In diesem Sammelband werden Texte von Trakl, Kafka, Musil, Celan, Géza Ottlik und István Turczi in bezug auf literaturtheoretische Grundsatzfragen interpretiert und zum Teil Wege einer Neuorientierung gezeigt. Versucht wird dabei die Sichtweise der literarischen Hermeneutik in Richtung ontologische Literaturtheorie zu erweitern.
Inhalt
Vorwort
Mythoepisches Sprechen in Celans „Tenebrae“
Hermeneutische Glossen zu Georg Trakls „De profundis”
Mehrdeutigkeiten in Kafkas „Der Wunsch Indianer zu werden“
Lyrik, Liturgie und Literarizität in István Turczis „Ein Jahr“
Literatur und Hermeneutik
Die Struktur wissenschaftlicher Resolutionen I
Die Struktur wissenschaftlicher Resolutionen II
Die Aspekte der Poeto-Linguistik und der Horizont der Hermeneutik
Literatur und Zeitlichkeit in Ottliks „Schule an der Grenze“
Das Zeitproblem der Literatur bei Lessing und Herder
Wissenschaftlich-klassizistische Zeitlichkeit der Gattungen bei Goethe
Interpersonalität des Gedenkens in Robert Musils „Amsel“
Erstdrucknachweise
Biographischer Hinweis
Vorwort
In der Auseinandersetzung mit ontologischen und hermeneutischen Fragen der Literaturtheorie, die zur Ausarbeitung der hier zusammengesammelten, zum Teil veröffentlichten, zum Teil unveröffentlichten Studien geführt hat, spiegelt sich ein Ringen mit literaturtheoretischen Grundsatzfragen wider, wie es die Gezeitenkräfte im Leben eines Philologen in Ungarn überhaupt zulassen.
Die Schriften des vorliegenden Bandes kreisen so oder anders um dieselben Kernfragen: Hat man die Grundlegung der Literaturtheorie qua Poetologie durch den Aristoteles auf ihre ontologischen Folgen hin durchdacht? Ist die poetologisch-metaphysische Grundorientierung der Literaturtheorie nach Positivismus, Strukturalismus und Poststrukturalismus überwunden? Ist die Literatur in der Tat das Resultat dichterischer Disponibilität über den gekonnt gestalteten Stoff? Hat man die Möglichkeit, ja vielleicht die Notwendigkeit, sich die ontologische Differenz auch auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft ins Bewußtsein zu heben, eingesehen? Haben literarische ›Werke‹ den ontologischen Status selbständiger Seiender oder sind sie die ›Partituren‹ zu einem spezifischen Seinsmodus des Menschen? Sind die Rezipienten der Literatur literarisch e Seiende oder literarisch Seiende? Worin besteht die eigentliche Charakteristik der Seinsweise Literatur? Hat die Philologie die hermeneutische Potenz der ontologischen Wende um die Mitte des 20. Jahrhunderts fürs Neuverstehen bereits kanonisierter Texte nutzbar gemacht? Diese Fragen, die selbst unausgesprochen stets wiederkehren und die Richtung der Explikation bestimmen, führen und begleiten Verfasser und Leser dieses Bandes durch die Interpretation von „Texten“ Celans, Trakls, Kafkas, Musils, Géza Ottliks und István Turczis.
Jede der Schriften versteht sich als ein Aufbrechen ins Ungewisse, ins Ungewohnte und Unbewohnte, denn für die Wissenschaft womöglich auch Unbewohnbare. Sie sind außer den (zeitlich) letzten drei Studien aus dem geistigen Umfeld eines regen Privatseminars in der Forschungsgruppe Allgemeine Literaturwissenschaft an der Eötvös-Universität (Budapest) hervorgegangen. Ihr Entstehungszeit fällt deshalb in die zweite Hälfte der 90er Jahre. Sie konnten aus Zeitmangel weder umgearbeitet, noch auch nur bibliographisch auf den neusten Stand gebracht werden, selbst wenn der Verfasser heute den Akzent hie und da gern verschieben, auf diesen oder jenen Aufsatz, der ihm mittlerweile in die Hände gefallen ist, reflektieren würde.
Zur Zeit des Entwurfs und der Niederschrift der meisten Beträge dieses Bandes war ich ein Geförderter entweder des Deutschen Akademischen Austauschdienstes oder der Ungarischen Akademie der Wissenschaften.
Zum Dank verpflichtet fühle ich mich außer den genannten Instituten Freunden und Weggefährten, die sich auf manchen Strecken als mehr denn nur Begleiter, denn als Fordernde und Fördernde erwiesen haben. Besonders dankbar bin ich Prof. Fritz Paepcke (†), der mir durch seine Einführung in die praktische Hermeneutik am Eötvös-Collegium (Budapest) und später an der Ruperto Carola neue Augen einsetzte und ein dem jungen Studenten noch schier unermeßliches geistiges Terrain erschloß. Dank und die Bezeugung der Freundschaft gilt auch den Herren Prof. Ernő Kulcsár-Szabó und Universitäts-Dozent Marcell Mártonffy. Ihnen verdanke ich wichtige thematische Impulse, Winke und Mahnungen.
Winkelau (Budapest-Zugló), im Dezember 2010
Karl Vajda
Mythoepisches Sprechen in Celans „Tenebrae“
In memoriam Peter Szondi et Péter Balassa
Das Interesse am Werkzeug und am Werkzeugsgebrauch der Wissenschaften rührt von der offensichtlichen Universalität des methodologischen Denkens her. Dieses ist ein Erbe der klassischen griechischen Philosophie, die bis in unsere Tage alle wissenschaftlichen Disziplinen in Denken, Ahnen und Tun bestimmt und ihnen in unterschiedlichem Ausmaß altehrwürdige Denkkategorien an die Hand gibt. Die von der philosophischen Tradition bedingte medial-instrumentale Durchdringung der Wissenschaften erfolgt indessen aus einer inneren metaphysischen Notwendigkeit. Metaphysisch ist jedes Seiende (nur) morphologisch faßbar, da das wandlungsreiche, denn wandelbare hylé sich in die vollendete, entwandelte morphé, in die Form wandelt.
Kunst, d. w. s. das handwerkliche Können (techné) heißt in diesem Zusammenhang eine folgenreiche Tätigkeit menschlicher, folglich natürlicher Wesen, die etwas Entstehendes, denn erst allmählich als es selbst Seiendes durch geschickte Bearbeitung in eine Form entlassen, die von der Natur nicht hätte bewirkt werden können und somit zu Recht als künstlich gilt.
Der qualitative Sprung ins Künstlerische nimmt dem Kunstding dieses Künstliche keineswegs. Die Kunst ist künstlich-künstlerisches Schöpfertum. Die auf der Poetik des Aristoteles beruhende Literaturwissenschaft hat daher – wie dies die russischen Formalisten so deutlich sahen – diese Entstehung zu ihrem Gegenstand. Sie hat historisch, morphologisch, ästhetisch, soziologisch und medialwissenschaftlich zu ergründen, wie das komplexe und dynamische Wechselverhältnis von schöpferischer Intention, wirkungspragmatischer Rezeption und individuellem Verständnis entsteht und im fiktiv-illusionär-ästhetischen Gebilde des Kunstwerks am Werk ist.
Diese Aufgabenstellung allein schon hat eine Instrumentalisierung des wissenschaftlichen Denkens zur Folge. Im Sinne und Interesse der jeweiligen literaturwissenschaftlichen Schule läßt sich diese Instrumentalisiertheit als Methodologie sogar lehren.
Wenn nun in der nachstehenden Abhandlung versucht wird, der Deutungstradition der gängigen Celan-Forschung entgegen eine hermeneutisch konsequente Interpretation von Celans Tenebrae vorzulegen, so könnte dieser Ansatz als eine Kritik der Instrumente der Celan-Philologie verstanden werden. Dies wäre jedoch ein Mißverständnis. Nicht den Instrumenten, sondern den poetologischen Postulaten der vermeintlichen Instrumentiertheit, Instrumentalisierbarkeit von Literatur und Literaturwissenschaft gilt unsere Kritik.
Der Bruch mit der Deutungstradition der Celan-Forschung und die Entfaltung einer Interpretationsalternative ist somit nicht schon auch das Anliegen unserer Abhandlung. Vielmehr soll in diesem Bruch zum einen das Gewicht, ja die folgenschwere Art einer theoretischen Fragestellung der Philosophie des klassischen Griechentums ins hermeneutische Bewußtsein gehoben werden. Zum anderen soll die zu erarbeitende Interpretationsalternative ein nicht poetologisches Literaturverständnis vage umreißen. Im ersteren tragen wir eine alte Schuld ab und versuchen dem Geist Celanscher Dichtung gerecht zu werden, im anderen werden wir gleichwohl versagen. Allein, im Sagen dieses Versagens wird eine Stimme vernehmbar, in der das Versagte leise schon anklingt. Die nachstehenden Erörterungen zu Celans Tenebrae sind somit, so deutlich sie auch immer eine Krisis der poetologischen Literaturtheorie machen mögen, nicht kritisch, vielmehr fundamental.
Das in Frage stehende Gedicht hat folgenden Wortlaut:
Tenebrae
Nahe sind wir, Herr,
Nahe und greifbar.
Gegriffen schon, Herr,
ineinander verkrallt, als wär
5 der Leib eines jeden von uns
dein Leib, Herr.
Bete, Herr,
bete zu uns,
wir sind nah.
10 Windschief gingen wir hin,
gingen wir hin, uns zu bücken
nach Mulde und Maar.
Zur Tränke gingen wir, Herr.
Es war Blut, es war,
15 was du vergossen, Herr.
Es glänzte.
Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr.
Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr.
Wir haben getrunken, Herr.
20 Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr.
Bete, Herr.
Wir sind nah.
Die Deutungstradition der Celan-Philologie folgt bei der Erschließung des im Gedicht literarisch Gesagten trotz der Vielfalt der in ihr konkurrierenden literaturtheoretischen Konzepte recht einheitlich derselben Richtschnur. Ausgegangen wird dabei von Otto Pöggelers einschlägigen Erinnerungen[1] an einen persönlichen Austausch mit dem Dichter, aus denen zu erfahren ist, daß Celan dank seiner katholischen Ehefrau am Vorabend eines Karfreitags das Officium tenebrarum, mithin jene Gleichnishandlung der römisch-katholischen Liturgie persönlich erlebt hatte, in der nach dem Vorsingen einzelner Psalmen eines nach dem anderen das Licht je einer Kerze erlischt, bis sich der Kirchenraum ganz in die Undurchdringlichkeit der hereingebrochenen Finsternis gehüllt hat, was die Gläubigen an jene Dunkelheit erinnert, die sich laut der Evangelien zur Stunde von Jesu Tod über die Welt ausgebreitet hat. Dies scheint das Blutmotiv in Zeile 14 und 20 zu bekräftigen. Es wird somit einerseits von der Autorität und Authentizität des Autors eine Interpretationsstrategie beglaubigt, die für natürlich, denn der Natur der Dichtung für gänzlich entsprechend hält, daß ein prägendes Erlebnis des Poeten bei den Schöpfungsakten dichterischer Kunst ins stoffliche Gewebe des Poems als textueller und intertextueller Gestalt unmittelbar ein- und in dem Entstandenen ganz aufgegangen sein muß, so daß es im nachhinein extrahiert und als materielle Komponente zur Deutung nutzbar gemacht werden kann.
Diese produktionsästhetisch durchaus sinnvolle Nutzung einer biographischen Sicht, die in manchem Bezug nicht ohne Grund an sonnigere Tage des literaturwissenschaftlichen Positivismus erinnert, konnte sich indessen in den letzten vier Jahrzehnten bei weitem nicht nur deshalb als produktiv erweisen, weil sie textuelle Übereinstimmungen zwischen dem Celanschen Gedicht und den herstellungsästhetischen Implikationen der selbstredend nur teilweise rekonstruierten, denn nur zum Teil rekonstruierbaren Entstehungsgeschichte zu erarbeiten wußte. Den Erfolg des biographisch-entstehungsgeschichtlichen Deutungsansatzes lediglich aus etwaigen textuellen Stimmigkeiten ableiten wollen, hieße die Kausalität mit der Finalität verwechseln. Die zentrale Rolle der biographischen Sicht, die wegen der Textimmanenz der strukturalen Literaturtheorien, die zur Entstehungszeit der Celan-Philologie den literaturwissenschaftlichen Diskurs schon durchaus beherrscht haben, recht anachronistisch anmutet, ist ein wissenschaftsgeschichtlich relevanter Beleg für die Kraft, mit der hier eine bestimmte Wissenschaftstradition zutage bricht. Die interpretatorische Potenz der Celan-Philologie erwächst aus dieser poetisch-philologischen Tradition mithin nicht in der Modalität einer Möglichkeit, als wäre die exegetische Heranziehung der dichterischen Lebensgeschichte die Folge einer bewußten Überlegung, wobei der Philologe seine Mittel kritisch eines gegen das andere abwägen würde, denn abwägen und das geeignetste auswählen könnte, so daß es in seiner Macht stünde, bei irgend einer ›theoretischen‹ Notwendigkeit auf die Hinweise von Pöggeler zu verzichten und sie aus seiner Interpretation gänzlich zu tilgen. Vielmehr erfolgt die biographische Durchdringung der Interpretation von Celans Tenebrae in der Modalität einer Notwendigkeit, ja eines Zwangs. Dieser Zwang ergibt sich indessen aus der Aristotelischen Grundlegung des heute herrschenden literaturwissenschaftlichen Denkens als solcher.
Aristoteles tut auf einem langen Entwicklungsweg des griechischen Denkens einen der letzten Schritte, wenn er die Phänomene der Literatur der poiésis, d. h. einer hervorbringenden (poiétiké), aber zugleich auch spielenden, oder vielmehr spielerischen (mimétiké) Kunst (techné) kategorisch zuordnet. Diesen Weg selbst nur Meilenstein für Meilenstein nachzuschreiten, ist uns an dieser Stelle verwehrt. Daher muß eine Zusammenfassung jener Zusammenhänge des Aristotelischen Dichtungskonzepts genügen, die in der Deutungstradition von Celans Tenebrae besonders ins Gewicht fallen.
Der seit Aristoteles vorherrschende Begriff der Dichtkunst (poiétiké) meint das gekonnte Handwerk, die techné der Dichter, die sich mit anderen Handwerken durchaus vergleichen läßt[2] und die sich bei entsprechender Veranlagung gleich anderen Handwerken erlernt werden kann. Ein Gedanke, der außer der Platonischen Provokation[3] der Dichter auch in manchen eher präskriptiven als deskriptiven Passagen der Aristotelischen Poetik offen zu Tage tritt und ihr nicht von ungefähr den Anschein eines Gradus ad Parnassum verliehen hat. (Präskriptive Teile scheinen die ursprünglich deskriptiven Grundton der Poetik vor allem in den letzten Kapiteln zu überwiegen: 1458b 6‑15; 1459a 4‑9; 16‑30; 1460a 5‑9; 1460b). Als viel wichtiger jedoch denn die stille, aber umso konsequentere Abstandnahme von der alten griechischen Dichtungslehre, die eine göttliche Gnadenlehre war, erweisen sich hier die metaphysischen Implikationen der Aristotelischen Handwerksanalogie.
Schon der erste Satz der Poetik, der Literatur als eine der techné bestimmt, steht in einem deutlichen metaphysischen Zusammenhang. Im Buch Z der Metaphysik handelt Aristoteles von dem Entstehen. Er expliziert dort[4] zwei Arten der Entstehung. Entweder entsteht das Entstehende von Natur aus (physei) oder durch Kunst (techné), d. w. s. durch das handwerkliche Können des Menschen. Denn techné meint nicht etwa je nach Kontext bald das Handwerk, bald die Kunst, techné bedeutet stets ein und dasselbe: kunstvolles (gekonntes, kenntnisreiches) Handwerk. Da Dichtungen von Natur aus nicht entstehen, bleibt Aristoteles – und in seinen Fußstapfen der Literaturwissenschaft – kein anderer Weg zu betreten, denn Dichtungen als künstlich-künstlerisch hervorgebrachte Dinge, als Kunstdinge zu denken. Aristoteles gelangt zu seiner Dichtungslehre somit weder über eine (im Sinne der Staatskunst) politischen oder epistemologischen Wertschätzung der techné, sondern kraft eines ontisch-ontologischen Syllogismus. Da das Werden im metaphysischen Denken als Bewegtheit, als Hervorgehen aus etwas bereits Hervorgegangenem vorgestellt wird, jenes jedoch, woraus das Hervorgehende hervorgeht, in Bezug auf diese Art von Entstehung nur insofern von Belang ist, als es die Grundlage des Hervorgehens abgibt und somit als Rohstoff des Entstandenen gilt, wird die Stofflichkeit der Dinge, d. w. s. das Spannungsverhältnis ihrer Beschaffenheit als in der Entstehung hinter sich zu lassender früherer Erschaffenheit und zugleich als zu erreichender neuer Erschaffenheit entsprechend aufgewertet. Deshalb kann Aristoteles der Stoff als allgemeiner Charakterzug von jedwedem Seienden erscheinen.[5] Wenn wiederum der Stoff der rote Faden ist, der den ganzen Bereich irgend nur seiender Dinge durchzieht, dann liegt auf der Hand, daß auch die Kunstdinge der Dichtkunst ihren Stoff (hylé) haben. Allein, dieses Haben ist kein unbegrenztes Verfügen über das Gehabte. Der Begriff der hylé erweist sich bei Aristoteles gerade deswegen als ein besonders glücklich gewählter Terminus, weil er schon etymologisch einen Grundzug des metaphysischen Materiebegriffs deutlich macht: Die jeweilige stoffliche Beschaffenheit eines Dinges kann erst an dessen fertigem oder eben unfertigem Zustand abgenommen werden. Das Entstehende ist nur ein solches, insofern es sich in einem Vorgang von Verwandlungen befindet, mithin in einem Vorgang begriffen ist und in keinem Zustand verharrt. Jedem Wandlungsmoment dieses Entstehungsprozesses eignet also eine gewissen Vorläufigkeit: Das gegenwärtig Entstehende ist mit dem künftig erst Entstandenen nicht identisch, es ist ja noch unvollendet, vorerst noch nicht ausgeprägt, nicht an seine Eigentlichkeit und Endgültigkeit freigegeben. Die Stofflichkeit soll somit metaphysisch von der vollendeten Gestalt unterschieden und abgehoben werden. Die Aufgabe dieser Distinktion fällt u. a. dem Begriff der hylé zu. Hylé bedeutet ursprünglich Holz im Sinne von Wald oder im Sinne von hölzernem (verwandlungsweichem), vor der Hand noch unbearbeitetem Arbeitsmaterial.[6] Der Aristotelische Schlüsselbegriff der hylé drückt also zugleich die vorläufige Unbestimmtheit und gleichzeitig die Verwirklichungsmöglichkeit des in der techné schlummernden Gestaltungspotentials aus. Mithin ist der Begriff der hylé jener Terminus technicus, mit dessen Hilfe einerseits die wandlungsreiche Identität des Entstehenden durch alle seinen Entstehungsphasen durchgehalten und andererseits die Analogie zwischen natürlicher und künstlicher Entstehung aufrechterhalten werden kann. Wegen der inneren Dynamik dieser doppelten Analogie (Handwerks- und Naturanalogie[7]) kann es für Aristoteles neben konkret faßbarem Stoff (hylé aisthété) auch einen ›immateriellen‹ Stoff (hylé noété) geben.[8] Die hylé ist, sosehr sie auch den Stoff des Entstehenden bezeichnen kann, nur der Möglichkeit nach (dynamei) auch der Stoff des Entstandenen. Auf die Dichtung bezogen: Die zu verwirklichende, als Ab-Sicht (eidos, idea) dem Künstler vorschwebende Form verwandelt sich erst nach der Überwindung jener zwingenden und irgend doch noch zu bezwingenden Widerstände, die der Stoff seiner Bearbeitung entgegenstellt, in die vollendete Form, in die morphé.
