Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung gilt weltweit als häufigste kinderpsychiatrische Diagnose. In Deutschland sind ca. 320.000 Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 16 Jahren betroffen (vgl. Skrodzki, 2000, S.76). Gleichzeitig gehört ADHS zu den „besterforschtesten Störungsbildern des Kindes- und Jugendalters“ (Döpfner & Lehmkuhl, 1995, S.169). Doch es handelt sich um ein „zersplittertes Forschungsgebiet“ (Hamsen, 2003, S.3), denn noch immer besteht keine Einigkeit darüber, welchen theoretischen Konstrukten das Störungsbild zugrunde liegt.
Die Brisanz des Themas ist groß, davon zeugen mittlerweile über 50 000 Webseiten sowie unzählige Veröffentlichungen. Die Gründe hierfür reichen vom „menschlichen Bestreben nach Ordnung, Klassifizierung und [der] Erklärung [eines] störenden Verhaltens bis hin zu handfesten ökonomischen Interessen“ (Hamsen, Beudels, Hölter in Sportpsychologie, 2004, S.91). In der Diskussion um den zunehmenden Auftrag des Sportunterrichts, gesundheitserzieherisch tätig zu werden, gewinnt auch die Frage nach schulinterner Förderung hyperaktiver Kinder an Bedeutung, ebenso wie die Frage, welche Aufgaben dem Sportunterricht in dieser Hinsicht zukommen.
Ein persönliches Interesse, die Thematik aus sportpsychologischer Sicht zu beleuchten, entspringt zudem aus dem engen Verhältnis der Symptomatik mit der Bewegung, denn Hyperaktivität, eines der Kernsymptome der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung, stellt eine ausgeprägte Form motorischer Auffälligkeiten dar.
Die Arbeit gliedert sich in drei große Teilbereiche. Zunächst soll ein theoretischer Zugang zum Themenschwerpunkt Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung geschaffen werden, der das Störungsbild unter klinischen, psychologischen und sozialen Aspekte beleuchtet. Darüber hinaus sollen in einem zweiten Teil Konzepte der Bewegungsförderung aufgezeigt und verschiedene Möglichkeiten bewegungsorientierter Förderung von hyperaktiven Kindern vorgestellt werden. Im didaktischen Teil der Arbeit sollen diese Konzepte auf ihrer Umsetzbarkeit im Sportunterricht der Sekundarstufe I überprüft werden und eine realistische Einschätzung auf die Möglichkeiten schulinterner Förderung gegeben werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Definition und Klassifikation von ADHS
3. Primäre Symptomatik
3.1 Aufmerksamkeitsstörung
3.2 Impulsivität
3.3 Hyperaktivität
4. Sekundäre Symptomatik und Komorbitäten
5. Bedingungen für ADHS
5.1 Biologische Bedingungen
5.1.1 Genetische Bedingungen
5.1.2 Hirnstrukturelle und funktionelle Bedingungen
5.2 Psychologischen Bedingungen
5.3 Soziale Bedingungen
6. Interventionen
6.1 Medikamentöse Intervention
6.2 Psychologische Intervention
6.3 Soziale Intervention
6.5 Zwischenresümee: Von den Klassifizierung zur Förderung
7. Systematische Einteilung bewegungsfördernder Konzepte (nach Seewald)
8. Ziele und methodische Prinzipien bewegungsorientierter Förderung
9. Bewegungsverhalten bei Kindern mit ADHS
9.1 Der hypertone ADHS- Typ
9.2 Der hypotone ADHS- Typ
9.3 Körperliche Fitness
9.4 Zwischenresümee: Vom spezifischen Bewegungsverhalten zur bewegungsorientierten Förderung
10. Bewegungsfördernde Konzepte
10.1 Die Ergotherapie
10.1.1 Die Sensorische Integration nach Jean Ayres
10.2 Die Psychomotorik
10.2.1 Psychomotorische Übungsbehandlung nach Kiphard
10.3 Exkurs: Schwimmen Nur fliegen ist schöner. (Werbeslogan)
10.4 Exkurs: Trampolin
10.5 Exkurs: Ringen und Raufen
10.6 Exkurs : Entspannung
10.7 Resümee: Lernen und Fördern durch Bewegung
11. Bewegungsangebote im Schulalltag
12. Integration bewegungsorientierter Förderung hyperaktiver Kinder im Sportunterricht der Sekundarstufe I
12.1 Struktur und Rahmenbedingungen einer Sportstunde mit hyperaktiven Kindern
12.2 Exemplarisches Modul eines Stundenaufbaus zur Förderung und Schulung hyperaktiver Kinder
13. Geeignete Sportarten und Freizeitaktivitäten für Kinder mit ADHS
14. Bewegungsorientierte Förderung von AHDS- Kindern im Rahmen eines schulischen Förderprogramms
15. Zusammenfassende Diskussion und Ausblick
16. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung gilt weltweit als häufigste kinderpsychiatrische Diagnose. In Deutschland sind ca. 320.000 Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 16 Jahren betroffen (vgl. Skrodzki, 2000, S.76). Gleichzeitig gehört ADHS zu den „besterforschtesten Störungsbildern des Kindes- und Jugendalters“ (Döpfner & Lehmkuhl, 1995, S.169). Doch es handelt sich um ein „zersplittertes Forschungsgebiet“ (Hamsen, 2003, S.3), denn noch immer besteht keine Einigkeit darüber, welchen theoretischen Konstrukten das Störungsbild zugrunde liegt.
