In der Arbeit gehe ich der These nach, dass vom Aufwachsen ohne Vater oder andere starke männliche Bezugspersonen ein Risiko für die Entwicklung von Jungen ausgeht. Besondere Beachtung schenke ich in
diesem Zusammenhang der geschlechtsspezifischen Sozialisation, denn hier verfolge ich die Ansicht, dass die Findung einer eigenen männlichen Rolle, einer positiven Geschlechtsidentität, ohne Vater
stark erschwert ist.
Im ersten Teil der Arbeit werde ich der Rolle des Vaters in der Sozialisation des Sohnes nachgehen und Erziehungsfunktionen, die beide Eltern geschlechtsunabhängig ausüben können, darstellen. Ein Unterabschnitt widmet sich der Gruppe der „Neuen Väter“ und dem Versuch eine Typologie aufzustellen.Im letzten Teil des ersten Kapitels gehe ich auf
die Rolle des Vaters in der geschlechtsspezifischen
Sozialisation ein. Dargestellt wird sie anhand
psychologischer, soziologischer und theorieübergreifender
Modelle.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich in vier Schwerpunkten mit den
Auswirkungen der Vaterabwesenheit auf den Sohn, insbesondere auf
seine kognitive und moralische Entwicklung. Weiterhin stehen die Folgen für die Geschlechtsrollenentwicklung und die Untersuchungen
zu Verhaltensauffälligkeiten bei Jungen, die ohne Väter aufwachsen,
im Mittelpunkt.
Das Kapitel 4 zeigt Möglichkeiten der Kompensation der
Vaterabwesenheit. In diesem Zusammenhang wird die Rolle der
Mutter kurz beschrieben. Ausführlicher gehe ich auf die Chancen ein,
durch geschlechtsorientierte Arbeit männlicher Pädagogen Einfluss
zu nehmen, auf die Entwicklung von Jungen und der von ihnen
gelebten Männlichkeit, durch Jungenarbeit. Schwerpunkt dieser
Bearbeitung ist die Frage danach, was Väterlichkeit in der Arbeit mit
Jungen ausmacht. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass sich diese Arbeit ausschließlich mit
der Bedeutung des Vaters für den Sohn und den Folgen seiner
Abwesenheit beschäftigen. Andere Konstellationen können hier leider
nicht mehr nicht diskutiert werden. So stellt die Tatsache, dass der
umgekehrte Fall - Verlust der Mutter und Aufwachsen beim Vater -
mit seinen Chancen und Risiken nicht betrachtet wird, keinerlei
Wertung dar, sondern ist allein dem Fakt geschuldet, dass zur
zusätzlichen Darstellung dieses Themas keine Zeit mehr verblieb.
Inhalt
1 Einleitung
2 Die Rolle des Vaters in der Sozialisation des Sohnes
2.1 Gemeinsame Rollen beider Elternteile
2.2 Die Rolle des Vaters
2.2.1 Theorien zur Rolle des Vaters in der geschlechtsspezifischen Sozialisation ihrer Söhne
2.2.1.1 Die klassische Psychoanalyse
2.2.1.2 Modelle der Lerntheorie
2.2.1.3 Kognitive Entwicklungstheorie
2.2.1.4 Rollentheorie
2.2.1.5 Theorieübergreifender Ansatz zur geschlechtsspezifischen Sozialisation von Nancy Chodorow
2.2.2 Die ‘Neuen Väter’
3 Auswirkungen des Vaterverlustes und des Aufwachsens ohne Vater auf den Sohn
3.1 Forschungsgeschichte
3.2 Auswirkungen der Vaterabwesenheit auf die kognitive Entwicklung des Kindes
3.2.1 Geschlechtsrollenidentifikation
3.2.2 Angstinterferenz
3.2.3 Konfluenz-Modell
3.2.4 Intelligenzdefizithypothese
3.3 Auswirkung der Vaterabwesenheit auf die moralische Entwicklung des Sohnes
3.3.1 Identifikation und Geschlechtsrollenübernahme
3.3.2 Lernen am Modell
3.3.3 veränderte Mutter-Kind-Interaktion