Das als finaler Entwurf gedachte künstlerische Schöpfungsvorhaben läßt sich im Sinne der Aristotelischen Entstehungs- und Wesenslehre gerade deshalb als Intention (im doppelten Sinne von Absicht und Anstrengung) fassen, weil sich dem obigen Schöpfungsschema nach in Kenntnis zweier Komponenten die dritte jederzeit errechnen läßt. Kennt man z. B. die Schöpfungsabsicht und den Stoff, so kann man sich daraus das Kunstding erdenken, wobei das Erstellte, das Hergestellte um so mehr der Schöpfungsabsicht entsprechen wird, je mehr sich der Herstellende mit dem ›Stoff‹ und dem diesen bearbeitenden Handwerk auskennt. (Die Stoffkenntnis ist ja mit der technischen Fertigkeit gerade proportional.) Sind hingegen der Stoff und die vollendete Form bekannt, dann kann daraus die schöpferische Idee abgeleitet werden. Kennt man wiederum den Stoff und die schöpferische Absicht, ist die Form in ihrer vollendeten Endgültigkeit gleichwohl nicht richtig zugänglich, so lassen sich diese Zugangsschwierigkeiten durch die Kenntnis des Stoffes und der schöpferischen Intention(en) teilweise oder gar gänzlich beseitigen, gesetzt, daß die Aristotelische Dichtungslehre ihre Gültigkeit hat. Auf Celans Tenebrae angewandt: Lassen Überschrift, Apostrophe und das Bild des vergossenen Blutes an Erschließbarkeit zu wünschen übrig, kennt man aber den Stoff im Sinne der griechischen hylé (gattungsspezifisch und thematisch) und findet sich ein Hinweis auf die Schöpfungsidee des Autors, auch nur mittelbar und formal, so läßt sich die vollendet-unvoll(ver)ständige Form durch die entsprechende Betonung gewisser Details feststellen: Eine poetologische Deutungstradition entsteht.
Die auf der biographischen Korrektion der endgültigen Form beruhende exegetische Konvention der Celan-Forschung läßt sich in drei Grundthesen zusammenfassen: 1) Die Überschrift von Celans Tenebrae beschwört (als intertextueller Paratext) die durch die Evangelien bezeugte Dunkelheit während des Opfertodes Christi in symbolischer Verkehrung als ein emblematisches Phänomen, das – im Gedicht entsprechend verwandelt – auf das Verhängnis des europäischen Judentums im 20. Jahrhundert bezogen gedeutet wird. 2.) Aus der biographisch belegten Schlüsselstellung der Rolle der römisch-katholischen Osterliturgie bei den ersten Entwürfen zu dem Gedicht folgt zwingend, daß die häufige Apostrophe Herr substitutiv für Christi Namen steht. 3.) Das Blut, von dem in den Zeilen 14, 15 und 20 die Rede ist, ist ein weiteres Indiz für die Parallele zwischen der christlichen Heilsgeschichte und dem historischen Leidensweg der von den Nazis verfolgten Juden,[9] die wiederum für die zweite Grundthese einen weiteren Beleg liefert. Exegetisches Einvernehmen herrscht auch noch darüber, daß die Aufforderung des ›Herrn‹, zu der ersten Person Plural des Gedichts zu beten, ein beispielloses Novum ist, das in der christlich-jüdischen Überlieferung keine Entsprechung hat.
Risse bekommt die Einheitlichkeit der Interpretationskonvention der Celan-Forschung erst bei Fragen, die sich aus dem biographisch abgeleiteten Konzept der mythopoetischen Umkehrung von Christi Opfertod nicht unmittelbar ergeben. So scheiden sich die Geister darüber, ob sich die wiederkehrende Aufforderung des Herrn, zu ›uns‹ zu beten, noch in jenem religiösen Einvernehmen mit Gott, als das der Glaube im dynamischen Spannungsfeld von Zusammengehörigkeit und Alterität erlebt wird, deuten läßt, oder aber schon ein Sakrileg ist, kurzum: inwiefern die ›mythopoetische Umkehrung‹ als inhaltliche Komponente aufzufassen und somit eine ursprünglich-referentielle Inversion ist, oder aber lediglich ein formales (im engsten Sinne mythopoetisches) Mittel, so daß sie sich in der Polarität von Sakrament und Sakrileg gar nicht mehr interpretieren läßt. Das Register der Töne dieser sekundären, d.h. nebensächlichen Divergenz reicht von einer biblisch geschulten Relativierung des Sakrilegs[10] über dessen Betonung[11] hin bis zur Annahme einer häretischen Anklage gegen Gott.[12]
Die Kraft der poetologischen Infiltrierung der bisherigen Tenebrae -Interpretationen wird an jenen Versuchen besonders deutlich, die sich – aus welchem konkreten philologischen Grund auch immer – von der oben umrissenen Deutungskonvention zu entfernen bemühen. Götz Wienold, der sich zuerst mit den Bezügen von Celans Tenebrae zu Hölderlins Patmos und den biblischen Psalmen befaßt hat, deckt zwar auf, daß das Blutmotiv nur durch eine hermeneutisch unangebrachte Assoziation mit der Eucharistie in Zusammenhang gebracht werden kann,[13] an einer späteren Stelle gibt er der Deutungskonvention dennoch nach, wenn er glaubt, daß das Auschwitz-Erlebnis des Gedichtes in eine Passionssymbolik verwoben sei.[14] Wie sehr er sich dabei von einer biographisch durchdrungenen produktionsästhetischen Sicht der Aristotelischen Poetik leiten läßt, zeigt sich daran, mit welcher unbeschwerten Selbstverständlichkeit er von der endgültigen ›Form‹ unter Kenntnis des Stoffes auf die Chronologie einzelner Schritte der poetischen Ideefassung folgert.[15] Ähnliches läßt sich im Fall von John Felstiner beobachten, der an Hand zahlreicher Stellen der Bibel die aus der Eventualität des Titels folgende Vieldeutigkeit des Dunkelheitsmotivs und somit die Entfernung zur katholischen Liturgie zwar aufdeckt,[16] sich später in unverständlicher Inkonsequenz dennoch des christologisierenden Interpretationsschemas bedient.[17]
Es war Jean Bollack, der jüngst die Problematik der drei obigen Grundthesen der Celan-Philologie ins öffentliche Bewußtsein zu heben versucht hat.[18] Er beanstandet vor allem aus ethischer Sicht, daß die nicht selten einer theologischen Allegorese gleichkommende exegetische Heranziehung, stellenweise sogar Ausplünderung christlicher Theologeme auf einen moralisch zweifelhaften Schritt zurückzuführen ist.
Die Gezwungenheit der von Bollack mit Recht scharf kritisierten Passionsanalogie springt vielleicht dann am deutlichsten in die Augen, wenn angesichts der Zeilen „Augen und Mund stehen so/offen und leer, Herr“ Gadamer annimmt, daß hier das Motiv der Pietà anklänge.[19] Er erkennt selbst im Anblick eines vor Entsetzen verstellten, im Rahmen einer sinnlosen Massenvernichtung halbtot geschundenen Menschengesichts nicht, wie weit er sich in seiner ganzen Interpretation irrt. Auch an der Abendmahlanalogie kann man angesichts der Tatsache, daß nicht symbolisch andächtig Wein aus einem Kelch getrunken, sondern wirkliches Blut aus einer Tränke geschlürft wird, nur mit im wörtlichen Sinne blinder Gewalt festhalten. In Celans Tenebrae fehlt ja das zur Eucharistieanalogie liturgisch unerlässliche Motiv des Essens gänzlich. Als besonders symptomatisch erweist sich in dieser Hinsicht der Interpretationsvorschlag von Magdolna Orosz. In ihr sträubt sich zwar etwas gegen die Unstimmigkeit der Abendmahlanalogie, sie bricht dennoch nicht mit der Deutungstradition, sondern versucht deren Ehre dadurch zu retten, daß sie die offensichtliche Unstimmigkeit zwischen dem schlürfenden Trinken des Blutes im Gedicht und dem andächtigen Trinken des Weins bei der Eucharistie durch den Priester in der Messe an Hand von 1. Kor. 11:25–27 mit der als Sakrileg verstandenen Aufforderung Gottes zum Gebet zu verbinden versucht und annimmt, es werde durch das Schlürfen des Blutes, das sie als vorschriftswidrige Einnahme des christlichen Sakraments verstanden haben will, die Unwürdigkeit der dargestellten Judenverfolgung betont.[20] Von besonderem Belang ist dieser Ansatz deshalb, weil er dadurch, daß er in einer betont textimmanent verfahrenden strukturalen Analyse begegnet, von der Stärke des metaphysischen Zwangs der Autorenbiographie zeugt. Orosz sieht sich gezwungen, exegetisch an etwas festzuhalten, wogegen sie theoretisch durchaus Bedenken hat. Dieser Versuch der Ehrenrettung der an den Haaren herbeigezerrten Eucharistieanalogie erfolgt um den Preis des Verlassens der inneren Dimensionen des Gedichts: Die Unwürdigkeit des dargestellten Gewaltmarsches als eines der konkreten Vorfälle der kontinentweiten Ausrottung von Millionen jüdischer Menschen vom Neugeborenen an über schwangere Mütter bis hin zu den gebrechlichsten Greisen ist gerade theologisch ein Skandal ohnegleichen: eine nie zu verwindende Einmaligkeit, die vor Analogien geradezu scheu machen sollte. Der Vergleich dieses beispiellosen Skandals mit dem ›intertextuell‹ forcierten und vor dem Hintergrund der Massenvernichtung der Juden völlig banalen Skandal der vorschriftswidrigen Einnahme eines Sakraments macht deutlich, wie weit die hylomorphologisch-biographische Betrachtungsweise das kritische Urteilsvermögen zu beeinträchtigen vermag.
Aber schon die Bollacksche Kritik macht die nirgends reflektierte Grundthese der landläufigen Celan-Philologie deutlich. Die Annahme, daß jüdische Opfer der europäischen Judenverfolgung über ihre eigene Vernichtung in der ihnen fremden Symbolik einer Religion denken, fühlen und sprechen würden, die mit ihrem theologischen Antijudaismus dem politischen Antisemitismus so manche Stereotypen an die Hand gegeben und sich zudem an der institutionell geförderten Gleichgültigkeit der christlichen Mehrheit schuldig gemacht hat, kann den Abgrund zwischen den Verfolgten bzw. Vernichteten und den Nachkommen der ihnen gegenüber ehedem Gleichgültigen und daher schuldig Gewordenen zwar aufheben, aber eben nur um einen sehr bedenklichen Preis: um die Aberkennung der Alterität des Anderen, mithin um seine erneute Verkennung, um nicht zu sagen, um seine Ver-Achtung. Der im Neuen Testament theologisch manifestierte Antijudaismus der Kirche (und das heißt notgedrungen: der abendländischen Kultur) wird durch die biographisch forcierte poetische Übernahme christlich-theologischer Emblematik auf der Ebene wissenschaftlicher Analyse sublimiert. Ein äußerst bedenklicher Schritt, ethisch nicht minder als wissenschaftlich.
So scharf und in seiner Schärfe treffsicher die ethisch motivierte Bollacksche Kritik auch immer ist, ihr bleiben die wissenschaftlichen Gründe der Gezwungenheit pseudochristlicher Analogien verborgen. Mehr noch: Indem er seine Kritik in vieler Hinsicht auf die Kenntnis der Lebenserfahrung und der Denkweise des Autors gründet, spricht er der landläufigen, poetologischen Hermeneutik das Wort. Er kann der Celan-Philologie nur deswegen eine Iniquitas interpretationis bescheinigen, weil es ihm vergönnt ist, die Schöpfungsabsichten des Dichters aus der vorliegenden vollendeten Form subtiler herauszulesen. Mithin weiß er die Unbilligkeit der exegetischen Folgen des biographischen Ansatzes nur deshalb festzustellen, weil er sich als ein konsequenterer Schüler des Aristoteles erweist als die von ihm kritisierten Philologen.
Soll der Bruch mit der Deutungstradition der Celan-Philologie nicht lediglich kritisch mit Berufung auf eine bessere Kenntnis entweder der auktorialen Intention, des Stoffes oder der vollendeten Form als textueller und/oder intertextueller Struktur vorgenommen werden, wollen wir uns also bei dem Bruch mit der Aristotelisch inspirierten Deutungstradition nicht gänzlich in die Aristotelische Dichtungslehre fügen, sondern in der Tat fundamental verfahren, dann muß ein bewußter Verzicht auf die hylomorphische Literaturwissenschaft gewagt werden. Ein Schritt, der nur zu deutliche Gefahren in sich birgt. Die landläufige Literaturwissenschaft beruht durch und durch auf der hylomorphologischen Deutung literarischer Phänomene. Ein Verzicht auf die Hylomorphologie geht deshalb notwendigerweise mit einer Aufkündigung von Grundsätzlichem, unter anderem mehr mit der Aufgabe der literaturwissenschaftlicher Terminologie einher. Begriffe wie Text, Werk, Teil, Struktur, Komposition, Analyse etc. sind ja allesamt mit hylomorphologischen Konnotationen behaftet, mehr noch, sie haben überhaupt nur in einem hylomorhologischen Verständnishorizont Sinn. In der nachstehenden Auseinandersetzung mit Celans Tenebrae muß daher von diesen Begriffen und den ihnen innewohnenden hylomorphologischen Zwängen Abstand genommen werden.
Die abkünftige Literaturwissenschaft versteht die Literatur als Poesie, auf Griechisch als poiésis, auf gut Deutsch als menschliche Herstellung, als die bewerkstelligende Betätigung schöpferischer Vorstellungen, mithin als Willen zur Erzeugung. Die Literatur im einzelnen ist ein textuelles Gewirk einander mit der Absicht literarischer Wirkung in bewußter Komposition zugeordneter Komponenten. Die Literatur im ganzen ist die virtuelle Ganzheit aller nach diesem Schema wirklich entstandenen oder potentiell noch entstehenden Erzeugnisse (poiémata).
Eine ontologische Literaturtheorie muß mit diesen Grundansichten brechen. Für sie ist die Literatur einer der Seinsmodi des Menschen. Sie befaßt sich nicht mehr damit, was und weshalb literarisch ist: Sie setzt sich nicht mit dem literarischen Sein literarischer Seiender (Texte und Werke) als feststellbarer Literarizität auseinander, sondern hat mit dem literarisch[21] Sein literarisch Seiender zu tun. Sie beschäftigt sich also mit einer menschlichen Seinsweise, in der der Mensch nicht der Herstellende, nicht der über das eigene Sein oder über das Sein Fremder Verfügende ist, sondern ein sich auf das literarische Spiel Entwerfender. Kein Verfügender, sondern ein sich im doppelten Sinne von Akkusativ und Dativ Fügender. Ein Geworfener, der erst in seiner Geworfenheit selbst entwirft, sich also dem anfänglichen Wurf in der Art eines Wurfes stellt und ihm erst so begegnet. Kurzum: Spielt. D. h. mit sich spielen läßt.