Die Brisanz des Themas ist groß, davon zeugen mittlerweile über 50 000 Webseiten sowie unzählige Veröffentlichungen. Die Gründe hierfür reichen vom „menschlichen Bestreben nach Ordnung, Klassifizierung und [der] Erklärung [eines] störenden Verhaltens bis hin zu handfesten ökonomischen Interessen“ (Hamsen, Beudels, Hölter in Sportpsychologie, 2004, S.91). In der Diskussion um den zunehmenden Auftrag des Sportunterrichts, gesundheitserzieherisch tätig zu werden, gewinnt auch die Frage nach schulinterner Förderung hyperaktiver Kinder an Bedeutung, ebenso wie die Frage, welche Aufgaben dem Sportunterricht in dieser Hinsicht zukommen.
Ein persönliches Interesse, die Thematik aus sportpsychologischer Sicht zu beleuchten, entspringt zudem aus dem engen Verhältnis der Symptomatik mit der Bewegung, denn Hyperaktivität, eines der Kernsymptome der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung, stellt eine ausgeprägte Form motorischer Auffälligkeiten dar.
Die Arbeit gliedert sich in drei große Teilbereiche. Zunächst soll ein theoretischer Zugang zum Themenschwerpunkt Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung geschaffen werden, der das Störungsbild unter klinischen, psychologischen und sozialen Aspekte beleuchtet. Darüber hinaus sollen in einem zweiten Teil Konzepte der Bewegungsförderung aufgezeigt und verschiedene Möglichkeiten bewegungsorientierter Förderung von hyperaktiven Kindern vorgestellt werden. Im didaktischen Teil der Arbeit sollen diese Konzepte auf ihrer Umsetzbarkeit im Sportunterricht der Sekundarstufe I überprüft werden und eine realistische Einschätzung auf die Möglichkeiten schulinterner Förderung gegeben werden.
Aus vereinfachenden Gründen soll im Folgenden die Abkürzung ADHS für Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung gelten.
Diagnostik ist die Kunst des Puzzelns, da jede Situation oder Übung stets komplex, mehrdeutig und ganzheitlich bewältigt werden muss. Verhalten kann nur in diesem Zusammenhang interpretiert werden (Köckenberger 2001, S.24)
2. Definition und Klassifikation von ADHS
Die Kriterien für die Diagnose Hyperkinetische Störung oder Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom mit Hyperaktivitätsstörung sind heute in den international gebräuchlichen Klassifikationsschemata der ICD 10 der Weltgesundheitsorganisation und der DSM IV der American Psychiatric Association festgehalten.
In beiden Diagnosesystemen muss sich die „Störung in der Beeinträchtigung der drei Symptombereiche: Aufmerksamkeit (Aufmerksamkeitsstörung, Ablenkbarkeit), Impulskontrolle (Impulsivität) und motorischen Aktivität (Hyperaktivität) manifestieren“ (Schubert, Köster, Ihle & Lehmkuhl in Kinderärztliche Praxis, 75, 2004, S.10). Die Abweichungen sollten bereits im Alter von sechs Jahren vorhanden sein und sich in mehreren Lebensbereichen des Kindes (Familie, Kindergarten oder Vorschule) spezifizieren. Dazu müssen sie über einen Zeitraum von sechs Monaten in „einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß“ (Stellungnahme „ADHS“- Langfassung der Bundesärztekammer, 2005, S.6) vorhanden sein. Dabei sollen andere Störungen und Behinderungen differentialdiagnostisch ausgeschlossen werden, weil z.B. auch Kinder mit Teilleistungsstörungen sowohl im auditiven als auch im visuell-motorisch und taktil-kinesthetischen Bereich ein ähnliches Verhalten entwickeln, wie es bei ADHS beobachtet werden kann (Schubert et al. in Kinderärztlicher Praxis, 75, 2004, S.12).
