Umwelt und Kultur, in der der Mensch lebt und von der er abhängig ist, kann mit
einem Lebensraum der Ökologie verglichen werden. Es reihen sich verschiedene
biotische Gemeinschaften von aufeinander bezogenen Personen, die alle in einem so
genannten Habitat, einem gemeinsamen „Raum" leben, aneinander. Diese
Ökosysteme sind unterschiedlich groß, das Ökosystem der Familie z. B. ist sehr
klein, während das der Schule oder der Berufswelt umfangreicher ist2. Mensch und
Umwelt stehen in einer symbiotischen Wechselbeziehung zueinander. Systematischer Ausgangspunkt in Piagets wissenschaftlichen Arbeiten ist der
„lebende Organismus“, welcher sich seiner Umwelt immer wieder aufs Neue
anpasst. Kennzeichnend für jedes lebende Individuum ist demnach die Mög-lichkeit
der Kontaktaufnahme mit der Außenwelt. Diese Fähigkeit erlaubt es dem
Organismus immer neue Erkenntnisse aufzubauen. Gleichzeitig ist dieses Mittel der
Anpassung jedoch begrenzt; es ist nicht uneingeschränkt wandelbar3. „In der Tat hat
jede Beziehung zwischen einem lebendigen Wesen und seiner Umwelt die
Eigentümlichkeit, dass das Subjekt die Einwirkung der Umwelt nicht passiv erleidet,
sondern seinerseits die Umwelt verändert“4.
Der Mensch kommt mit bestimmten Kenntnissen und Fähigkeiten ausgestattet zur
Welt. Diese verfeinert und perfektioniert das Individuum im Laufe seiner Entwicklung
ständig. [...]
2 OERTER, Rolf und MONTADA, Leo: Entwicklungspsychologie. 4. Korrigierte Aufl. Weinheim 1998 (S. 89)
3 PIAGET, Jean: La construction du réel chez l’enfant. Neuchâtel 1950 IN: JETTER, K.:
(1975) ... (S. 13)
4 PIAGET, Jean: Psychologie der Intelligenz. Zürich 1947 (S. 10)
Gliederung
Einleitung
1 Biographie und Geschichte
1. 1 Biographische Einblicke in Piagets Leben
1. 2 Entwicklungspsychologie - Geschichtlicher Überblick
2 Piagets Forschungsbereich
2. 1 Forschungsschwerpunkte Piagets
3 Die geistige Entwicklung beim Kind
3. 1 Voraussetzung geistiger Entwicklung
I. Vererbung - innere Reife
II. materiale Erfahrung - Einfluss der Sachwelt
III. soziale Vermittlung - Erziehungsfaktor im weitesten Sinne
IV. Gleichgewicht - Ausgleich
3. 2 Kultur und Entwicklung
3. 3 Qualitative Aspekte der geistigen Entwicklung
I. Der Aspekt des Inhalts
II. Der Aspekt der Struktur
III. Der Aspekt der Funktion
3. 4 Adaption - Die Anpassung des Individuums
I. Die Assimilation
II. Die Akkommodation
III. Die Äquilibration
4 Hauptstadien der geistigen Entwicklung
4. 1 Sensumotorisches Stadium
I. Übung angeborener Reflexmechanismen
II. primäre Kreisreaktionen
III. sekundäre Kreisreaktionen
IV. Konditionierung der erworbenen Handlungsschemata und
ihre Anwendung auf neue Situationen
V. tertiäre Kreisreaktionen
VI. Übergang vom sensumotorischen Intelligenzakt zur Vorstellung
4. 2 Voroperationales, anschauliches Stadium
I. Unangemessene Generalisierung
II. Egozentrismus des Kindes
III. Zentrierung auf einen Aspekt/Zustand
IV. Unbeweglichkeit des Denkens
V. Fehlendes Gleichgewicht
