantitativen Rahmen der Vorgaben nicht, als wissenschaftliche Neuerkenntnis zu gelten, ferner erhebt sie jedoch den Anspruch auf Eigenständigkeit in ihrer Argumentationsstruktur, sowie den daraus gezogenen Schlussfolgerungen.
2. Die Spannung zwischen Sein und Ursprung – Rousseaus Menschen- und Weltbild
Der Versuch Rousseaus politische Philosophie zu durchdringen, führt unweigerlich zur Erörterung der Rousseauschen Vorstellung vom Wesen der Menschen, sowie der Welt, in der jene handeln.
Der Mensch ist für Rousseau weder gut noch schlecht. Dies zeigt sich an seiner Feststellung, dass Handlungen oder Eigenschaften, welche in einer Region oder einem Kulturraum in einer bestimmten Weise beurteilt werden, in einer anderen Region ganz anders beurteilt werden können (Vgl. Sturma 2001: 77). Eine solche Multikulturalität führt Rousseau auf die kulturdifferente Sozialisation zurück: „…doch um den Menschen zu erforschen, muß man lernen, seinen Blick in die Ferne zu richten, man muß erst die Unterschiede betrachten, um die Eigenheiten zu entdecken“ (Rousseau zit. N. Sturma 2001: 79). Folgt man diesem Ansatz und löst die kulturellen Differenzen, die sich aus der Sozialisation ergeben, vom Wesen der verschieden kultivierten Menschen ab, dann erhält man das universale des Menschlichen. Dieses universale Wesen nennt Rousseau den natürlichen Menschen (l’homme naturel), welcher durch Selbstliebe (l'amour de soi) und der Fähigkeit zum Mitleid (la pitié) charakterisiert ist. (Vgl. Forschner 1977: 31ff). Dieser natürliche Mensch, der letztlich nur als Konstrukt dient, lebt fast wie ein Tier (l’homme sauvage) und der Unterschied zu diesem ist nach Rousseau nur marginal; bestehe darin, dass der Mensch in der Lage ist, Triebe und Instinkte, welche er genau wie das Tier besitzt, bewusst als seine eigene Natur wahrzunehmen. Diese Fähigkeit zum Selbst-Bewusstsein nennt er die Freiheit des natürlichen Menschen (Vgl. Forschner 1977: 30). Neben dieser Freiheit seines Selbst hat jener im Naturzustand eine absolute Handlungsfreiheit: „Er will das, was er will“ (Nitschke 2000: 84). Diese Freiheit ist das oberste Kriterium, das den Menschen auszeichnet und macht ihn in seiner natürlichen Form zum Maßstab des Guten.
Da dieser Mensch bedingt durch seine beschränkten physischen Mittel nur die „Wahl zwischen Flucht oder Kampf hat“ (Rousseau 1993: 66), behilft er sich zum Überleben seiner Vernunft. Folglich kann man festhalten, dass Vernunft nach Rousseau aus der amour de soi resultiert . Kann man diesen Trieb zur Selbsterhaltung gleichsam Tier und Mensch zuschreiben, so hält Rousseau die Eigenschaft, nach Vollkommenheit zu streben (la perfectibilité), gänzlich für menschlich und als ein Produkt der amour de soi und der Begabung der Vernunft (Vgl. Sturma 2001: 81f). Zugleich ist letztere Eigenschaft dafür verantwortlich, dass der Mensch in seinem Streben nach Vollkommenheit beginnt, sich selbst einzuschränken, indem er künstliche Ordnungen erschafft, welche anfangs durch Kooperation und später auch durch Bildung von Eigentum entstehen: „Der erste, welcher ein Stück Landes umzäunte, sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: dieses ist mein, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft“ (Rousseau zit. n. Braun 2008: 232). In dieser bürgerlichen Gesellschaft, so Rousseau, endet die Freiheit in der Abhängigkeit der Menschen untereinander. Dieser Schritt symbolisiert den Übergang des homme naturel zum homme artificiel, dem künstlichen Menschen, den Übergang vom Naturzustand in den Kulturzustand (Vgl. Fetscher 1966: 17ff). Dabei führte die allgemeine Akzeptanz dieser Abhängigkeiten zu sozialen Unterschieden und zu Herrschaftsverhältnissen, die „…auf der einen Seite Eitelkeit und Verachtung“ und „…auf der anderen Seite Scham und Neid“ (Rousseau zit. n. Sturma 2001: 63) hervorriefen. Aus Neid, Missgunst und Hass resultiere Selbstsucht und es kommt zum Wandel der Selbstliebe, der amour de soi zur amour propre, zur Eigenliebe, dem Willen zur Macht, dem „Sich-in-den-Mittelpunkt-Stellen und das An-der-Spitze-Stehen-Wollen“ (Fetscher 1960: 56) . Neben dieser gefährlichen Asymmetrie im Anerkennungsverhältnis sozialer Unterschiede, der gesetzlichen Legitimation von Unterdrücker und Unterdrücktem, ist der Mensch nun unfrei: er kann nicht mehr, was er will und befindet sich im Gegensatz zu seiner eigenen Natur.
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