Die drei vorangestellten Symptombereiche können einzeln oder in Kombination auftreten und in verschiedenen Lebensbereichen unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Für ein besseres Verständnis werden hier auch Merkmale der einzelnen Symptombereiche im Folgenden aufgelistet, wie sie im Kindes- und Jugendalter auftreten können (Stellungnahme „ADHS“- Langfassung der Bundesärztekammer, 2005, S.6).
Das ICD-10 (International Classification of Diseases) differenziert unter dem Begriff der „Hyperkinetischen Störung“ (HKS) folgend Symptome: „Einfache Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung“, „hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens“, „sonstige hyperkinetische Störung“ und eine „nicht näher bezeichnete hyperkinetische Störung“ (Weltgesundheitsorganisation 1993, S. 296).
Das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (derzeit in der vierten Auflage- DSM IV) bezieht sich auf den Begriff ADHD (Attention deficit/ hyperactivity disorder) zu deutsch Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), wobei es hier drei Untergruppen verzeichnet: Den „Mischtyp“, der eine „Aufmerksamkeits-Störung mit Hyperaktivität/-Impulsivität“ beinhaltet, einen „vorwiegend unaufmerksamen Typ“ und einen „vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Typ“ und einer „nicht näher bezeichneten Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung“, wenn nicht alle geforderten Eigenschaften gegeben sind (Saas, Wittchen & Zaudig, 1996, S.62).
Beide Klassifikationsschemata unterscheiden sich kaum in der Definition der Symptome, dafür umso mehr in der Anzahl und Abfolge der Untergruppen. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass beim ICD-10 immer alle drei Kernsymptome (Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität) vorliegen müssen, dagegen werden im DSM-IV die drei Bereiche getrennt voneinander betrachtet und mehr differenziert (vgl. Lauth & Schlottke 1996, S.87). Diese Differenzierung in „gemischte bzw. stärker hyperkinetische oder stärker aufmerksamkeitsgestörte Formen entspricht eher den Bedürfnissen der Praxis“ (Döpfner, Schürmann & Fröhlich, 1997, S.26) sowie auch die Kriterien, die für die Klassifizierung herangezogen werden, zum Beispiel: Das Kind hat oft Schwierigkeiten, seine Aufmerksamkeit über längeren Zeitraum wie z. B. beim Spielen aufrechtzuerhalten, oder „das Kind läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist“ (Stellungnahme „ADHS“- Langfassung der Bundesärztekammer, 2005, S. 9-10). Dies ist sicher auch ein Grund, wieso sich das DSM-IV als internationales Klassifikationsschema empfohlen hat und häufiger als das ICD-10 zum Einsatz kommt (vgl. Lauth & Linderkamp, 1998, S.213).
Im DSM-III 1980 wurde das Hauptaugenmerk noch auf die Aufmerksamkeitsstörung gelegt und diese in eine Störung „mit“ und „ohne Hyperaktivität“ geteilt, wobei hier deutlich wird, dass die motorische Unruhe auch ohne Aufmerksamkeitsstörung auftreten kann. Bereits in der Revisionsform des DSM-III (DSM-III-R) 1989 wurden jedoch die beiden Störungsbilder zu einem Störungsbegriff zusammengefügt und der Begriff der „Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung“ eingeführt (vgl. Neuhaus in Passolt, 1993, S.120). Eine Begründung dafür ist im kommentierten Vergleich des DSM-III zum DSM-III-R, 1989 zu finden, in dem auf die zu selten gestellte Diagnose „Aufmerksamkeitsdefizit ohne Hyperaktivität“ hingewiesen wird (Kommentierter Vergleich von DSM-III und DSM-III-R in DSM-III-R, 1989).
