„Der normale Mensch vergisst meistens, wie sehr er in ständigen Wiederholungen lebt, wie der normale Tagesablauf wie ein Ritual unabweichlich abläuft.“
Transzendentale Mediensysteme sind solche Kommunikationsformen, bei denen die Kommunikation mittels einer höheren Ebene zustande kommt. Sie sind bei einer umfassenden Untersuchung der Medientheorie nicht zu vergessen, weil sie in Wechselbeziehungen mit anderen Mediensystemen stehen und ihre Leistung für unsere Gesellschaft häufig unterschätzt wird.
Als höchststandardisierte Form transzendentaler Kommunikation sind Rituale anzusehen. Ihre besondere Leistung erbringen sie für die Gesellschaft dadurch, dass sie etwas erreichen, was weder Sprache noch Schrift alleine zu leisten vermögen: den Erhalt von Werten und besonderen Wissens über Generationen hinweg. Es scheint manchmal fast so als bestünde auch eine moderne Gesellschaft größtenteils aus Wiederholungen...
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen
Abbildungen
1 Einleitung
2 Begriffsdefinition und Abgrenzung
2.1 Transzendentale Mediensysteme
2.2 Ritualdefinition
2.3 Berührungspunkte von Ritualen mit anderen Mediensystemen
2.3.1 Transzendentale Mediensysteme: Vergleich von Ritual und Mythos
2.3.2 Rituale, Symbole, Sprache und Schrift
2.3.3 Ritual und Massenmedien
3 Funktionen und Aufgaben von Riten im Wandel der Zeit
3.1 Vom Nutzen der Rituale
3.1.1 Rituale konservieren
3.1.2 Rituale verfolgen biologische Ziele
3.1.3 Verdichtung und Vereinfachung – Rituale sind praktisch
3.1.4 Rituale als „Autokommunikation“
3.1.5 Rituale integrieren und isolieren
3.2 Aufgaben von Ritualen in der öffentlichen Kommunikation
4 Rituale in unserer Gesellschaft
4.1 Moderne Ritualisierungen in öffentlichen Lebensbereichen
4.2 Rituale in Gesetz und Politik
4.2.1 Rituale in der politischen Kommunikation
4.2.2 Rituale im Recht und bei Gericht
4.3 Ritualisierung und neue Medien
4.4 Rituelles Handeln in Konsum und Wirtschaft
4.5 Entritualisierung
5 Wechselbeziehung von Ritualen und anderen Medien
5.1 „Ein neues Medium verdrängt kein altes“
5.2 Verdrängung anderer Kommunikationsformen durch Rituale
5.3 Rituale ergänzen und verbessern andere Kommunikationsformen
5.4 Rituale werden von anderen Kommunikationsformen verdrängt
6 Fazit
Literaturverzeichnis
Stichwortregister
Abkürzungen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungen
Abb. 1: Autokommunikation
1 Einleitung
„Der normale Mensch vergisst meistens, wie
sehr er in ständigen Wiederholungen lebt, wie der
normale Tagesablauf wie ein Ritual unabweichlich abläuft.“[1]
Transzendentale Mediensysteme sind solche Kommunikationsformen, bei denen die Kommunikation mittels einer höheren Ebene zustande kommt. Sie sind bei einer umfassenden Untersuchung der Medientheorie nicht zu vergessen, weil sie in Wechselbeziehungen mit anderen Mediensystemen stehen und ihre Leistung für unsere Gesellschaft häufig unterschätzt wird. Als höchststandardisierte Form transzendentaler Kommunikation sind Rituale anzusehen. Ihre besondere Leistung erbringen sie für die Gesellschaft dadurch, dass sie etwas erreichen, was weder Sprache noch Schrift alleine zu leisten vermögen: den Erhalt von Werten und besonderen Wissens über Generationen hinweg. Ob unter diesem Gesichtspunkt Rituale als Basis- oder Erweiterungsmedien gesehen werden müssen; darüber kann diskutiert werden. Es scheint manchmal fast so als bestünde auch eine moderne Gesellschaft größtenteils aus Wiederholungen.