4. 3 konkret-opreationales Stadium
I. Additive Kompositionen von Klassen
II. Reihenbildung
III. Zahlbegriff
4. 4 formal-operationales Stadium
I. Verständnis von Proportionen
5 Didaktische Konsequenzen
5. 1 Durchführbarkeit Piagets Theorie
6 Literaturliste
7 Anhang
Einleitung
„Das Kind als ein aktives Wesen, das sich entwickelt,
indem es in eine Auseinandersetzung mit der Welt eintritt,
diese Welt strukturiert und dabei sie und sich selbst verändert;
das Kind als ein kompetentes Wesen,
das zunehmend über Fähigkeiten zur Weltaneignung verfügt
und im Vergleich zum Erwachsenen nicht als mangelhaft,
sondern als qualitativ andersartig angesehen werden muss;
das Kind als ein Interaktionspartner, der nicht ausschließlich nach den Vorstellungen des Erwachsenen geformt, gebildet, „sozialisiert“ wird,
sondern seinerseits auch auf den Erwachsenen einwirkt und
somit die Prozesse der Sozialisation und Erziehung aktiv mitgestaltet.“
FATKE[1]
Umwelt und Kultur, in der der Mensch lebt und von der er abhängig ist, kann mit einem Lebensraum der Ökologie verglichen werden. Es reihen sich ver-schiedene biotische Gemeinschaften von aufeinander bezogenen Personen, die alle in einem so genannten Habitat, einem gemeinsamen „Raum" leben, aneinander. Diese Ökosysteme sind unterschiedlich groß, das Ökosystem der Familie z. B. ist sehr klein, während das der Schule oder der Berufswelt um-fangreicher ist[2]. Mensch und Umwelt stehen in einer symbiotischen Wechsel-beziehung zueinander.
Systematischer Ausgangspunkt in Piagets wissenschaftlichen Arbeiten ist der „lebende Organismus“, welcher sich seiner Umwelt immer wieder aufs Neue anpasst. Kennzeichnend für jedes lebende Individuum ist demnach die Mög-lichkeit der Kontaktaufnahme mit der Außenwelt. Diese Fähigkeit erlaubt es dem Organismus immer neue Erkenntnisse aufzubauen. Gleichzeitig ist dieses Mittel der Anpassung jedoch begrenzt; es ist nicht uneingeschränkt wandelbar[3]. „In der Tat hat jede Beziehung zwischen einem lebendigen Wesen und seiner Umwelt die Eigentümlichkeit, dass das Subjekt die Einwirkung der Umwelt nicht passiv erleidet, sondern seinerseits die Umwelt verändert“[4].
Der Mensch kommt mit bestimmten Kenntnissen und Fähigkeiten ausgestattet zur Welt. Diese verfeinert und perfektioniert das Individuum im Laufe seiner Entwicklung ständig.
Sobald das Kind sein Umfeld wahrnimmt, beginnt es, damit zu interagieren; zu Beginn noch recht unbeholfen, beschränkt auf einzelne S-R-Mechanismen, später jedoch zunehmend komplexer und gezielter.
Piagets Stadientheorie und die Erkenntnisse über die geistige Entwicklung des Kindes beeinflussten die Psychologie ebenso wie die Pädagogik. Sie ermög-lichen detaillierte Einblicke in die spezifischen Entwicklungsstadien des Kindes und seine bereits gebildeten kognitiven Fähigkeiten. Dadurch ist die Möglichkeit im Unterricht gegeben, Lernmaterial gemäß dem individuellen Entwicklungsstand des Kindes didaktisch effizient einzusetzen.
