„Die hundert Sprachen des Kindes
Die hundert gibt es doch
Das Kind besteht aus hundert Sprachen
hundert Händen
hundert Gedanken
hundert Weisen
zu denken, zu spielen und zu sprechen
Hundert
immer hundert Arten
zu hören, zu staunen und zu lieben.
Hundert heitere Arten
zu singen, zu begreifen
hundert Welten zu entdecken
hundert Welten frei zu erfinden
hundert Welten zu träumen.
Das Kind hat hundert Sprachen.
Und hundert und hundert und hundert.
Neunundneunzig davon aber
werden ihm gestohlen,
weil Schule und Kultur
ihm den Kopf vom Körper trennen.
Sie sagen ihm:
ohne Hände zu denken,
ohne Kopf zu schaffen
zuzuhören und nicht zu sprechen.
Ohne Heiterkeit zu verstehen,
zu lieben und zu staunen
nur zu Ostern und Weihnachten.
Sie sagen ihm:
die Welt zu entdecken
die schon entdeckt ist.
Neunundneunzig von hundert
wurden ihm gestohlen.
Sie sagen ihm:
Spiel und Arbeit
Wirklichkeit und Phantasie
Wissenschaft und Imagination
Himmel und Erde
Vernunft und Träume
seien Dinge, die nicht zusammen passen.
Sie sagen ihm kurz und bündig,
daß es keine hundert gäbe.
Das Kind sagt:
Und ob es die hundert gibt.“
(Loris Malaguzzi in: Zimmer 1997, S.21ff.)
Durch veränderte Lebensbedingungen und dem daraus oft resultierenden Bewegungsmangel weisen bereits Grundschulkinder enorme körperliche Defizite auf. Bewegung ist aber für eine ganzheitliche Entwicklung von Kindern unerlässlich.
Leider sind die heutigen Lebensumstände, in denen Kinder aufwachsen, oft auf ein Minimum an Bewegung beschränkt, wodurch ihnen die Chance verwehrt bleibt, sich durch Bewegung aktiv-handelnd mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen, um sich diese folglich zu erschließen.
Dieses Buch zeigt die Bedeutsamkeit der Bewegung auf, erklärt dessen Einfluss auf eine gesunde kindliche Entwicklung und beschreibt wie durch Bewegung das Lernen durch Einbeziehen möglichst aller Sinneskanäle „erleichtert“ werden kann.
Dargestellt werden veränderte Lebensbedingungen, die Auswirkungen auf die heutige Kindheit haben; der Zusammenhang von Bewegung und Entwicklung von Kindern; das Lernen im Kontext einer „Bewegten Schule“ sowie das Zusammenspiel von Konzentration und Bewegung.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Veränderte Kindheit
2.1 Aspekte Veränderter Kindheit
2.1.1 Kinder und Medien
2.1.2 Die Bewegungs- und Erfahrungsräume
2.1.3 Das Freizeitverhalten
2.2 Grundschüler heute – aus der Sicht ihrer LehrerInnen
2.3 Zusammenfassung
3. Bewegung
3.1 Begriffsbestimmung
3.2 Bedeutung von Bewegungserfahrungen für die kindliche Entwicklung
3.3 Der Zusammenhang von Bewegung und Entwicklung
3.3.1 Bedeutung der Bewegung für die kognitive Entwicklung von Kindern
3.3.2 Bedeutung der Bewegung für die motorische Entwicklung von Kindern
3.3.3 Bedeutung der Bewegung für die Entwicklung des Selbst
3.3.4 Bedeutung der Bewegung für die soziale Entwicklung von Kindern
3.3.4.1 Probleme der sozialen Entwicklung
3.4 Bewegung und Wahrnehmung
3.5 Psychomotorik
3.6 Bewegung und Gesundheit
3.7 Bewegungsmangelerkrankungen
3.7.1 Allgemeine Statistik
3.7.2 Haltungsschwächen
3.7.3 Koordinationsschwächen
3.7.4 Organleistungsschwächen
3.8 Zusammenfassung
4. Bewegte Schule
4.1 Bedeutung der Bewegung für das Gehirn und das Lernen
4.1.1 Bewegung und das Gehirn
4.1.2 Die beiden Hemisphären
4.1.3 Bedeutung der Bewegung beim Lernen
4.1.4 Lernen mit allen Sinnen
4.2 Die Idee der Bewegten Schule
4.3 Funktionen der Bewegten Schule
4.4 Aufgaben und Ziele der Bewegten Schule
4.5 Konzepte der Bewegten Schule
4.6 Tägliche Bewegungszeit
4.7 Bewegter Unterricht
4.7.1 Bewegungspausen im Unterricht
4.7.2 Bewegtes Sitzen – Dynamisches Sitzen
4.7.3 Bewegte Pause
4.7.3.1 Pausenhofgestaltung
4.7.4 Stille und Entspannung in der Bewegten Schule
4.7.5 Sport- und Bewegungsunterricht
4.7.6 Außerunterrichtliche Bewegungsangebote
4.8 Zusammenfassung
5. Konzentration
5.1 Begriffsbestimmung
5.2 Konzentrationsschwierigkeiten, -störungen und –schwächen
5.3 Bedeutung der Konzentrationsfähigkeit
5.3.1 Konzentration und Unterricht
5.3.2 Konzentration und Entspannung
5.3.3 Konzentration und Bewegung
5.4 Konzentration und Aufmerksamkeit bei Maria Montessori
5.5 Konzentrationsförderung
5.5.1 Konzentrationsförderung durch Entspannung
5.5.2 Konzentrationsförderung durch Bewegung
5.5.2.1 Brain Gym®
5.5.2.2 Bewegungsgeschichten
5.5.2.3 Bewegungslieder
5.5.2.4 Spiele zur Konzentration mit dem ganzen Körper
5.5.2.5 Konzentrationsförderung mit allen Sinnen
5.5.2.6 Konzentrationsförderung im Sportunterricht
5.6 Zusammenfassung
6. Abschließende Betrachtung
7. Literaturverzeichnis
8. Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
Meiner Examensarbeit liegt das Thema Bewegung und Konzentrationsförderung durch Bewegung bei Kindern im Grundschulalter zu Grunde.