Nach grundlegenden Definitionen und dem Versuch einer Abgrenzung des Rituals von benachbarten Mediensystemen sollen Funktionen und Aufgaben der Rituale für die gesellschaftliche Kommunikation dargestellt werden. Hiernach wird im Hauptteil dieser Arbeit versucht die Bedeutung und die dabei erkennbaren Veränderungen von Ritualen im Laufe der Zeit in der politischen Kommunikation und anderen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen aufzuzeigen. Zuletzt soll beleuchtet werden, wie und warum Rituale an Bedeutung verlieren oder gewinnen, weil sie durch andere Mediensysteme verdrängt oder genutzt werden. Gearbeitet wurde auch mit aktuellen Beispielen, anhand derer gezeigt werden kann, wie Rituale bis heute nicht an Bedeutung verloren haben und sogar neue entstehen.
2 Begriffsdefinition und Abgrenzung
2.1 Transzendentale Mediensysteme
Die Streuung des gegenwärtigen Verständnisses vom Begriff des Mediums oder Mediensystems ist breit. Nach Werner Faulstich begrenzt sich die Mehrheit der Definitionsversuche für den Begriff „Medium“ auf das Verständnis eines materiellen Kanals, wobei das Modell der Nachrichtenübermittlung von Shannon und Weaver implizit zugrunde gelegt wird. Faulstich bietet eine Definition welche lautet: „Ein „Medium ist ein institutionalisiertes System um einen organisierten Kommunikationskanal von spezifischem Leistungsvermögen mit gesellschaftlicher Dominanz.“[2] Was sind aber „Kommunikationskanal“ und „Leistungsvermögen“ eines transzendentalen Mediensystems? Transzendental sind solche Sachverhalte, welche die Grenzen der menschlichen Erkenntnis berühren oder überschreiten. Ein Sachverhalt ist transzendent, wenn er jenseits, und immanent, wenn er diesseits der Grenzen unserer Erkenntnis liegt. Transzendental ist demnach, was die Erkenntnisse und Erfahrungen des Einzelnen übersteigt. Zu solchen transzendenten Bereichen gehört also auch das, was erst durch ein Kollektiv von Erfahrungen möglich wird: das kollektive Gedächtnis. Der Einzelne kann das Gesamte jedoch nie umfassend begreifen und kennen, somit bleibt es für ihn transzendental. Transzendentale Mediensysteme sind also solche Zusammenhänge zwischen einzelnen Menschen, die geeignet sind, solche kollektiven, geistigen Güter zu erfassen und zu verteilen.
Eine daher im Rahmen dieser Arbeit verwendete Anpassung der Definition von Faulstich lautet so: Mediensysteme sind Vermittlungseinrichtungen, die in menschlichen Gemeinschaften entwickelt werden. Sie erfüllen über einen konventionalisierten Code, der sich von dem anderer Mediensysteme unterscheidet, kulturelle, soziale, wirtschaftliche und politische Steuerungs- und Orientierungsaufgaben. Dies geschieht, indem sie Zusammenhänge zwischen einzelnen Menschen(-medien) herstellen und auf erhöhter Ebene eine außerhalb deren existierende Größe schaffen. Hieraus entsteht ein habitueller Gemeinsinn („common sense“). Diese Orientierungsaufgaben sollen unter „4. Rituale in unserer Gesellschaft“ dargestellt werden. Wie diese Vermittlungseinrichtung funktioniert soll im Folgenden erläutert werden.