3.4 Vaterabwesenheit und die Geschlechtsrollenentwicklung des Sohnes
3.5 Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern die ohne Vater aufwachsen
4 Möglichkeiten der Kompensation der negativen Auswirkungen der Vaterabwesenheit
4.1 Intrafamiliäre Kompensationsmöglichkeiten am Beispiel der Mutter
4.2 Außerfamiliäre Kompensationsmöglichkeiten am Beispiel der sozialpädagogischen Jungenarbeit
4.2.1 Inhalte und Ziele der Jungenarbeit
4.2.2 Väterlichkeit in der Arbeit mit Jungen
5 Ergebnisse
6 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Thema dieser Diplomarbeit ist die Sozialisation von Jungen, die ohne Vater aufwachsen. Der Vater und seine Rolle innerhalb der Familie rücken immer stärker ins öffentliche Interesse - von umfassenden Studien bis zu populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen. Meine Fragestellung war, welche Bedeutung der Vater im Leben seines Sohnes hat und wie es sich auswirkt, wenn er diese Verantwortung nicht wahrnehmen kann oder will.
In der Arbeit gehe ich der These nach, dass vom Aufwachsen ohne Vater oder andere starke männliche Bezugspersonen ein Risiko für die Entwicklung von Jungen ausgeht. Besondere Beachtung schenke ich in diesem Zusammenhang der geschlechtsspezifischen Sozialisation, denn hier verfolge ich die Ansicht, dass die Findung einer eigenen männlichen Rolle, einer positiven Geschlechtsidentität, ohne Vater stark erschwert ist.
Im ersten Teil der Arbeit werde ich der Rolle des Vaters in der Sozialisation des Sohnes nachgehen und Erziehungs-funktionen, die beide Eltern geschlechtsunabhängig ausüben können, darstellen. Ein Unterabschnitt widmet sich der Gruppe der „Neuen Väter“ und dem Versuch eine Typologie aufzustellen.Im letzten Teil des ersten Kapitels gehe ich auf die Rolle des Vaters in der geschlechtsspezifischen Sozialisation ein. Dargestellt wird sie anhand psychologischer, soziologischer und theorieübergreifender Modelle.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich in vier Schwerpunkten mit den Auswirkungen der Vaterabwesenheit auf den Sohn, insbesondere auf seine kognitive und moralische Entwicklung. Weiterhin stehen die Folgen für die Geschlechtsrollenentwicklung und die Untersuchungen zu Verhaltensauffälligkeiten bei Jungen, die ohne Väter aufwachsen, im Mittelpunkt.
Das Kapitel 4 zeigt Möglichkeiten der Kompensation der Vaterabwesenheit. In diesem Zusammenhang wird die Rolle der Mutter kurz beschrieben. Ausführlicher gehe ich auf die Chancen ein, durch geschlechtsorientierte Arbeit männlicher Pädagogen Einfluss zu nehmen, auf die Entwicklung von Jungen und der von ihnen gelebten Männlichkeit, durch Jungenarbeit. Schwerpunkt dieser Bearbeitung ist die Frage danach, was Väterlichkeit in der Arbeit mit Jungen ausmacht.
Es bleibt darauf hinzuweisen, dass sich diese Arbeit ausschließlich mit der Bedeutung des Vaters für den Sohn und den Folgen seiner Abwesenheit beschäftigen. Andere Konstellationen können hier leider nicht mehr nicht diskutiert werden. So stellt die Tatsache, dass der umgekehrte Fall - Verlust der Mutter und Aufwachsen beim Vater - mit seinen Chancen und Risiken nicht betrachtet wird, keinerlei Wertung dar, sondern ist allein dem Fakt geschuldet, dass zur zusätzlichen Darstellung dieses Themas keine Zeit mehr verblieb.