Gerade der Bewegung muss heutzutage eine große Beachtung geschenkt werden. Durch veränderte Lebensbedingungen weisen bereits Grundschulkinder enorme körperliche Mängel auf.
Erschreckend in meiner Ausbildung zur Sportförderlehrerin war für mich die Tatsache, Kinder zu sehen und zu erleben, die nicht auf einem Bein stehen konnten und deren Motorik auf erhebliche Defizite in der kindlichen Entwicklung zurückzuführen war. Bewegung ist aber für eine ganzheitliche Entwicklung von Kindern unerlässlich.
Leider sind aber die heutigen Lebensumstände der Kinder auf ein Minimum an Bewegung reduziert, wodurch ihnen die Chance verwehrt bleibt sich durch Bewegung aktiv-handelnd mit ihrer Umwelt auseinander zu setzen und sich diese folglich zu erschließen. Dadurch wird der kindliche Bewegungsdrang enorm eingeschränkt. Kinder wollen und müssen sich aber bewegen!
Die Kinder kommen in die Schule und verbringen dort einen großen Teil ihres Lebens. Viele Lehrer beklagen, dass Kinder ihr unterdrücktes Bewegungsbedürfnis im Unterricht zum Ausdruck bringen und mit erheblicher motorischer Unruhe reagieren. Diese Kinder können sich nicht richtig konzentrieren und dem Unterricht folgen.
Diese Arbeit soll die Bedeutsamkeit der Bewegung darstellen und Möglichkeiten aufzeigen, den Kindern Chancen zu eröffnen ihren Bewegungsdrang gemäß einer gesunden Entwicklung auszuleben. Des weiteren soll aufgezeigt werden, dass Konzentration durch Bewegung gesteigert werden kann.
Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit veränderten Lebensbedingungen und stellt die Auswirkungen für die heutige Kindheit dar. Dadurch soll gezeigt werden, wie erschreckend die heutige Zeit auf das Bedingungsgefüge von Bewegung und Entwicklung wirken kann.
Im dritten Kapitel werde ich folglich auf die wichtige Bedeutung von Bewegung eingehen und den erheblichen Einfluss der Bewegung für die kindliche Entwicklung aufzeigen. Dabei sollen auch die Negativauswirkungen einen Platz einnehmen, die durch Bewegungsmangel entstehen können.
Das vierte Kapitel wird ein Konzept für die Schule darstellen, auf die heutigen Umweltbedingungen zu reagieren und schildert daher Maßnahmen, wie mehr Bewegung in die Schule gebracht werden kann.
Ziel soll die zweckmäßige Integration von Bewegung in den Unterricht und das Schulleben sein, das sich meines Erachtens am geeignetsten durch das Konzept der Bewegten Schule lösen lässt. Die Schüler sollen durch Bewegung zum Lernen angeleitet werden; ein ganzheitliches Lernen mit allen Sinnen soll angestrebt werden.
Im fünften Kapitel werde ich einen Überblick über das Themengebiet der Konzentration geben und praktische Beispiele dafür anbringen, wie die Konzentration in der Schule nachhaltig durch Bewegung gefördert werden kann.
2. Veränderte Kindheit
Das Schlagwort „Veränderte Kindheit“ beschreibt die Lebensumstände heutiger Kinder aufgrund einer neu strukturierten Lebenswelt.
Während Kinder früher auf den Straßen spielten und genügend Bewegungsfreiraum hatten, sind Spiel- und Sportstätten heute eher rar angesiedelt. Natürliche Spielstätten in Form von Grünflächen müssen der immer stärker verdichteten Bebauung weichen.
Dadurch findet kaum noch spontanes Spielen im öffentlichen Raum statt. Kinder suchen eher zu Hause nach Spielmöglichkeiten. Doch die meisten Kinderzimmer sind viel zu klein und entsprechen nicht dem kindlichen Bewegungsdrang. Daraus – und auch vielleicht oft aus Rücksicht vor Mitbewohnern – resultieren bewegungs- und geräuscharme Spielgewohnheiten.
Hinzu kommt noch der von den Erziehungsberechtigten zugelassene Einfluss der Medien, die verstärkt auf die kindliche Lebens- und Bewegungswelt einwirken und Kinder in ihren Bann ziehen.
Bewegungsarmut kennzeichnet den Alltag vieler Kinder.
Merkmale heutiger Kindheit sind daher nach Renate ZIMMER:
1. „der Rückgang der Straßenspielkultur und die zunehmende Verhäuslichung des Kinderspiels (vgl. Zinnecker 1979);
2. der Verlust natürlicher Spiel- und Bewegungsgelegenheiten und der Ersatz durch künstlich geschaffene Plätze zum Spielen, die von Kindern oft nicht selbständig erreicht werden können und wo zudem das Spielen ohne Aufsicht der Erwachsenen kaum möglich ist;
3. die Ausgliederung der Bewegungsspiele aus dem Kinderalltag in den institutionalisierten, organisierten Sport;
4. die Verinselung kindlicher Lebensräume, indem Kinder von einem Freizeitangebot zum anderen, zu entfernten Freunden, zu Schwimmbädern und Musikschulen chauffiert werden. Zwischen diesen Inseln besteht kein Zusammenhang, Kinder erleben ihren Alltag nicht als selbstbestimmbaren Freiraum und als zusammenhängende Zeiteinheit, sondern als zerstückeltes Termingeschäft, das sich in z.T. völlig verschiedenen Welten abspielt (vgl. Zeiher 1989);
5. die Entdeckung der Kinder als Zielgruppe für die Konsumgüterindustrie, die selbst vor der Pädagogisierung des Spielzeugs nicht haltmacht;
6. die Monofunktionalität des Spielmaterials, das meist nur für bestimmte Zwecke vorgesehen ist und den Kindern nur wenig Raum läßt für Veränderungen;
7. die Zunahme des Medienkonsums und die damit einhergehende Verdrängung vieler für die Entwicklung des Kindes wichtiger Aktivitäten“ (Zimmer 1993, S.18).