2.2 Ritualdefinition
Wenn Begriffe wie „Medien“ oder „Kommunikation“ verwendet werden, denken viele sofort an moderne Kommunikationstechnik. Kommunikationsmedien sind jedoch älter als die Schrift oder die Sprache[3], so auch beim transzendentalen Mediensystem „Ritual“. Es gibt Funde aus der Steinzeit (40.000-5.000 v. Chr.) die bereits als Grabbeigaben gedeutet wurden.[4] In Mesopotamien entstanden 3.000 v. Chr. erste Lehmziegel-Tempel und in Ägypten standen bereits Pyramiden.[5] Wissenschaftler sehen hierin Hinweise auf die Kommunikation mit einer Transzendenz. Hinweise, darauf, ob etwas Rituelles im Glauben an etwas Übersinnliches geschieht fangen jedoch bereits im Moment an in welchem sich in der Menschheit eine Erinnerung bildet die außerhalb eines jeden Körpers liegt[6] - der Entstehung eines „kollektiven Bewusstseins “.
Was ist also nun ein Ritus oder auch ein Ritual? Die Begriffe „Ritual“, „Ritus“ und „Brauch“ verwischen in der Literatur. Die Ritualdefintion in A. van Genneps "rites de passage"[7] von 1909 untersucht den Gegenstand aus anthropologischer Sicht, und diese Begrifflichkeit wurde später auch von der Soziologie aufgenommen (z.B. E. Goffman[8] ). Da sich dem Thema neben Anthropologen und Soziologen auch Theologen und Historiker angenommen haben, gibt es keine einheitliche Begriffsdefinition. Aus dieser Schwierigkeit heraus soll im weiteren Verlauf dieser Arbeit nicht zwischen „Ritus“ und „Ritual“ unterschieden werden. Gewählt wurde eine Definition von Gregor Hoffmann, welche sich gut in die Publizistik einbetten lässt, weil sie sich nicht ausschließlich auf „Heilige Handlungen“ oder Ähnliches bezieht:
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„Rituale sind eingeübte Handlungen, deren wichtigste Merkmale Regelmäßigkeit, ein festgelegter Ablauf und eine ebenfalls festgelegte Bedeutung sind“.[9]
Ob das Merkmal der Wiederholung ausreicht, um von einem Ritual zu sprechen, wie einige es tun, ist fraglich.[10] Im Ritual sind die drei Zeithorizonte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft realisiert[11] (Mythos–Zelebrierung–Erhaltung). Der Ritus hat als Medium im medientheoretischen Sinne darüber hinaus
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die Funktionen Werte, Erinnerungen und auch Wissen zu transformieren, transportieren und nach CAREY über die Zeit hinweg im Kollektiv zu konservieren.[12] Sie tragen damit zur Weiterentwicklung aber auch zur Erhaltung und Kontinuität der Gesellschaft bei.
Dieser Ansatz beschreibt den Genotyp des Rituals. So sichert bspw. das Ritual in Religionen die ständige Wiederaufnahme der Texte.[13] In Ägypten wurden Kenntnisse über die Nachtphasen des Sonnenlaufs in Riten eingelassen.[14] Moderne Konservierungen werden in der weiteren Arbeit aufgezeigt. Eine alternative Ritualdefinition von Crowley und Heyer widmet sich eher der performativen Seite des Rituals und beschreibt damit eher dessen Phänotyp, lässt sich jedoch offen, wie genau welche Inhalte kommuniziert werden:
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„ Ein Ritual im allgemeinsten und grundlegendsten Sinn ist geplante oder improvisierte Performance, die eine Überleitung des alltäglichen Lebens in einen alternativen Zusammenhang, in dem der Alltag transformiert wird, bewirkt.“[15]
Dennoch zeigt dieser Definitionsversuch die Einbettung des Transzendentalen, des Rituellen in das Alltägliche. Andere Ansätze der Performanztheorie erscheinen ungeeignet, weil diese sich zu stark dem Sport und Theater widmen. Zu bedenken ist, dass sich Rituale aber heute häufig von ihren ursprünglichen Anlässen gelöst haben und daher ihre Elemente nicht „wortwörtlich“ zu verstehen sind.