1 Biographie und Geschichte
1. 1 Biographische Einblicke in Piagets Leben
1896 Geburt am 09.08. in Neuchâtel (Schweiz)[5]
1907 erste Veröffentlichung seiner Beobachtungen eines
Albino-Sperlings
1918 Promotion über Weichtiere (Abschluss seines Zoologie-
studiums)
1921 Anstellung am Jean-Jacques-Rousseau-Institut in Genf
1924 Heirat mit Valentine Châtenay (ehem. Studentin)
1925 Dozent an der Universität in Neuchâtel;
Geburt der ersten Tochter
1927 Geburt der zweiten Tochter
1929 Professor für Geschichte des naturwissenschaftlichen
Denkens an der Universität Genf
1931 Geburt eines Sohnes
1932 Direktor des Jean-Jacques-Rousseau-Instituts in Genf
1940 Lehrstuhl für Experimentelle Psychologie an der
Universität Genf
1952 Professur der Entwicklungspsychologie an der Sorbonne
in Paris
1956 Gründung des Centre International d’Epistémologie
Génètique
1980 16. 09. Tod in Genf
1. 2 Entwicklungspsychologie - Geschichtlicher Überblick
Mitte des 18. Jahrhunderts formulierte Jean-Jacques Rousseau die ersten prägnanten Entwicklungstheorien. Er definierte die menschliche Entwicklung als programmierte Folge in vier Stufen, die er als universell ansah. Diese Stufen formten nacheinander Körper, Sinnestätigkeit, Verstand und Urteil. Bis zum Alter von 15 Jahren verfügte der Mensch nach damaligem Verständnis noch über keine soziale Kompetenz und wurde als nicht gesellschaftsfähig angesehen. In seinen Ausführungen vertrat Rousseau eine negative Pädagogik; d. h. allein Neugeborene seien frei von allem Schlechten. Nach seiner Überzeugung sollte sich die Entwicklung des Menschen natürlich und vollkommen frei vollziehen. Nur so sei gewährleistet, dass die guten Anlagen des Kindes nicht verloren gingen und sich das Kind in allen Bereichen natürlich entfalten könne. Erziehung sollte sich lediglich auf das Bereitstellen von Lernangeboten beschränken[6].
Im 19. Jahrhundert ging die wissenschaftliche Entwicklungspsychologie Hand in Hand mit der Biologie sowie den Geschichts- und Sozialwissenschaften. Charles Darwin (1809 - 1882) trug in der Biologie bahnbrechende Erkenntnisse über den Ursprung der Arten zusammen, welche zwangsläufig auch die Entwicklung des Menschen analysierten. Die Veröffentlichung über die Entwicklung seines ersten Kindes im Jahre 1877 förderte das wissenschaftliche Interesse an der menschlichen Entwicklung. Diese und weitere nachfolgende Kinderbiographien, u. a. auch von Jean Piagets Kindern, wurden zu primären Beobachtungs- und Forschungsgrundlagen der Entwicklungspsychologie der frühen Kindheit.
Anfang des 20. Jahrhunderts konnten sich bedeutende Wissenschaftler auf dem Gebiet der Psychologie, u. a. Jean Piaget, erstmals mit ihren Theorien an Universitäten etablieren und so den Werdegang der Entwicklungspsychologie weiter vorantreiben.
Im Laufe der Zeit kristallisierten sich äußerst differenzierte Forschungs-richtungen heraus, die so genannten Forschungstraditionen der Entwicklungs-psychologie.
Phasenbeschreibungen bildeten den deskriptiv-normativen Zweig der Ent-wicklungspsychologie. Sorgfältig angelegte, detaillierte Beschreibungen alters-spezifischer Entwicklungsstufen machten den Hauptteil der Forschung aus. Die einzelnen Phasen der Entwicklung wurden hierbei als „Aufeinanderfolge von Perioden der Konsolidierung und Perioden oft krisenhafter Umbrüche, die in die nächsthöhere Stufe münden“[7] beschrieben.
Entwicklungstests ermöglichten es, individuelle Merkmalsausprägungen zu erfassen. Mit den Ergebnissen gelang es, die differenzierte Entwicklung der einzelnen Individuen aufzuzeigen. Diese Unterschiede sind auf Faktoren wie Anlage, soziales Umfeld, Umwelteinwirkung, Erfahrungen usw. zurückzu-führen. Entwicklungsstörungen werden durch diese Erkenntnisse frühzeitig erkannt und können durch spezielle Förderung so effizient wie möglich aufge-fangen und positiv beeinflusst werden. Entwicklungstests wurden zu einem der wichtigsten Instrumente der Differentiellen Entwicklungspsychologie.
„Eine kognitive Theorie, die die geistige Entwicklung des Kindes nicht nur als wichtigen Ausschnitt des Entwicklungsprozesses ansieht, sondern die kogni-tiven Funktionen und ihre Entfaltung als wesentliche Grundlage jeglicher Ent-wicklung aufzuweisen versucht, ist erst mit den theoretischen Arbeiten und empirischen Untersuchungen Jean Piagets entstanden“[8].