Im Folgenden werden im Hinblick auf das Thema diejenigen Aspekte veränderter Kindheit dargestellt, die unmittelbare Auswirkungen auf die Bewegungserfahrungen und auf die Konzentrationsfähigkeit der Kinder haben.
2.1 Aspekte veränderter Kindheit
Die in diesem Kapitel speziell ausgewählten Betrachtungen sollen deutlich machen, wie heutige Kinder aufwachsen und wie wenig Bewegung viele erfahren. Kapitel 2.1.1 stellt daher den Einfluss der Medien für die kindliche Lebenswelt dar, Kapitel 2.1.2 die Bewegungs- und Erfahrungsräume heutiger Kinder, und Kapitel 2.1.3 gibt Einblick in deren Freizeitverhalten.
2.1.1 Kinder und Medien
Medien verändern die Welt und haben enormen Einfluss auf Kinder in der heutigen Zeit.
Nach FÖLLING-ALBERS ist die enorme Ausbreitung der Medien der sinnfälligste Ausdruck der Veränderten Kindheit. Audio-visuelle Medien sind fester Bestandteil des kindlichen Alltags geworden, zu denen die Kinder z.T. unbeschränkten Zugang bekommen. Neben Kassettenrecorder, Walkman, CD-Player und Radio erreichen auch Videorecorder, Fernseher und Computer bereits in jungen Jahren die kindliche Lebenswelt (vgl. Fölling-Albers 1992, S.55f.).
In fast allen Haushalten befindet sich mindestens ein Fernsehgerät und schon jedes 3. Kind im Alter von 8 Jahren besitzt sein eigenes. Dem Fernsehgerät kommt demzufolge eine große Bedeutung zu.
Selbst der Computer im Kinderzimmer ist keine Seltenheit mehr. Kinder sind so fasziniert von Computerspielen, dass diese einen hohen Stellenwert einnehmen. Durch das Spielen am Computer gehen den Kindern jedoch eigene Ideen verloren. Die Kreativität der Kinder, eigene Spielideen zu entwerfen, wird unterdrückt, weil sie dem Drang nachgeben, ein Computerspiel möglichst über alle Schwierigkeitsgrade bis zum Ende zu spielen. Sie sitzen daher stundenlang am Computer, wodurch das Bedürfnis sich zu bewegen unterdrückt wird.
„Kinder können also, auch wenn sie auf sich allein gestellt sind oder Langeweile haben, sich mit Hilfe der Medien ohne eigene Anstrengung fast uneingeschränkte Unterhaltung und Abwechslung verschaffen. Sie sind auf Spielpartner oder auf eigene Spielinitiativen nicht mehr angewiesen“ (Fölling-Albers 1995, S.13).
Medien bieten zwar Abwechslung und Unterhaltung, können aber im Extremfall zur Bedrohung werden, wenn die Nutzung aufgrund einer Einschränkung von Eigenaktivität erfolgt.
„Die Zeit, die heutige Kinder mit Fernsehen verbringen, nimmt im Gesamtumfang der Freizeitaktivitäten den größten Teil ein“ (Rollf; Zimmermann 1997, S.78).
Kinder entwickeln durch den hohen Medienkonsum eine gewisse Passivität, die zur Bewegungsarmut führen kann. Informationen erhalten sie aus zweiter Hand, wodurch das Erleben eigener Erfahrungen verloren geht
Erfahrungslosigkeit ist also das Resultat verlorener Selbsttätigkeit, bedingt durch die Reizüberflutung medialer Möglichkeiten.
2.1.2 Die Bewegungs- und Erfahrungsräume
Durch veränderte räumliche Lebensbedingungen (Bebauung, große Verkehrsdichte, anregungsarme Wohnumgebungen, öffentliche für Kinder unattraktive Spielplätze, medienparkähnliche Kinderzimmer) werden die Bewegungs- und Erfahrungsräume heutiger Kinder enorm eingeschränkt.
Da es in den 50er Jahren keine ausgegrenzten Spielräume für Kinder gab, erfolgte das Zusammenleben der Kinder geringer verplant als heute (siehe Kap. 2.3). Kinder trafen sich auf der Straße in Großgruppen, die wesentlich alters- und geschlechtsheterogener als heutzutage waren. Durch die Bewegungsvielfalt fanden sie eigene Spielideen, die sie in unterschiedlichen Umgebungen umsetzen konnten. Dadurch wurden soziale Kontakte aller Art geknüpft. Kinder konnten sich bewegen, toben und sich ihre Bewegungsumwelt durch Nutzung verschiedener Lebensräume aneignen (vgl. Schmidt 1998, S.86f.).
„Je nach Alter, Geschlecht, Geschicklichkeit und `Bewegungskönnen` wuchsen die Kinder wie von selbst in eine Spiel-, Regelspiel- und Sportspiel-Kultur hinein“ (ebd., S.117).
Die folgende Abbildung soll beispielhaft verdeutlichen, welch abwechslungsreiche Bewegungsangebote den Kindern in den 50er und 60er Jahren zur Verfügung standen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Lern- und Spielort in den 50er und 60er Jahren
Die Gestaltungsspiele der Kleinkinder (Spielort 1) bestanden aus Lege- und Bauspielen mit einfachem Holzmaterial. Durch das Knickern draußen wurde der Gedanke des einfachen Wettkampfs vermittelt.
Fang- und Versteckspiele in den Straßennischen ermöglichte Spielort 2.
Spielort 3 kennzeichnet den Bürgersteig, auf dem einfache Spiele zu zweit oder Hüpf- und Geschicklichkeitsspiele in größeren Gruppen stattfanden.
Die Straße als Spielort 4 war den einfachen Regelspielen wie z.B. Völkerball oder Fußball vorbehalten. Das Rollschuhlaufen fand auf asphaltierten Straßen statt.
Auf dem Hinterhof waren Teppichstangen, die als Markierung von Kopfballspielen dienten (Spielort 5).
Spielort 6 und 7 (Trümmergrundstück) wurden häufig als Ballspielplatz für Wettkämpfe der Straßenmannschaften hergerichtet.
Torschuss- und Kopfballspiele konnten im Sandkasten des öffentlichen Spielplatzes organisiert werden (Spielort 8).