Daneben gibt es noch rituelle Handlungen (wie z.B. das Bekreuzigen) die symbolische Bedeutung besitzen aber nicht eigenständig als Ritus zu werten sind. Darüber hinaus existieren unübersichtliche Erscheinungsformen des Rituals, sogenannte Ritualkomplexe.[16] Rituale bedienen sich ästhetisch-visueller Zeichen[17], choreografischer Zeichen (Position im Raum usw.), musikalischer Zeichen und dem sprachlichen Teil.[18]
Um den Begriff Ritual von wort- und sinnverwandten Ausdrücken wie „Brauch“ oder „Tradition“ abzugrenzen sei zu sagen, dass Bräuche im Rahmen dieser Arbeit als weniger komplex, weniger transzendental und weniger funktionsstiftend erachtet werden.[19]
2.3 Berührungspunkte von Ritualen mit anderen Mediensystemen
2.3.1 Transzendentale Mediensysteme: Vergleich von Ritual und Mythos
„Transzendenz“ heisst der Vorgang des Übersteigens der Grenzen menschlicher Erfahrung, möglicher Erkenntnis oder des menschlichen Bewusstseins.[20] Archaische Mediensysteme wie der Mythus, die Magie[21] oder auch der Ritus zeichnen sich durch ihren transzendentalen Ursprung aus. Im üblichen Sprachgebrauch wird „archaisch“ nicht mit modernen Phänomenen in Verbindung gebracht. Im Rahmen dieser Arbeit soll jedoch unter kommunikationswissenschaftlichen Gesichtspunkten kein Unterschied gemacht werden, ob Rituale alt hergebracht, verändert oder neu entstanden sind. Dies ist nötig, um einerseits auf die frühe Entstehung diese Mediensystems hinzuweisen, aber andererseits noch existente oder moderne Rituale nicht als überholt erscheinen zu lassen.[22]
In einem Mythos wird der Versuch unternommen, die Welt und die Vorgänge, die sich in ihr ereignen abzuleiten und zu erklären. Sie werden so zu kollektiven Erfahrungen. Jeder Mythos stellt somit ein Ordnungssystem dar, welches zumeist in Erzählungen mit Symbolcharakter ausgedrückt wird.[23] „Der Mythos manifestiert sich in dieser kausalen Welt. Im Ritual geht er in den Körper über. Was sich nicht körperlich auszudrücken vermag, ist kein Ritual. Im Ritual wird das Wort in Handlung übergeführt. Ein Protokoll zwischen Staatsmännern wird jeweils durch einen körperlichen Akt, einen Handschlag oder einen Bruderkuss, besiegelt.“[24] Ein weiteres Beispiel: Die Mythen der Politik manifestieren sich in einem sie verstärkenden, ritualisierten Sprachstil, mit dem der Sprecher sich als einzige Alternative zum Chaos und als allein vertrauenswürdig exponiert. So spricht Edelman in diesem Zusammenhang von „hochtönenden Reden“ und der Einprägsamkeit und Zweideutigkeit von Redewendungen, „die von Augenmaß und Entschlossenheit zeugen soll“.[25]
Rituale dienen somit als “Evidenzgeneratoren” und “machen das, was der Mythos einstweilen nur behaupten kann, erfahrbar und verleihen ihm dadurch einen anderen, stärkeren Realitätsgrad.“[26] Das Ritual kopiert und substituiert den Mythos, und so manifestiert sich der Mythos von der Unsterblichkeit der Seele oder der Seelen-Wanderung in vielen Geburts-, Sterbe und Gedenkritualen. „Mythos und Ritual [...] verweisen auf Geheimnisvolles, auf archaische Kulturen, in entfernte Zeiten. Modernen Menschen bleiben sie deshalb oft inhaltslos und fremd.“[27] Neben der Beziehung des Rituale zu anderen transzendentalen Mediensystemen soll nun auch die Verbindung zu nichtarchaischen Medienformen dargestellt werden.