Die Stadien- oder Stufenbeschreibungen, auch Sequenzregeln für Entwick-lungsreihen genannt, entstanden Mitte des 20. Jahrhunderts. Hier wird Ent-wicklung als aktiver Prozess eines mit Erkenntnisfunktion ausgestatteten Subjekts verstanden, in dessen Verlauf das Individuum durch die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt fortschreitend Erkenntnisse aufbaut. Sie beschränkten sich auf allgemeine Beobachtungen, alterstypische Leistungen und Phänomene sowie altersabhängige Veränderungen.
2. Piagets Forschungsbereich
2. 1 Forschungsschwerpunkte Piagets
Piaget war seit seiner Jugend an der Biologie, der Philosophie und der Psycho-logie interessiert; folglich sei die Forschung zur geistigen Entwicklung des Menschen nur dann hinreichend, wenn man diese drei Bereiche betrachte und in die Überlegungen und Zielsetzungen einbeziehe[9].
- Der biologische Aspekt untersucht die Adaption des Organismus an seine
Umwelt
- der psychologische Gesichtspunkt befasst sich mit der Adaption der Intelli-
genz beim Aufbau ihrer eigenen Struktur
- der philosophische Bereich umfasst die Herstellung der erkenntnis-
theoretischen Relationen
Die Untersuchungen Piagets beschäftigten sich primär mit der Struktur und Leistungsfähigkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens. Besonderes Inter-esse widmete er dabei:
- Gemeinsamkeiten bei Individuen
- invarianten und unveränderlichen Aspekten der Entwicklung
- allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Aufbaus von Erkenntnis und dessen Abfolge in der Entwicklung (Phylo- und Ontogenese)
- qualitativen Veränderungen der intellektuellen Strukturen
Die von Piaget entwickelte Stadientheorie zur geistigen Entwicklung des Kindes umfasst vier wesentliche Entwicklungsstadien, welche ich im Nach-folgenden noch näher erläutere. Dieses Konzept weist mehrere generelle Merk-male auf[10]:
- Die einzelnen Stadien unterscheiden sich qualitativ (in ihren Interaktions-formen zwischen Umwelt und Organismus), wobei die Einzelstrukturen und Strukturelemente eines Stadiums ein integriertes Ganzes bilden (structure d’ensemble).
- Jedes vorangehende Stadium bildet die Basis für das nächsthöhere.
- Die Phasen und Stadien werden in invarianter Sequenz durchlaufen, Über-sprünge oder Rückschritte sind somit nicht möglich. Dies ist universell und gilt infolgedessen für alle Individuen und Kulturen. Die Altersangaben über den Eintritt und die Verweildauer in den Entwicklungsstufen hingegen sind nicht als verbindlich anzusehen. Es handelt sich ausschließlich um Repräsentativwerte, denen Piagets Untersuchungen zugrunde liegen. Eine individuelle Verweildauer des Kindes in den einzelnen Stufen fördert die psychische Stabilität und sollte keinesfalls extern - etwa durch den Ehrgeiz der Eltern - verkürzt werden. Jedes Kind folgt seinem persönlichen Entwicklungsrhythmus. Ein Kind durchläuft die Phasen schnell, während ein anderes Kind insgesamt für seine Entwicklung einen längeren Zeitraum beansprucht. Es ist auch nicht vorgegeben, dass jedes Individuum die höchste Entwicklungsstufe erreicht.
- In jedem Stadium treffen wir auf eine Vorbereitungs- und eine Endphase. Zu Beginn eines Stadiums zeigen sich die Strukturen und Handlungs-Schemata instabil, zum Ende weisen sie dagegen dann eine stärkere Organisation und Konsolidierung auf. Es entwickelt sich also im Verlauf der Stadien ein immer stabilerer Gleichgewichtszustand. Die Übergänge zwischen den einzelnen Stadien sind nicht abrupt, sondern fließend. Das Denken des Kindes kann z. B. in einigen Bereichen noch prä-operational ablaufen, während es in anderen Bereichen schon weiterentwickelt ist. Hier findet eine Zeitverschiebung einzelner Schritte in einem Entwicklungs-Stadium statt, die Piaget horizontale Verschiebung (décalage horizontal)[11] nennt. So können Invarianzfragen etwa zu Anordnungs- und Formveränderungen im Hinblick auf Menge und Anzahl von Massen zu
einem früheren Entwicklungszeitpunkt beantwortet werden als Fragen be-
züglich des Gewichtes oder etwa des Volumens.