In Celans Tenebrae ist diese Geworfenheit deswegen eine besonders offensichtliche, weil hier der Beginn unseres literarisch Seins mit einer Verwandlung einhergeht. Wir finden uns im Auftakt der Celanschen Tenebrae in einer Gemeinschaft wieder. Das Gedicht ertönt ja nicht in der Stimme eines im Namen eines Kollektivs sprechenden lyrischen Ichs, über das der Lesende oder Hörende zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden könnte, wie weit er sich mit ihm oder seiner Hörerschaft als angesprochener Gemeinschaft identifiziert oder sich womöglich aus einer solchen Identifikation heraushält. In der ersten Zeile schon ist über unseren Status eine endgültige Entscheidung getroffen, ich und du, wir sind alle schon in das Wir eines Kollektivs einbezogen, über dessen Integrationsmerkmale wir nicht nur nicht entschieden haben, sondern vorerst noch nicht das Geringste wissen. Folglich ist eine Abstandnahme von der Aussage der Gemeinschaft des lyrischen Wir ebenso unmöglich, wie eine Identifikation damit. Zur ersteren fehlt uns in unserer Geworfenheit jenes Vorwissen eines Vorverständnisses der eigenen Daseinslage, zur zweiten fehlt uns die notwendige Bewußtheit: Unsere Zugehörigkeit zum Kollektiv des Gedichtes ist eine Gegebenheit, die nicht hinterfragt werden kann: Der Sprecher des Gedichts redet den ›Herrn‹ im Namen unser aller an, was nur bei entsprechender Authentizität und Akzeptanz unserer Gemeinschaft möglich ist. Unsere Angehörigkeit zu dieser Gemeinschaft ist somit eine fraglose Gegebenheit und als solche eine der Grundbestimmungen des Spielraums des Gedichtes. Unbedingte Vorbedingung.
Das kollektive Sein, in das wir nun geworfen sind, ist durch die im Titel genannte Dunkelheit gekennzeichnet. Durch eine Dunkelheit, der in der Latinisierung des Begriffs, dieser Entrückung aus den Alltagszusammenhängen eine existentielle Singularität zugesprochen wird. Und noch etwas steigt uns gleich am Anfang ins Bewußtsein unseres literarischen Selbstverständnisses: die Gewissheit einer durch die umgekehrte Gliedfolge betonten Nähe und eine Zuwendung. Wir sprechen den Herrn unmittelbar an und betonen seine Nähe zu uns. Die Anrede Herr ohne den bestimmten Artikel ist uns aus der Sprache der großen monotheistischen Religionen geläufig. Das lyrische Wir, das wir im einzelnen alle sind, spricht somit ein Gebet. Gleichsam keines, das in liturgischer Konventionalität der christlichen Kirche oder der jüdischen Synagoge verharren würde. Dieses Gebet ist nicht vorverfaßt. Es wird nicht re ‑zitiert. Vielmehr wird es als selbstauslegende Äußerung von uns allen das erste Mal über die Lippen gebracht. Die Anrede des ›Herrn‹ beschwört dennoch eine sprachliche und mythische Überlieferung herauf, in deren sprachlichen Dimensionen das im Gedicht Geschehende nun mehr geschehen wird. Mit dieser sprachlichen Tradition lassen sich die zweite Person Singular und die Anredeform Herr erklären. Das Hebräische (und in treuer Gefolgschaft auch das Kirchendeutsch) kennt weder Siez- noch Ihrzformen. Auf Hebräisch muß sich jeder mit jedem duzen, die Ehrfurcht bleibt im Medium der Nähe und läßt keine Flucht ins Mittelbare zu. Die Bezeichnung Herr (Adonaj) dient der Substitution des mittlerweile unausgesprochen gewordenen Tetragramms (haSchem) und meint für den betenden Juden – und nur für den betenden – Gott, bei den Christen wahlweise Gott oder den Mensch gewordenen Gottessohn Jesus Christus. Die Apostrophe Herr läßt fürs erste mithin noch zwei Deutungen zu. Man muß sich zwar entscheiden, denn beide Möglichkeiten sind einander gegenseitig ausschließende Alternativen. Feststeht vor der Hand nur, daß „wir“ eine Gemeinschaft bilden, wir sind nah und wir sprechen im Imperativ zu dem Herrn, der entweder Gott ist oder Jesus.
Die zweite Zeile macht unsere Nähe in ihrer Art deutlicher. Sie ist nicht etwa abstrakt im Sinne religiöser Andacht verstanden, sondern in der absoluten Konkretheit des menschlichen Körpers. Wir sind nahe und greifbar. Der zweite Vers expliziert dann diese Greifbarkeit. Sie ist keine potentielle Wirklichkeit, die eintreten könnte, sie ist bereits geschehen: Wir sind gegriffen. In diesem Gegriffensein klingt einerseits das Aufgegriffensein, die Gefangenschaft an, andererseits verbindet sich die Gegriffenheit mit der Verkralltheit. Es ist eine Steigerung, wie die potentielle Greifbarkeit der zweiten Zeile über das von außen erfolgende, erzwungene Gegriffensein zum Ineinander-Verkrallt-sein des lyrischen Kollektivs wird. Die Not der Greifbarkeit intensiviert sich über das Leid und das Leiden des Gegriffenseins zum körperlichen Schmerz einer krampfhaften Zuckung blanken Entsetzens. Diese Verkralltheit bringt Felstiner mit einer Formulierung in der deutschen Übersetzung von Gerard Reitlingers The Final Solution in Verbindung und nimmt an, sie sei eine Anspielung auf die Agonie der Vergasten.[22] Ob wir nun die Verkralltheit als Allusion auf den Todeskampf in den Gaskammern verstehen oder sie als eine Weiterführung und Verinnerlichung der Gefangenschaft auslegen und mit der subtilen Schilderung eines Gewaltmarsches der fünften Strophe verknüpfen, ist uns überlassen, auf jeden Fall eröffnet sich hier eine neue Dimension der Gemeinschaft unserer Geworfenheit. Wir sind als Kollektiv eine Schicksalsgemeinschaft. Aus demselben Grund um Freiheit und Würde gebracht.
Diese Entwürdigung ist indessen bei weitem keine Fiktion moralisch notwendiger, ästhetisch möglicher Einfühlung in eine historische Vergangenheit, die nun literarisch aufgearbeitet werden soll, als befänden wir uns in der Sitzung einer psychologischen Gruppentherapie. Es ist auch keine Schöngeisterei nach konkret historischem Spuk. In unserer Geworfenheit spüren wir die Krallen unserer Nächsten. Solange wir literarisch „im Gedicht“ sind, gibt es keine Wirklichkeit jenseits des Gedichts, jenseits des jähen Schmerzes, der von unseren Armmuskeln ausgeht und uns allen ins Mark fährt. Entweder sind wir literarisch und dann geschieht uns Literatur, so daß wir die Krallen unserer Nächsten spüren, oder wir verweigern soeben, literarisch zu sein.
Die fünfte und die sechste Zeile entfalten das schmerzliche Erlebnis der Schicksalsgemeinschaft in der Relation zum angesprochenen Herrn. Wir sind gegriffen und ineinander verkrallt, als wäre der Leib eines jeden von uns sein Leib. Diesen Zeilen, die sich auch als eine stille Abwandlung der Paulusstelle „Ihr aber seid der Leib Christi und jeder von euch ein Glied“[23] lesen lassen, scheint Gewichtiges aufgebürdet. Zum einen haben sie mit allem Nachdruck zu verdeutlichen, daß unsere Schicksalsgemeinschaft keine organisch gewachsene Einheit der stimmigen Mehrstimmigkeit einer Vielfalt ist, wie dem Apostel zufolge die christliche Kirche als die Braut des Erlösers eine sein sollte,[24] keine Lebensgemeinschaft also, sondern eine zufallsbedingte Schicksalsgemeinschaft von Menschen, die in dem lyrischen Kollektiv ihre äußerste, bestialische Vereinzelung erleben müssen. Doch ist dies nur die eine Seite. Diese Zeilen haben auch ein wichtiges Moment der Beziehung zum Herrn zu beleuchten und in der häufigen Wiederholung der Apostrophe verschiebt sich der Akzent ohnehin immer mehr auf die Beziehung zwischen dem Angesprochenen und den sich ansprechend Aussprechenden. Vernehmlich wird dieses Moment einerseits in der Identifikationsbereitschaft mit den schmerzvoll Leidenden, die dem angesprochenen Herrn zugemutet wird. Die Authentizität dieser Bereitschaft des Herrn zur Identifikation, zum Mitleiden mit unserer Schicksalsgemeinschaft rührt daher, daß sie von uns behauptet wird: In dem Zutrauen klingt bestätigtes Vertrauen an. Andererseits ist auch wichtig, daß diese Identifikation mit dem körperlichen Leiden im schimmernden Möglichkeitsbereich des Konjunktivs einbehalten bleibt. Diese Zeilen bezeugen somit teils die Furcht davor, den Herrn trotz der Anteilnahme an unseren Schmerzen als leibhaftiges, menschenähnliches Wesen darzustellen, andererseits drücken sie dennoch einen engen Bezug zwischen unserem körperlichen Leiden, unserer körperlichen Gegenwart inmitten der angedeuteten Heimsuchungen und dem Herrn als von unserer äußersten Not aus Ansprechbarem. Dies erweitert den bisherigen Verständnishorizont unserer Situiertheit und bezieht biblische Vorstellungen in den Spielraum des Gedichts ein. Laut der biblischen Schöpfungsgeschichte wird der Mensch von Gott nach seinem Ebenbild erschaffen, so sagt es allerdings die deutsche Übersetzung des hebräischen Satzes Wájiwrá Elokim et haAdam bezalmo, bezelem Elokim bara oto.[25] Der hebräische Terminus Zelem, der hier sogar zweimal vorkommt, meint zwar Bild, Bildwerk (sogar Götzenbild) aber weniger im Sinne einer Abbildung, als vielmehr in der Bedeutung der greifbaren Gegenwärtigkeit von etwas Plastischem.[26] Der Konjunktiv der vierten Zeile in Celans Tenebrae erhält den angesprochenen Herrn in diesem schimmernden Spielraum von körperlich wirksamer Gegenwart und unvergleichbarer extramaterialer Singularität einbezogen. Es ist eine stille, behutsame Partizipation an unseren Leiden und körperlichen Schmerzen, die den Angesprochenen auszeichnet. In den derart eröffneten Spielraum von kollektivem Wir und singulärem Du hinein werden nun die schweren Worte der dritten Strophe gesprochen: Der Herr solle zu uns beten, wir seien nah.
Die dritte Strophe hat in der Celan-Philologie schon früh eine Diskussion darüber entfacht, ob diese Aufforderung etwas Sakrales ist oder im Gegenteil ein Sakrileg darstellt. Pöggeler, der auch späterhin die Möglichkeit des Sakrilegs aus den Deutungsmöglichkeiten ausgeschlossen haben wollte, wußte sogar seine freundschaftliche Verbindung mit dem Autor zu nutzen und erreichte – vorläufig –, daß das Präpositionalgefüge „zu uns“ gestrichen wurde. Die besagte Diskussion ist indessen gänzlich transliterarisch. Die im Namen des lyrischen Kollektivs den Herrn ansprechende Stimme klingt in der wiederholten Ansprache und der Aufforderung zum Gebet weder ironisch noch verlogen. Sie spricht vielmehr aus einem engen Verhältnis heraus, das von einer nahezu leiblichen, also das ganze Wesen durchwirkenden Anteilnahme an unserem Schmerz, unserer Verachtung und Versklavung gekennzeichnet ist. Um in der Sakrileg-Debatte die Abweichung von der Konventionalität einer das Gott-Mensch-Verhältnis als festes Hierarchie-Gefüge verstehenden Religiosität, die nur in den Kategorien einer Huldbezeugung denken mag, überhaupt feststellen zu können, muß man die soeben entfaltete Nähe ignorieren. Die Nähe, von der hier die Rede ist, und die so intensiv ist, daß sie dem körperlosen Herrn ermöglicht, an den körperlichen Leiden teilzuhaben, die Schmerzen mitzuempfinden, ist eine Relation, in der eine Hierarchie und die Einseitigkeit des Gebets einer Gott lobenden und sich vor ihm huldigend niederwerfenden, also ihn ehrfürchtig scheuenden, von ihm Abstand nehmenden, d. h. die Nähe aufhebenden Kreatur schier undenkbar sind. Nah sind wir, nicht unter-, über- oder auch nur nebengeordnet. Wir sind die Nächsten Gottes. Und Gott ist unser Nächster. Inwiefern die Erwartung eines hierarchisch teils gedachten, teils denkenden religiösen Konventionalismus an der Überlieferung von Judentum und Christentum bestätigt werden kann oder aufgegeben werden muß, ist indessen eine Frage, die sich erst nach einem entsprechenden Studium der Heiligen Schriften beantworten läßt.
Daß die Nähe der Grund, ja der Beweggrund des Gebets sei, ist ein wiederkehrender Grundgedanke der Psalmendichtung. „Warum stehst du weit entfernt (berachok) […]?“ fängt mit einem sinngemäßer Antonym der Psalmist, der auf sein Gebet eine Entgegnung erwartet, mit seinem Gesang an.[27] Desgleichen im Aschre-Gebet, das im jüdischen Gottesdienst dreimal am Tag ertönt. Es ist eine Psalmenkompilation, bestehend aus dem 5. Vers von Psalm 84 und dem 16. Vers des Psalms 144 bzw. aus dem gesamten Psalm 145. Im 18. Vers heißt es, daß der Herr allen nahe sei, die ihn wahrlich (beemet) anrufen. Der 5. Vers von Psalm 65 wiederum spricht davon, daß derjenige selig sei, den Gott in seine Nähe lasse. Wir haben indessen nicht von ungefähr erwähnt, daß das Aschre-Gebet in der jüdischen Liturgie dreimal am Tag erklingt, zweimal im Morgengebet und einmal im Nachmittagsgebet, letzteres wird sogar mit ihm begonnen, während es im Abendgebet kein einziges Mal gesprochen wird. Das Morgengebet und das Nachmittagsgebet sind Gottesdienste, die mit dem einstigen Tempeldienst in religionsgeschichtlichem Zusammenhang stehen. Sie werden seit der Zerstörung des Heiligtums an Stelle der Opferdarbringungen gebetet, während das Abendgebet mit dem Opferdienst in keinerlei Beziehung steht. Opfer heißt auf Hebräisch Korban, opfern lehakriw. Nahsein bedeutet in der Sprache der Psalmen karow: Kuf-Resch-Wet, dieselben drei Stammvokale, was im Hebräischen ein eindeutiger Beweis semantischer, etymologischer und sprachgeschichtlicher Verwandtschaft ist. Korban kann das Opfer im Hebräischen also nur deshalb heißen, weil man sich Gott im Heiligtum mit dem Opfer nähert. Das Verbum lehakriw kommt daher nicht nur in der Bedeutung der Opferdarbringung vor, sondern auch in der des schlichten Näherbringens (vgl. Num 5:16: Wehikriw otah haKohen wehemidah lifne haSchem). Siehe hierzu auch Num 16:5 und 16:20). Die Nähe bleibt dabei allerdings stets auf Gott bezogen. Der alte Opferdienst und der ›moderne‹ betende Gottesdienst stehen indessen nicht nur wegen der historischen Katastrophe der Tempelzerstörung und der anschließenden Vertreibung Israels aus dem Gelobten Land in genealogischer Beziehung. Der verbale Gottesdienst geht schon sehr früh aus dem nonverbalen Opferdienst hervor, schließt sich an ihn an, führt ihn fort, vollendet ihn. Die Darbringung des täglichen Opfers und die diese abschließende mystische Gleichnishandlung des Hohenpriesters, wie er mit dem Opferblut den Altar besprengte[28] und der Mischna zu Folge das übrig gebliebene Opferblut an der Westseite des äußeren Altars verschüttete, leitete erst den verbalen Teil des Gottesdienstes ein, wo die Lewiten den Tagespsalm vorgetragen und die Opfernden ihre persönlichen Gelegenheitsgebete gesprochen hatten. Das Opferritual erschuf also jene Nähe, die zum Gebet als notwendig empfunden wurde. Es war eine Reihe nonverbaler und rational nicht erfaßbarer Gleichnishandlungen, die die Sprachlichkeit des Gebets ermöglicht, eingeleitet, denn angebahnt hatten.
Das lyrische Wir des Gedichts betont und bekräftigt nun, daß diese Nähe, die zum verbalen Teil des Gebets notwendig ist, gegeben ist. Es sei an der Zeit, daß Gott sein Gebet spricht, sich mit einem Gebet an uns wendet. Der Sprecher des Gedichts greift damit einen biblischen Gedanken auf und drückt sich – vielleicht überraschenderweise – ganz in der Tradition der Psalmen aus. „Du hast es gesehen, Herr, schweig nicht! Herr, sei mir nicht fern!“ (Raitah haSchem, al-techerasch, adonschem, al-tirchak mimeni: Ps. 35:22) Mehr noch: Es gibt Dutzende von Psalmen, die Gott regelrecht bedrängen (Ad-mataj), er möge endlich einmal etwas unternehmen, ja überhaupt aufstehen (Hairah wehakizah lemischpati Elokaj: Ps. 35:23, Kumma haSchem: Ps. 3:8;), als wäre er ein betagter Löwe, der im Schatten faulenzt oder gar vor sich hindöst (Kumma [...] weurah élaj mischpat ziwita: Ps 7:7; Urah, lámmá tischan?: Ps. 44:24). Das Verzagen, der Groll, die Verzweiflung, die Ungeduld sind somit in Wahrheit genauso angebrachte Situiertheiten des Glaubens wie die Freude oder die Danksagung: Sie sind biblisch durchaus belegt und anerkannt. Die Aufforderung Gottes, zu uns zu beten, ist somit – biblisch verstanden – kein Verstoß gegen die Sprechweise des Gebets, sondern selber eine der möglichen Tonlagen des Gebets.