2.3.2 Rituale, Symbole, Sprache und Schrift
Richard Riess sieht in Ritualen eine Sprache in einer sprachlosen Zeit, und diese Rituale dienen „ganz wie die Symbole, ihre nächsten Verwandten - der Transformation, der Verwandlung, der Übersetzung: vom Unbewußten ins Bewußte, vom Verstummtsein in Sprache, von Gebärdelosigkeit in Bewegung.“[28] Anthropologiegeschichtlich sind Rituale "paläopsychisch".[29] Auch werden Ritualisierungen, sichtbare Gesten und kognitive Fähigkeiten häufig in der Literatur als Voraussetzung für die Evolution der Sprache gesehen,[30] andere gehen davon aus, dass durch Nutzung von Basismedien nach und nach (durch die Organisation in der Gesellschaft) Rituale erst Rezipienten hinzugewonnen haben. Die Arbeit zur Ritualtheorie von HUMPHREY und LAIDLAW [31] (1994) beschreibt, dass nicht die (verbale) Kommunikation das wesentlichstes Element der Bedeutungen des Rituals darstellt, sondern vielmehr die spirituelle Hingabe an das rituelle Geschehen.[32] Die Sprache welche bei Ritualen zur Anwendung kommt ist häufig eine Art Fremdsprache für Anwesenden (Latein in der Kirche).[33] Dieses Sprechen ohne praktischen Informationsaustausch ist in vielen Gemeinschaften und Religionen zu beobachten. Auch in der Politik sind Kommunikation ohne faktischen Inhalt zu beobachten, wie insbesondere der Wettbewerb der Spitzenkandidaten im TV-Duell 2002 gezeigt hat: „Dass es dabei nicht zum Argument und zur Diskussion kommt, wird durch die Ritualisierung des Duells sichergestellt.“[34]
Die Sprache alleine ist nicht geeignet Werte zu vermitteln – hier braucht man symbolische und rituelle Formen.[35] Hier zeigt sich, wie auch ECO sagt, dass Sprache nur ein Zeichensystem unter anderen ist.[36] Ein weiteres Zeichensystem ist die Schrift. Die Prozession der ägyptischen Priester zeigt auf eindrucksvolle Weise „das Ineinander von Ritus, Schrift und Gedächtnis, das den ägyptischen Kult kennzeichnet. ...die Bücher mussten auswendig gelernt werden, der ganze Kanon wiederum fundiert das Ritual der Welt-in-Gang-Haltung und wird in einer Prozession inszeniert und aktiviert.“[37] Dort wo die Schrift die Menschen aus der Bindung an ein kollektives Sprechen herausgerissen hat, traten wieder Rituale, also gemeinsames Sprechen.[38] Schrift und Ritual sind jedoch nicht als substituierbar zu verstehen, vielmehr kann die Schrift bis heute auch ein Element von Ritualen sein. Inwieweit Rituale und andere Kommunikationsformen einander bedrohen soll auch abschließend unter „5. Wechselbeziehung von Ritualen und anderen Medien“ erläutert werden.
2.3.3 Ritual und Massenmedien
FISKE und HARTLEY sprechen beim Fernsehen von einem „sozialen Ritual“, durch das eine Kultur mit ihrem kollektiven Selbst kommunizieren kann.[39] Auch NEWCOMB und HIRSCH glauben, dass das Fernsehen in unserer pluralistischen Gesellschaft die Aufgabe der Reflexion der Kultur übernommen hat („Bühne für die Dramaturgie des öffentlichen Bewusstseins“).[40] PEACOCK glaubt, dass die Massenmedien durch ihren eigenen Symbolismus den Ritualismus überwinden.[41] Inwieweit Rituale eine Rolle in der Massenkommunikation spielen soll unter Punkt „4.3 Ritualisierung und neue Medien“ näher untersucht werden.