Im Stadtgarten bot sich im Winter die Möglichkeit des Rodelns, Schlittschuhlaufens oder des einfachen Eishockeyspielens.
Der Schulweg in die Innenstadt hatte eine Länge von 7,1km. Auf dem Nachhauseweg bot sich die Möglichkeit an, die Räume der Innenstadt sowie den Kloster- oder Stadtgarten zu erkunden.
Durch alle diese Spielorte waren Gelegenheiten geboten, den wohnnahen Raum eigenständig zu erschließen. Dieses ist heute durch die große Bebauungsdichte und den enormen Straßenverkehr kaum noch möglich (vgl. ebd., S.116f.).
In den 70er Jahren entstanden neue Hochhaus- und Plattenbausiedlungen. Immer mehr Reihen-, Doppel- und Einfamilienhäuser wurden gebaut. Die Gebiete wurden für Kinder anregungsarm. Im Sinne des „schöner Wohnens“ wurden Regeln zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sauberkeit erhoben, die explizit für die Nutzung von Grünflächen galten (vgl. ebd., S.87).
Das Kinderspiel sollte nun auf öffentliche Spielplätze verlagert werden. „Die qualitativen Kinderspielplatz-Studien der 70er Jahre ergeben jedoch, dass diese Räume lediglich für Kleinstkinder relativ attraktiv sind, während die Verweildauer sich im mittleren Kindesalter (9-12 Jahre) auf ca. fünf Minuten reduziert und Handlungssequenzen des Erkennens, Probierens, Verwerfens, Änderns und des Neubeginnens dadurch verloren gehen“ (ebd., S.88).
Dadurch fehlte den Kindern die Möglichkeit sich ihre Umwelt anzueignen, die als wichtige Voraussetzung zum Erwerb von Handlungskompetenz angesehen wird.
In den 80er und 90er Jahren setzen neue Prozesse ein. Straßen werden beruhigter und Nahräume sollen durch Bürgerinitiativen etc. wiederbelebt werden.
Die Kinderdichte ist wesentlich geringer gegenüber den 50er Jahren. Man kann sich nicht einfach auf „offener Straße“ treffen. Die Wohnräume liegen unter Umständen weit voneinander entfernt, so dass man sich zum Spielen verabreden muss.
Die Gestalt der Umwelt ist gekennzeichnet durch künstlich geschaffene Spielstätten. Die Umwelt ist somit etwas Fertiges: Das Umfeld bietet sich zwar zur Benutzung an, jedoch sind Handlungen kaum eigenständig gestaltbar, sondern nur wählbar. Damit sind Kinder in ihrem Tun eingeschränkt, soziale Kontakte werden weniger.
SCHMIDT spricht von einem verinselten Lebensraum.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Verinselter Lebensraum
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Funktionsentflechtung und Raumspezialisierung sind Grundbausteine dieses verinselten Lebensraumes (vgl. ebd., S.88ff.).
Durch die Verinselung des Lebensraumes sind den einzelnen Räumen bestimmte Funktionen zugeschrieben. Wohn-, Arbeits-, Spiel- und Schulort sind getrennt, wodurch die Kinder ihre Umwelt nicht mehr als Ganzes wahrnehmen und ihre Handlungsspielräume zunehmend eingeschränkt werden.
Eine Folge besteht darin, dass Kinder Zusammenhänge aus der Umwelt nicht mehr konkret wahrnehmen können, denn Kinder erforschen mit zunehmenden Alter ihr Umfeld in konzentrischen Kreisen, wodurch sich erst die Erfahrungen über den individuellen Lebensraum erweitern (vgl. Knauf; Politzky 2000, S.12ff.).
„Der Verlust der Bewegungsräume beinhaltet aber noch ein weiteres Problem: die natürlichen, sinnlichen Erfahrungen, die lebensnahen Eindrücke, die ein Kind während des Spielens, Bewegens, Handelns in seinem Nahraum macht, finden keinen adäquaten Ersatz“ (ebd., S.14).
2.1.3 Das Freizeitverhalten
„Kinder haben heute weniger Zeit, zumindest weniger frei verfügbare Zeit. Sie benötigen jetzt eine Uhr, um die vielfältigen Anforderungen ihres Terminplanes koordinieren zu können“ (Rolff; Zimmermann 1997, S.136).
Während die Kinder früher unbeaufsichtigt auf dem Hof oder auf der Straße spielten, ist der heutige Nachmittag vieler Kinder durch feste Termine verplant. So hat fast die Hälfte aller Kinder drei oder mehr feste Termine (vgl. Schmidt 1998, S.94).
Durch die immer dünnere Besiedlung lassen sich kaum noch gleichaltrige Spielpartner in der Umgebung finden. So ergeben sich Freundschaften meist nur innerhalb der Schulklasse.
Das Spielen früher erfolgte draußen, wo man sich in großen heterogenen Kindergruppen traf. Heutzutage werden per Telefonanruf Verabredungen getätigt, die meist nur auf ein Kind reduziert werden.
Demzufolge können sich „vielfältige“ soziale Kontakte nicht mehr entfalten, da gemeinsame Unternehmungen zu zweit oder maximal zu dritt unternommen werden.
Außerdem fehlen Außenräume wie Bürgersteige, Garagen oder Höfe, die zum freien Spielen einladen. Fangspiele bzw. Spiele in größeren Gruppen entfallen und werden nun abgelöst durch betreute Spiele mit festen Regeln. Dadurch geht vielen Kindern die Eigenständigkeit zu spielen verloren. Es findet kein spontanes, selbstgeregeltes, uneingegrenztes Moment des Spielens mehr statt, sondern das Spielen heutzutage ist gekennzeichnet durch ein Spielen unter Aufsicht.
ZINNECKER spricht von einer Verhäuslichung des Kinderspiels! Folglich werden die Handlungsräume der Kinder sowohl quantitativ als auch qualitativ verlagert und eingeschränkt (vgl. Zinnecker 1990, S.142ff.). Es findet eine zunehmende Verschiebung der Freizeitgestaltung von außen nach innen statt.