2 Die Rolle des Vaters in der Sozialisation des Sohnes
Eltern sind die ersten Sozialisationsinstanzen im Leben des Kindes und die Personen, die es am nachhaltigsten prägen. Kann man davon ausgehen, dass der Verlust des Vaters nicht nur eine emotionale Lücke reißt, sondern auch das Aufwachsen, Lernen und Gestalten schwieriger macht? Um diese Frage zu klären, arbeite ich seine Bedeutung für die Sozialisation des Kindes heraus. Da der Großteil der elterlichen Sorge von Vater und Mutter auch jeweils allein und ohne Einschränkungen ausgeübt werden kann, stelle ich diesen Teil am Anfang kurz dar.
Ursprünglich bis in die 70er Jahre bestand eine klare Rollenverteilung in der Familie, die gesellschaftlich anerkannt war und vom Großteil der Bevölkerung nicht hinterfragt wurde. Der Vater hatte die instrumentelle Funktion des Ernährers und Beschützers der Familie und die Mutter die expressive Funktion der Betreuerin und Versorgerin des Kindes. (vgl. FTHENAKIS 1999, S.29)
Erst mit Beginn der Student/Innenbewegung, der Frauenbewegung und der Veränderung der ökonomischen Situation, dahin gehend, dass immer mehr Frauen aufgrund veränderter ökonomischer und sozialer Verhältnisse erwerbstätig waren, gestaltete sich auch das gesellschaftliche Bild von Familie und Erziehung neu. Mehr und mehr rückte die Frage in den Vordergrund, welche erzieherische Funktion und Bedeutung der Vater hat.
Anfangs wurde größtenteils behauptet, dass seine Rolle als Erzieher und Bezugsperson seiner Kinder zu vernachlässigen sei. Der britische Psychologe John Bowlby[1] erklärte noch in den 50er Jahren, dass ein Kind nur eine Bezugsperson - die Mutter - benötigt. Väter waren seiner Ansicht nach nur „Autoritäten am Rande“. (vgl. KUCKLICK 2001, S.149)
Doch mehr und mehr gerät der Vater in den Mittelpunkt des Interesses, denn die emotionale Bindung an ihn und die kompliziertere Entwicklung von Kindern ohne männliche Bezugsperson zeigen das Ausmaß seiner Bedeutung für die Entwicklung des Kindes.
Um die Bedeutung des Vaters für den Sohn und die Auswirkungen seines Verlustes zu klären, ist es wichtig seine Rolle in der Erziehung und (insbesondere der geschlechtsspezifischen) Sozialisation des Sohnes zu veranschaulichen. Nur so lässt sich die unterschiedliche Entwicklung von Jungen, die mit beiden Eltern, und Jungen, die bei der Mutter und nur mit seltenem oder ohne Kontakt zum Vater aufwachsen, erklären.
2.1 Gemeinsame Rollen beider Elternteile
Fast alle Aufgaben von Eltern können theoretisch auch von einem Elternteil allein geleistet werden. Außer dem Stillen des Kindes gibt es keine Versorgungs- oder Erziehungsaufgabe, die nur von Mutter oder Vater geleistet werden kann. An sich kann das Kind von einer Person allein versorgt werden. Die wichtigsten Aufgaben umfassen: Versorgung, Kommunikation, Unterweisung, Überwachung, Dienstleistungen, kindbezogene häusliche
Tätigkeiten, gemeinsame Interessen, Verfügbarkeit für das Kind, Planung, gemeinsame Aktivitäten, gedankliche Prozesse, Fürsorge, Zuwendung, Schutz und emotionale Unterstützung. (vgl. FTHENAKIS 1999, S. 35)
OERTER nennt zusätzlich noch Körperkontakt, verbale und sonstige Stimulierung, Materialanregung, Responsivität sowie konsistentes und begründetes Verhalten. Vermieden werden sollten Restriktion und Überstimulation. (vgl. OERTER 1993, S. 78 ff.)