3 Funktionen und Aufgaben von Riten im Wandel der Zeit
3.1 Vom Nutzen der Rituale
3.1.1 Rituale konservieren
Man könnte von einem „kollektiven Gedächtnis“ sprechen, denn Rituale als Medien sind in diesem Sinne nicht einfach Übermittler von Botschaften, sondern dienen der Distribution kulturellen Wissens und kollektiver Erfahrungen.[42] Obwohl wir nicht das geringste mit vielen TV-Ereignissen zu tun haben, lässt uns das Ritual Fernsehen immer wieder betroffen fühlen, als Teil einer großen Gemeinschaft.[43] „Erfahrungen der Zuschauer mit den Massenmedien [geben] den Menschen ein Gefühl der Verbundenheit mit dem Ganzen des Kollektivs“.[44] KATZ nennt dies „stellvertretende Partizipation “.[45] So können sie Erfahrungen mit nicht direkt zugänglichen (transzendenten) Realitäten machen.[46] HARRY PROSS hat bereits in den frühen 70ern auf die rituelle Dimension des Fernsehens hingewiesen.[47]
Friedrich Hölderlin nennt eine Verbindung zwischen Menschen auch "ein menschlich höheres Leben“ bzw. „ein höheres Geschick, zwischen ihnen und ihrer Welt“.[48] Diese höhere Geschick beschreibt gut die Eigenständigkeit und die Funktionsweise des Mediums Ritual, welches unabhängig vom Überleben des Einzelnen ist. Die Grundfunktion von Medien bestand von Anfang an darin, Informationen zu speichern und zu beschleunigen. Medien geben unserem Leben künstliche Wahrheiten und willkürlich festgelegte Werte.[49]
McLuhan sieht Medien als eine Art der Ausweitungen von Körperfunktionen, über die der Mensch bereits ohne technische Hilfsmittel verfügt.[50] Wenn man sich im Gedanken nach McLuhan fragt, welches Organ durch das Ritual erweitert wird, so wie Fernsehen das Sehen über die Möglichkeiten des Auges hinaus erweitert, so könnte man sagen: Rituale erweitern unser Gehirn und unser Gedächtnis, und zwar insoweit, dass es – im Sinne der Containertheorie - Teil eines gesellschaftlichen Gedächtnisses wird, welches keinem biologischen Verfall mehr unterliegt. Auf dieses Wissen kann darauf von folgenden Generationen zurückgegriffen werden; der Zweck eines Rituals ist somit auch die Übertragung von Wissen. Erik H. Erikson spricht ebenso von einer „Ritualisierung der Realität“ bei Kindern[51], wodurch gezeigt werden soll, wie Menschen aus diesem Medium „kulturelles Gedächtnis“, aus diesem konservierenden und in der ganzen Realität verteilten „Ritualkomplex“, Werte und Normen schöpfen können. Durch diese organisatorische Absicherung erhält das Ritual die Gemeinsamkeiten.
So kann, wie am Beispiel der Olympiade, eine Weltkultur entstehen und erzeugt eine gemeinsame Geschichte.[52] Unterstützt durch technischen Verbreitungsmedien bewirkt das Teilnehmen am Ritual, dass „die Welt nur mehr ein Dorf“ ist.[53] Doch die Medienforschung, welche die Wirkung auf Individuen untersucht, kann solche Effekte auf die kollektive Erfahrung noch kaum nachweisen.[54]
[...]
[1] unter: http://www.berlinonline.de, 28.4.03.
[2] Faulstich, Werner (Hrsg.), Grundwissen Medien, Wilhelm Fink, München, 2000, S. 27.
[3] vgl. Crowley, David und Heyer, Paul (Hrsg.), Communication in History – Technology, Culture, Society, Longman New York & London, 1991, S. 7.
[4] vgl. Marshack, Alexander in: Crowley, David und Heyer (Hrsg.), Paul, Communication in History (1991), S. 11-13.
[5] s. von Keudell, Romay, Geschichte zum Nachschlagen, Compact Verlag, 1980, S. 2-3.
[6] vgl. Crowley, David und Heyer, Paul (Hrsg.), Communication in History (1991), S. 8.
[7] Gennep, Arnold van, Übergangsriten, Campus Verlag, Frankfurt a. Main, 1986, übersetzt aus dem Französischen : Les rites de passage, Édition A. et J. Picard, Paris, 1981.