Auf die Aufforderung zum Gebet folgt eine Begründung des soeben Gesagten, die als eine nahezu narrative Argumentation anmutet. Die Gegenwart der bisherigen Aussagen und der Aufforderung weicht nun einem Präteritum, das einen Gewaltmarsch schildert. Wir sind laut dieser Zeilen gehetzte Juden und Zigeuner, die wir im zerbombten Hitlerreich zu Fuß dem Ende des Kriegs und vielfach dem Ende unseres Lebens entgegengetrieben werden, und die schon so ausgehungert sind, daß sie gegen den Wind mit dem ganzen Körper ankämpfen müssen, um auf den Beinen zu bleiben („Windschief gingen wir hin“) und die in ihrem endlosen Marsch („[…] gingen wir hin,/gingen wir hin“) auch noch von der brennendsten aller Entbehrungen, nämlich vom Durst geplagt werden. Der ganze Lebensinstinkt, der noch in uns glimmt, bricht im Verlangen nach Wasser zu Tage. Wir sind gefangen, um jede menschliche Würde gebracht, wie das Vieh zur Tränke getrieben und in den bloßen Überlebensinstinkt eingesperrt. Bezeichnend für die Sprechweise des lyrischen Wir ist, daß sie sich über die Wache, die Gewalttäter, die Pogromschergen ausschweigt. Sie gehören nicht in die Zwiesprache mit Gott. In dieser Zwiesprache gibt es nur uns und ihn, Dritte gibt es nicht, die Täter bleiben unwesentlich. Zum Unwesen ihrer Mittäterschaft scheint es notwendig zu gehören, daß sie wesenlos bleiben und daher sprachlich nur mittelbar besprechbar sind.
In dieser Zwiesprache mit Gott fallen in den Zeilen 14 und 15 die Worte: „Es war Blut, es war,/was du vergossen, Herr.“ Die Celan-Philologie interpretiert diese Zeilen als offene Bezugnahme auf den Erlösungstod Christi am Kreuz und legt die Ansprache Herr rückwirkend als die Anrede Jesu aus, was die Pöggelersche Annahme bestätigt, das Gedicht sei eine lyrische Aufarbeitung von Celans Officium-tenebrarum-Erlebnis. Wegen der Kraft dieser Deutungstradition gilt es hier nun mit besonderem Nachdruck zu betonen: Hier werden zwar tatsächlich zwei der Stiftungsworte des christlichen Abendmahls wiederholt, nämlich das Blut und dessen Vergießen. Allein, das Verb steht nicht in Präteritum Passiv der Passionsgeschichte, sondern in Aktiv Perfektum: Nicht das Blut des Herrn wurde – etwa für uns als Erlös unserer Sünden – vergossen, sondern Gott war es, der Blut vergossen hat. Der Unterschied ist gewaltig. Die Zeile 15 widerlegt rückwirkend jedwede christliche Deutung der Apostrophe. Der Herr ist definitiv nicht Jesus der Christus, sondern Gott, der mit dem Volk Israel einen Bund geschlossen hat. Denn das kultische Blutvergießen, von dem das lyrische Wir spricht, ist eine Handlung dieses Bundes. Eine Handlung, die zur Zeit unserer Gottesanrede schon geschehen ist, die also zu unserer unmittelbaren Vergangenheit gehört, wie der Durst und der Gewaltmarsch. Gott hat Blut vergossen, d. h. er hat im Sinne des alten jüdischen Opferrituals ein Opfer dargebracht, er hat den nonverbalen Teil des Tempeldienstes vollendet, so daß es an der Zeit ist, den verbalen Teil zu verrichten, zu beten, mit uns im Medium des Gebets zu sprechen, in die sprachliche Verfassung unseres Seins als eine Stimme einzutreten.
Die nächsten fünf Zeilen handeln von dem Blutvergießen und dessen Folgen. Das vergossene Blut glänzte (Z. 16). Die Reflexion auf die physikalische Eigenschaft des Bluts verbindet die historische Ebene der geschichtlichen Ereignisse und die Ebene der literarisch geschehenden Zwiesprache mit Gott. Das Glänzen des frischen, aber schnell gerinnenden Bluts ermöglichte für wenige Augenblicke, daß uns das Blut an der Tränke, zu der wir wie Schlachttiere getrieben wurden, das Bild des Herrn in die Augen warf. Die Gottesebenbildlichkeit, von deren biblischen Zusammenhängen oben schon die Rede war,[29] mithin unsere Menschlichkeit wurde uns angesichts des vergossenen Blutes bewußt. Das Blut ist im Gesichtskreis der Zwiesprache des Gedichts indessen das rituelle Opferblut, im Horizont des historischen Hintergrundes hingegen das Blut unserer verwundeten oder erschossenen Mitgefangenen, deren Blut sich nun mit dem fließenden Wasser einer Trinkstelle für das Vieh mischt. Das sich im Blut widerspiegelnde Gesicht trägt unsere Physiognomie, es ist das geschundene Gesicht eines Gehetzten, der, um jede menschliche Würde gebracht, nun ums bloße Überleben kämpft, der einem Tier gleich nur mehr in seinen gröbsten Instinkten wie Durst und Müdigkeit sein Dasein fristet. Im Anblick dieses Gesichts erwacht in uns die Erinnerung an unsere Gottesebenbildlichkeit, d. h. an unsere Menschlichkeit. Das von Gott dargebrachte Opfer, das nonverbale Ritual einer archaischen, für immer hinter uns gelassenen Zeit versetzt uns nun aus dem tierischen Gehetzt-Sein in jene sprechende, betende Gegenwart zurück, der der Gewaltmarsch schon Vergangenheit ist. Das Blutvergießen des nonverbalen Opferrituals macht aus uns wieder Menschen.
Es wäre gleichwohl ein Mißverständnis sondergleichen, würden wir den historischen Hintergrund und den literarischen Vordergrund in eine exegetische Harmonie zu bringen versuchen: Das lyrische Wir redet nicht dem amerikanischen Jedermannsbegriff Holocaust das Wort. Es geht nicht darum, daß die Vernichtung von Millionen auf einer spirituellen Ebene doch vielleicht Sinn hatte und ein Brandopfer, ein H olocaustum war. Diesem exegetischen Kurzschluss widerspricht, daß der Opferdienst als göttliche Antwort erst auf die Entwürdigung der gehetzten Menschen einsetzt, hinter der ›Greifbarkeit‹ und der ›Gegriffenheit‹ von uns steht also nicht Gott. Er ist nicht der erste Beweger historischer Ereignisse, er ist kein aktiver, sondern ein passiver, mit uns leidender Teilnehmer der Geschehnisse (vgl. Z. 3–6), der sich der Nazischergen genauso wenig bedient, wie wenig ihrer das lyrische Wir erwähnt.
Die physikalische Eigenschaft des frischen Bluts, bei gewissen Lichtverhältnissen spiegeln zu können, ist ebenfalls aus der historischen Kausalität herausgelöst. Auch die Opferhandlung ist in dieser Hinsicht eine paradoxe. Sie reißt uns, die zu Tieren verkommenen Lebewesen, wieder in unser menschliches Sein zurück, macht, daß wir keine zur Schlachtbank geführten Tiere mehr sind, sondern wieder gehetzte, entwürdigte Menschen, die sich nun ihrer Ebenbildlichkeit, ihrer Menschlichkeit von neuem bewußt sind.
Diese Bewußtwerdung ist indessen ein durchaus schmerzhaftes Ereignis. Nicht nur, weil sie mit der Einsicht dessen anfängt, daß wir einem tierischen Sein verfallen waren, sondern auch deshalb, weil sie mit der Bewusstwerdung unserer Verluste einhergeht. Mit der Erkenntnis des Skandals, daß wir vom Blut in unserem tierischen Durst getrunken haben. Getrunken, wohlgemerkt, nachdem das Blut geglänzt, nachdem es uns das Bild des Herrn in die Augen geworfen hatte. Und dieses Trinken ist auch nicht etwa bloß die ›symbolische‹ Verinnerlichung des Bildes. Es ist mehr und etwas Schmerzlicheres. Das Blut ist laut der biblischen Vorstellung vom Lebendigsein der Träger der Seele und darf, worauf Jerry Glenn die Celan-Philologen aufmerksam gemacht hat,[30] nicht gegessen oder getrunken werden.[31] Bezeichnenderweise schreit zu Gott nicht etwa die Seele des getöteten Abels empor, sondern sein Blut.[32] Blut (Dam) und Seele (Nefesch) sind im Bibelhebräisch Synonyme: Wir sehen nicht nur das Bild, das sich in dem Blut spiegelt, sondern wir trinken mit dem Blut auch jenes Bild, jenes Ebenbild Gottes, das in dem Blut war, nicht mehr jenes, das das Blut widerspiegelte, sondern schon jenes, das drin war: Die Seele, die unserem getöteten Leidensgenossen gehörte, die Seele, die er war, denn geworden ist, und auch die Seele, die er in seinem frühen Tod nicht mehr hat werden können. (Nefesch ist ein juristisch vieldeutiger Termin der Mosaischen Gesetzgebung. Er meint jemanden in seiner persönlichen, schicksalhafter Jeweiligkeit. In ihm klingt also ein konkret gelebter menschlicher Lebensweg an.) Das ist der Höhepunkt des Skandals. Wir gewinnen nicht nur unsere Menschlichkeit zurück, wir müssen aus Überlebensnot gegen sie alsbald verstoßen. Eine Situation, die in der Sprache der Psalmen tiefste Not heißt und aus der der Psalmist zu Gott schreit, er möge nicht schweigen. Eine Lage, von der aus das lyrische Wir, das wir nun sind, Gott ein zweites Mal auffordert, zu beten.
Dem Beten haften indessen Bedeutungen an, die in den Übersetzungen, insbesondere in den deutschen, vielleicht weniger bewußt werden können, solange man die biblischen Gebetssituationen nicht einzeln nach ihren Umständen untersucht hat. Beten (hitpalel) ist das Reflexivum von palal, das richten und urteilen bedeutet. Beten ist somit eine Art Sprachlichkeit, der eine Selbstbesinnung vorausgeht, die vermittelt,[33] besänftigt, schlichtet und so gebeugtes Recht wieder errichtet.[34] Gott bleibt dabei nicht wortlos, er geht auf das Gebet ein, geht in ihm selber als Angesprochener und Sprechender auf.[35] Die Vorstellung, daß Gott betet, ›zurückbetet‹, ist also auch dem biblischen Denken nicht unbekannt. Der Talmudtraktat über die Gebete greift diese biblischen Vorbilder auf und lehrt an einer Stelle,[36] daß Gott betet, wie wir es tun. Der Talmud beruft sich dabei auf Jes 56:7: „Ich will sie an meinen heiligen Berg bringen und will sie erfreuen im Haus meines Gebets (Bewet tfilati) […]“. Gott betet also. Dem Talmud zufolge, damit sein Sinn für Gerechtigkeit die Billigkeit seiner Urteile erwägt. Das Gebet ist demnach eine universale Art von Sprachlichkeit, an der sich auch Gott beteiligt. Er gedenkt des Menschen nicht ohne sich zu besinnen, nicht ohne sich in seine Lage zu begeben, ohne Anteilnahme. Das göttliche Gebet vermittelt sonach gerade in schier unentwirrbaren Lagen menschlicher Existenz, wo die Anwendung von Recht der behutsamen Erwägung der Billigkeit bedarf.
Die zweite Aufforderung des Herrn zum Gebet, die auch die erste deutet, wenn nicht gar umpolarisiert, reißt somit jenen Spielraum unermesslicher Dimensionen auf, der von der Bewußtwerdung unserer Menschlichkeit, von der Besinnung auf unsere Zusammengehörigkeit, was die gemeinsame Anrede des Herrn überhaupt erst ermöglicht, und von dem darauffolgenden Skandal anberaumt wird, mit dem Wasser doch auch noch menschliches Blut trinken, mithin eine menschliche Seele, ein menschliches Leben, einen fremden Lebensweg aufschlürfen, also vorläufig selbst noch in unserer soeben zurückgewonnenen Menschlichkeit Tier sein zu müssen. Das Gebet des Herrn soll in diesen unermesslichen Spielraum der von uns durchlaufenen Extremitäten hinein ertönen.
Das Gedicht schließt mit der Erwartung des göttlichen Gebets, mit der Erwartung dessen, daß der Herr der Sprachlichkeit unserer menschlichen Existenz und damit ihren Widersprüchen sprechend entspricht, oder mit Begriffen des Rituals formuliert: die nonverbale Opferdarbringung in verbale Selbstaussage überführt. Somit steht auch das Ende des Gedichts nicht ohne biblische Vorbilder da. Die prophetischen Schriften sprechen in ähnlicher Erwartung des Herrn von einem Tag, an dem über die Erde plötzlich Dunkelheit und ägyptische Finsternis hereinbricht (jom choschech waafelah).[37] Die Vulgata spricht von einem D ies tenebrarum. Das göttliche Sprechen, die Verkündigung, das Gebet steht unmittelbar bevor. Dafür, daß sich diese drei Begriffe, das Sprechen, die Verkündigung und das Beten des richtenden Gottes schon sehr früh mit seinem Gebet verbinden und keineswegs erst ein Produkt einer vermeintlichen, nur von uns forcierten Parallele mit Celans Tenebrae ist, liefert der Prophet Zefanja einen sprechenden Beleg. Er kündet von einem Tag, an dem der Herr herniedersteigt, ein Opfer darbringt,[38] wobei er den Altar mit Blut besprengt (sewach), und nach Vollendung dieses nonverbalen Gebets zu richten und zu schlichten beginnt, so daß der schreckliche Tag damit endet, daß die Gefangenen Zions heimgeführt werden.[39] Auch bei ihm ist von einem Tag plötzlich hereinbrechender Dunkelheit und ägyptischer Finsternis (jom choschech waafelah, jom anan waarafel) die Rede,[40] von einem Tag sinnloser Verwüstung, einem Tag der Schoah (jom schoah). Die Vulgata spricht hier ein weiteres Mal von einem D ies tenebrarum. In der Überschrift von Celans Tenebrae fehlt der Tag. Sie konstatiert somit die Dunkelheit, die bereits hereingebrochen ist. Die Verwüstung und die Nähe. Biblisch gedacht die Kirwah, die Gott durch seinen Korban (bei Zefanja Zewach) herstellt. Nicht wir nähern uns diesmal ihm, sondern er uns. Nicht er ist nah, sondern wir. Die gefangenen Juden und alle Geschundenen und Getriebenen der NS-Zeit, die Opfer der sich in uns verkrallenden Todesangst und des endlosen Gewaltmarsches. Denn wir alle sind noch – unabhängig von unserer außerliterarischen Herkunft und Identität – Juden und Zigeuner der Massenvernichtung. Wir alle sind literarisch noch in der ersten Person Plural des Gedichts mit einbegriffen, denn aufgegangen. Und was wir zu Beginn des Gedichts waren, sind wir alle noch. Das literarisch Sein durchwaltet noch das Außerliterarische. Wir alle haben gierig aus dem blutigen Wasser geschlürft, uns in der äußersten Entmenschlichung unsere Menschlichkeit wiedererlangt und es wieder gelernt, in der Spannung göttlicher Ebenbildlichkeit und tierischen Überlebensinstinkts um sie zu bangen. Gesetzt den Fall, daß Celans Tenebrae Literatur ist und damit ein Modus unseres Seins und nicht lediglich das Produkt einer herstellenden Kunstfertigkeit. Mithin im Ernst durchgespielt und nicht bloß mit technischer Leichtigkeit einer Fertigkeit (diesmal einer Leichtfertigkeit) nach gestell t.
Hermeneutische Glossen zu Georg Trakls „De profundis”
Die gegenseitige Relation und die relative Gegenseitigkeit von Scriptura und litteratura ist ohne Zweifel eine jener Herausforderungen, ja mehr noch: Anfechtungen, die das Denken der Literaturwissenschaft sowohl hermeneutisch wie denn auch literaturtheoretisch mehr und mehr auf die Probe stellen. Denn einerseits steht fest, daß sich die Offenbarung der Heiligen Schrift in der Schriftlichkeit der Bibel, mithin innerhalb literarischer Dimensionen überhaupt erst zu authentischem Glaubensgeschehen, nämlich zum Geschehen eines Glaubens aktualisieren und konkretisieren läßt. Andererseits würde niemand ernsthaft bezweifeln wollen, daß sich die Literatur immer wieder in solche Dimensionen hineinbegibt, die ihr die Heilige Schrift eröffnet hat und ohne sie nun undenkbar wären. Die Grenzlinien zwischen ihnen, von ehrwürdigen Traditionen errichtet, werden durch diesen gegenseitigen Bezug von litteratura und Scriptura infolge der permanenten Transgression angesichts des Unsäglichen (Literatur) und des Unbenennbaren (Glaube) immer mehr überschreitbar und hin und wieder überschreitungsnötig gemacht.