- Die einzelnen Stadien werden nicht vollständig voneinander abgelöst; bestimmte kognitive Strukturelemente werden mit ähnlichen Inhalten in das nächste Stadium integriert. Dies bezeichnet Piaget mit vertikaler Verschie-bung (décalage vertical). So wird z. B. die Motorik in die sprachlichen Stadien übernommen. Die zuvor erlernten konsolidierten Handlungen können zwar inzwischen ausgeführt, aber nicht artikuliert oder präsentiert werden. Dies muss noch erlernt werden. So ist es für Kinder sehr kompliziert, automatisierte Bewegungsabläufe oder räumliche Wege (verbal) darzustellen. Beweise dazu liefert ein Test Piagets mit 4 - 5jährigen Kindern[12]. Sie sollten ihren Schulweg mit Hilfe eines Baukastens darstellen (die sprachliche Darstellung wäre in diesem Alter noch zu abstrakt gewesen). Es stellte sich heraus, dass sich die Kinder nicht an konkreten Punkten orientierten; so konnten sie z. B. keine Gebäude „benennen“ oder beschreiben, obwohl ihr Weg sie täglich daran vorbeiführte.
Piaget passte die Untersuchungsmethode stets der Problemstellung und dem Alter seiner Probanden an. Die nicht standardisierte Beobachtung seiner ei-genen drei Kinder (ein wesentliches Merkmal Piagets empirischer Unter-suchungen) bildete hierzu die Basis. In Untersuchungen zum präoperationalen und konkret-operationalen Denken bediente sich Piaget der Befragung, welche er klinische Methode nannte. Seiner Ansicht nach verunsichern standardisierte Fragen Kinder, so dass ihre Antworten ggf. verfälscht werden. Bei Piaget wird nur vorgegeben, in welchem allgemeinen Rahmen die Befragung stattfinden soll, d. h. mit welcher Art von Versuch das Kind konfrontiert wird.
Er stellte z. B. den Probanden Fragen zur Vorstellung oder zu sichtbar vor- oder selbstdurchgeführten Manipulationen (experimenteller Charakter): z. B. Umfüllversuche von Flüssigkeiten, Verformungen von Plastilinmasse usw. Seine Vorgehensweise hat Piaget zuweilen auch kritische Methode genannt. Das Kind gelangt im Verlauf der Untersuchung an einen kritischen Punkt, den es überwinden kann, falls seine kognitiven Strukturen schon entsprechend ent-wickelt sind, der aber gleichermaßen den Endpunkt der Untersuchung bzw. die Nichtbeantwortung der gestellten Fragen bildet, falls diese Strukturen fehlen[13].
3. Geistige Entwicklung beim Kind
Die geistige Entwicklung des Kindes stellt nach Piaget eine Ansammlung von Wissen und Fertigkeiten dar, kombiniert mit einer zunehmend besseren Anpassung an die Umwelt. Es findet eine Neuorganisation bereits vorhandener bzw. neu gebildeter Strukturen statt[14].
3. 1 Voraussetzung geistiger Entwicklung
In seinen Forschungen geht Piaget davon aus, dass grundsätzlich vier Aspekte in der geistigen Entwicklung untrennbar zusammenwirken[15].
I. Vererbung - innere Reife
Jedes Individuum bringt eine spezielle genetische Ausstattung mit, welche so-wohl die Voraussetzung für seine Entwicklung bildet als diese auch begrenzt.
Durch die Erbanlagen der Eltern sind die intellektuellen Fähigkeiten des Kindes zunächst vorgegeben. Das Gehirn enthält aber nicht nur erbliche Verknüpfungen, sondern auch eine wachsende Zahl erworbener, nicht nur aus der Reifung hervorgehende. Dieses entscheidende Kriterium konnte (und kann) allerdings nicht isoliert untersucht oder spezifiziert werden. Anregung und Förderung durch Bezugspersonen und soziales Umfeld beeinflussen die weitere Entwicklung wesentlich, die intellektuelle Kapazität des Kindes kann optimal begünstigt werden.