An dieser Stelle könnte es heißen: die eine ist so gut wie der andere, denn das Kind wäre doch mit einer Person, die es gut umsorgt ‘versorgt’. Doch so einfach ist es nicht - das Kind ist ein soziales Wesen, es lernt von verschiedenen Personen, will von verschiedenen Personen geliebt werden, möchte unabhängig sein und trotzdem in die Umarmung zurückkehren können, wenn es traurig ist. Was sind also die Unterschiede - was bekommt der Junge beim Vater und wen bekommt er mit dem Vater?
2.2 Die Rolle des Vaters
Der Vater kann als der lange Zeit zu wenig betrachtete Teil der Familie angesehen werden. Eine Übersicht über die letzten 2000 Jahre Vaterschaft ist geprägt von autoritären und gleichzeitig aus der Familie abwesenden Männern. Die Funktion des Vaters war, die Familie zu versorgen, sie zu beschützen, er war moralische Instanz und hatte von außen betrachtet oft uneingeschränkt Macht. Seine Rolle als Bezugsperson und Erzieher seiner Kinder galt lange Zeit als vernachlässigbar. Doch seit etwa 20 Jahren ist der Vater als Elternteil, Spielkamerad und Mensch, der in Beziehung steht, immer stärker in der Diskussion.
Historischer Abriss[2]
Im Altertum war der Vater das uneingeschränkte Familienoberhaupt. Bis zur Gründung einer eigenen Familie, zum Teil sogar bis zum Tod des Vaters waren die Kinder an seine Entscheidungen gebunden. „Als Inhaber der väterlichen Gewalt („patrias potestas“) besaß er das Recht über Leben und Tod bis in das fortgeschrittene Alter der Kinder.“ (RÖRUP 1991, S. 9) Mit den eigentlichen Erziehungsaufgaben aber hatte der Vater nichts zu tun, sein Kontakt zum Kind war eher marginal.
Im Mittelalter veränderte sich die Bedeutung der Väter. Häufige kriegerische Auseinandersetzungen sorgten dafür, dass die Männer den Familien über lange Zeit fern waren. Damit nahm die Bedeutung der Mutter als Erziehungsinstanz zu, da sie in Zeiten der Abwesenheit des Mannes das Familienoberhaupt darstellte und für die Ernährung und Erziehung allein sorgen musste.
Das Hauptziel der Erziehung bestand in der Gehorsamkeit gegenüber Autoritäten, nicht in der Selbständigkeit des Menschen. Weit verbreitet war die Ansicht, dass der Wille der Kinder mit physischer und psychischer Gewalt gebrochen werden müsse. Diese Aufgabe kam den Vätern und anderen Männern der Familien zu. Andererseits waren die Väter die Lehrer ihrer Kinder. Bei ihnen oder anderen männlichen Verwandten erlernten die Kinder den Beruf oder handwerkliche Fähigkeiten.
Mit Beginn der Industrialisierung veränderte sich die Familienstruktur. Statt wie Bauern und Handwerker am Wohnort zu arbeiten, war der Mann jetzt Lohnarbeiter in größeren Betrieben und der Familie ferner als je zuvor, da er die Hälfte des Tages arbeitete. Die autoritäre Rolle blieb erhalten, doch mit der Abwesenheit aus ökonomischen Zwängen verlor sich auch die Rolle als Erzieher und Lehrer seiner Kinder.
Damit einhergehend postulierte die sich im 19. Jahrhundert als Disziplin entwickelnde Psychologie, dass die Mutter gerade in der frühkindlichen Entwicklung größeren Einfluss auf das Kind hat und damit mehr Bedeutung in Erziehung und Betreuung einnimmt als der Vater. Im Ergebnis wurde die Überbewertung der väterlichen Autorität durch die Überbetonung der mütterlichen Fürsorge abgelöst.