Im Zusammenhang der Lyrik von Georg Trakl sind Versuche, zwischen litteratura und Scriptura mit Hilfe abkünftiger Thesen einen theoretischen Schutzdamm zu errichten, besonders augenfällig. Die zum Teil literarhistorische, zum Teil literaturtheoretische Irritation, die innerhalb der Trakl-Philologie allenthalben für Unruhe sorgt, läßt sich am deutlichsten womöglich als Frage vernehmlich machen: Wie kann denn mitten in dem von jedweder Tradition, so auch von der Religion entfremdenden Expressionismus eine literarische Stimme erschallen, die ihre Authentizität nicht aus der stillschweigenden und selbstverständlichen Ignorierung der Offenbarungsliteratur gewinnt, sondern im Gegenteil aus deren eigenartiger Heraufbeschwörung bezieht? Wenn in diesem Heraufbeschwörungsmoment der Authentizität die überwiegend literarhistorisch ausgerichtete Trakl-Philologie „so etwas wie eine invertierte und introvertierte Religiosität“ erblickt, „in der Gott nicht mehr be‑greifbar [ sic! ] und nicht mehr vorstellbar [ sic! ] in einem verfremdeten Himmel angesiedelt ist – in einem Himmel, der nur noch seine Kehrseite, die Hölle, erfahrbar werden läßt“,[41] dann geschieht dies sicherlich im Sinne der Jahrhunderte alten Absteckung der disziplinären Grenze zwischen der Theologie und ihrer Dienstmagd, der Philologie, die sich von diesem Dienstverhältnis mittlerweile ganz emanzipiert hat. Und wenn zudem noch in einer einschlägigen Abhandlung zur Charakterisierung von Trakls Lyrik mit allem philologischen Ernst festzuhalten gilt, daß bei Trakl „Zivilisationsflucht, das Gefühl von Endzeitlichkeit und das Bangen vor einer dunklen, ungewissen Zukunft immer wiederkehrende Motive“ seien,[42] dann drängt dies vielleicht nicht nur zur Einsicht, daß sich hier die Unverständigkeit angesichts einer epochalen Singularität zu einer auch theoretisch folgenschweren, ja katastrophalen Mißverständnis radikalisiert, zumal ausgerechnet jene scriptualen Bezüge als Mittel der Ignoranz gegenüber den Herausforderungen des expressionistischen Jahrzehnts gedeutet werden, die als wahrhaft epochales Novum die intertextuellen Barrieren abreißen und die Grenzen zwischen litteratura und Scriptura überschreitbar machen. Der tiefere Sinn dieser Fehleinschätzung liegt darin, daß an ihm sichtbar wird, mit welcher Strenge die Überschreitung der verbotenen Grenzen zwischen Literatur und Scriptura sanktioniert wird. Auf der einen Seite wird ein im Maße persönlicher Glaubensintensität authentischer sowohl theologisch wie auch literarisch geschlossener Kanon vermutet, auf der anderen Seite steht diesem eine im Maße der poetischen Schöpfungs- und Innovationskräfte (poiésis) offene Literarizität gegenüber. Zwischen beiden ist der Stacheldraht eines sich selbst mißverstehenden Emanzipationsversuchs ausgespannt. Diese Abart der epochal-historischen Betrachtungsweise engt die Ergebnischancen der von ihr nie ernsthaft bestrittenen inter‑ und transtextuellen Philologie nahezu aufs minimalste ein, wenn sie stillschweigend von der Grundthese ausgeht, daß die häufige Anspielung auf die biblische Literatur, oder besser gesagt: das Spiel mit ihr ein solcher bewußter poetischer Intentionsakt (gegebenenfalls ein solcher Fall von Devianz) sei, der sich der Überlieferung religiöser Literatur als nützlichen Inventars, nahezu wie eines „Steinbruchs“[43] bedient, wobei er nur einen Bruchteil dieser Sprachtradition und auch ihn nur schematisch verwertet, ohne die eigene theologische Relevanz unter Beweis zu stellen, noch die Literarizität des religiösen Überlieferungsgeschehens ins Blickfeld der Literaturtheorie zu rücken. Diese Betrachtungsweise garantiert zweifelsohne die Autonomie und Emanzipation der ›schönen‹ Literatur gegenüber der ›Glaubensliteratur‹, nur, um den Preis der Verdeckung jener gegenseitiger Relation und relativen Gegenseitigkeit von litteratura und Scriptura, in deren Spannungsfeld die abendländische Literatur nicht nur entstanden ist, sondern heute noch geschieht.
Die Lyrik von Georg Trakl konnte sich gegen diese theoretische Grundhaltung der Literaturwissenschaft, die die scriptuale Literarizität von der literarischen Scriptualität gegeneinander scharf abgrenzt und beide als an sich gegebene kollektive Entitäten denkt, vielleicht auch deshalb als besonders anfällig erwiesen haben, weil sich die selbst für die frühe Trakl-Rezeption[44] eindeutige Erneuerung der Überlieferung, die dabei metaphysisch, oder um mit Gadamer zu sprechen, mythopoietisch, denn durch und durch hylomorphisch für eine sogenannte ›Schöpfungstradition‹, für eine Fundgrube poetischer Erfindungskraft, um nicht zu sagen, für einen gigantischen Abstellraum kultureller Schätze und Krams erklärt und gehalten wird, auf den ersten an der Oberfläche umherschweifenden Blick mit bezaubernden Wortkombinationen erklären und aus dem Umstand herleiten läßt, daß diese Mytho- und Logopoiesis alles in allem aus einem sehr engen, dennoch vielfältig kombinierbaren Wortschatz (peripatetisch gesagt: hylé) schöpft.[45] Vielleicht erklärt sich auch damit, warum die Versuchung der Philologie angesichts der Traklschen Dichtung noch größer als sonst ist, ihre Interpretation solcher Sprechmomente, die die jüdisch-christliche Schöpfungsliteratur literarisch beschwören, aus dem Vergleich mit ähnlichen ›Wortkombinationen‹ anderer Traklscher Gedichte zu ermitteln, und wo es auffällig große Schwierigkeiten bereitet, mindestens ihren Bezugshorizont durch semantische Komparation abzustecken. Die wohl aufdringlichste Folge dieser Verfahrensweise ist gleichwohl, daß, anstelle die Scriptualität der jeweiligen interpretationsbedürftigen Stelle anzu erkennen, zumeist nur die semantische Synthetisierung für rein literarisch gehaltener Wortgefüge betrieben wird.
Wie das die literaturwissenschaftliche Rezeptionsgeschichte von Rilkes Duineser Elegien mit einmaliger Deutlichkeit vor Augen geführt hat, erscheint die einzelne Gedichte zur Dichtung einer bestimmten Schaffensperiode oder gar zum Lebenswerk summierende Textsynopse in hermeneutisch-ontologischer Sicht insofern als ein gewaltiger Rückschritt vor die ontologisch-hermeneutische Wende in die ontische Auslegungskunst, als sie den hermeneutischen Kreis im Sinne der Dialektik von Teil und Ganzem mißverstehen läßt und okasionelle Interpretationsversuche hervorruft. Eine der schlimmen Konsequenzen, die mit dieser Praxis einhergehen, sieht Gadamer darin, daß „auch die Parallelen, welche stimmen, die Gefahr mit sich bringen, die durch die Einheit der dichterischen Rede geweckte Resonanz zu verstimmen“.[46]
Wenn wir uns im folgenden nun die Mühe geben, diese leicht verstimmbare Resonanz und Konsonanz von Scriptura und litteratura durch eine entsprechende, hermeneutische Auslegung von Trakls De profundis vernehmbar zu machen, dann sei uns erlaubt, das Gesamt des sogenannten Traklschen Lebenswerks als vielfach problematische Gestalt einer bestimmten Theorie der Textologie außer Betracht zu lassen, und als einzige Instanz der Interpretation das Gedicht selbst zu verstehen.
Der erste Vers, der unmittelbar auf die Überschrift folgt, die den Psalm 130, mithin ein Wallfahrtslied, ein Bußgebet beschwört, ist eine einzige stimmungsvolle Landschaftsschilderung. Der hier vergegenwärtigte Landstrich mit dem regenüberschwemmten Stoppelfeld, dem entlaubten Baum und den umwehten leeren Hütten durchdringt die Gedichtgegenwart und verlegt diese in die Raum‑Zeit eines auf sein Ende zugehenden Herbstes. Ein elegischer Topos, nahezu ein Gemeinplatz.
Die zweite Strophe, zwar ebenfalls in eine Quasierzählung lyrischer Gegenwart gebettet, schafft einen nur zu deutlichen Kontrast zu den Schilderungen des vorangegangenen Verses vor allem zu dessen herbstlicher Landschaft. Wir befinden uns im hohen Sommer. Es ist Erntezeit, „die sanfte Waise“ sammelt ja „am Weiler vorbei“ „noch spärliche Ähren ein“. Es handelt sich dabei um Ähren, die man bei der Ernte liegenlassen hat. Die Einsamkeit des nunmehr zur jungen Frau herangewachsenen Waisenmädchens, das laut der letzten Zeile dieser Strophe bereits ins Alter eingetreten ist, in dem geheiratet wird, kann zusammen mit der Tatsache, daß die „sanfte Waise“ in der Dämmerung, mithin entweder am späten Abend noch oder schon in aller Frühe auf den Beinen und dem Felde ist, als Allusion auf eine der karitativen Gesetzgebungen der Heiligen Schrift gedeutet werden: „Wenn du deinen Weinberg abgelesen hast, so sollst du nicht nachlesen; es soll dem Fremdling, der Waise und der Witwe zufallen.“[47] Die Trakl-Forschung hat die Parallele zu jenem zweiten Kapitel des – im hebräischen Kanon nicht von ungefähr auf das Hohe Lied folgenden – Buchs Ruth, das mit seiner auch Erotik nicht entbehrenden Erzählung ein Fallspiel der besagten Wohlfahrtregelung dient, richtig erkannt,[48] hinsichtlich der Interpretation des Gedichts jedoch, wie es noch zu zeigen sein wird, ohne nennenswerte Folgen.
Die Letzte Zeile des zweiten Verses liest sich als eine Prokatalepse, die auf die Unvollendetheit des irdischen Lebens der Waise vorausdeutet und somit aus der Raum‑Zeit der Strophe herausverweist, um Schlimmes anzukündigen. Im Gegensatz zu der aus einem fremden Volk stammenden und durch Zufälle nach Judäa gelangenden, verwitweten Urgroßmutter des Königs David werden sich die Beine der „sanften Waise“ wohl nimmer die Hüfte eines Geliebten umschlungen halten. Die Erwähnung eines himmlischen Bräutigams, also die Aufkündigung einer weiter reichenden Parallele erweckt angesichts der bisherigen Betonung der Harmonie in der zweiten Strophe eine ahnungsschwere Dissonanz.
Die sich im Erzähltempus auf eine Vergangenheit beziehende Zeitebene des dritten Verses verbindet die beiden bisher aufgerissenen Zeitebenen, die hochsommerliche Dämmerung und den späten Herbst der Anfangszeilen mit einer dritten Zeitebene, die den Selbstreflexionen des als quasinarrative Instanz auftretenden lyrischen Ichs als epische Vergangenheit gilt. Die ihre Sommerhütten leer zurücklassenden Hirten, von dem nahenden Winter von den alpinen Hochebenen in die niederen Täler zurückgedrängt, treiben ihre Herden auf die Dörfer in den Tälern zu und entdecken unterwegs „den süßen Leib / Verwest im Dornenbusch“. Der Skandal einerseits der Sterblichkeit des Menschen, andererseits des unbestatteten Leichnams, überschattet und zudem beschwert die Implikationen der erzählten Ereignisse. Auf ihrer ›Heimkehr‹ in ihre Dörfer, deren eines auch der ›Weiler‹ der zweiten Strophe sein muß, erreichen die Hirten eine buschige Region, die auf halbem Wege von den Hütten in die Dörfer, mithin in beträchtlicher Entfernung von dem Ort der Feldarbeit des verwaisten und nun verwesten Mädchens liegt. Die Eindeutigkeit dieser Zeilen entspricht ihrer Bündigkeit. Es ist ja kein Zufall, daß der Dornbusch in der scriptualen Tradition zum Ort göttlicher Offenbarung wurde. Wegen seiner Unzugänglichkeit und Undurchdringlichkeit ist er ein unbewohnbares, von Menschen gemiedenes Stück Raum. Kein geeigneter Platz also für eine den nahenden Tod spürende Schwerkranke, sich niederzulassen, und bestimmt auch kein Ort, wo einen der plötzliche Tod überraschen könnte. Man stirbt nicht in Dornenbüschen. Man hält sich von ihnen vielmehr fern. Sie stechen ja. Der Leichnam der Waise wird dennoch in einem Dornbusch gefunden. Folglich kann das Mädchen keinen natürlichen Tod gestorben sein, jemand muß sie ermordet und dann im abgelegenen und unzugänglichen Busch verborgen haben, in der Hoffnung, man würde die Leiche dort nicht oder erst zu spät auffinden. Verwest eben. Das all das Vorgefallene erzählende lyrische Ich nennt den Leib des Mädchens dennoch ausgerechnet an dieser Stelle süß. Diese Empfindung der „Süßigkeit“ steht gleichwohl in großem Kontrast zur geschilderten Szene und kann unmöglich auf dem Anblick des verwesten Körpers beruhen. Folglich gesteht das lyrische Ich im dritten Vers nicht nur, den Busch selber zu kennen,[49] sondern auch noch das Mädchen bereits in der zweiten Strophe begehrt zu haben. Ob dieser begierige Wunsch ein selbstgefälliges Spiel der erotischen Phantasie geblieben und so als Bekanntgabe eines alles in allem unschuldigen männlichen Interesses ist, so daß die Bezeichnung „süßer Leib“ lediglich das aus diesen Träumereien folgende Epitheton ist, oder ob hier das Attribut ›süß‹ sehr viel mehr zu bedeuten hat, denn der zunächst schwer zu glaubende Versprecher des lyrischen Ichs ist, kann an dieser Stelle zwar schon geahnt, jedoch noch nicht aller Sicherheit behauptet werden.
Die vierte Strophe ist der Ort einer Selbstbestimmung, die auf der Zeitebene des ersten Verses in der Gegenwart vor sich geht. Das lyrische Ich ist eine an Kain erinnernde[50] Gestalt, die ferne von den nächtlichen Dörfern in der herbstlichen Nacht umherschweift. Wenn an dem Verhältnis des lyrischen Ichs zum ermordeten Waisenmädchen bislang noch Zweifel gehaftet haben, verwandeln sie sich nun alle in eine schauderhafte Gewißheit.[51] Das Wissen um die ›Süßigkeit‹ des Körpers der Waisen und das Selbstbewußtsein des lyrischen Ichs verknüpfen sich in dem Wissen um die Sünde und bestätigen nachträglich die ohne dieses Schuldbewußtsein wohl widersinnige Titelwahl. Bezeichnenderweise wechselt das lyrische Ich erneut ins Erzähltempus und führt uns so in die Zeit der Mordstat zurück: Es trank aus „dem Brunnen des Hains“ das Schweigen Gottes. Die Expressivität dieses Ausdrucks speist aus zwei Quellen. Einerseits wird die Tiefe des Brunnens zur Offenbarungsstätte Gottes geweiht und somit der Schöpfer und Seinlassende in einem der elementarsten Bedürfnisse auf das lyrische Ich als Geschöpf und Seingelassenes bezogen. Andererseits drückt diese Formulierung nicht nur aus, daß die göttliche Offenbarung als solche vernommen wurde: Das lyrische Ich hat sie auch noch angeeignet, im wörtlichsten Sinne des Wortes verinnerlicht, denn getrunken. Es lebt somit mit ihr und durch sie. Doch, die das Vernommene ist kein Verstandenes, und gerade in diesem Moment wird das Literarische scriptual. Denn der in Rede stehende Ausdruck spannt einen biblischen Kontext um die Strophe. Allein, in diesem Kontext erhält nicht nur das Traklsche Gedicht einen neuen Deutungshorizont aus der abendländischen Überlieferung, in dem er von nun ab zu sehen und zu verstehen ist, sondern auch die kontextuell heraufbeschworene Stelle der Tora wird durch die spezifische Seinserfahrung des Gedichts überschrieben und umpolarisiert. Gott nämlich antwortet hier auf das mörderische Vergehen mit Schweigen. Er spricht nicht, wie er es bei Kain und dann selbst bei dem König David noch durch seinen Vermittler getan hat. Er antwortet, indem er schweigt, also dem in der schweigenden Antwort, in diesem geantworteten Schweigen Angesprochenen die Sprache dieser Ansprache vorenthält. Dies könnte man im Sinne einer negativen Eschatologie deuten wollen: Die Menscheit befindet sich nunmehr in der deszendierenden Linie göttlicher Revelation, Gott zieht sich aus seiner Welt mehr und mehr zurück, wo früher noch gesprochen wurde, wird nur mehr geschwiegen. Allein, diese Deutung wird von dem Gedicht nicht im geringsten untermauert. Das Gedicht schließt diese Art Interpretation nachgerade aus. Das getrunkene Schweigen Gottes durchwirkt ja das lyrische Ich und, da es in Gestalt des vom Brunnen angesammelten, mithin in einem natürlichen Kreislauf befindlichen Wassers faßbar wird, durchdringt es auch die Welt. Das Gedicht schreibt damit indessen in seiner scriptualen Transtextualität an der schriftlich fixierten Überlieferung der Heiligen Schrift weiter, ja es wandelt sich insofern zu einem neuzeitlichen Apokryphen, als es Gott in unserer kollektiven Gegenwart als epochenspezifisch Handelndes versteht und verstehen läßt. Gott läßt denn die Mordstat ebenso nicht unbeantwortet wie in der Genesis. Allein, während er dort den Sünder mit seiner Tat und deren Folgen als eines der ersten Momente des Überlieferungsgeschehens im Medium der verbalen Durchmessung der Dimensionen des begangenen Verbrechens konfrontiert, versetzt er das Selbst‑ und Ichbewußtsein des Verbrechers diesmal mit dem bewußten Entzug des mahnenden, richtenden und strafenden Worts ins Spannungsfeld der transtextuellen Resonanz und Konsonanz: Er läßt die göttliche Antwort auf die durch das Verbrechen aufgeworfene Frage als Privation, mithin sowohl als Befreiung wie auch als Entzug erleben.
