Wie ist Sterbehilfe ethisch zu beurteilen? Dieser Essay spricht sich gegen die so genannte "aktive Sterbehilfe" aus und plädiert stattdessen für die Etablierung einer modernen "ars moriendi".
Sterbehilfe (Bioethik)
Die Bioethik ist eine Subdisziplin der angewandten Ethik, die sich im Spannungsfeld von primär medizinisch orientierten fachwissenschaftlichen Diskussionen und der öffentlichen Meinung bewegt.
Bioethik ist das systematische Studium des menschlichen Verhaltens auf dem Gebiet der Wissenschaften vom Leben und in der Gesundheitspflege, insoweit dieses Verhalten im Licht moralischer Werte und Prinzipien bewertet wird.
Die Gegenstände der Bioethik betreffen dementsprechend keine neuen Untersuchungsfelder der Ethik, sondern fokussieren gemäß einem aktuellen Bedarf traditionelle Debatten unter den Vorzeichen (medizin-)technischer Innovationen.
Zu den Aufgaben der Bioethik zählt:
1. Die Analyse von moralischen Begriffen, Argumentationen und Begründungsverfahren
2. Die Offenlegung impliziter Prämissen und Bedeutungskomponenten, d.h. die Herstellung von Transparenz
3. Das Eintreten in den Diskurs mit anderen Disziplinen wie z.B. Medizin, Theologie, Psychologie, Jurisprudenz, Politik etc.
4. Die Förderung des öffentlichen Meinungsbildungsprozesses
Insbesondere am Beginn und am Ende eines Menschenlebens treten - auch als Konsequenz der Hightech-Medizin komplexe moralische Dilemmata auf.
Intensivmedizinische Errungenschaften wie die Herz-Lungen-Maschine haben dazu geführt, dass Menschen heute in Situationen am Leben erhalten werden können, die früher unweigerlich zum Tod geführt hätten. Diese veränderten Leidenszustände in der letzten Lebensphase sowie die Verlängerung von Sterbeprozessen halten die Debatten um das Themenfeld Sterbehilfe in Gang. Aktuell entzündete sich die erneute Kontroverse am Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofes vom 25.06.2010 - wonach der Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung auf Grundlage des Patientenwillens nicht strafbar ist.
Drei grundlegende Begriffe beherrschen den bioethischen Diskurs der Sterbehilfe: passive Sterbehilfe, aktive Sterbehilfe und indirekte Sterbehilfe. Die gängige Verwendung dieser Termini möchte ich kurz darlegen.
1. Der Terminus passive Sterbehilfe meint das Einstellen oder das Nichtergreifen von lebenserhaltenden medizinischen Maßnahmen bei Schwerkranken oder Sterbenden; das Sterben wird zugelassen. Auf eine intensivmedizinische Maximalbehandlung wird verzichtet.
2. Unter aktiver Sterbehilfe versteht man Maßnahmen bei Schwerkranken oder Sterbenden, die den Tod vorzeitig herbeiführen sollen, Ziel ist die Lebensbeendigung.
3. Der Terminus indirekte Sterbehilfe bezeichnet Maßnahmen bei Schwerkranken oder Sterbenden, die Leid mindern sollen und bei denen im Sinne der Doktrin der Doppelwirkung als unbeabsichtigte Nebenwirkung der Eintritt des Todes beschleunigt wird (hier wäre z.B. der Einsatz hoch dosierter Schmerzmittel zu nennen). Behandlungsziel ist die Leidminderung.
Diese drei Begriffe unterscheiden sich hinsichtlich des Behandlungszieles und sind zu recht sehr umstritten. Zunächst ist zu konstatieren, dass der Terminus „Sterbehilfe“ ambivalent ist. Man kann darunter sowohl Hilfe beim Sterben, als auch Hilfe zum Sterben verstehen.
Ein weiterer Einwand lautet, dass die Bezeichnung „Hilfe“ positiv konnotiert ist, d.h. es ist eine unzulässige Wertung impliziert.
In Fällen der unfreiwilligen Tötung von Schwerkranken und Sterbenden, welche sich etwas in den Niederlanden ereignen, ist die Bezeichnung „aktive Sterbehilfe“ euphemistisch und makaber.
Außerdem sind die Adjektive „passiv“ und „aktiv“ irreführend: Beim Abschalten eines Beatmungsgerätes vollzieht der Arzt zwar einen aktiven Eingriff, da er den Patienten damit aber dem ursprünglich ablaufenden Sterbeprozess überlässt, wird diese Handlung zur so genannten „passiven Sterbehilfe“ gezählt.
Ich schlage folgende alternative Terminologie vor:
1. Straflose Handlungsbegrenzung bei Schwerkranken oder Sterbenden anstelle von passiver Sterbehilfe
2. Strafbare Tötung von Schwerkranken und Sterbenden auf Verlangen anstelle von aktiver Sterbehilfe
3. Leidenslinderung Schwerkranker und Sterbender bei Gefahr der Lebensverkürzung anstelle von indirekter Sterbehilfe
Insbesondere eine deutlichere Differenzierung von Töten und Sterbenlassen ist wichtig (Signifikanzthese), denn die Tötung von Schwerkranken und Sterbenden ist ethisch nicht vertretbar. Die Legalisierung der so genannten aktiven Sterbehilfe ist – auch in Anbetracht der Euthanasie im Dritten Reich – kategorisch abzulehnen.
Die straffreie Tötung Schwerkranker und Sterbender birgt die Gefahr der – vorsichtig ausgedrückt - unfreiwilligen Sterbehilfe, d.h. die Sterbehilfemaßnahme erfolgt ohne Berücksichtigung oder gegen den Willen des Patienten. In den Niederlanden, wo die aktive Sterbehilfe seit 1995 gesetzlich erlaubt ist, wurden 2001 laut Dieter Birnbacher[1] rund 1000 Patienten ohne ihre Einwilligung getötet.
Insbesondere bei Schwerkranken, die nicht mehr in der Lage sind, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu artikulieren besteht das Risiko, dass ihnen das Lebensrecht abgesprochen wird. Diese Verfügungsgewalt über fremdes menschliches Leben ist ethisch nicht vertretbar!
Weitere Dammbrucheffekte wie zum Beispiel eine sich ausweitende Indikation sind zu befürchten. So „begleitet“ die berühmtberüchtigte Schweizer Sterbehilfeorganisation „Exit“ auch psychisch Kranke in den Tod.
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[1] Birnbacher, Dieter: Eine ethische Bewertung der Unterschiede in der Praxis der Sterbehilfe in den Niederlanden und Deutschland.
- Citation du texte
- Nora Nebel (Auteur), 2010, Sterbehilfe (Bioethik), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/163121