2.2 Grundschüler heute – aus der Sicht ihrer LehrerInnen
Anhand einer Lehrerbefragung wurde untersucht, inwieweit die Veränderte Kindheit Einfluss auf den Unterricht oder das Schulleben genommen hat (vgl. Fölling-Albers 1997, S.131).
So ergaben sich signifikante Aussagen von LehrerInnen, die das Lern- und Arbeitsverhalten von Grundschülern beschrieben.
- 87% der Kinder seien heute erheblich konzentrationsschwach
- 84% der Grundschüler seien unruhig oder sehr unruhig
- 75% der Befragten waren der Meinung die Kinder seien heute weniger ausdauernd im Gegensatz zu früher (vgl. Fölling-Albers 1995, S.21).
Die mangelnde Konzentrationsfähigkeit drücke sich in einer großen Ablenkungsbereitschaft aus.
Das „Nicht-zuhören-können“ (ebd., S.23) sei ebenfalls ein sinnfälliger Ausdruck für das Unkonzentriertsein. Kindern fiele es heute sehr schwer, sich nur auf eine Sache zu konzentrieren. Beim Vorlesen beispielsweise seien nur wenige Kinder in der Lage sich aufs Zuhören zu beschränken. Viele Kinder würden anderen Tätigkeiten dabei nachgehen, wie z.B. malen etc. (vgl. ebd., S.23).
Vermehrte Unruhe drücke sich durch ein „Nicht-still-sitzen-Können, Hampeln, Fummeln, Zupfen etc. aus“ (Fölling-Albers 1992, S.58).
Bezüglich der Veränderungen des Sozialverhaltens sagten viele Lehrer aus, dass die heutigen Kinder eher ich-bezogen, erwachsenenzentriert und weniger rücksichtsvoll seien.
Die Umfrage ergibt:
- 2/3 der Befragten sehen heutige Kinder als sehr ich-bezogen
- 61% beschreiben ihre Schüler als weniger rücksichtsvoll
(vgl. Fölling-Albers zit. nach Schmidt 1998, S.109)
41% der befragten LehrerInnen stellten fest, dass die Leistungsorientierung angestiegen sei. Erheblich mehr Kinder seien heute wesentlich leistungsorientierter als früher.
Andere sahen keinen Unterschied zu früheren Erfahrungen und 18% stellten fest, dass heutige Kinder weniger leistungsorientiert seien (vgl. Fölling-Albers 1995, S.25).
Was die Variable Selbständigkeit anbelangt, so wurden vielfältige Antworten gegeben:
- 46,7% sahen keinen Unterschied zu früher
- 28% der Befragten sind der Meinung, dass erheblich mehr Kinder sehr selbstständig seien
- 24% behaupteten heutige Kinder seien wesentlich unselbstständiger (vgl. ebd., S.39)
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Abweichungen im Lern- und Arbeitsverhalten im Gegensatz zu früher sehr stark überwiegen. Die Schule sollte dort ansetzen und Kompensationsmöglichkeiten finden, mangelnde Konzentration und Unruhe bei den dafür anfälligen Kindern auszugleichen. „Die erhöhte Ablenkungsbereitschaft und die größere Unruhe bei vielen Kindern machen aufwendigere Unterrichtsmaßnahmen erforderlich [...]“ (ebd., S.24), d.h. dass in der Schule ein Konzept gefunden werden muss, Übungen und Arbeitsweisen zu integrieren, die diese Auffälligkeiten wettmachen.
Außerdem muss heutzutage sehr differenziert auf Schüler eingegangen werden. „95,9% aller LehrerInnen sagten aus, daß heute die einzelnen Kinder stärker denn je individuelle Beachtung anforderten und mehr individuelle Zuwendung und Berücksichtigung benötigen“ (Schmidt 1998, S.111).
2.3 Zusammenfassung
In diesem Kapitel wurde aufgezeigt, dass die heutigen Lebensumstände enormen Einfluss auf das Freizeitverhalten von Kindern nehmen. Mangelnde Bewegungsangebote sind die Regel, so dass Kinder sich mit anderen Dingen beschäftigen müssen. Der Medienkonsum steigt demnach als Folge unzureichender Angebote für Kinder und wird zum täglichen Zeitvertreib.
Durch das Verschwinden von freien Spielflächen für Kinder muss das Spiel nach drinnen verschoben werden. Etliche Wohnungen sind zu klein, Kinder können sich nur ungenügend bewegen. Bewegungsarmut steht an der Tagesordnung. Sie wirkt sich negativ auf die kindliche Entwicklung aus.
Im nächsten Kapitel soll deshalb das Augenmerk auf das Themengebiet der Bewegung gelegt werden und u.a. herausgestellt werden wie bedeutend diese für die kindliche Entwicklung ist.
3. Bewegung
In Kapitel 2 wurde bereits dargelegt, dass die veränderte Lebensumwelt großen Einfluss auf die Bewegungsmöglichkeiten der Kinder nimmt und diese auch teilweise enorm einschränkt.
Im folgenden Kapitel erscheint es mir nun wichtig – in Bezug auf das Thema dieser Arbeit – die Bedeutsamkeit der Bewegung herauszustellen.
Kapitel 3.1 soll daher eine kurze Definition über Bewegung geben. Des weiteren soll in Kapitel 3.2 die Bedeutung von Bewegungserfahrungen dargestellt werden, während Kapitel 3.3 den Zusammenhang von Bewegung und kindlicher Entwicklung beleuchtet. Bewegungsmangel und Folgeerkrankungen stelle ich in Kapitel 3.6 und 3.7 dar.
3.1 Begriffsbestimmung
„Bewegung, [...], ist die äußere, umweltbezogene Komponente der menschlichen Tätigkeit, die in Ortsveränderungen des menschlichen Körpers beziehungsweise seiner Teile und der Wechselwirkung mechanischer Kräfte zwischen Organismus und Umwelt zum Ausdruck kommt“ (Meinel 1998, S.33).
Nach ZIMMER ist Bewegung ein Grundphänomen menschlichen Lebens, auf das der Mensch angewiesen ist. „Die Bewegungsentwicklung beginnt bereits im Mutterleib, und erst mit dem Tod hört jede Bewegung auf“ (Zimmer 1993, S.13).