II. materiale Erfahrung - Einfluss der Sachwelt
Materiale Erfahrung fördert ein Kind in substantieller Weise in seiner geistigen Entwicklung. Werden dem Kind schon in frühen Jahren viele verschiedene Materialien zur Verfügung gestellt, um seine Reflexe zu üben und seine motorischen Fähigkeiten zu erproben, so wird es auch später leichteren Zugang zu Problemlösungen finden. Wesentlich ist jedoch hier, dass sich das Kind aktiv mit der Umwelt auseinandersetzt. Man spricht vom psychologischen Aspekt der Entwicklung. Das Kind macht spontane (frz.: spontané) selbständige Erfahrungen mit der Umwelt.[16]
III. soziale Vermittlung - Erziehungsfaktor im weitesten Sinne
Die soziale Vermittlung beinhaltet im entferntesten Sinne einen erziehe-
rischen Aspekt und bildet die psychosoziale Komponente der Entwicklung. Sie umfasst all das, was dem Kind durch seine Umwelt zuteil wird. Allerdings muss das Kind sich die Inhalte aneignen (können), die ihm nahe gebracht werden. Die notwendige Verarbeitung jedoch ist nur durch (oben genannte) spontane Entwicklungen möglich.
IV. Gleichgewicht - Ausgleich
Dieser Aspekt wird von Piaget zugleich als der wichtigste angesehen. Ihm kommt ein Regulierungs- und Ausbalancierungscharakter zu, der die bereits vorhandenen Strukturen mit neuen Informationen, Begriffen und Erkenntnissen verbindet. Dieser Aspekt soll aber im Folgenden näher erläutert werden. (s. Äquilibration S. 19)
3. 2 Kultur und Entwicklung
Kultur ist zu einem Knotenpunkt der Entwicklungspsychologie geworden; eine übereinstimmende Definition konnte jedoch nicht gefunden werden. Einerseits wird Kultur als die Ganzheit dessen bezeichnet, was ein Individuum an Verhaltensweisen und Normen von seiner Umwelt übernimmt. Dieser Begriff ist adaptiv und generationsüberdauernd. Kultur ist jedoch nicht unabhängig, sondern immer an Individuen gebunden.[17] Andererseits kann Kultur biologisch (deckt sich mit Piagets Sichtweise) gesehen werden, als ein Ökosystem bestehend aus biotischen, belebten Organismen (Menschen, Tieren, Pflanzen), und abiotischen, unbelebten Faktoren ( z. B. Auto, Haus oder Kleidung), welche sich wechselseitig beeinflussen.
Durch die gegenseitige Anpassung entsteht eine Art Symbiose zwischen Mensch und Umwelt. Entwicklung ist eine Aneignung von Handlungskompetenzen, ohne die die notwendige Anpassung an die Umwelt kaum möglich wäre. Diesen Prozess nennt Herkovits Enkulturation. Der beständige interindividuelle Austausch geleitet und beeinflusst die gesamte Entwicklung (Sozialisationprozess) eines Menschen. Ob es sich um individuell vollzogene
Handlungen oder um gemeinsam vollzogenen Austausch, Zusammenarbeit usw. handelt, stets finden dieselben Koordinierungs- und Regulierungsprozesse statt, die dann wiederum in denselben operativen oder kooperativen Endstrukturen münden. Dies beschreibt den funktionnellen synchronen Faktor des gesellschaftlichen Einflusses auf die Entwicklung eines Menschen. Der diachrone Faktor - gesellschaftsabhängige kulturelle Tradition und erziehe-rische Vermittlung - ist im Gegensatz zum oben genannten Faktor kultur-abhängig[18].
3. 3 Qualitative Aspekte der geistigen Entwicklung
Piaget betrachtet in seinen Untersuchungen drei Aspekte des Verhaltens[19]:
I. Der Aspekt des Inhalts
II. Der Aspekt der Struktur
III. Der Aspekt der Funktion
I. Der Aspekt des Inhalts
Der Verhaltensinhalt beschreibt das von außen beobachtbare Verhalten, die Reaktionen eines Individuums:
- wie handelt/reagiert eine Person?