In Anlehnung an frühere Begriffsdefinitionen wie z.B. „Minimale cerebrale Dysfunktion“ (Hölter, 2004 in Motorik, S.69), die geprägt waren durch Forschungen der 60er Jahre, stützt man sich mit Beginn der 70er Jahre zunehmend auf hirnstrukturelle und hirnfunktionelle Erklärungsmodelle aus der Psychophysiologie, die von einer Unter- bzw. Übererregung des zentralen Nervensystems, als Ursache für hyperaktives Verhalten ausgehen (vgl. Sandberg & Barton, 1996, S.17). So haben sich für das Störungsbild zwei Begriffe etabliert, der der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS), und der des hyperkinetischen Syndroms (HKS). In Europa sind außerdem Bezeichnungen wie POS (Psycho-organisches Syndrom) und speziell in den skandinavischen Ländern DAMP („Deficits in Attention, Motor Control and Perception“) gebräuchlich (Hamsen, Beudels & Hölter in Sportpsychologie 2004, S.92).
Über die Häufigkeit und Verbreitung von ADHS gibt es in der Literatur eine Vielzahl an Schätzungen. Cordula Neuhaus erhebt aus ihren eigenen Forschungen einen Betroffenenanteil von 9-12 % (vgl. Neuhaus, 1999, S.57). Baumgaertel, Wolfraich und Dietrich (1995) untersuchten 1000 Kinder auf ADHS und ermittelten eine Gesamtprävalenz von 17,7%. Für den unaufmerksamen Typ wurde eine Prävalenzrate von 9 %, für den hyperaktiv-impulsiven Typ eine Rate von 3,9% und für den kombinierten Typ eine Rate von 4,8% erhoben. Beim hyperaktiv-impulsiven Typ wurde eine Geschlechtsdifferenz zwischen Jungen und Mädchen von 5:1 festgestellt, während beim überwiegend unaufmerksamen Typ das Verhältnis 2:1 war. Insgesamt schwankt die Zahl der betroffenen Kinder in Deutschland unter 20 Jahren von ca. ½ Million bis knapp 2 Millionen (Informationsblatt des Arbeitskreises überaktives Kind e.V., 1990). Eindeutige Prävalenzraten lassen sich für die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung nicht feststellen. Dies hängt sicherlich damit zusammen, dass es schwer ist, zwischen einer Krankheit als definierte Störung und den Ausprägungsgraden von Aufmerksamkeitsschwäche, Hyperaktivität und Impulsivität, die noch als „Normvariante“ (Schlack in Kinderärztliche Praxis, 75, 2004, S.7) gelten könnten, eine klare Grenze zu ziehen. Hinzu kommt, dass es die unterschiedlichsten Verfahrenstechniken (EEG, Anamnese) und Erhebungsmethoden für die Diagnose „ADHS“ gibt und die Problematik komorbider Störungen eine klare Definition der Störung erschwert.
3. Primäre Symptomatik
Als die Primärsymptome der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung werden entsprechend der internationalen Klassifikationen (ICD und DSM) eine Störung der Aufmerksamkeit, der Hyperaktivität und der Impulsivität genannt.
3.1 Aufmerksamkeitsstörung
Die Aufmerksamkeitsstörung bei den Kindern äußert sich dadurch, dass sie sich schlecht konzentrieren können, besonders über einen längeren Zeitraum hinaus, sie sind leicht ablenkbar durch äußere Reize, was die Schwierigkeiten verstärkt, an einer Sache dran zu bleiben. Es fällt ihnen auch schwer, Unwesentliches von Wesentlichem zu trennen, wobei hier die Informationsverarbeitung eine wichtige Rolle spielt. Diese ist bei ADHS- Personen gestört, „der Aufnahmefilter für die Informationen und die Zusammenarbeit einzelner Fachabteilungen in der Verarbeitungs-Zentrale Gehirn funktioniert nicht optimal“ (Aust-Claus, 1999, S.109). Manchmal ist der Aufnahme- Filter bei ADHS- lern zu weit eingestellt und sie nehmen mehr Informationen auf als notwendig wäre und manchmal ist er viel zu eng eingestellt und sie nehmen nur Teile aus ihrer Umwelt wahr. Dagegen gibt es Studien, die aufzeigen, dass betroffene Kinder unter Zusatzreizen (bspw. Musik) Aufgaben besser lösen konnten (vgl. Hamsen, 2003, S.19). Und wenn der Stellenwert einer Sache für die Kinder persönlich hoch ist, können sie sich stundenlang und sensibel beschäftigen. Dies verführt natürlich zu der Annahme, dass die Kinder könnten, wenn sie nur wollten. Aber sie können sich nicht steuern, wie sie wollen, ein „mittleres Aktivierungsniveau oder eine mittelmäßige Motivationslage“ (Neuhaus, 1999, S.58), gibt es nicht, versichert Cordula Neuhaus (1999, S.58). Entweder sind die Kinder „hoch motiviert“ (Neuhaus, 1999, S.58), dann funktionieren Konzentration und Aufmerksamkeit einwandfrei, oder sie sind es eben gar nicht. Dann funktioniert überhaupt nichts mehr. Ihre Gedanken schweifen ab, sie können sich nicht mehr konzentrieren, ihre Aufmerksamkeit lenken und steuern und sie verlieren das Interesse (vgl. Neuhaus 1999, S.58-64). Hinzu kommt ein schlechtes Organisationstalent und eine „quälenden Vergesslichkeit, für alles das, was man sich eigentlich merken sollte“ (Neuhaus in Fitzner 2000, S.95).