Bewegung umfasst viele unterschiedlichen Dinge. Darunter zählen z.B. laufen, essen, malen, Fußballspielen oder Schreibmaschine schreiben. Bezüglich der Begriffsbestimmung darf aber auch nicht außer Acht gelassen werden, dass wir Gefühle als sog. „innere Bewegung“ verstehen.
Damit sind also zwei Komponenten zu sehen. Bewegung bezieht sich also nicht nur auf die körperliche Betätigung, sondern ist zugleich Ausdruck menschlicher Gefühle (vgl. ebd., S.13).
3.2 Bedeutung von Bewegungserfahrungen für die kindliche
Entwicklung
Um die grundlegenden Bedeutungen von Bewegungserfahrungen für die kindliche Entwicklung aufzuzeigen, werde ich im Folgenden verschiedene Positionen und Meinungen von Autoren herausstellen, die ich für allgemeingültig und umfassend halte.
BALSTER legt dar: „Bewegung hat für den ganzheitlichen Entwicklungsprozeß des Kindes, für seine individuelle, harmonische Persönlichkeitsentfaltung, eine ganz fundamentale Bedeutung“ (Balster 1998, S.4).
Auch ZIMMER sieht die immense Bedeutung von Bewegungserfahrungen und präsentiert entwicklungsbedeutsame Argumente:
Durch und in Bewegung lernen Kinder den eigenen Körper und sich selber kennen, sie entwickeln ihre Persönlichkeit.
Bei Bewegungsspielen erfahren sie den Umgang mit anderen. Sie lernen mit und gegeneinander zu spielen, sich mit anderen abzusprechen, eigene Regeln aufzustellen, diese einzuhalten und gegebenenfalls zu verändern.
Weiterhin gewinnen sie die Einsicht selbst etwas zu schaffen und herzustellen wie z.B. neue Spielideen zu finden und diese umzusetzen.
Durch Bewegung lernen Kinder sich auszudrücken und Gefühle und Empfindungen zu zeigen. Freude, Traurigkeit oder Wut zeigen sich beispielsweise durch die jeweilige Körperhaltung des Kindes. Lust, Freude, Erschöpfung und Anspannung werden als Gefühle ebenfalls durch Bewegung vermittelt.
In Bewegung lernen Kinder ihre Umwelt kennen. Durch das Experimentieren mit verschiedenen Gegenständen, werden deren Eigenschaften erkundet und Gesetzmäßigkeiten erkannt.
Außerdem lernen Kinder durch Bewegung ihren eigenen Körper kennen, ihn einzuschätzen, seine Signale zu beobachten. Sie merken, was ihr Körper leisten kann, spüren Belastung und erfahren, dass die körperliche Leistungsfähigkeit durch Bewegung gesteigert werden kann (vgl. Zimmer 2001, S.33ff.).
„Der Aufbau des „Selbst“, des Vertrauens in die eigene Person und das Bild, das man sich selber macht, ist beim Kind im wesentlichen geprägt von den Körpererfahrungen, die es in den ersten Lebensjahren macht“ (Zimmer 1989, S.18).
BALSTER sieht in und durch Bewegung eine Auseinandersetzung mit
- Sich selbst
- Mit der personalen Mit-/ Umwelt
- Mit der räumlichen Mit-/ Umwelt
- Mit der materialen Mit-/ Umwelt.
Durch Erkenntnisse, Eindrücke und Erlebnisse in und durch Bewegung in ihrer Mit-/ Umwelt gewinnen die Kinder neue Erfahrungen. Diese Erfahrungen tragen dazu bei, dass sich die Persönlichkeit des Kindes entfalten kann. Sie erlangen durch Bewegung mehr Sicherheit, Selbstständigkeit und Selbstvertrauen, was als Voraussetzung zum Erwerb vielfältiger Kompetenzen angesehen wird.
BALSTER führt folgende prägnante Punkte, die durch Bewegung ermöglicht werden, auf:
1. Erweiterung vielfältiger senso-motorischer[1] Erfahrungen
Durch das Erfahren und Erleben des eigenen Köpers, das Erleben verschiedener Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Spielräume und durch den Umgang mit verschiedenen Materialien wird die Erweiterung senso-motorischer Erfahrungen gesichert.
2. Gefühlsmäßiges Erleben
Erfolgserlebnisse steigern das Selbstvertrauen und erhalten die Bewegungsfreude der Kinder durch das Bereitstellen kindgerechter Handlungsmöglichkeiten.
3. Förderung sozialen Handelns
Das soziale Handeln wird gefördert durch das Erfahren von Hilfsbereitschaft und Rücksichtsnahme, durch das Schließen sozialer Kontakte, die Auseinandersetzung mit anderen Personen, Erkennen eigener Bedürfnisse sowie durch das Erleben von Gemeinschaft.
4. Förderung und Unterstützung geistiger Prozesse
Durch Speichern senso-motorischer Erfahrungen wird das Vorstellungsvermögen ausgebaut, das Bewegungsgedächtnis entwickelt.
5. Ökologische Erfahrungen
Durch das Spielen im Freien erfahren Kinder wichtige klimatische Reize. Sie lernen ihre Umwelt bei Aktivitäten in natürlichen Räumen wie beim Klettern im Wald, wandern etc. kennen und werden für die Natur sensibilisiert, indem sie ein Bewusstsein für Tiere und Pflanzen entwickeln (vgl. Balster 1998, S.4ff.).
Zweifelsohne kann man hier sehen, welch hohen Stellenwert Bewegungserfahrungen haben und wie wichtig diese Erfahrungen für die Entwicklung von Kindern sind. BALSTER manifestiert: „Eine eingeschränkte Bewegungserfahrung behindert körperliches Wohlbefinden und Gesundheit, soziale Integration, Selbstsicherheit, Selbstvertrauen und geistige Erkenntnisgewinnung“ (Balster 1998, S.9).[2]
Auch KLUPSCH-SAHLMANN hält an diesem Gedanken über die Wichtigkeit von Bewegungserfahrungen fest: „Ein umfassendes, breites Spektrum vielschichtiger Bewegungserfahrungen ist entscheidend für eine gesunde, ganzheitliche Entwicklung von Kindern“ (Klupsch-Sahlmann 1992, S.6).