Diese Privation erreicht gleichwohl erst im fünften Vers ihr volles Ausmaß. Auf die Stirn des Lustmörders „tritt kaltes Metall“. Wir finden uns wieder in die Gegenwart versetzt. Wie Gott an Kain bei Luther ein Zeichen „macht“, im hebräischen Original „gibt“, das den Flüchtigen und Umherirrenden zeit seines Lebens vor der Blutsrache schützen soll, mithin wie Kain seine ihm noch verbliebenen Lebenstage im permanenten Erlebnis des göttlichen Zeichens zu verleben hat, so berührt das kalte Metall die Stirn des lyrischen Ichs. Es hinterläßt gleichwohl kein Zeichen, es bezeichnet in dieser Entzeichnung den Fehl des Zeichens. Auch muß das lyrische Ich liegen, denn nur diese Lage berechtigt den Gebrauch der Präposition auf anstatt von an. Das Liegen ist aber in diesem Zusammenhang ein Zeichen der Ergebenheit, das mit dem ganzen Körper zum Ausdruck gebracht wird. Das Präsens der Verba dieser Strophe läßt die Zeitwörter als Iterativa verstehen. Die Befreiung von dem Zeichen, die gleichsam dessen Entzug ist, daß die Spinnen sein Herz suchen, oder daß das Licht in seinem Mund erlöscht, dies alles ist ein einziges kausale Gewebe, eine Reihe von Folgen des verinnerlichten Entzugs göttlicher Worte. Die letzte scriptuale Parallele dieser Strophe ist die symbolträchtige Metapher des im Mund erlöschenden Lichts. Sie beschwört in einer signifikanten Alterität das eine Gesicht des Propheten, wo eine der Seraphim mit der Zange eine glühende Kohle vom Altar des Heiligtums nimmt und damit den Mund des Jesaja anrührt, „auf daß“ seine Schuld von ihm „genommen werde“ und seine „Sünde gesühnt sei.“[52] Legen wir nun das Gedicht von Trakl in den Kontext dieser biblischen Stelle, dann scheint die Modifikation eindeutig den Mustern der schon beobachteten alterierenden Allusionen zu folgen. Das Bild der glühenden Kohle läßt vor allem an Hitze denken, das Traklsche Gedicht betont dagegen das Visuelle. Da das Licht im Mund des lyrischen Ichs erlöscht, fühlt sich dieses Licht als kalt und verschlingbar an, was eine offensichtliche Verbindung mit jener schweigenden göttlichen Offenbarung herstellt, die als Wasser des Brunnens in den Mund genommen und dann getrunken wurde. Die Syntax der dritten Zeile verweist auf die nominale Landschaftsschilderung des ersten Verses zurück, was die Zeiteben der fünften Strophe mit der der ersten verwebt.
Der letzte Vers schaltet wieder die epische Vergangenheit ein. Vermutlich beziehen sich die Wörter Hain und Heine auf einen und denselben Ort. Diese Vermutung bleibt gleichwohl eine Mutmaßung. Fest steht jedoch, daß es Sommer ist, weil das lyrische Ich nach einer längeren Zeit aus der Bewußtlosigkeit erwacht, was im späten Herbst oder gar im Winter in einer mondhellen Nacht unmöglich wäre, weil das lyrische Ich einfach erfröre. Wir befinden uns also wieder auf der Zeitebene des Trinkens vom göttlichen Schweigen. Das lyrische Ich, aus seiner Ohnmacht erwacht, entdeckt an sich bestürzt „den Staub und den Unrat der Sterne“ und wird seiner Tat inne. Die Kältestarre und das Wort Unrat lassen sich dabei als Anspielungen auf Samen als Überreste des Lustmords lesen. Den in der zweiten Strophe erwähnten Sternen könnte außer der Angabe der Tageszeit und der Erweiterung der Erzählperspektive ins Kosmische und schier Unendliche auch die Rolle zukommen, biblische Allusionen ins Spiel zu bringen. In der Sprache der Bibel stehen Sterne – als Teil göttlicher Wahrsagung – oft mit der großen Anzahl von Nachkommen im Zusammenhang,[53] aber das Wort kann aber expressis verbis auch die Kinder einer Familie bezeichnen.[54] Der Ausdruck „Starrend von Unrat und Staub der Sterne“ könnte somit eine unmittelbare Verbindung mit dem Lustmord herstellen und zugleich ein weiteres privatives Moment darstellen: Die vom sprachlichen Zeichen Bezeichneten müssen „Staub und Unrat“ bleiben, der Zukunftsankündigung und ihrer Erfüllung in der Heiligen Schrift kann in dem Traklschen Gedicht nichts entsprechen. Das Moment der Bewußtlosigkeit hat jedoch eine Oszillierung der persönlichen Verantwortung zur Folge, die nachzudenken gibt. Im Augenblick des Erwachens aus seiner Ohnmacht bekommt der Lustmörder das Klingen „der kristallnen Engel“ zu hören. Daß die Boten der göttlichen Offenbarung hier als anorganische Seiende in Erscheinung treten, ist eindeutig ein weiteres Glied in der Kette der langen Reihe von Privationen. Es gehört ja zu den Phänomenen der Alterierung der biblischen Kontextualität, daß die Engel keinem Dornenbusch, sondern einem „Haselgebüsch“ innewohnen, und daß ihre Stimme keine artikulierten menschlichen Worte vermittelt, sondern ein vielleicht musikalisches, auf jeden fall aber vorsprachliches Klingen ist. Das iterative Temporaladverbium gibt gleichzeitig zu wissen, daß es bei weitem nicht das erste Mal ist, daß dem lyrischen Ich dieses Klingen der kristallnen Engel ertönt. Dies lädt den letzten Satz des Gedichts jedoch mit der Spannung einer Amphibolie auf, da so unentscheidbar bleibt, in welchem Verhältnis dieses Geklänge mit dem bewußtlos verübten Lustmord steht. Ist es in gewisser Parallelität zur biblischen Kaingeschichte[55] als Warnung vor der Tat zu verstehen, oder handelt es sich dabei – im Gegenteil – bloß um ein als Offenbarung zwar verstandenes, als solches gleichwohl unverständliches Geräusch, das die Anfälle eines kranken Geistes begleitet und ›abklingen‹ läßt? Dieses exegetische Dilemma scheint der Abschluß des Gedichts zusätzlich noch zu verstärken, wenn es von der üblichen Gliedfolge der deutschen Hauptsätze abweicht und das Satzsubjekt erst nach der eingeschobenen Partikel an letzter Stelle nennt. Diese Retardation steigert die semantische Kraft der ungewohnten Wortverbindung.
Jede Interpretation von Trakls De profundis muß indessen solange mangelhaft bleiben, bis sie sich mit der im Titel genannten Transtextualität auseinandergesetzt hat.
Der Bußpsalm 130, auf den in der Überschrift des Gedichts verwiesen wird, ist allein schon wegen seiner bündigen Kürze eins der wirkungsvollsten Wallfahrtslieder, ein gebetetes Lied, ein gesungenes Gebet, das den Christen durch die Bestattungsliturgie, den Juden auch durch die Liturgie der hohen Feiertage im Herbst zu einem Hoffnungspsalm wurde. Er formuliert mit der irrationalen Festigkeit eines Glaubensbekenntnisses die Hoffnung, Israel, das Volk sowohl als auch der einzelne Israelit[56] werde „aus allen seinen Sünden erlöst“.[57] Diese Formulierung der im Psalm zur Gewißheit gesteigerten Hoffnung steht ohne jeden Zweifel in engstem Zusammenhang mit jener Sprechsituation, in der das lyrische Ich des Traklschen Gedichts gezwungen ist, das Wort zu ergreifen. Die Grenzen der beiden Wallfahrtslieder, der beiden Stoßgebete, mithin einerseits des biblischen, andererseits des Traklschen Gedichts erweisen sich indessen nicht nur in dieser Hinsicht als hauchdünn. Der miteinander sowohl semantisch wie auch syntaktisch aufs engste verwobene fünfte und sechste Vers des Psalms hat folgenden Wortlaut:[58] Ich harre des HERRN, meine Seele[59] harrt, und auf sein Wort hoffe ich. Meine Seele wartet auf den HERRN mehr als die Wächter auf den Morgen, Wächter[60] auf den Morgen. Der Psalm faßt gleich dem Traklschen Gedicht die Sehnsucht eines Menschen in Worte, der sich seiner Sünde bewußt geworden ist und nun das Wort Gottes begehrt. Diese Sehnsucht ist so elementar und sitzt so tief in der Seele wie der Durst. Das Gedicht läßt diese Sehnsucht in der Tat als Durst spürbar werden. Zum Löschen dieses Durstes bekommt das lyrische Ich das Schweigen Gottes aus dem Brunnen des Hains zu trinken und damit beginnt eine Reihe von Alterierungen, die den Spielraum der Intertextualität von Gedicht und Psalm im Spannungsverhältnis einer auf Verschiedenheit beruhenden Ähnlichkeit umreißt. Sowohl im Psalm wie auch im Gedicht spielt die Steigerung der Sehnsucht nach Gottes Wort eine ausschlaggebende Rolle. Sie ist mit der jeweils zur Sprache gebrachten Gefallenheit gerade proportional. Indem das Gedicht mit der präteritalen Erzählung der auf die Mordstat folgenden Nacht der Bewußtwerdung endet, nimmt es auf den Anfang des Psalms Bezug. Es endet nicht mit der ekstatischen Geste des Bekenntnisses zum Erhofften. Ob nun das Geklänge der kristallnen Engel im Haselgebüsch als Fortsetzung der Offenbarung, oder im Gegenteil als ›Rauschen‹, als ›Funkstörung‹ derselben, oder gar als Begleiterscheinung geistiger Anfälle gedeutet wird, zwischen der Zeit der Abschlußstrophe und der Gegenwart des Gedichtes liegen Monate. Monate der Einsamkeit, der Flucht, der Furcht und der plagenden Schuldgefühle.
An dieser Stelle erhebt sich die Frage, an wen sich das Traklsche Gedicht richtet. Im Psalm gelten die Apostrophen zunächst Gott, dann von Vers 5 ab Israel, dem menschlichen Gegenüber, dem lyrischen Wir. Im Gedicht dagegen werden die Ansprachen vermieden. Die durch die Überschrift unmittelbar vor der ersten Strophe kenntlich gemachte Transtextualität legt in bezug auf die Landschaftsschilderung der ersten Strophe nahe, daß hier in Analogie zum Psalm die Tiefen einer menschlichen Existenz durchmessen werden sollen. Allein, es bleiben nachher die wiederholten Ansprachen und die Fürbitte aus. Dafür wird das Gedicht mehr und mehr narrativ, um die in Rede stehende und zur Rede und Antwort zwingende existentielle Situation zu ergründen. In dieser Art forschenden Versinkens in der eigenen Seinslage wird die sprachliche Haltung eines Gegenübers verinnerlicht („Gottes Schweigen/Trank ich aus dem Brunnen des Hains“). In dieser Hinsicht ist das Gedicht zu einer und derselben Zeit mehr und weniger als der Bußpsalm. Es beschränkt sich nicht auf Ansprache und Verkündung, darauf wird vielmehr ganz und gar verzichtet. Statt dessen wird das Elend konkretisiert und das Gegenüber bis in die Halluzinationen hinein verinnerlicht. Die häufigen Wechsel der Zeitebenen, die man in erster Annäherung geneigt ist, als eine narrative Argumentation und als einen Versuch der Vergangenheitsbewältigung aufzufassen, gibt sich nun als der innere Fortgang eines in Analogie der verinnerlichten Offenbarung internalisierten Dialogs zu verstehen. Die auf Differenz beruhende Ähnlichkeit mit dem Psalm ist erst jetzt voll entfaltet. Denn ehe noch das lyrische Ich dazu kommt, das göttliche Gegenüber anzurufen, ja anzuschreien, ist seine Erlösung als innerer, sprachlicher Vorgang bereits eingeleitet. Ein schmerzlicher Vorgang, gewiß, und zudem ein ungewisser. In dieser spannungsvollen Komplexität, denn mit dieser ungewissen Gewißheit endet das Gedicht. Und wo das Gedicht endet, da fängt auch ihre Exegese an.
Mehrdeutigkeiten in Kafkas „Der Wunsch Indianer zu werden“
Im Durchlaufen der einzelnen Stadien des Werdeganges der Hermeneutik und der literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte der Mehrdeutigkeit wird eine Parallelität sichtbar, deren thematische Eröffnung durch die vorliegende Arbeit im Hinblick auf eine ontologische Neuorientierung der Literaturtheorie weitgehender, das heißt hier fortführender theoretischer Relevanz sein dürfte. Vergegenwärtigt man sich denn, wie und weshalb sich die Hermeneutik aus einer philologischen Hilfsdisziplin, mithin einer metaphysischen Kunstlehre, der lediglich die Klärung unklarer Stellen und Aussagen normativer Texte in Auftrag gegeben war,[61] in eine Hermeneutik der Faktizität (Heidegger) wandelte, was mit der Erhebung eines Universalanspruchs unvermeidlich einherging, und denkt man dieser Entwicklung andererseits den Prozeß an die Seite, wie die von der Literaturwissenschaft lange als eine Abart dichterischer Unklarheit und daher als poetische Unzulänglichkeit verstandene[62] und wenn überhaupt, dann nur als recht zwielichtiges Mittel geduldete und zumeist selbst so noch recht beargwöhnte[63] Mehrdeutigkeit in der ruckweise vor sich gehenden poststrukturalistischen Wende zu einem „der ausdrücklichen Ziele des Werkes“, mithin entweder ein Struktur- oder aber ein Dekonstruktionsmoment selbstreferentieller Teleologie wurde,[64] dann löst sich jede anfängliche Befangenheit in die Einsicht eines breiteren und wesentlichen Zusammenhangs auf. Der erste Durchgang des Problemfeldes gelte daher der Kennzeichnung des inneren Bezugs zwischen Mehrdeutigkeit und der Ontologie als Hermeneutik der Faktizität.
Einführende Erörterung der literarischen Mehrdeutigkeit
Prolegomena zum poetologischen Verständnis der Mehrdeutigkeit als Ambiguität
Der Begriff der Ambiguität verweist in eine vorwissenschaftliche Thematisierung literarischer Mehrdeutigkeit, die in die poetologisch geprägte Begrifflichkeit der allmählich entstehenden Literaturwissenschaft nicht von ungefähr nahtlos verwoben werden konnte. Ambiguitas meint in dem Vokabular der von ihren Anfängen her metaphysisch fundierten und ausgerichteten poietologschen Literaturtheorie diejenige um die rechte Entscheidung besorgte exegetische Unsicherheit, die auftritt, sobald man im literarischen Mitteilungsprozeß das einem literarisch Anvertraute nicht etwa in Ermangelung eines nachvollziehbaren Sinnes nicht recht zu verstehen glaubt, sondern weil sich das einem zu verstehen Gegebene der Eindeutigkeit entzieht, indem es dem Fortgang des literarischen Geschehens gleich zwei oder noch mehr Wege ebnet und so der Vorstellung einer homoteleologisch auf ihr Ziel zustrebenden inneren Werk- und Sinnstruktur selbst für einen Dekonstrukteur aufs krasseste widerspricht.[65] In dem Vorstellungsbereich der Mehrdeutigkeit als exegetischer Befindlichkeit schreckt der sich in Ambiguität befindende Interpret vor der Multipontenzialität des literarischen Spiels zurück. Davor also, daß sein literarisches Gegenüber kein objektives, in eine eindeutige, d.h. wohlgeordnete Struktur als inneren Aufbau entlassenes Geschöpf ist, sondern eine Vollzugshandlung, die auf ihren Ausgang hin stets unbestimmt bleibt, denn Spielräume zuläßt. In der interpretatorischen Befindlichkeit der Ambiguität verfällt man, verfällt das Man der Literaturwissenschaft qua Poietologie, statt auf die vielseitige Offenheit des literarischen Geschehens einzugehen, an ein zweifelndes, mitunter verzweifeltes Zögern und Zaudern. Der lateinische Ausdruck meint ja eine bangende Unschlüssigkeit, die zwar dem jeweiligen Exegeten eignet, die dieser jedoch auf das soeben offenbar gewordene Offene der Literatur zurückprojiziert. Die ambiguitas wird somit als eigene Gestimmtheit geradezu verkannt und der Struktur des Texts zugeschrieben. An der Etymologie des lateinischen Begriffs der Mehrdeutigkeit läßt sich somit jene Fremdheit, ja Befremdung abnehmen, die sich des Vertreters der auf Wirkungsteleologie zustrebenden poietologischen Literaturwissenschaft gleich bemächtigt, wenn ihm Literatur als Offenheit eines mehrfach möglichen Zusammenspiels widerfährt.
