Das handlungsleitende Wissen von Facharbeitern wird in der berufswissenschaftlichen Forschung als Erfahrungswissen betrachtet. Dabei wird allerdings übersehen, dass dieses Wissen sich nicht nur der Erfahrung verdankt, sondern auch Elemente von Fachtheorien enthält, die meist in einer Berufsausbildung erworben werden. Um das handlungsleitende Wissen der Facharbeiter in dieser Hinsicht korrekt zu charakterisieren wurde der Begriff des Arbeitsprozesswissens geprägt. In dem Aufsatz wird eine Hypothese über den Zusammenhang zwischen diesen beiden Wissensbereichen vorgestellt. Vermittlungsstück ist dabei die Prozesstheorie des Aristoteles, die auf den Arbeitsprozess angewandt wird.
Über den Zusammenhang von Arbeitsprozesswissen und Fachwissen
1 Einleitung
Untersuchungen zum Erfahrungswissen sind spätestens seit 1992 durch Böhle und Rose (1992) in die allgemeine Diskussion über das Erfahrungswissen eingebracht worden. Das Erfahrungswissen hat diesen Untersuchungen zufolge u.a. in der Prozeßindustrie eine große Bedeutung sowohl für die Bewältigung der unmittelbaren Produktionsarbeit (vgl. Rose/Macher 1993a) als auch bei der Kontroll- und Überwachungsarbeit in der auf einem hohen Niveau automatisierten verfahrenstechnischen Produktion.
Chemiefacharbeiter als Operateure in abgeschirmten Kontrollräumen nutzen bei der Überwachung des Fortgangs der Produktion selbst dann noch in hohem Maße ihre Sinne, ihre sinnliche Wahrnehmung und ihr Rhythmusgefühl bei der Bewältigung ihrer Arbeitsaufgaben, wenn sie mit der verfahrenstechnischen Anlage nur über Meßgeräte in Kontakt stehen (Böhle/Rose 1992). In der theoretischen Interpretation ihrer empirischen Untersuchungen unterscheiden Böhle und Rose das subjektivierende und das objektivierende Arbeitshandeln. Während das letztere durch den Einsatz rational-analytischer Methoden gekennzeichnet werden kann, lassen sich für das subjektivierende Arbeitshandeln folgende Merkmale benennen (vgl. Rose/Macher 1993b):
- aktive differenzierte sinnliche Wahrnehmung und ergänzende Vorstellungen
- prozeßspezifische Kenntnisse, die in konkreten Arbeitssituationen erworben wurden und sich auf situative Gegebenheiten und Erlebnisse beziehen
- Synchronisation des Arbeitshandelns mit technischen Abläufen
- emotionales Involvement in das Prozeßgeschehen.
In der Auseinandersetzung mit diesem Konzept und unter Einbeziehung des von Kruse vorgeschlagenen Begriffs des Arbeitsprozeßwissens (Kruse 1986) hat Martin Fischer den Versuch unternommen, das Arbeitsprozeßwissen zu einem vielschichtigen Konzept für die Berufspädagogik zu entwickeln (Fischer 1996, 1997). Ähnlich dem Konzept von Böhle und Rose lassen sich zwei Seiten des Arbeitsprozeßwissens unterscheiden:
- die der sinnlichen Wahrnehmung und damit der subjektiven Seite nahestehende Erfahrung, die in Anlehnung an Hegel als eine Modalität der Welterkenntnis begriffen wird (und viele Facetten persönlicher Färbung aufweist) und
- die des objektiven Wissens (Wissenschafts- oder Fachwissens), das im Unterschied zur Erfahrung kontextunabhängig ist und damit dem institutionalisierten Lehren und Lernen zugänglicher ist.
Während Böhle/Rose die Wechselwirkung zwischen subjektivierenden und objektivierenden Arbeitshandeln konstatieren, aber nur ein deutliches Forschungsinteresse bezüglich des subjektivierenden Arbeitshandelns erkennen lassen (Böhle/Rose 1992, S.58), weist Fischer auf die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Erfahrung und objektiven Wissen, auf die Verschränkung von Subjektivität und Objektivität hin: "Im Erleben der Welt gehen in den Entstehungsprozeß von Erfahrung gleichzeitig Anschauungen und Vorstellungen, Gedanken und Gefühle ein. Erfahrung ist das sinnliche Erleben der gegenständlichen Realität (...), aber sie ist das durch geistige Leistung vermittelte Erleben (...)."(Fischer 1996).
Für die berufliche Bildung ist die Dialektik der durch (Fach-)Theorie modifizierten Erfahrung und der mit eigener Erfahrung verbundenen Theorie von größter Bedeutung: Das Arbeitsprozeßwissen hat in dieser dialektischen Einheit seine Wurzel.
Die empirische Analyse dieses Zusammenhangs und der wechselseitigen Abhängigkeit von Erfahrungswissen und Fachwissen bildet einen Forschungsschwerpunkt der Arbeitsgruppe "Rechnergestützte Facharbeit" am ITB. Die Resultate dieser Forschung im Berufsfeld Chemie wurden bereits am Beispiel der beruflichen Arbeit des Chemielaboranten aufgezeigt (Fischer/Röben 1997, Röben 1997, 1998).