Er schreibt der Bedeutung von Bewegung sechs Funktionen zu, die ich erst nennen und im Folgenden anhand eines Schemas darstellen werde.
Demzufolge kommt der Bewegung innerhalb der kindlichen Entwicklung eine wirksame Bedeutung zu, wenn sie
1) eine explorative Funktion
2) eine produktive Funktion
3) eine kommunikative Funktion
4) eine komparative Funktion
5) eine expressive / impressive Funktion
6) eine adaptive Funktion besitzt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Funktionen von Bewegung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Ich denke, dass durch die in diesem Kapitel angeführten Beispiele deutlich geworden ist, wie wichtig Bewegungserfahrungen für die kindliche Entwicklung sind. Meine Absicht ist es nun, im nächsten Kapitel, den Zusammenhang von Bewegung und Entwicklung darzustellen.
3.3 Der Zusammenhang von Bewegung und Entwicklung
In diesem Kapitel wird dargestellt, wie unerlässlich Bewegung für die Entwicklung des Kindes ist. Aus diesem Grunde erscheint es mir wichtig auf die kognitive, motorische und soziale Entwicklung einzugehen sowie die Entwicklung des Selbst zu etikettieren. Es soll gezeigt werden, welchen Einfluss die Bewegung darauf nimmt und wie unentbehrlich sie für die kindliche Entwicklung ist.
3.3.1 Bedeutung der Bewegung für die kognitive Entwicklung von Kindern
Entwicklung und Lernen erfolgen zusammen. Viele Dinge, die wir als grundlegend ansehen und die für uns selbstverständlich sind, lernen Kinder im Laufe ihrer Entwicklung durch Bewegung, indem sie sich aktiv handelnd mit ihrer Umwelt auseinandersetzen.
Die geistige Entwicklung des Kindes beruht in den ersten Lebensjahren vor allem auf Bewegungs- und Wahrnehmungsvorgängen. Es eignet sie sich überwiegend über seine Sinne, seine unmittelbaren Handlungen, seinen Körper an (vgl. Zimmer 1993, S.38).
„Der Motor jeder Entwicklung ist die kindliche Neugier, sie ist die Energie, die Kinder zum Lernen antreibt. Kinder möchten die sie interessierenden Sachen anfassen, sie wollen zu ihnen hingehen, sie beobachten, sie ausprobieren und erkunden“ (Zimmer 2002, S.17).
Durch Ausprobieren und Experimentieren lernen Kinder ihre Umwelt kennen. Indem sie sich bewegen nehmen Kinder Eindrücke aus der Umwelt auf, nehmen diese wahr und verarbeiten sie. Die geistige Entwicklung der Kinder in den ersten Lebensjahren beruht also hauptsächlich aus Bewegungs- und Wahrnehmungsvorgängen hervor.
Nach PIAGET kann sich die Intelligenz des Kindes nur dann entwickeln, wenn es sich handelnd mit Objekten aus seiner Umwelt auseinandersetzt, denn Denken vollzieht sich demzufolge erst in der Form aktiven Handelns (vgl. Zimmer 1996, S.15).
Als grundlegend wird so der experimentierend-erforschende Umgang mit Dingen aus der Umwelt angesehen, durch den die Kinder selbstständige Erfahrungen machen können.
PIAGET misst den sensomotorischen Erfahrungen, die Kinder in den ersten Lebensjahren machen, eine grundlegende Bedeutung für die Entwicklung der Intelligenz bei, die unentbehrlich für den Aufbau logischen Denkens ist. Ihm zufolge entwickeln sich Intelligenz und Denken in fünf Stufen, die aufeinander aufbauen und für die kognitive Entwicklung verantwortlich sind (vgl. Zimmer 1993, S.41):
1. Die sensomotorische Periode (1.-2. Lebensjahr)
Diese Periode ist gekennzeichnet durch eine enge Verknüpfung zwischen Wahrnehmung und Bewegung.
2. Das symbolische oder vorbegriffliche Denken (2.-4. Lebensjahr)
In dieser Periode wird die Vorstellungskraft des Kindes entwickelt. Es lernt bereits, Symbole oder Formen voneinander zu unterscheiden.
3. Das anschauliche Denken (4.-7. Lebensjahr)
Das Kind ist bereits zur Begriffsbildung fähig, allerdings besitzen diese Begriffe nur anschaulichen Charakter.
4. Die konkreten Denkoperationen (ab dem 7. Lebensjahr)
Die geistige Handlung ist nun unabhängig von realen Gegebenheiten der Außenwelt.
5. Die formalen Denkoperationen (ab ca. 11 Jahren)
Das Denken vollzieht sich in abstrakten Überlegungen.
PIAGET hält die Periode der ersten beiden Lebensjahre für besonders wichtig, denn in dieser Phase vollzieht sich die geistige Entwicklung besonders rasch. Somit wird diese Stufe auch als Fundament geistiger Entwicklung angesehen. In dieser Stufe baut das Kind nämlich die Gesamtheit der kognitiven Strukturen auf, die wichtig bzw. als Ausgangspunkt für spätere perzeptive[3] und intellektuelle Konstruktionen gesehen werden (vgl. Piaget; Inhelder 1978, S.11).
Weiterhin besteht in dieser Phase eine enge Verbindung zwischen Wahrnehmungsvorgängen und motorischen Handlungen. Die Art der Bewältigung von Problemen bezeichnet PIAGET als „sensomotorische Intelligenz“, die auf Handlung und Wahrnehmung der Dinge im Umgang mit ihnen, nicht aber auf Vorstellung und Denken, basiert (vgl. ebd., S.158).
Die Intelligenz sieht er als höchste und beweglichste Form der Anpassung des Organismus an die Umwelt. Anpassung versteht er als aktive Interaktion zwischen dem Individuum und seiner Umwelt.