Das wirkungsteleologische Vorverständnis des thematischen Feldes jedweder Literaturwissenschaft, das durch mehr denn zwei Jahrtausende hindurch bis ins 20. Jahrhundert hinein als normativ galt und diesen Vorgang der Abschreckung in Gang setzt, wurde bereits in der Poetik des Aristoteles formuliert. Es ist hier nicht der rechte Ort, auf die metaphysisch konsequente und wirkungsmächtige Systematik der Aristotelischen Dichtungslehre näher einzugehen. Soviel gilt es dennoch hervorzuheben, daß Aristoteles die Erscheinungen der Literatur dem Phänomenalbezirk der technai zuweist und dabei in zwei komplementäre Bereiche trennt, die in einer denkwürdigen Unschärferelation zueinander stehen: Aristoteles denkt das literarische Geschehen einerseits als poiésis, als Produktion, als kunstvolle Herstellung eines Kunstdings,[66] das, da er Wirkungen zeitigt, ein Kunstwerk ist, andererseits als einen dem Werk innewohnenden Wirkungsvorgang, der sich von dem Rezipienten her gesehen als ein Auf-sich-wirken-lassen, als Sinneseindrücke (aisthésis[67]), mithin als eine psycho-teleologisch vorbestimmte Art von Rezeption[68] in Erfahrung gibt. Zumal Aristoteles dabei vorzugsweise Fragen der Entstehung und der Beschaffenheit literarischer ›Werke‹ in Atem halten, liegt der Schwerpunkt seiner Terminologie auf der produktionsästhetischen Seite, was jedoch nicht besagt, daß sein poietologisches Literaturkonzept ohne all die Erscheinungen der Rezeptivität überhaupt zu denken wäre.
Auf gut Aristotelisch gedacht, ist Dichtung, was ihr Wesen (usia) anbelangt, techné. Dieses Grundwort des griechischen Denkens wird je nach Zusammenhang bald mit Kunst, bald mit Handwerk eingedeutscht. Die Ausdruckskraft des griechischen Wortes besteht indessen einerseits darin, daß es beides zugleich meint, eben die ›Kunst des Handwerks‹.[69] Bezeichnend und von unsäglichem theoretischem Gewicht ist andererseits das semantische Umfeld des techné -Begriffs. Es liegt ihm das Zeitwort tiktein zugrunde, das bei weitem nicht nur gebären und zeugen bedeutet, sondern auch erzeugen, hervorbringen und auslösen. Auch heißt der Zimmermann, jener Handwerker also, der aus dem zunächst amorphen Holz (hylé)[70] ein tragendes Dachgerüst hervorgehen läßt, in der Sprache des Aristoteles nicht von ungefähr tektón. Offensichtlich meint tiktein ein In-die-Welt-setzen, wo das in seiner Gestalt vorerst noch nicht Gekannte, wie der Fötus oder das vorhin noch im Balken als Rohmaterial verborgene Dachgerüst in Erscheinung tritt, nämlich in die Erscheinung seiner Erkennbarkeit als etwas.[71] So sehr sich der zu einem Terminus erstarrte Begriff der techné verallgemeinert und auf Tätigkeiten erweitert, die dem heutigen Verständnis nach keine Herstellungskünste sind, in Verbindung mit der Dichtkunst bewahrt er ganz und gar diese alte Grundbedeutung. Denn die Dichtung qua Dichtkunst ist als techné eine herstellende Kunst, eben poiésis. Eine gekonnte, beherrschte Produktion, die auf Sachverstand beruht, und gewisse Wirkungen zu zeitigen hat. Aristotelisch gedacht und griechisch gesprochen darf amphibolia nur ein bewußt gewähltes dichterisches Mittel sein, das beim Rezipienten, mithin bei allen Rezipienten dieselben vom Poeten durchaus berechneten und wohl erwogenen Wirkungen auslöst, sonst ist sie nichts als ein zu vermeidender Kunstfehler.
Im Schreckensmoment der Ambiguität bricht somit weniger das theoretische Gerüst eines als dynamisches, autonomes und autoreferentielles oder gar areferentielles Konstrukt gedachten modernen Kunstwerks in sich zusammen, als vielmehr die metaphysische Bestimmtheit der Literaturtheorie qua Poietologie mit einem gewaltigen Ruck zum Vorschein. In der exegetischen Befindlichkeit der Ambiguität bangt und sorgt sich ja der Rezipient qua Interpret, weil er sich im Sinne des ästhetischen Wirkungskonzepts des Aristoteles der causa finalis der einzelnen formalen Elemente des Werks zwar gewiß sein müßte, es aber faktisch nicht ist. Im Schreck der Ambiguität umsorgt der Rezipient im Sinne seines ontischen Sichverhaltens (Intentionalität) das Gelingen der intentio.[72] Die einzelnen Akte des literarischen Nachvollzugs gelten der Einsicht, ja dem möglichst den ganzen Horizont in den Blick, in Überblick fassenden Einsehen einer den gesamten dichterischen Produktionsvorgang leitenden Absicht. Mehrdeutigkeit kann im epistemologischen Horizont der Poietologie folglich nur im Maße seiner Intentionalität angängig sein. Ihr Grund muß ein formaler (causa formalis) sein. Ließe sich denn eine Mehrdeutigkeit auf einen stofflichen Grund (causa formalis), auf das Widerstreben, die Trägheit des literarischen Stoffes zurückführen, so zöge es gleich eine Minderung der Kunstfertigkeit des Schöpfers nach sich und bedeutete somit auch eine deutliche Einbüße des Werks an Kunst. Denn das vollendende Können als solches entspringt einer Beherrschung der sich dem Gestalten fügenden Gestalt, folglich ihrer Beherrschbarkeit. Ohne künstlerische Verfügbarkeit und Verfügung (disponibilitas) kein Werk, kein Gefüge: kein Wirkungen auslösendes Gewirk, kein kunstvolles Gewebe, kein Text. Ist nun dem literarischen Kunstwerk in der Mehrdeutigkeit ein Oszillieren, ein Schillern, ein Spiel konstituent, so muß das literarische Spiel im vorhinein gut durchgespielt worden sein: Das Spiel muß ein inszeniertes, ein kontrolliertes, ein kalkuliertes bleiben.[73] Akzeptiert wird Ambiguität, diese sonst schreckliche, den erschreckende Unsicherheit in dem Literaturkonzept der klassischen Poietologie mithin in der Tat lediglich als gezähmtes, in die Produktionsvorgänge auf textueller (oder eben szenischer) Ebene eingesetztes intentionales Mittel.[74]
Mit der poietologischen Sicht der Aristotelischen Poetik hat das theoretische Denken über Dichtung qua Dichtkunst gleichwohl eine Systematik erreicht, auf die zu verzichten, es der Literaturwissenschaft selbst im Anbetracht der Mehrdeutigkeit als Ambiguität ihrer selbst sichtlich schwerfällt. Diese Schwerfälligkeit des Gewohnten und Angestammten hat in letzter Zeit die Bestrebung zur Folge, die augenfälligsten Phänomene der semantischen Poly- und Ambivalenz der Hylomorphik einzuverleiben. Auf dem einen Weg, der dabei gerne betreten wird, werden die individuellen Rezeptionsvorgänge zur eigentlichen Entstehungsmomenten des literarischen Textes als wirkungsmächtigen Gewirks erklärt, damit so die Unschärferelation zwischen der produktiven und der ›reproduktiven‹, rezeptiven Seite der Poietologie wenn nicht gleich aufgelöst, so doch in hylomorphologischer Kathederschnoddrigkeit zerredet wird. Der literarische Text, mithin das uns, erkennenden Subjekten, vorliegende, denn unseren Erkenntnisakten übergebene, überlieferte und unterzogene Objekt forme sich demnach erst im Akt unserer Rezeption. Das literarische Kunstwerk als Erkenntnisobjekt nähme erst in der Erkenntnis qua Rezeption seine Form, seine Gestalt an und würde sich so zu einem kohärenten Bedeutungsgebilde wandeln, denn in einer konsequent hylomorphischen Sicht ist jedes einzelne Moment des literarischen Geschehens der Handwerksanalogie verhaftet, folglich ein Gebilde, aus der eisernen Kausalitätslehre der metaphysischen Form- und Stofflehre gibt es so leicht kein Entrinnen.[75] „Aus dem fiktionalen Gehalt“ ›seiner Informationen‹, der mit der Mehrdeutigkeit schlechthin zusammenfällt, „resultiert das je individuelle Kommunikat, das die literarische Erzählung vorstellt.“[76] Solange die klassische Poietologie die Produktions- und die Rezeptionsvorgänge in einer wohltuenden Unschärferelation beläßt, indem sie zwischen beiden außer einer Wirkungsteleologie keinerlei sonstigen Bezüge postuliert und beide Vorgänge zugleich nicht zum Gegenstand ihrer Untersuchungen zu machen versteht, setzt der in Rede stehende theoretische Ansatz die Rezeption mit der Produktion in eins. Dabei verwickelt er sich in einen offenen Widerspruch. Denn wenn das zu erkennende Objekt im Rezeptionsvorgang des Rezipienten, im Erkenntnisprozeß des erkennenden Subjekts erst überhaupt entstünde, müßte das schon als Wink genügen, die landläufige Objekt-Subjekt-Dichotomie aufgeben zu müssen. Allerdings führte dies notgedrungen zu einem Verzicht auf die poietologischen Grundlagen der Literaturtheorie, entbände letztere also ausgerechnet dem, wessen sie sich angesichts der Erscheinungen der Mehrdeutigkeit doch so gerne wieder versichern würde.
In dieser hylomorphischen Sicht der Ambiguität verdankt die Rezeption ihren ›Auslegungsspielraum‹ dem Umstand, daß die Produktion „keine tatsachenidentischen Mitteilungen“ mache. Die „›Mehrdeutigkeit‹ auf der sprachlichen Ebene“ folge demzufolge aus der Fiktionalität als solcher. Der Grund dafür sei gleich vermerkt: „Für die produzierenden Prozessoren bildet Aussageeindeutigkeit kein verbindliches Zielkriterium.“[77] Mit der Erwähnung der Unverbindlichkeit eines Zielkriteriums wird deutlich, wie hartnäckig Phänomene der Mehrdeutigkeit nach wie vor im teleologischen Register produktionsästhetischer Intentionalität gedeutet werden. Nur weil und insofern sich die Zielkriterien gewandelt haben, sind sie keine Verstöße gegen die Kohärenz des Bedeutungsgebilde, die nach wie vor besteht, nur nicht mehr auf Eindeutigkeiten, sie kann nunmehr auch auf Mehrdeutigkeiten beruhen.
Wie grundsätzlich diese hylomorphische Sichtweise der Poietologie die Literaturwissenschaft nach wie vor durchdringt, zeigt sich in traurigster Schärfe aber vielleicht eben an jenen literarturtheoretischen Ansätzen, die sich auf eine poststrukturalistische oder gar antimetaphysisch-dekonstruktionalistische ›Kehre‹ teils zurückführen, teils berufen und dabei nicht müde werden, „die Mehrdeutigkeit fiktional verwendeter Wörter [ sic !] und Sätze“ für eine „Fundamentaleigenschaft fiktionalen Sprechens“[78] zu erklären, die den Schriftsteller gleichwohl als causa efficiens, als kunstfertigen Gestalter denken, dem „das Ganze des Daseins“, „die ganze Welt“ einen „Steinbruch“ sei, „aus dem er seine Materialien“[79] hole. Der Poststrukturalist erweist sich da als treuen Erben jenes Strukturalismus, den er sonst akkurat überwunden haben will.[80] Offensichtlich kann nicht einmal das noch so entschlossene Bekenntnis zu der dekontstruktionalistischen Evidenz der Polyvalenz einerseits, und zu der Gleichwertigkeit unterschiedlichster Interpretationen andererseits die Konsequenzen der poietischen, hylomorphischen, techno-metaphysischen Grundlegung der Literaturwissenschaft durch Aristoteles außer Kraft setzen: Die technokratische Steinbruchmetapher und die darin wirksame Handwerksanalogie zwingen auch noch den besten Poststrukturalisten, d.h. den strengsten, mithin den sich am meisten anstrengenden Postmetaphysiker, zum Verkünder der metaphysischen Disponibilitätslehre zu werden und drängt ihn schließlich doch noch zur Investitur des Autors als alter deus.[81] Und wenn wir schon den Phänomenen der Mehrdeutigkeit nachgehen: An der schöpferischen Allmacht des Autors vermag nicht einmal die mehrdeutige Bildhaftigkeit der Metapher zu rütteln: Selbst noch im Steinbruch, an diesem Ort schwierigster Zwangsarbeit ist der Autor, sogar noch in gestreiftem Sträflingskleid, Träger seiner unbegrenzten dichterischen Freiheit und der schöpferische Vollstrecker seiner Kunstfertigkeit; selbst noch angesichts äußerster Indisponibilität, des nicht kontrollierbaren Spiels der metaphorischen Mehrdeutigkeit ist und bleibt die metaphysische Vorentscheidung des Aristoteles der literarischen Phänomenologie überlegen.
Das ontologische und philosophisch-hermeneutische Verständnis der Mehrdeutigkeit
Die entscheidende Wende im Denken über die Hermeneutik von einer Auslegungskunst zu einer Fundamentalphilosophie vollzieht sich mit der Einsicht der Relevanz der ontologischen Differenz, d. h. der Unterscheidung einerseits zwischen Sein und Seiendem und andererseits zwischen Seiendheit als status (idem) und Sein als actus (exercitus). O ntologische Differenz bedeutet den Versuch, die Grundthese jedweder Metaphysik nicht mitzudenken, das In-Eins-Setzen des Seins und des Seienden zu vermeiden, zu umgehen.[82] Nicht gleichsetzen verlangt hier außer nicht in-eins-setzen jedoch auch, daß weder das Seiende noch das Sein selbst gleich gesetzt werde. Denn jede ontische (d.h. ›am Seienden haften bleibende‹)[83] Denkweise zeichnet sich ontologisch (also bei einem expliziten theoretischen Fragen nach dem Sein des Seienden)[84] dadurch aus, daß sie im Anbetracht des Seienden das Sein gleich, d.w.s. sogleich setzt, und zwar als eine allgemeine Besonderheit, als die eigentlichste Eigenheit, sprich als die allgemeinste Eigenschaft desselben.[85] Desgleichen stellt sie sich das Seiende als den Träger dieser Eigenschaft und demzufolge als das Subjekt einer apophantischen Aussage über die permanente Ereignung der Zueignung dieser Eigenschaft vor. Die ontische Gleich-Setzung entpuppt sich sonach als die Durchsetzung einer Vorentscheidung über den ontologischen Status des Seienden, und zwar dergestalt, daß diesem das an ihm selbst sichtbar werdende Sein kategorial unter-, temporal nachgeordnet wird. In der ontologischen Differenz wird hingegen der Versuch unternommen, der apophantischen Logik zu entsagen. Differenz meint dabei indessen bei weitem nicht, daß das Sein von dem Seienden etwa isoliert zu denken ist, vielmehr eröffnet die ontologische Differenz überhaupt erst den methodischen Zugang[86] zu dem Sein des Seienden als solchem, also als actus, als geschehendem Vollzug und nicht etwa als status, als einst eingesetztem und seitdem andauerndem Charakterzug.
Aus der Differenz zwischen Sein und Seiendem einerseits bzw. zwischen ontisch und ontologisch andererseits folgt indessen eine weitere Unterscheidung. Und dies erst weitet den Horizont der Hermeneutik aus: Die ontische Differenz impliziert eine weitere Unterscheidung, die zwischen Verstehen als Verständlich-machen (Auslegung, Erläuterung, Deutung, Freilegung der eigenen Seinsverfassung[87]) und Verstehen als Vollzug ständigen Sich-Erfahrens, wobei sich das Erfahrene nicht unbedingt auch schon etwas Reflektiertes, Durchleuchtetes, Erwogenes und damit jedem Erklärbares in Erfahrung gibt, sondern nur zu oft als das nicht einmal Geahnte, das Unterdrückte, das Nieder- oder Zurückgehaltene, das Verschwiegene oder schlichtweg Unsägliche, Undenkliche und Unvorausdenkliche. Auch für diese Differenz gilt indessen, daß sie keineswegs die Trennung zweier wesenhaft nicht zusammengehörender Vollzugsweisen menschlichen Seins vollbringt, sondern im Gegenteil, sie hebt den engen Zusammenhang hervor, jedoch ohne über Art und Weise dieses Zusammengehörens vorweg zu entscheiden. Da es dem Dasein ontologisch auf das je eigene Sein als actus exercitus ankommt, das Dasein als Bewußtsein jedoch um sich als je solches in einer Welt Seiendes (Innerweltliches) stets schon weiß, mithin weiß, „woran es mit ihm selbst, das heißt seine Seinkönnen ist“, dieses Wissen gleichwohl „nicht erst einer immanenten Selbstwahrnehmung erwachsen“ ist, wird das Sein des Menschen vom Verstehen mitkonstituiert.[88] Und eben weil Verstehen dem Sein des Daseins mit konstituent ist, führt Heidegger für den Akt, in welchem sich das Dasein das Verstandene ins Bewußtsein hebt, also die ›Niederhaltung‹ des Verstandenen überwindet, den Begriff der Auslegung ein. „In ihr eignet sich das Verstehen sein verstandenes verstehend zu.“[89] Daraus folgt indessen auch, daß sub specie existentiae die Auslegung im Verstehen gründet und nicht etwa umgekehrt. Die Hermeneutik hat folglich „die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen.“[90] Damit ist die ontologische Wende in der Hermeneutik vollzogen: „Der Begriff des Verstehens ist nicht mehr ein Methodenbegriff, wie bei Droysen. Verstehen ist auch nicht, wie in Diltheys Versuch einer hermeneutischen Grundlegung der Geisteswissenschaften, eine dem Zug des Lebens zur Idealität erst nachfolgende inverse Operation. Verstehen ist der ursprüngliche Seinscharakter des menschlichen Lebens selber.“[91]
Dieses differentielle Denken wird literaturtheoretisch fruchtbar, wenn es das Literarische durchleuchtet. In dem Ausdruck Literatur, der auf eine fortwährende, ununterbrochene und unendliche, denn sich jederzeit wiederholende Reihung von Buchstaben, Zeichen, sinntragenden, das will wiederum sagen in ihrem Nacheinander als Ganzes zu verstehenden Teilchen hindeutet und von Gottsched eben deshalb als Buchstäbeley verdeutscht wurde,[92] kommt eine uralte Erfahrung des abendländischen Denkens zur Sprache. Sie besagt, daß bei jedweder Begegnung mit Literarischem dieser Begegnung Verstehen mit konstituent ist. Verstehen von Literarischem ist demnach kein beliebiges Vorkommnis, das je nach Neigung oder Abneigung einsetzt oder ausbleibt, landet oder strandet. Es ist vielmehr ein Grundzug jeglicher Begegnung mit Literarischem als solchem. In diesem Vollzug des Verstehens findet Literatur überhaupt erst statt.