[8] z.B. Goffman, Erving, Interaktionsrituale: Über Verhalten in direkter Kommunikation, 2. Aufl., .in: Suhrkamp (Hrsg.), Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1991, aus dem Amerikanischen: Interaction Ritual, Doubleday, Garden City, NJ, 1967.
[9] s. Hoffmann, Gregor in: Fix, Ulla (Hrsg.), Leipziger Arbeiten zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte - Ritualität in der Kommunikation der DDR, Peter Lang - Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt/Berlin/Bern, 1998, S. 62
[10] s. Günter, Thomas, Medien – Ritual – Religion: zur religiösen Funktion des Fernsehens, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 1998, S. 185.
[11] s. Hoffmann, Gregor in: Fix, Ulla (Hrsg.), Leipziger Arbeiten zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte (1998), S. 64
[12] s. Carey, James, A Cultural Approach to Communication, o. Verlag, o. Ort, o. Jahr, S.18: hierzu: „Die rituelle Sichtweise der Kommunikation zielt nicht auf die Verbreitung von Nachrichten im Raum, sondern auf die Erhaltung der Gesellschaft in der Zeit; nicht auf den Akt der Informationsmitteilung, sondern auf die Repräsentation gemeinsamer Überzeugungen“.
[13] s. Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, C.H. Beck, München, 1992, S. 150.
[14] s. Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis (1992), S. 171-172.
[15] Alexander, Bobby C., Ritual and current studies of ritual: Overview, in: Glazier, Stephen D. (Hrsg.), Anthropology of Religion: A Handbook, Greenwood Press, London,1997, S. 139.
[16] Fix, Ulla (Hrsg.), Leipziger Arbeiten zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte (1998), S. X.
[17] Farben und Muster sind sekundäre Medien.
[18] s. Fix, Ulla (Hrsg.), Leipziger Arbeiten zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte (1998), S. XIX.
[19] z.B. Hochzeitsbräuche (Polterabend, Weg-Sperren, Hupkonzert, Schleiertanz, Reis werfen, Ehrenspalier, Kinder wünschen, Braut einkaufen, Geschenke für die Gäste, Braut entführen, Brautstraußwerfen) oder barbarische Bräuche (Sklaverei und Kinderhandel) scheinen wenig transzendental.
[20] auf scholastische oder kantsche Erkenntnisse zum Transzendenzbegriff soll in dieser Arbeit verzichtet werden.
[21] eine Darstellung von Magie als Mediensystem soll hier nur ansatzweise erfolgen.
[22] Ernst Bloch schließt sein Riesenwerk "Das Prinzip Hoffnung" mit der Überzeugung, der Mensch lebe "noch überall in der Vorgeschichte" und bezieht sich in diesem Werk eindeutig auf Rituale.
[23] s. Franz Schupp, .Mythos und Religion: Der Spielraum der Ordnung., in: Hans Poser (Hrsg.), Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, Berlin, New York 1979, S. 60.
[24] Ringger, Heini, Vom Mythos zum Ritual, in : o. Hrsg., Rituale - Zwischenwelten, unimagazin – die Zeitschrift der Universität Zürich, Unipressedienst Zürich, 1/1998, S. 1.
[25] Edelman, Murray, Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns, Frankfurt/New York 1976, S. 163.
[26] Dörner, Andreas und Vogt, Ludgera, der Wahlkampf als Ritual. Zur Inszenierung der Demokratie in der Multioptionsgesellschaft in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Das Parlament – Aus Politik und Zeitgeschichte, Bonn, Nr. B 15-16/2002, S. 18.
[27] Ringger, Heini, Vom Mythos zum Ritual (1998), S. 1.
[28] Riess, Richard, Rituale – Sprache in sprachloser Zeit, unter: http://www.chv.org .
[29] will heißen: älter als die Sprache, ur-menschlich und durch die homonisierende Art erzeugen sie damit Kultur.