3.2 Impulsivität
Die Symptomatik der Impulsivitätsstörung zeigt sich darin, dass die Kinder immer alles sofort umsetzen müssen, gedanklich oder handelnd. Sie platzen oft mit einer Antwort heraus, ehe die Frage zu Ende gestellt worden ist, unterbrechen andere, weil sie nicht abwarten können, bis sie an der Reihe sind (vgl. Neuhaus, 1999, S.62). Die „Impulsivität als Störung zeigt sich hier in ständigem, unkontrolliertem, unbeherrschtem und situationsunangemessenen Folgen aller interesseweckenden Impulse“ (Kaboth, 2001, S.32).
Denn es gibt keine Handlung ohne Grund, und das was ein Kind spontan tut, entspricht immer seiner tiefen Motivation. An uns liegt es, zu verstehen, was dieses Tun wirklich ausdrückt- und durch unser eigenes Tun zu antworten (Aucouturier 1995)
3.3 Hyperaktivität
Unter dem Begriff der Hyperaktivität fasst Jetter (1993 zit. nach Hamsen 2003, S. 11) eine „andauernde motorische Unruhe, ungebremste Motorik und Koordinationsschwächen“ und einen „unangemessenen Kraftaufwand“ zusammen. Diese Kinder zappeln ständig herum, haben oft plötzlich das Gefühl aufspringen zu müssen und sich zu bewegen, sie sind rastlos und nur schwer wieder „herunterzuholen“. Die Annahme, dass die Kinder nur in Situationen, in denen es Einschränkungen des natürlichen Bewegungsdranges gibt, hyperaktiv sind, dementiert Eichlseder (1999, S.69). Er verweist auf wissenschaftliche Untersuchungen, die gezeigt haben, dass ADHS- Kinder sowohl im Unterricht, beim stillen Bearbeiten einer Aufgabe als auch beim Herumtoben im Freien (Schulhof, Sportplatz) sich übermäßig viel bewegen.
Jedes Kind fällt mal durch übermäßigen Bewegungsdrang und Unruhe auf, doch bei ADHS- Kindern ist dies wesentlich häufiger und extremer. Eichlseder beschreibt die Symptomatik der Hyperaktivität stichwortartig anhand eines Kindes mit extremer Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung:
„Spielt schon früh morgens mit dem Eishockeyschläger im Treppenhaus Ball, hat überhaupt keine Angstgefühle: Ohne schwimmen zu können, springt er mit drei Jahren ins tiefe Wasser, als Vierjähriger vom Drei-Meter-Brett, als Fünfjähriger kopfüber vom Fünf-Meter-Turm. Unfall mit dem Fahrrad, weil er „wie ein Rennfahrer im Fernsehen“, den Kopf herunter zwischen die Schultern steckt und so in ein Auto fährt, was ihm ein Schädelhirntrauma und einen Spitalaufenthalt einbringt. Sturz vom Baum. Schätzt Gefahren nicht ab. Bringt es fertig, beim Spiel „Wer-kann-am-längsten-die-Luft-anhalten“, so lange nicht zu atmen, bis er bewusstlos zusammengesackt sich eine Platzwunde am Kopf einhandelt und ins Krankenhaus gebracht werden muss, usw.“ (Eichlseder 1999, S.33).
4. Sekundäre Symptomatik und Komorbitäten
„2/3 aller Kinder mit hyperkinetischen Störungen weisen neben der Kernsymptomatik weitere komorbide Störungen auf, wie externale Verhaltensstörungen mit aggressivem und dissozialen Verhalten in 43% bis 93% der Fälle und internale Störungen mit Angst und Depressivität in 13% bis 51% der Fälle“ (Schubert, Köster, Ihle & Lehmkuhl in Kinderärztliche Praxis, 75, 2004, S.12). „Auffallend ist häufig eine geistige, seelische und körperliche Entwicklungsverzögerung, verglichen mit Altersgenossen“ (Eichlseder, 1999, S.46).