An dieser Stelle könnte die Frage erhoben werden, ob die ontologische Ausweitung der Hermeneutik diese nicht an ihrer eigentlichsten Aufgabe hindert, nämlich – wie es Schleiermacher ausdrückt – qualitative und quantitative Mißverstehen[93] zu vermeiden? Widerspricht denn das Verstehen als Grundzug jeglicher Begegnung mit Literatur nicht der alltäglichen Erfahrung interpretatorischer Unzulänglichkeit und des Mißverstehens? Solange Mißverstehen als das Gegenteil von Verstehen gedacht bleibt, scheint der Richtungssinn dieser zwei Fragen auch unbeirrbar. Allein, das Mißverstehen oder das Nichtverstehen eines Moments des Literaturgeschehens hebt den existenzialen Vollzug des Verstehens nicht auf. Im Mißverstehen wird der Mißverstehende durchaus von einem Verstehen geleitet, das sich bei erneutem Durchgang des so Verstandenen oder von anderen als Mißverständnis verstanden wird. Jedes Mißverstehen erfolgt im Modus des Verstehens. Selbst noch die Erfahrung des Nichtverstehens erwächst dem Verständnis eigener oder fremder Unzulänglichkeit. Das Verstehen erweist sich auch vom Miß- oder Nichtverstehen her als ein Grundzug des menschlichen Seins. Mißvertsehen sowohl als auch Nichtverstehen gründen existenzial im Verstehen.[94]
Wie bereits angedeutet, braucht das bei jeder Begegnung mit Literarischem einsetzende Verstehen nicht eigens thematisiert zu werden, d.h. sich zu einer mündlichen oder schriftlichen Auslegung zu erweitern. Da Dasein Verstehen ist, und Literatur uns stets im Modus dieses Verstehens begegnet,[95] kündigt sich ein enger ontologischer Bezug zwischen Literatur und Dasein an.
Jedem Literarischen ist das verstehende Mitsein des Daseins gleichursprünglich, denn konstitutiv. Das jeweilige Dasein begegnet dem Literarischen aus seinem ganzen Wesen (Buber), d.h. die Begegnenden verfallen bei ihrer Begegnung nicht in ein Subjekt-Objekt-Verhältnis, sondern treten in eine Ich-und-Du-Beziehung. Diese pronominale Bezeichnung will gleichwohl nicht besagen, daß dem Literarischen so etwas wie eine wie auch immer beschaffene Persönlichkeit zukomme, will aber um so mehr unser Gehör dafür schärfen, daß in der Begegnung mit Literatur keine der begegnenden Parteien der jeweils anderen unterworfen, ausgeliefert, in die Macht gegeben ist. In der Begegnung sind sie vielmehr beide aufeinander abgestimmt. Nichts ist jenseits dieser gegenseitigen Abstimmung literarisch stimmig.
Ist diese Begegnung aus welchem Grund auch immer wesentlich gestört, so entfaltet sich das Gelesene, Erlebte, Gehörte nicht zu etwas Literarischem. Das Dasein kann dann der Herausforderung der Literatur nicht entsprechen. Es wird nicht in die Verfassung versetzt, die von ihm zur Literatur gefordert wird und nun not tut. Die Literatur ist somit, ontologisch gedacht, eine mögliche Seinsverfassung des Daseins.[96] Das Wort Literatur besagt somit ontologisch nicht das Gesamt einer Anzahl (Unzahl) vorhandener kultureller Gegenstände (Kunstobjekte), die gewissen Kriterien gerecht geworden von kunstverständigen Subjekten erst als literarisch anerkannt, d.w.s. erkannt sind, was gleichsam erlaubt, über sie im Ganzen als Literatur zu sprechen. Literatur meint ontologisch eine Seinsart des Daseins. Dem auf eine lange Begriffsgeschichte zurückblickenden Terminus Literatur entspricht somit ontologisch der existenziale Ausdruck literarisch Sein. Er benennt einen charakteristischen Seinsmodus menschlichen Daseins, also einen der Seinsmodi des Menschen als Dasein.
[...]
[1] Pöggeler, Otto: Spur des Worts. Freiburg: Karl Alber, 1986, S. 132 f; Pöggeler, Otto: Lyrik als Sprache unserer Zeit? Paderborn: Schönigh 1998; Pöggeler, Otto: Der Stein hinterm Aug. München: Fink 2000, S. 46
[2] 1450b 1–4. Vgl. auch Ion, 531e; 532e; 533b; 540d f.
[3] Res publica, 2, 376–3, 403 und 10, 595–607; bzw. Ion 533c–535b
[4] Met. Z. 1032a 12–25
[5] 1032a 22
[6] Vgl. Happ, Heinz: Hyle. Berlin: de Gruyter 1971, S. 276
[7] Phys. II 8, 199a 15 ff.
[8] Met. Z. 10, 1036a 8–12; Siehe hierzu Picht, Georg: Aristoteles »De anima«. Stuttgart: Klett-Cotta 1987, S. 275
[9] Mayer, Peter: Paul Celan als jüdischer Dichter. Diss. 1969, 136 f.
[10] Gadamer, Hans-Georg: Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan (1975). In: Derselbe: Gesammelte Werke. Bd. 9. Tübingen: Mohr (Paul Siebeck) 1993, S. 458
[11] Orosz, Magdolna: Biblical ›Emblems‹ in Celan’s Tenebrae. In: Neohelicon 1995/1, S. 182 f.
[12] Weissenberger, Klaus: Zwischen Stein und Stern. München: Francke 1976, S. 92
[13] Wienold, Götz: Paul Celans Hölderlin-Widerruf. In: Poetica 1968/2, S. 220
[14] a. a. O., S. 222
[15] a. a. O., S. 223
[16] Felstiner, John: Paul Celan. München: Beck 1997, S. 41 f.
[17] a. a. O., S. 144
[18] Bollack, Jean: Paul Celan. Wien: Zsolnay 2000, S. 237 f.; 308
[19] Gadamer, Hans-Georg: Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan (1975). In: Derselbe: Gesammelte Werke. Bd. 9. Tübingen: Mohr (Paul Siebeck) 1993, S. 457
[20] Orosz, Magdolna: Biblical ›Emblems‹ in Celan’s Tenebrae. In: Neohelicon 1995/1, S. 183; Orosz, Magdolna: Intertextualität in der Textanalyse. Wien: ÖGS/ISS 1997, S. 74
[21] Modaladverb!
[22] Felstiner, John: Paul Celan. München: Beck 1997, S. 143
[23] 1 Kor 12:27
[24] 1 Kor 12:14–20
[25] Gen 1:27
[26] Vgl. Dan 2:31
[27] Ps. 10:1
[28] Lev 1:11
[29] Siehe weiter oben S. 19
[30] Glenn, Jerry: Paul Celan. Boston: Twayne Publishers 1973, 96 ff.
[31] Deut 12:23
[32] Gen 4:10
[33] Vgl. Gen 20:7; Num 21:7; 1 Sam 12:19; Jer 11:14; Jer 42:2
[34] Vgl. Gen 20:17;1 Sam 1:10 ff.; 1 Sam 2:1; 1 Sam 8:6 f.; 2 Kön 4:33; 2 Kön 6:17 f.; Neh1:4–11.
[35] Vgl. 1 Sam 8:7 ff.; 2 Chr 32:24.
[36] Brachot 7a
[37] Joel 2:2
[38] Zef. 1:7
[39] 3:20
[40] 1:15
[41] Paulsen, Wolfgang: Deutsche Literatur des Expressionismus. Bern: Peter Lang 1983. S. 102
[42] Knapp, Gerhard P.: Die Literatur des deutschen Expressionismus. München: C. H. Beck 1979, S. 37
[43] Vgl. Binder, Wolfgang: Trakls späte Lyrik. In: Derselbe: Aufschlüsse. Zürich: Artemis 1976. S. 359
[44] Vgl. Deschner, Karlheinz: Kitsch, Konvention und Kunst. München: List 1957. S. 163
[45] Philipp, Eckhard: Expressionistische Lyrik. In: Glaser, Horst Albert (Hrsg.): Deutsche Literatur. Bd. VIII. Reinbek: Rohwolt 1982, S. 320
[46] Gadamer, Hans-Georg: Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien. In: De4rselbe: Gesammelte Werke IX. Tübingen: Mohr (Paul Siebeck) 1993, S. 290
[47] Deut 24:21
[48] Fues, Wolfram Malte: Die Welt ist in den Fugen. Georg Trakls Gedicht »De profundis«. In: Derselbe: Text als Intertext. Heidelberg: C. Winter 1995, S. 23
[49] In bezug auf den Busch wird ohne jedweden prosodischen Zwang der bestimmte Artikel verwendet!
[50] Vgl. Gen 4: 14
[51] Die einschlägige Fachliteratur scheint – bis auf Heinrich Goldmanns Studie (Katabasis. Eine tiefenpsychologische Studie zur Symbolik der Dichtungen Georg Trakls. Salzburg: Müller 1957, S. 63) – vor allem wegen seiner okkasionellen Verfahrensweise daran gehindert, sich diesen Zusammenhang ins Bewußtsein zu heben. Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür liefert die psychoanalytische Studie von Gunther Kleefeld. Er stellt zwar die Tatsache des Lustmords sehr wohl fest, kann gleichwohl nicht dahinter kommen, wer der Mörder sei, weil er inzwischen auf die frühere, als H1 gekennzeichnete handschriftliche ›Fassung‹ übergesprungen ist und damit den exegetischen Raum des eigentlichen Gedichts verlassen hat. Vgl.: Gunther Kleefeld: Das Gedicht als Sühne. Tübingen: Niemeyer 1985. S. 141 ff.
[52] Jesaja 6:6 f.
[53] Vgl.: Gen 26:4; Ex 32:13; Deut 1:10 und 28:62
[54] Gen 37:9; Num 24:17
[55] Vgl. Gen 4:5
[56] Im Hebräischen beides ein und dasselbe Wort.
[57] Ps 130:8
[58] Zitiert wird die revidierte Lutherübersetzung allerdings mit drei Korrektionen.
[59] Es ist von der Nephesch, also von jenem Seelenhauch oder ›Odem‹ Gottes die Rede, der dem Menschen bei dessen Erschaffung in die Nase geblasen wird (Gen 2:7) und nun in der Zeit der Anfechtungen das einzige Bindeglied zwischen Schöpfer und Geschöpf geblieben ist.
[60] Der Psalm handelt hier von wachenden Soldaten, die in feindlichem Gebiet die Nacht durchwachen, also durchbangen.
[61] Hermeneutik wird von den Warten der Literaturwissenschaft aus heute noch oft gern so verstanden. Vgl. etwa: „Der Interpret als Ausleger hat eine dem Übersetzer analoge Funktion: Er verwandelt unverständliche Zeichen in verständliche, nur tut er dies nicht kraft besonderer Sprachkompetenz, sondern kraft besonderer Deutungskompetenz.“ Assmann, Aleida: Metamorphosen der Hermeneutik. In: Dieselbe (Hrsg.): Texte und Lektüren. Frankfurt: Fischer 1996, S. 10
[62] Quint. 8, 2, 12–13; Cic. De orat. 3, 48 f. Diese Vorstellung von Klarheit unter Vermeidung von Mehrdeutigkeit scheint auch der neueren Literaturtheorie nicht gänzlich fremd zu sein: „Endlich führt die Mehrdeutigkeit und besonders die nicht scharf umrissene Mehrdeutigkeit der einzelnen Worte die Unklarheit mit sich.“ Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk. Tübingen: Niemeyer 41965, S. 226
[63] Vgl. Pexenfelder, Michael: Apparatus eruditionis tam rerum quam verborum per omnes artes et scientias. Nürnberg: Michael & Joh. Friedrich Endter, 1670 S. 329 und Meier, Georg Friedrich: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Halle 1757, § 55
[64] Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt: Suhrkamp 71996, S. 8
[65] „Auch in diesem Falle, wie im ersten, können wir nicht sagen, daß das Gedicht einfach zwei Bedeutungen hätte, die Seite an Seite bestünden. Die beiden Lektüren müssen sich in direkter Konfrontation aufeinander beziehen, denn die eine ist genau der Irrtum, der von der anderen denunziert wird und von ihr aufgelöst werden muß.“ de Man, Paul Allegorien des Lesens. Frankfurt: Suhrkamp 81998, S. 42
[66] 1447a 10
[67] 1454b 16
[68] 1449b 24–28
[69] Ritter, Joachim: Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles. In: Ders.: Metaphysik und Politik. Frankfurt: Suhrkamp 1977, S. 11. Siehe auch: Kommerell, Max: Lessing und Aristoteles. Frankfurt: Klostermann 21957, S. 52 f.
[70] „Aristoteles dachte nicht an ›Holz‹ als etwas ›Organisches‹ oder dergleichen, sondern an Holz als ›Material‹ des Zimmermanns. Zum Modell diente ihm also die Techne.“ Happ, Heinz: Hyle. Berlin: de Gruyter 1971, S. 276
[71] Vgl. hierzu Schadewaldt, Wolfgang: Natur, Technik, Kunst. Göttingen: Musterschmidt 1960, S. 45 und Kube, Jörg: Techné und areté . Berlin: de Gruyter 1969, S. 9 ff.
[72] Und hierbei ist schließlich von geringstem Belang, ob sich dieses mühsame Worauf-Hinauswollen als eine intentio auctoris oder als eine intentio operis zu denken ist.
[73] Vgl. Helbling, Brigitte: Vernetzte Texte. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 5
[74] Vgl. 1461a 26 f.
[75] Schwab, Ulrike: Erzähltext und Spielfilm. Berlin: LIT Verlag 2004, S. 42
[76] Ebenda
[77] a. a. O., S. 60
[78] Vgl. Petersen, Jürgen H.: Fiktionalität und Ästhetik. Berlin: Erich Schmidt 1996, S. 78
[79] a. a. O., S. 89
[80] Vgl. etwa: „Was ist die Sprache in der Dichtung? Sie ist Material, wie etwa Metall oder Stein in der Bildhauerei, wie Farbstoff und die Materie der Bildfläche in der Malerei usf.“ Mukařovský, Jan: Über die Dichtersprache. In: Derselbe: Studien zur strukturalistischen Ästhetik und Poetik. München: Carl Hanser 1974, S. 148
[81] „Nichts Menschliches, mehr noch: nichts Innerweltliches ist der Dichtung [der Kunst, der Techné] fremd, nichts entzieht sich dem künstlerischen Zugriff des Poeten, nichts ist untauglich, den Gegenstand fiktionalen Sprechens zu bilden.“ Ebenda. Vgl. hierzu auch: Hof, Renate: Das Spiel des unreliable narrator. München: Wilhelm Fink 1984, S. 18
[82] Vgl. Heidegger, Martin: Nietzsche II. Pfulingen: Günther Neske 51989, S. 209
[83] Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 161986 [i.w.: SuZ], § 14; S. 63
[84] a. a. O., § 4; S. 12
[85] a. a. O., § 1; S. 3 f.
[86] Vgl. Heidegger, Martin: Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24). Frankfurt: Klostermann 1975, S. 322
[87] SuZ, § 45; S. 232
[88] SuZ, § 31; S. 144
[89] SuZ, § 32; S. 148
[90] Vgl. Heidegger, Martin: Ontologie (GA 63). Frankfurt: Klostermann 21995, S. 15
[91] Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Tübingen: Mohr (Paul Siebeck) 51986 [i.w.: WuM], S. 264
[92] Vgl. Gottsched, Johann Christoph: Vollständigere und Neuerläuterte Deutsche Sprachkunst. In: Derselbe: Ausgewählte Werke Bd. 8. Teil 1. Berlin: Walter de Gruyter 1978 S. 37; Fußnote 1.
[93] Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Frankfurt: Suhrkamp 51986, S. 92 f.
[94] Vgl. dazu Gadamer, Hans-Georg: Die Universalität des hermeneutischen Problems. In: Derselbe: Gesammelte Werke. Bd. 2. Tübingen: Mohr (Paul Siebeck) 21993, S. 223
[95] Im literarischen Geschehen weiß der dara Beteiligte, daß ihm soeben Literatur geschieht. Literarische Geschehnisse im Modus des Nichtverstehens sind undenkbar, was gleichwohl nicht unbedingt gleich auch zu bedeuten hat, daß der am literarischen Geschehen Beteiligte jedes Moment, jedes einzelne Ereignis dieses Geschehens in die Klarheit reflektierenden Bewußtseins zu heben vermag.
[96] „Wenn ich die Kunst als eine Lebensanschauung bezeichne, meine ich damit nichts Ersonnenes. Lebensanschauung will hier aufgefaßt sein in dem Sinne: Art zu sein. Also kein Sich‑Beherrschen und ‑Beschränken um bestimmter Zwecke willen, sondern ein sorgloses Sich‑Loslassen, im Vertrauen auf ein sicheres Ziel.“ Rilke, Reiner Maria: Über Kunst (1898). In: Derselbe: Werke. Bd. 5. Frankfurt: Insel 1987, S. 429
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- Dr. Károly (Karl) Vajda (Autor), 2010, Sinn, Deutung, Paradigma, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/163886
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