[30] s. Hockett, C.F., The origin of speech (1960), Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns (1981), Haiman, J., Ritualization and the development of language (1994), Wilcox, Sherman, The Invention and Ritualization of Language (2001).
[31] s. Humphrey, Caroline und Laidlaw, James, The Archetypal Actions of Ritual. A Theory of Ritual, Clarendon Press Oxford, 1994, S. 1ff.
[32] Frank, Gusta,2001, Rezension zu: Köpping, Klaus-Peter und Rao, Ursula (Hrsg.), Im Rausch des Rituals. Gestaltung und Transformation der Wirklichkeit in körperlicher Performanz, Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [Online Journal 2000], 2(2). Verfügbar über: http://www.qualitative-research.net [Datum des Zugriffs: 18.4.03].
[33] so diente Latein in Gottesdiensten nicht dem Verständnis des Gesagten (s. Assmann, Jan, Schrift und Kult in: Faßler, Manfred und Halbach, Wulf R. (Hrsg.), Geschichte der Medien, Wilhelm Fink Verlag, München, 1998, S. 59), und „Odd Fellow-Sitzungen beinhalten immer einen Ritual-Text“(http://www.rel-news.ch 17.4.03.), welcher trotz Kenntnis der Mitglieder über seinen Inhalt, gesprochen wird.
[34] Tagesspiegel Online vom 25.8.2002
[35] s. Günter, Thomas, Medien – Ritual – Religion: zur religiösen Funktion des Fernsehens, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 1998, S. 181.
[36] Eco, Umberto, zitiert in: Kauke, Wilma in: Fix, Ulla (Hrsg.), Leipziger Arbeiten zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte (1998), S. 103.
[37] Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis (1992), S. 169.
[38] s. Günter, Thomas, Medien – Ritual – Religion (1998), S. 159.
[39] s. Fiske, John und Hartley, John, Reading Television, o. Verlag, o. Ort, o. Jahr, S. 85.
[40] aus: Günter, Thomas, Medien – Ritual – Religion (1998), S. 152.
[41] s. Peacock, James L., Symbolic Anthropology. Rites of Modernisation, o. Verlag, o. Ort, o. Jahr, S. 245).
[42] erst später versuchte man das kollektive Wissen in kollektiven Gedächtnissen in der Form von Gegenständen zu bewahren (s. „5. Wechselbeziehung von Ritualen und anderen Medien“).
[43] s. Günter, Thomas, Medien – Ritual – Religion (1998), S. 159.
[44] Schudson, Michael, The Menu of Media Research, o. Verlag, o. Ort, o. Jahr, S. 43 – 50.
[45] Katz, Elihu, in : Günter, Thomas, Medien – Ritual – Religion (1998), S. 189.
[46] s. Günter, Thomas, Medien – Ritual – Religion (1998), S. 170.
[47] s. Günter, Thomas, Medien – Ritual – Religion (1998), S. 180.
[48] Hölderlin, Friedrich, Sämtliche. Werke, Insel-Verlag, o. Ort, 1961, S. 997.
[49] vgl. McLuhan, Marshall, Die magischen Kanäle - Understanding media, Econ-Verlag, Düsseldorf/Wien, 1968, S. 217.
[50] s. McLuhan, Marshall, Die magischen Kanäle (1968), S. 50-52.
[51] Erikson, Erik H.,Kinderspiel und politische Phantasie. Stufen in der Ritualisierung der Realität; Suhrkamp, Frankfurt 1989, S. 1-140.
[52] s. Günter, Thomas, Medien – Ritual – Religion (1998), S. 177.
[53] angelehnt an: McLuhan, Marshall, Die magischen Kanäle (1968), S. 57.
[54] s. Günter, Thomas, Medien – Ritual – Religion (1998), S. 175-176.
- Citar trabajo
- Christian Rell (Autor), 2003, Rituale - transzendentale Mediensysteme zum Aufbau einer umfassenden Medientheorie, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16313
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