Cordula Neuhaus führt ergänzend hierzu die Somatisierungstendenzen auf, die körperlichen Symptome, die besonders bei vielen Jugendlichen mit hyperkinetischen Störungen auftreten, wie z. B. Kopfschmerzen, unklarer Schwindel, Wechsel zwischen Durchfall und Verstopfung, Blähungen und Magenbeschwerden. In einem Informationsblatt für Lehrer, Erzieher und Eltern (1994) schreibt sie: „Auffallend sind außerdem Schlafstörungen (im Kleinkindalter eher frühes Aufwachen, bei größeren Kindern Einschlafschwierigkeiten), eine oft zu beobachtende Affektlabilität mit Stimmungsschwankungen, und das Fehlen einer intrinsischen Motivation, mit der Bereitschaft sich zu bemühen, auch langzeitlich gesehen. Diese Kinder sind oft Zeit ihres Lebens auf extrinsische Motivation angewiesen.“
ADHS- Personen mit vielen Misserfolgen und negativen Rückmeldungen aus ihrer Umwelt neigen im Laufe ihres Lebens auch dazu, alles extrem auf sich zu beziehen. Die Lust, sich mit schwierigen Dingen zu beschäftigen, nimmt meist aus Angst vor Versagen immer mehr ab. Trotz eigener Bemühungen bleiben schulische Erfolge oft aus und nicht selten führen dann Misserfolgserwartungen und Minderwertigkeitskomplexe zu Verweigerung und Depressionen (Biegert in Fitzner, 2000, S.28). „ADHS- Kinder wiederholen nachweislich öfter die Klasse, haben im Vergleich zu anderen Kindern schlechtere Schulabschlüsse und sind einem höheren Suchtpotenzial für Alkohol und illegale Drogen ausgesetzt“ (Huss in Fitzner, 2000, S.187).
Die Notwendigkeit einer Therapie ist unumstritten, das Selbstwertgefühl dieser Kinder muss gestärkt werden und sie müssen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützt werden. Nur mit Hilfe einer Therapie können diese Kinder ihre Talente und Fähigkeiten entdecken und wieder Erfolg haben (vgl. Aust-Claus, 1999, S.152).
5. Bedingungen für ADHS
Im folgenden Abschnitt soll es anhand des aktuellen Forschungsstandes um die Frage gehen, welche möglichen Bedingungen einer Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung vorausgehen. Schon die unterschiedlichen Begriffsbestimmungen und die verschiedenen zur Diagnose herangezogenen Kriterien zeigen, dass das Krankheitsbild ADHS sehr vielschichtig gesehen wird. So ist es besonders bei den „ätiologischen Erklärungsansätzen, die von einer multifaktoriellen Genese ausgehen“ (Lauth, Schlottke & Neumann 1998, 47). Im Rahmen meiner Arbeit möchte ich jedoch nur auf die zwei Gruppen prädisponierender Bedingungen eingehen, die in der Forschung als wahrscheinlich diskutiert werden. Dies sind zum einen die biologische Bedingungen, worunter genetische und neurobiologische Einflussgrößen fallen und zum anderen die psychosozialen Bedingungen, nämlich die soziologischen und psychoanalytischen (vgl. Döpfner et al., 2000, S.9). Daneben muss davon ausgegangen werden, dass in Einzelfällen allergische (atopische) und umweltbedingende Faktoren eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung provozieren können, für die Mehrzahl der Kinder trifft dies jedoch nicht zu (Döpfner et al., 1997, S.10).
5.1 Biologische Bedingungen
5.1.1 Genetische Bedingungen
Zum ersten Mal hatte der berühmte englische Nervenarzt Still im Jahre 1902 auf familiäre Zusammenhänge des hyperkinetischen Syndroms hingewiesen und auf eine häufige Übereinstimmung von Störungen bei Kindern und deren Eltern, Großeltern oder näheren Verwandten (vgl. Eichlseder, 1999, S.83). „60- 90% der phänotypischen Varianz werden auf genetische Faktoren zurückgeführt“ (Levy, Hay & Mc Stephens, 1997 in Langfassung ADHS Bundesärztekammer, S. 21). In 50 % aller Fälle zeigen die Kinder von Eltern mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ebenfalls eine solche Störung (Barkley, 1999, S.32).