In den folgenden Ausführungen soll der Begriff des Arbeitsprozeßwissens für die empirische Analyse der beruflichen Arbeit expliziert werden. Die auf der Grundlage dieses explizierten Begriffes gewonnenen empirischen Resultate der berufswissenschaftlichen Arbeitsanalyse von Chemiefacharbeitern werden dann im weiteren ebenso vorgestellt wie die Grundzüge eines Erfahrungsdokumentationssystems (EDS), mit dem es Chemiefacharbeitern ermöglicht werden soll, einen Teil ihrer individuellen Erfahrungen in der Produktion zu dokumentieren und an der Entwicklung von Produkten zu partizipieren.
2 Der Zusammenhang von Erfahrung, Fachwissen und Arbeitsprozeßwissen
Über den Begriff des Erfahrungswissens in der beruflichen Bildung gibt es eine reichhaltige Literatur (vgl. Fischer 1996, 1998 und die dortigen Referenzen, Siebeck 1994, 1996, Rudolf 1993) und eine Vielfalt von Auffassungen über den Inhalt dieses Begriffes. So verschieden der Begriff des Erfahrungswissens jedoch auch ausgedeutet werden mag, eines ist allen Ausdeutungen gemeinsam: Die Herkunft dieses Wissens aus dem eigenen Erleben von Situationen, die durch die Sinne erfaßt werden. Das durch die Sinne gegebene Material wird durch das Denken auf Begriffe abgebildet, aber das Erleben und auch die Akkumulation der Erfahrung zum Erfahrungswissen wird stark geprägt von der zeitlichen Abfolge der Sinneseindrücke.
Auch über den Begriff des Wissenschaftswissen gibt es eine umfangreiche Literatur (vgl. Stegmüller/Varga von Kibéd 1983), allerdings ist der größte Teil davon für die berufswissenschaftliche Diskussion bislang nur wenig erschlossen worden. Auch über das aus dem Bestand der korrespondierenden Wissenschaften abgeleitete Fachwissen finden sich nur relativ wenig Untersuchungen (vgl. Adolph 1984).
Das Wissenschaftswissen und damit auch das aus ihm abgeleitete Fachwissen weist eine vom Erfahrungswissen fundamental verschiedene Natur auf. Es geht zum größten Teilen nicht unmittelbar aus dem eigenen Erleben hervor und wird auch nicht durch eine zeitliche Struktur geprägt. Statt dessen besitzt es eine logische Struktur und ist situationsunabhängig in institutionellen Lernprozessen erlernbar. Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen des Wissens kann man an ihren sprachlichen Repräsentation erkennen: Demnach drücken Facharbeiter ihr Erfahrungswissen vorrangig in Form von Wenn-Dann-Beziehungen aus (vgl. Fischer 1997, S.165), denen noch die zeitliche Struktur der Erfahrungsakkumulation anhaftet. Das Fachwissen besitzt dagegen die Struktur von logischen Kalkülen, es operiert mit Ursachen und Gründen.
Das von Fischer benannte Charakteristikum des Arbeitsprozeßwissens Einheit von Erfahrungswissen und Fachwissen zu sein, mutet vor dem Hintergrund dieser Bestimmungen vielleicht ein wenig merkwürdig an: Wie sollen so grundverschiedenen Wissensarten im Arbeitsprozeßwissen aufgehoben werden und eine Einheit bilden ?
In der Tat scheint das Arbeitsprozeßwissen zunächst einmal eine Wissenskategorie eigener Art zu sein, die sich durch ihren Inhalt (nämlich das Wissen um den Arbeitsprozeß) bestimmt. Um einen Zusammenhang zwischen dem Arbeitsprozeßwissen und dem Erfahrungs- und Fachwissen herzustellen bedarf es daher eines Vermittlungsschrittes, der bislang fehlt und dessen Fehlen zu einer begrifflichen Unschärfe des Arbeitsprozeßwissens führen kann, was diesem Begriff ein ähnliches Schicksal eröffnen könnte, wie dem des Kompetenzbegriffs. Dieser Vermittlungsschritt beginnt mit der Bestimmung der Momente des Arbeitsprozesses (vgl. Abb.1).
Diese Momente des Arbeitsprozesses sind schon seit Aristoteles bekannt und lassen sich auch auf moderne Arbeitsprozesse anwenden. Da sie für die Analyse der Arbeit von großer Bedeutung sind, sollen sie hier kurz erläutert werden.
Die wichtigste Ursache ist für Aristoteles die Zweckursache, d.h. das Endziel (causa finalis), auf das der gesamte Arbeitsprozeß zielt (vgl. Aristoteles 1982). In der modernen, von der tayloristischen Teilung der Arbeit gekennzeichneten Arbeitswirklichkeit mutet diese Bestimmung vielleicht etwas idealisierend an. Wer kann heutzutage schon noch von seiner Arbeit behaupten, daß er der Träger ihres Zweckes oder Endziels ist. Während Aristoteles z.B. den bildhauenden Handwerker vor Augen hatte, der aus dem Marmor eine Figur herausschlägt, ist moderne Industriearbeit davon geprägt, daß das Ziel des Produktionsprozesses oftmals außerhalb des Ereignishorizonts einzelner Arbeitsprozesse liegt. Und dennoch scheint die Kenntnis dieses Zieles gerade in Zeiten flexibilisierter, qualitätsbetonter Produktion von großer Bedeutung zu sein. Bei VW legt man beispielsweise großen Wert darauf, daß auch die Montagearbeiter ein Wissen davon haben, welchen Anteil ihre Arbeit am fertigen Automobil hat.
- Citation du texte
- Peter Röben (Auteur), 1999, Über den Zusammenhang von Arbeitsprozesswissen und Fachwissen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/163871
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