Der Mensch macht also die Umweltverhältnisse für sich passend. Den Prozess der Anpassung bezeichnet PIAGET als „Assimilation“ und „Akkomodation“ – zwei sich ergänzende Vorgänge, zwischen denen das Kind ständig wechselt (vgl. Zimmer 1996, S.18f.).[4]
3.3.2 Bedeutung der Bewegung für die motorische Entwicklung von Kindern
Eine optimale Bewegungsentwicklung ist abhängig von Erbfaktoren und Reifungsprozessen. Kinder brauchen Möglichkeiten zum Üben und zum Erproben ihrer Bewegungsfähigkeit (vgl. Zimmer 2002, S.32).
Die Bewegung des Neugeborenen ist charakterisiert durch wenig differenzierte Bewegungen. Es handelt sich um Bewegungen, die vom ganzen Körper ausgehen und die Renate ZIMMER als „Massenbewegung“ (Zimmer 1993, S.69) kennzeichnet.
In den folgenden Lebensmonaten vollzieht sich die motorische Entwicklung mit großer Schnelligkeit. Die Bewegungen werden differenzierter und können als gezielte Einzelbewegungen ausgeführt werden. So spricht ZIMMER von einer fortschreitenden Verfeinerung, Erweiterung und Strukturierung von Funktionen und Verhaltensweisen.
Der Prozess der Differenzierung geht einher mit dem Prozess der Zentralisation bzw. der Integration.
Es setzt eine Koordinierung und übergeordnete Steuerung der Einzelleistungen im zentralen Nervensystem ein. Das Gehirn übernimmt die Funktion einer Schaltstelle, in der die Einzelleistungen miteinander verbunden und abgestimmt werden. Dadurch wird der Aufbau von Bewegungsmustern eingeleitet.
Die Differenzierung des Bewegungsverhaltens erfolgt nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten:
1. Erste kontrolliert motorische Bewegungen vollziehen sich vom Kopf zu den Beinen.
2. Grobmotorische Bewegungen lassen sich zunächst eher kontrollieren als feinmotorische. Die Muskeln, die näher an der Hauptachse des Körpers liegen unterliegen eher einer Kontrolle als die entfernteren.
3. Einseitige Bewegungen werden von der Gegenseite mitbewegt (z.B. linke Hand – rechte Hand).
4. Bewegungen sind gekennzeichnet durch große Muskelanspannung und hohen Krafteinsatz (vgl. ebd., S.70).
Wie bereits vorab erwähnt, erfolgt die motorische Entwicklung im Kleinkindalter besonders schnell. In keiner anderen Altersphase sind die Veränderungen so gravierend und schnell wie während der ersten 18 Lebensmonate. „In dieser Zeit lernt das Kind, Kontrolle über seine Körperbewegungen zu erreichen, es lernt zu krabbeln, aufzustehen, zu gehen“ (ebd., S.70).
Im Folgenden soll die Entwicklung elementarer Bewegungen anhand eines Schemas dargestellt werden, das von ROTH entwickelt wurde.
ROTH und WINTER interpretieren die Entwicklung der Motorik als eine kontinuierliche Veränderung. Dabei wird das Bewegungsverhalten des Kindes aufgrund seiner aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt ansteigend ausdifferenziert (vgl. ebd., S.71).
Abb. 4: Entwicklung elementarer Bewegungen (1. - 7. Lebensjahr)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die motorische Entwicklung im Säuglingsalter vollzieht sich anhand verschiedener gezielter Greifbewegungen, der aufrechten Haltung und der ersten selbständigen Fortbewegung.
In der nächsten Entwicklungsphase (1.-3. Lebensjahr) gewinnt das Kind immer mehr Selbstständigkeit in seinen motorischen Aktivitäten. Durch die Verbesserung der zuvor erworbenen Fertigkeiten des Laufens und Gehens können neue Fertigkeiten erlangt werden, die in folgenden Bewegungsformen zum Ausdruck kommen: gehen, laufen, springen, kriechen, rollen, schieben, balancieren, steigen, tragen, ziehen, hängen. Dazu kommen noch erste Formen des Werfens sowie erste Versuche des Fangens (Ende des 3. Lebensjahres).
Die motorische Entwicklung im Vorschulalter (4.-6. Lebensjahr) zielt auf eine Verbesserung von Bewegungsgrundformen hin. In dieser Phase werden Bewegungen von der Grobform zur Feinform ausdifferenziert.
WINTER sieht die schnelle Weiterentwicklung der kindlichen Motorik in drei Richtungen:
- „der quantitativen Leistungssteigerung,
- der qualitativen Verbesserung der Bewegungsabläufe,
- der Anwendungsfähigkeit in unterschiedlichen Situationen“ (ebd., S.76).
Eine Ursache für diese schnelle motorische Weiterentwicklung ist das stark ausgeprägte kindliche Spiel- und Bewegungsbedürfnis, sowie das Streben nach immer neuen Erfahrungen und Kenntnissen.
Das Kind lernt nun, Bewegungen zu kombinieren. Hinsichtlich seiner Koordinations- und Gleichgewichtsfähigkeit sowie seiner feinmotorischen Geschicklichkeit macht das Kind enorme Fortschritte. In dieser Phase steigt auch die Konzentrationsfähigkeit an.
[...]
[1] Unter Sensomotorik wird die enge Koppelung zwischen Wahrnehmung und Bewegung verstanden. Beide Komponenten stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander.
[2] Wenn ich an meine Ausbildung zur Sportförderlehrerin denke kann ich diesem Gedanken von BALSTER nur zustimmen. Ich habe sehr unsichere Kinder unterrichtet und kennen gelernt, deren mangelndes Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl durch Einschränkungen im Bewegungsleben entstanden sind und die sich aufgrund von motorischen Defiziten unwohl und anderen Kindern gegenüber unterlegen fühlen.
[3] Unter Perzeption wird im medizinischen Sinne die Reizaufnahme durch Sinneszellen oder - organe bezeichnet.
[4] Assimilation bedeutet, dass das Kind sich seine Umwelt passend macht, während Akkomodation Ausdruck für diese Anpassung ist. (vgl. Zimmer 1993, S.43)
- Citar trabajo
- Ines Konietzka (Autor), 2003, Die Förderung von Bewegung und Konzentration bei Kindern im Grundschulalter, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16404
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