Molekulargenetisch wird derzeit noch untersucht, ob ein Dopamindefizit bei ADHS- Personen durch einen „Gendefekt, im Genabschnitt DRD 4 und auf dem Chromosom 11 verursacht wird, da dieser Abschnitt wesentlich für die genetische Kodierung im neuronalen Funktionskreislauf des Dopamins verantwortlich ist“ (Biegert in Fitzner, 2000, S. 29).
Befunde aus Zwillingsstudien geben Anlass zu der Annahme, dass ADHS eine genetisch bedingte Störung ist. Anhand von Studien zweieiiger Zwillinge konnte aufgezeigt werden, dass in etwa 30% der Fälle die „Konkordanz“ (Krause & Krause 2003, S.22) auf eine erbbedingte Störung zurückzuführen ist. Wohingegen dieser Prozentsatz bei eineiigen Zwillingen bei ca. 70% liegt. Derzeit wird geschätzt, dass etwa 80% der Symptomatik vererbt wird (vgl. Krause & Krause 2003, S.22).
Wahrscheinlich ist es, dass für das Auftreten einer ADHS nicht ein einzelnes Gen verantwortlich ist, sondern mehrere Gene, die eventuell in Wechselwirkung miteinander stehen und/oder eine Wechselwirkung zwischen genetischen und exogenen Faktoren die Störung bedingt (Langfassung „ADHS“- Langfassung der Bundesärztekammer, 2005, S.21).
Das Hauptquartier unseres Gehirns ist superkomplex: ein analoger Megarechner, der aus ein paar Milliarden Nervenzellen besteht. In dem alles mit allem verknüpft ist. Vor allem im Stirnlappen, diesem Filetstück unseres Denk- und Fühlapparats, der sich sein Futter auf geheimnisvolle Weise aus allen anderen Arealen angelt. Nein, das Hirn begreift sich (noch) nicht. Zum Glück gibt es heute immer mehr Methoden wie den PET-Scan, die Positronen- Emissions- Tomographie, bei der Hirnteile, die „in Action“ sind, aufleuchten wie ein Flipautomat. Seither flippern die Forscher fleißig am lebenden Organ, zerren alle Kreaturen vors Gerät, um endlich mehr über unsern zentralen Schaltkasten zu erfahren. Sie scannen Tiere aller Art, auch Menschen im Schlaf, im Rausch. Selbst Schizophrene und Londoner Taxifahrer (Schimmeck, 2000, S.29 zit. nach Hamsen 2004, S.34).
5.1.2 Hirnstrukturelle und funktionelle Bedingungen
„Es ist noch wenig erforscht, wie sich aus den Risikofaktoren selber bzw. deren Wechselwirkung mit Umgebungsfaktoren im Verlauf der kindlichen Hirnentwicklung der pathophysiologische Hintergrund einer ADHS entwickelt, deshalb können zur Zeit nur Korrelate berichtet werden“ (Stellungnahme „ADHS“- Langfassung der Bundesärztekammer, 2005, S.22).
Untersuchungen mit hirnelektrischen und metabolischen Verfahren konnten zeigen, dass Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung eine herabgesetzte Hirndurchblutung im prämotorischen und präfrontalen Kortex haben, derjenigen Region, die für die Steuerung und Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit und Ausdauer zuständig ist (vgl. Desch, 1991, S.65). Auch gab es anatomische Untersuchungen des Gehirns bei Kindern mit ADHS, die Veränderungen (Asymmetrien/ Größenunterschiede) in basalen Strukturen und im präfrontalen Kortex feststellen konnten (Tannock 1998 zit. nach Hamsen, 2003, S.34).
„Untersuchungen mit der transkraniellen Magnetstimulation konnte ebenfalls auf einen in der Hirnrinde unterdrückten Stoff im Bereich des Motokortex hinweisen. Daraus ergeben sich Störungen in der Durchführung, Vorbereitung und Auswahl von Aktivitäten im Sinne einer diffizilen motorischen Steuerung und Regulation“ (Stellungsnahme „ADHS“- Langfassung der Bundesärztekammer, 2005, S. 23). „Fest steht, bei einer ADHS kommt es zu Entwicklungsabweichungen auf der Basis zentralnervöser Regelkreise, konkrete Hinweise auf eine Schädigung eines bestimmten Hirnareals, zum Beispiel des Frontalhirns, gibt es jedoch noch nicht“ (Köckenberger 2001, S.42).