Auch die rechtliche Situation veränderte sich. Der Bedeutungsgewinn der Mutterrolle führte dazu, dass Kinder im Scheidungsfall meist der Mutter zugesprochen wurden. Mehr und mehr rückten auch der Schutz und die Rechte der Kinder in den Mittelpunkt. Der Begriff ‘Kindeswohl’ wurde geprägt. Die Erziehung wurde nun auch staatliche Aufgabe. Die Entwicklung eines öffentlichen Erziehungssystems, die Gründung von Kinderhilfsorganisationen und das Verbot der Kinderarbeit zeugen davon. Formell blieb die autoritäre Instanz Vater erhalten, denn im BGB wurde ihm die „elterliche Gewalt“ in der Familie übertragen.
In der Zeit des Nationalsozialismus setzte sich die seit der Industrialisierung anhaltende Entfremdung des Vaters mit der Familie fort. Diese Tendenz wurde gefördert, indem die Mutterrolle für politische und rassistische Zwecke ideologisch besetzt wurde. Die Mutter sorgte allein für die Söhne und Töchter und der Vater arbeitete zuerst und kämpfte dann fürs Vaterland. Gleichzeitig zog das Regime mit Kinder- und Jugendverbänden, die sehr hierarchisch organisiert waren, immer mehr Erziehungsfunktionen an sich.
Der Zweite Weltkrieg brachte die Familie zum Erliegen. Die Männer kehrten zu Millionen nicht mehr aus den Schlachten zurück oder blieben über viele Jahre in Kriegsgefangenschaft. Frauen übernahmen immer mehr „männliche“ Aufgaben in der Erwerbsarbeit, der Erziehung und der Versorgung der Familien. Für eine ganze Generation von Kindern spielte der Mann als Vater keine Rolle mehr. Selbst wenn er nach Jahren aus der Gefangenschaft zurückkehrte, war eine lange Phase der Entfremdung kaum noch zu überwinden.
Jedoch führte diese Situation kaum zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Rollenbilder. Obwohl Frauen und Mütter die Familien allein versorgten, arbeiten gingen, die Kinder erzogen und großzogen blieb das Bild des Vaters als Patriarch der Familie erhalten und akzeptiert. Doch das alte Männerbild hatte gelitten: in den Krieg zogen Helden und zurück kehrten ‘geschlagene’ und zerbrochene Menschen.
In der Phase des Wiederaufbaus in der BRD konnten sich Väter neu profilieren, doch wiederum hauptsächlich außerhalb der Familien. Die alte Rollenverteilung in der Familie Mann-Erwerbsarbeit und Frau-Hausfrau und Mutter wurde restauriert und die Entfremdung der Männer von den Familien nahm zu. Der Vater aus der ‘Tätergeneration’ des Nationalsozialismus erregte das Misstrauen der neuen Generation. Die Widersprüchlichkeit zwischen der Nichtbearbeitung und Verdrängung der Vergangenheit und dem Wissen der Kinder um die Verbrechen während des NS-Regimes spitzten sich zu. Immer mehr revoltierte die Jugend gegen die verlogene Biederkeit der Elterngeneration und deren Versuch, im neuen System alte Werte wie Sittsamkeit, Anstand und Ordnung zu restaurieren. In den Familien begannen diese Veränderungen in den 50er und 60er Jahren. Gesamtgesellschaftliche Veränderungen setzten mit der Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition ab 1968 ein. Der Begriff ‘Antiautoritär’ wurde zum Schlagwort für Veränderungen in den Familien und in der Erziehung und läutete eine Debatte ein die bis heute anhält und die Familie im Allgemeinen und auch die Vaterrolle im Besonderen betrifft.
Die heutige Diskussion um die Rolle des Vaters in der Familie ist von großer Bandbreite. Frauen und Mütter haben sich in den letzten Jahrzehnten den Weg aus der Familie eröffnet. Sie definieren sich nicht länger über die Rolle der Mutter und Partnerin, sondern stehen im Erwerbsleben und machen Karriere. Gleichzeitig ist der Mann gefordert in die Familie zurückzukehren, mehr Aufgaben im Haushalt und bei der Betreuung, Erziehung und Versorgung der Kinder zu übernehmen.