- was sagt eine Person?
Piaget sieht darin die uninterpretierten Verhaltensdaten, die während einer Untersuchung wahrgenommen werden.
Diese können sowohl inter- als auch intraspezifisch sein, d. h. der Inhalt kann von einem Individuum zum nächsten variieren, aber auch bei einem Individuum in den einzelnen Entwicklungsstadien voneinander abweichen. Im Laufe der Entwicklung verändern sich diese Inhalte: Bewegungen werden geschickter, der Wortschatz erweitert sich, das Problemlöseverhalten wird flexibler. Handlungen zum Erfassen der Realität sind die praktischen Vorläufer der begrifflichen Instrumente, mit denen das Kind die Wirklichkeit zu einem späteren Zeitpunkt intellektuell „begreifen“ kann[20]. Dieser Aspekt ist jedoch für Piaget in seinen Forschungen nur nebensächlich.
[...]
[1] FATKE, R. (Hrsg): PIAGET, Jean: Meine Theorie der geistigen Entwicklung. Frankfurt/Main 1983 (S. 19)
[2] OERTER, Rolf und MONTADA, Leo: Entwicklungspsychologie. 4. Korrigierte Aufl. Weinheim 1998 (S. 89)
[3] PIAGET, Jean: La construction du réel chez l’enfant. Neuchâtel 1950 IN: JETTER, K.: (1975) ... (S. 13)
[4] PIAGET, Jean: Psychologie der Intelligenz. Zürich 1947 (S. 10)
[5] PIAGET, Jean: Jean Piaget – Werk und Wirkung. München 1976
[6] vgl. OERTER, Rolf und MONTADA, Leo: Entwicklungspsychologie. 4. Korrigierte Aufl. Weinheim 1998 (S. 25 ff) ANMERKUNG: Bei Fußnoten in der Überschrift sind nicht speziell gekennzeichnete Abschnitte aus gegebener Quelle erarbeitet!
[7] KROH, O.: Entwicklungspsychologie des Grundschulkindes, In: Manns Pädagogisches Magazin 12. Aufl. 1935 (Kap. 1, 33) IN: OERTER/MONTADA: (S. 28)
[8] TRAUTNER, Hanns Martin: Lehrbuch der Entwicklungspsychologie. 2. Aufl. Göttingen 1997 (S. 155)
[9] vgl. PIAGET, Jean: Meine Theorie der geistigen Entwicklung, Frankfurt/Main 1983 (Kap.1)
[10] vgl. TRAUTNER, Hanns Martin: Lehrbuch der Entwicklungspsychologie. 2. Aufl. Göttingen 1997 (S. 185 ff)
[11] PIAGET, Jean: Probleme der Entwicklungspsychologie. Frankfurt/Main 1976 (S. 49)
[12] PIAGET, Jean: Probleme der Entwicklungspsychologie. Frankfurt/Main 1976 (S. 21)
[13] PETTER, Guido: Die geistige Entwicklung des Kindes im Werk von Jean Piaget. 1966 (S. 19 ff)
[14] vgl. TRAUTNER, Hanns Martin: Lehrbuch der Entwicklungspsychologie. 2. Aufl. Göttingen 1997 (S. 160)
[15] vgl. PIAGET, Jean: Probleme der Entwicklungspsychologie. Frankfurt/Main 1976 (S. 27 ff)
[16] vgl. PIAGET, Jean: Probleme der Entwicklungspsychologie. Frankfurt/Main 1976 (S. 7)
[17] SEGALL et al.: Human behavior in global perspective. New York 1990 (Kap.2) IN: OERTER, R./MONTADA, L.: ... (S. 89/91)
[18] PIAGET, Jean: Probleme der Entwicklungspsychologie. Frankfurt/Main 1976 (S. 125)
[19] TRAUTNER, H. M.: Lehrbuch der Entwicklungspsychologie. 2. Aufl. Göttingen 1997 (S. 160 - 164)
[20] PIAGET, Jean: Das Erwachen der Intelligenz. München 1992 (S. 7)
- Citation du texte
- Ariane Held (Auteur), 2000, Die kognitive Entwicklung nach Jean Piaget, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16433
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