Vermutungen, dass ein Dopaminmangel ausschlaggebend für das HKS sein könnte, stellte erstmals der amerikanische Psychiater und Kinderarzt Professor Paul Wender auf, der biochemische Untersuchungen zu den Folgeerscheinungen einer Virus- Enzephalitis nach dem ersten Weltkrieg an Jugendlichen veranlasste. Die Jugendlichen, die diese ursprünglich aus Spanien kommende Influenza überlebt hatten, zeigten dieselben Symptome wie die einer hyperkinetischen Störung. Wender war sich sicher, dass die Viren die Dopaminzellen angegriffen hatten und dadurch ein Dopamindefizit in den Synapsen entstanden war (vgl. Eichlseder, 1999, S.80). Mit Hilfe des PETs (Positronenemissions-Tomographen) konnte in neueren Studien ebenfalls ein Mangel dieses wichtigen Transmitters im präfrontalen Kortex festgestellt werden, wo eigentlich Dopamin in ausreichenden Mengen vorhanden ist (Krause, 2000). Gerald Hüther (2005, S. 58) steht diesen Befunden jedoch eher kritisch gegenüber und stellt fest, dass die Ergebnisse „in Nachuntersuchungen nicht eindeutig bestätigt werden konnten“. Er geht davon aus, dass es zwischen den hirnstrukturellen und –funktionellen Veränderungen der Kindern mit ADHS und deren Verhalten keinen kausalen Zusammenhang gibt (Hüther, 2005, S.59).
Auch sind Versuche gescheitert, die einen einzelnen Neurotransmitter als bedingenden Faktor für ADHS verantwortlich machen konnten (vgl. Cantwell 1996, S. 979 zit. nach Hamsen, 2003, S.35). Dagegen hält sich die These, nicht zuletzt aufgrund der hohen Wirksamkeit von Stimulanzien, die Botenstoffe wie Dopamin im synaptischen Spalt hemmen, dass eine Störung des komplexen Zusammenspiels mehrerer Transmittergruppen wie bspw. Dopamin, Serotonin und Norepinephrin eine Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung bedingt (Imhof, Skrodzki & Urzinger 1999, S.63; Desch 1991, S.65-71). Die Frage bleibt offen, ob Veränderungen im Gehirn die Basis für ADHS sind. Als wahrscheinliche Bedingung dürften gestörte Neurotransmittersysteme gesehen werden, die den dopaminergenen Stoffwechsel regulieren.
5.2 Psychologischen Bedingungen
Psychoanalytische Erklärungsmodelle heben sich deutlich von den biologischen ab, indem sie die Verhaltensauffälligkeiten der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung in einer Beeinträchtigung der psychischen Entwicklung suchen. Danach können Krankheiten und körperliche Dysfunktionen die Folge von schweren, ungelösten seelischen Konflikten eines Kindes sein. „Die Bewegungen und Verhaltensweisen der (ADHS-) Kinder drücken symbolisch verborgenen Konflikte aus, sie stellen durch ihre Auffälligkeit eine Schutzbarriere, gegen noch schwerwiegendere Störungen z.B. Depressionen, Psychosen dar“, so Helmut Köckenberger (2001, S.54). „Die Psychoanalyse geht davon aus, dass jedes Symptom, jede Verhaltensweise eine Bedeutung besitzt, die vor dem Hintergrund der inneren Welt des Kindes und seiner Lebensgeschichte verstanden werden kann“ (Hopf, 2000, S.291). So wird hyperaktives Verhalten als eine Art Kompensation für innerpersonelle aber auch familiäre Konflikte verstanden (vgl. Hopf, 2000, S.290).
Dieser Blickwinkel lässt einen alternativen Erklärungsansatz auf das Störungsbild ADHS zu, es ist jedoch fraglich, ob ihm eine ursprünglich Funktion zukommt und inwiefern psychoanalytische Bedingungen die Ausprägungen einer ADHS beeinflussen.
Hans Schlack fasst in der Zeitschrift Kinderärztliche Praxis zusammen: „Den psychosozialen Belastungsfaktoren wird keine ursprüngliche Rolle zugeschrieben; sie werden aber über eine dysfunktionelle Interaktion zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen- als bedeutsam für den Schweregrad und die Persistenz eines ADHS angesehen“ (Schlack in Kinderärztliche Praxis, 75, 2004, S.7).
[...]
- Citar trabajo
- Maximiliane Hofbauer (Autor), 2006, Bewegungsorientierte Förderung von Kindern mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom Hyperaktivitätsstörung), Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/162014
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