Die aktuelle Situation stellt sich unübersichtlich dar. Während einerseits behauptet wird, Väter engagieren sich zu wenig in ihren Familien, sprechen andere von einer Intensivierung der Beziehungen zu den Kindern als „epochalspezifischen Trend“. (vgl. KUCKLICK 2001, S.154)
FTHENAKIS bemerkt: „Ein Paradox unserer Zeit ist es, dass einerseits vermehrtes männliches Engagement in der Familie gefordert wird und dass andererseits die Zeitspanne kontinuierlich abnimmt, die ein Mann tatsächlich in seiner Familie verbringt.“ (FTHENAKIS 1999, S. 24) Gleichzeitig räumt er aber auch ein, dass es eine anwachsende Gruppe neuer Männer und Väter gibt, die „weitaus engagierter, fürsorglicher und emotional ansprechbarer als der distanzierte Vater früherer Generationen ist“. (ebd.)
KUCKLICK dagegen sieht eine Rückkehr der Männer in die Familien. Auch ihr Engagement ist stärker als gedacht. Zeitbudgetstudien ergaben, dass Eheleute etwa gleich viel arbeiten wenn man Hausarbeit und Erwerbsarbeit zusammenrechnet. Weiterhin führt er aus, dass in den alten Bundesländern etwa 85% der Kinder in Ehen hineingeboren werden, drei Viertel der Kinder leben an ihrem 18. Geburtstag noch mit beiden Elternteilen zusammen. Ehen mit Kindern halten heutzutage länger als noch vor 30 Jahren.[3] Die Werte zeigen seiner Meinung nach, dass die Bereitschaft der Männer Verantwortung in ihrer Familie zu übernehmen deutlich gestiegen ist. (vgl. KUCKLICK 2001, S. 153 ff.)
2.2.1 Theorien zur Rolle des Vaters in der geschlechts-spezifischen Sozialisation ihrer Söhne
Fünf Modelle, die die Rolle des Vaters in der geschlechtsspezifischen Sozialisation ihrer Söhne beschreiben, werden hier dargestellt. Drei von ihnen sind psychologische Modelle (Psychoanalyse, Lerntheorie, Kognitive Entwicklungstheorie), die Rollentheorie ist ein soziologisches Modell und der Ansatz von Nancy Chodorow ist theorieübergreifend.[4]
Vorbemerkung/ Definition
Der Begriff der geschlechtsspezifischen Sozialisation meint den Prozess in der Entwicklung des Menschen, in dessen Verlauf dieser eine Geschlechtsidentität entwickelt und sich geschlechtsspezifische Rollen, Einstellungen und Verhaltensweisen aneignet.
Das Geschlecht spielt im Umgang von Menschen miteinander eine entscheidende Rolle. Weniger wichtig ist hier die biologische Einordnung als vielmehr die soziale Kategorie, die enormen Einfluss auf den Umgang und das Sozialverhalten hat.
REBSTOCK führt aus: „Das Geschlecht als soziale Kategorie ist ein fundamentales beziehungsrelevantes Prinzip aller bisherigen Gesellschaften. Sich selbst in diese Dichotomie einzuordnen, ist für jedes Kind eine lebenswichtige Anpassungsleistung, eine notwendige Aneignung gesellschaftlicher Realität und eine früh an es herangetragene Anforderung. Als Bedingung von Identität erzwingt unsere Kultur eine Selbstzuordnung als Mädchen oder Junge im Unterschied zum jeweils anderen Geschlecht.“ (REBSTOCK 1993 S. 73)
2.2.1.1 Die klassische Psychoanalyse
Sigmund Freuds Modell über die Geschlechtsunterschiede und deren Entstehung ist historisch gesehen der erste methodische Ansatz und bis heute Ausgangspunkt verschiedener anderer Theorien zur geschlechtsspezifischen Sozialisation.[5]
Als Grundlage und Antrieb für die menschliche Entwicklung nennt Freud den Sexualtrieb mit der ihm innewohnenden Energie, der Libido. Um die in ihm vorhandenen Triebe befriedigen zu können, passt der Mensch sein Verhalten den normativen Bedingungen seiner Umgebung und der Gesellschaft an. Dem liegt das Modell von ES, ICH und ÜBER-ICH zugrunde.
