Die türkischen Streitkräfte haben in den letzten Jahren eine tief greifende Veränderung hinsichtlich ihrer Rolle in Staat und Gesellschaft erfahren. Nie kam dies deutlicher zutage als im Kontext der derzeit laufenden staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zur so genannten Ergenekon-Affäre . Nachdem bekannt geworden war, dass sich unter den Verschwörern auch hochrangige Offiziere befanden, hielt sich lange die Befürchtung, das Militär könnte zum Befreiungsschlag ausholen und wie in ver-gangenen Tagen kurzerhand die Regierung stürzen. Doch Generalstabschef Basbug gab nach einem Gespräch mit Ministerpräsident Erdoğan Anfang 2010 der Öffentlichkeit unmissverständlich zu verstehen, dass die Zeit militärischer Interventionen endgültig vorbei sei. Unter Berücksichtigung der von Staatsstreichen und durch eine sich selbst als Hüter der säkularen Verfassung begreifenden Armee geprägten Geschichte der Republik Türkei kommt eine solche Aussage durchaus einer Revolution gleich. Somit lässt sich derzeit nicht ohne Grund die Auffassung vertreten, die türkischen Streitkräfte würden in zunehmendem Maße dem Ideal einer demokratisch kontrollierten Armee gerecht werden und das Oberkommando sich weitgehend dem Willen der Regierung unterordnen, womit das Land ein für den Beitritt zur Europäischen Union wesentliches Kriterium erfüllt hätte.
In der vorliegenden Arbeit erfolgt eine kritische und fundierte Stellungnahme zu ebenjener These. Dazu wird im Folgenden die Entwicklung des türkischen Militärs hinsichtlich seiner formellen und informellen Einflussmöglichkeiten auf die Politik bis zum heutigen Tage aufgezeigt, wobei der Schwerpunkt auf den Veränderungen seit Eröffnung der Beitrittsperspektive 1998 liegt.
Die theoretische Grundlage bilden Überlegungen zum Verhältnis zwischen Streitkräften und Politik, wie es sich in modernen Demokratien und insbesondere in der Europäischen Union heute darstellt und oft unter dem Schlagwort democratic civilian control zusammengefasst wird. Weitere Erkenntnisse über den praktischen Ablauf von Wandlungsprozessen hin zur Demokratie sind der Systemtransformationstheorie entnommen.
Weiterhin enthalten ist ein kurzer geschichtlicher Abschnitt, der dem besseren Verständnis des Lesers für die zentrale Rolle des Militärs im türkischen Staatswesen dienen soll, wobei insbesondere die Gründungszeit der Republik Türkei und die in der Vergangenheit erfolgten Militärputsche im Mittelpunkt stehen.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
1. Politischer Anlass und Fragestellung
2. Aufbau der Arbeit und Themeneingrenzung
3. Literaturbericht
II. Theoretische Grundlagen: Demokratie, Streitkräfte und Systemtransformation
1. Die Kopenhagener Kriterien: „Demokratie“ und „Rechtsstaatlichkeit“
1.1 Zum Demokratiebegriff
1.2 Begriff des Rechtsstaate
2. Staat und Militär in Demokratien - Civil-Military Relations
2.1 „Civilian control“
2.2 „Democratic control“
3. Systemtransformation
3.1 Grundbegriffe
3.2. Ablauf von Transformationsprozessen
4. Zusammenfassung
III. Das türkische Militär in der Vergangenheit
1. Der Niedergang des Osmanischen Reiches
2. Der Befreiungskrieg und die Gründung der Republik
3. Die kemalistische Ära der türkischen Republik
4. „Gelenkte Demokratie“ und militärische Interventionen nach 1945
5. Zwischenbetrachtung
IV. Entwicklung der Rolle des Militärs in der Türkei seit
1. Der Einfluss des Militärs zu Beginn des neuen Jahrtausends
1.1 Der Nationale Sicherheitsrat
1.2 Einflussmöglichkeiten qua Gesetz
1.3 Das Militärbudget
1.4. Schlussfolgerungen des Fortschrittsberichtes 1998
2. Entwicklungen bis zum Beginn der Beitrittsverhandlungen 2005
3. Die Rolle des Generalstabschefs im Reformprozess
4. Der Beginn der Beitrittsverhandlungen und Entwicklungen bis 2007
5. „Tiefer Staat“, Ergenekon und die Folgen für das zivil-militärische Verhältnis
6. Fazit: der politische Einfluss der Streitkräfte im Jahr 2010.
V. Schlussbetrachtungen
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