Auch der Erwerb der Geschlechtsidentität und -rolle ist von der Energie des Triebes beeinflusst und Teil der psychosexuellen Entwicklung des Kindes, die Freud in fünf Phasen einteilt. Dieser Prozess beginnt mit der oralen Phase im 1. und 2. Lebensjahr des
Kindes. Darauf folgen die anale (2.-4. Lebensjahr), phallische (4.-6. Lj.), Latenz-(6.-10. Lj.) und genitale Phase (Pubertät). Namengebend für die einzelnen Abschnitte ist das Körperorgan, das in dem Zeitraum Quelle der Lustempfindungen und erotischen Befriedigungen ist.
Der entscheidende Zeitraum für die Geschlechtssozialisation und die Entwicklung einer Geschlechtsidentität ist laut Freud die phallische Phase mit der ödipalen Situation und deren Auflösung. In dieser Phase lernt der Junge sich durch manuelle Reizung seines Gliedes Lust und Befriedigung zu verschaffen. Gleichzeitig besetzt er seine Mutter als Liebesobjekt und wünscht sich, sie zu besitzen. Er tritt mit dem Vater in Rivalität um die Mutter und will ihn verdrängen. Die Mutter, die bemerkt, dass die sexuelle Erregung des Sohnes ihr gilt, wird ihm die Stimulation und Beschäftigung mit seinem Penis verbieten, da sie diese ‘öffentlichen’ sexuellen Handlungen für anstößig hält.
Da er diesen Lustgewinn nicht unterlässt droht sie ihm letztendlich seinen Penis ‘wegzunehmen’. Hieraus folgt der Kastrationskomplex, ein Trauma, das in der Argumentation Freuds einen wichtigen Platz einnimmt. Die aus der Drohung entstehenden Ängste und Aggressionen muss das Kind verdrängen. Gleichzeitig löst sich die ödipale Situation dahin gehend auf, dass der Sohn begreift, dass er nicht die Stelle des Vaters als Liebhaber der Mutter einnehmen kann.
Der Vater wird als mächtig und nicht zu verdrängen erlebt, und der Sohn identifiziert sich mit ihm. Die Objektbesetzung der Mutter wird durch die Identifikation mit dem ‘Mächtigen’ ersetzt. Der Junge introjiziert die Elternautorität und es entwickelt sich das ÜBER-ICH. Dieses bringt das Kind zur Übernahme gesellschaftlicher und geschlechtsbezogener Normen und Werte. Da der Vater jetzt das entscheidende Vorbild für den Sohn ist, eignet er sich von ihm männliche Verhaltensweisen und Rollen an. Somit stellt der Vater in Freuds Theorie das erste und ausschlaggebende Modell für die Entwicklung einer eigenen Geschlechtsidentität und für geschlechtstypische Handlungsweisen und Einstellungen dar.
2.2.1.2 Modelle der Lerntheorie
Aus dem Behaviorismus stammen die Modelle der Lern-theorie, die den Erwerb von Geschlechterrollen und geschlechts-typischen Verhaltensweisen als einen sozialen Lernprozess ansehen. Zwei dieser Theorien sollen hier dargestellt werden:
Instrumentelles Lernen
In diesem Ansatz wird davon ausgegangen, dass ein Mensch Verhaltensweisen abhängig von positiver oder negativer Verstärkung (Belohnung oder Strafe) entwickelt. Das impliziert die These, dass Jungen und Mädchen durch ihre Umwelt unterschiedlich behandelt werden und sie so geschlechtsbezogene Belohnung oder Bestrafung erfahren. Jungen werden also für andere Handlungen belohnt oder bestraft als Mädchen und ihr Verhalten wird so in eine bestimmte, von in ihrer Umwelt bestehenden Normen und Werten abhängige Richtung gelenkt. Damit nehmen die Menschen aus der Umgebung des Kindes und insbesondere die Eltern als stärkste Sozialisationsinstanz direkt oder indirekt Einfluss auf das Bild, das Kinder über ein Geschlecht haben und damit auch auf deren sich entwickelnde Geschlechtsidentität. (vgl. REBSTOCK 1993, S. 81 ff.)
Lernen am Modell[6]
Die Theorie vom Lernen am Modell ist eine Weiterentwicklung des instrumentellen Lernens durch Bandura aus den siebziger Jahren. „Er wies nach, dass durch Beobachtung und Imitation eines Modells komplexe Verhaltensformen übernommen werden können, ohne der Verstärkung jedes Einzelelements zu bedürfen. Lernen ist hier also Imitation von Vorbildern.“ (REBSTOCK 1993, S. 83)
Die Verstärkung von Verhalten findet nicht nur durch Belohnung oder Strafe statt, sondern auch dadurch, dass der Lernende das Verhalten des Vorbildes nachahmt, weil er den positiven Effekt bei der Lösung einer Problemstellung realisiert.
Die ausschlaggebenden Modelle für das Kind sind seine Eltern. Bei ihnen erlebt es geschlechtstypische Verhaltensweisen, die es nachahmen kann. Umstritten bleibt bei den lerntheoretischen Modellen allerdings warum sich Jungen Väter als Vorbild für ihr Verhalten wählen sollten und nicht ihre Mütter.
Dazu gibt es verschiedene Hypothesen:
- defensive Identifikation: es werden am ehesten Modelle imitiert, die streng, kühl und zurückweisend sind;
- Machthypothese: ausschlaggebend für die Wahl eines Modells ist, ob das Modell als mächtig erlebt wird;
- Ähnlichkeitshypothese: da das geschlechtsadäquate Verhalten belohnt wird, realisieren Kinder wem sie ähnlich sind und ahmen das Verhalten von Modellen gleichen Geschlechts verstärkt nach. (vgl. REBSTOCK 1993, S. 84)
[...]
[1] In der gesamten Arbeit werden nur die Autoren der Primärquellen in Großbuchstaben geschrieben. Autoren die in Primärquellen nur genannt und nicht wortwörtlich zitiert werden, schreibe ich in normalem Fließtext.
[2] Der Abschnitt hat Überblickcharakter. Er orientiert sich, wenn nicht anders erwähnt, an den Darstellungen in RÖRUP 1991,S. 6 ff., REBSTOCK 1993, S. 17 ff., FTHENAKIS 1999, S. 17 ff..
[3] In den neuen Ländern sind die Zahlen deutlich niedriger. (vgl. KUCKLICK S. 154)
[4] REBSTOCK beschreibt die Ansätze sehr umfassend und unterwirft sie nach eingehender Darstellung, Beurteilung und Kritik. Soweit nicht anders angegeben orientiere ich mich an seinen Darstellungen der Theorien zur geschlechtsspezifischen Sozialisation von Söhnen unter der besonderen Berücksichtigung der Rolle des Vaters. REBSTOCK 1993, S. 67-122
[5] Dieser Abschnitt orientiert sich an REBSTOCK 1993, S. 73 ff..
[6] Dieser Abschnitt orientiert sich an REBSTOCK 1993, S. 83 ff..
- Arbeit zitieren
- Marcus Voigt (Autor:in), 2002, Söhne ohne Väter. Männliche Sozialisation ohne väterliche Bezugsperson, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/15973
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