Pierre-Paul Prud`hon, der Künstler, der seine Zeichnungen stets mit dem Zusatz Prud`hon - peintre versah, weil er sich Zeit seines Schaffens, obgleich er ein ausdauernder Zeichner war, als Maler verstand, legte mit seinem Werk LA JUSTICE ET LA VENGEANCE
DIVINE POURSUIVANT LE CRIME das Gemälde vor, welches ihm auf dem Salon von 1808 die Auszeichnung mit einer Medaille der Ehrenlegion zuteil werden ließ. Mit seiner Vorliebe zur Allegorie, der graziösen, teils androgynen Darstellung von menschlichen
Körpern, in weiches Licht gehüllt, verfolgte der Künstler einen eigenen Stil, welcher der klassischen Davidschule mit ihren harten, streng geometrischen Linien so widersprach. So schwer es ist, Prud`hon einer bestimmten Richtung der Malerei zuzuordnen,
so einfach scheint es (nicht zuletzt wegen des Zeitraums seines Schaffens), ihn zwischen die klassische und romantische Schule zu stellen, innerhalb derer sich mit David und Delacroix gleichermaßen Bewunderer für ihn fanden.
Die vorliegende Arbeit möchte von einer kunsthistorischen Betrachtung und Einordnung seines Werkes absehen. Vielmehr soll gezeigt werden, dass sich Prud`hon mit dem o. g. Gemälde ganz in eine Malerei begab, die sich in den Dienst der Nation stellte
(zuvor hatte er sich in seinem finanziell nicht unsicheren Leben mit zahlreichen Privataufträgen, darunter Dekorationen und Portraits sowie Vorlagen für Kupferstiche, über Wasser gehalten). So sehr dieses Bild seine Entstehung der Geburt der Republik mit ihrem
neuen Rechtssystem verdankte, so sehr war es an die Aufgabe gebunden, diese Neuordnung widerzuspiegeln, sie zu rechtfertigen, sie zu publizieren. Wie ernsthaft der Künstler mit dieser Aufgabe umging, welche Gedanken ihn zu den Ausführungen begleiteten
und mit welchen Mitteln er seine Intentionen umsetzte, soll im Folgenden gezeigt werden. Dabei wird die Arbeit genealogisch vorgehen, die Entstehung und Entwicklung der Idee des Bildes nachzeichnen. Es soll versucht werden, zu zeigen, wie
sehr Prud`hons Ausführungen mit der Entwicklung des Strafrechts Frankreichs im 18. und 19. Jh. korrespondieren. Dazu wird es nötig sein, diese Entwicklung in einem historischen Teil vorab zu beleuchten. Im Weiteren werden dann Prud`hons Entwürfe hinsichtlich
der Übereinstimmung mit der Rechtsauffassung betrachtet.
Inhalt
Einleitung
1 Zur Genese einer Idee
1.1 Der Auftrag
1.2 Recht und Strafe im Ancien Régime
1.3 Die Reform des Strafrechts
1.3.1 Gesellschaftsveränderung und zunehmende Kritik
1.3.2 Die Kritik Cesare Beccarias
1.3.3 Umsetzungen der Kritiken im neuen Strafrecht
1.4 Gerichtsbilder
2 Die ersten Entwürfe
2.1 Die Intention des Künstlers
2.2 Die Zeichnungen
2.2.1 Thémis et Némésis - Louvre-Version
2.2.2 Némésis
2.2.3 Thémis et Némésis - Petit Palais-Version
3 La Justice et la Vengeance divine poursuivant le Crime
3.1 Die Entscheidung für das finale Bild
3.2 Die Anlage des Bildes
3.3 Die Figuren
3.3.1 Das Opfer
3.3.2 Der Verbrecher
3.3.3 Die geflügelten Gestalten
3.4 Die Komposition des Bildes
Schlussbemerkung
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Einleitung
Pierre-Paul Prud`hon, der Künstler, der seine Zeichnungen stets mit dem Zusatz Prud`hon - peintre versah, weil er sich Zeit seines Schaffens, obgleich er ein ausdauern- der Zeichner war, als Maler verstand, legte mit seinem Werk LA JUSTICE ET LA VENGE- ANCE DIVINE POURSUIVANT LE CRIME das Gemälde vor, welches ihm auf dem Salon von 1808 die Auszeichnung mit einer Medaille der Ehrenlegion zuteil werden ließ. Mit sei- ner Vorliebe zur Allegorie, der graziösen, teils androgynen Darstellung von menschli- chen Körpern, in weiches Licht gehüllt, verfolgte der Künstler einen eigenen Stil, wel- cher der klassischen Davidschule mit ihren harten, streng geometrischen Linien so wi- dersprach. So schwer es ist, Prud`hon einer bestimmten Richtung der Malerei zuzuord- nen, so einfach scheint es (nicht zuletzt wegen des Zeitraums seines Schaffens), ihn zwischen die klassische und romantische Schule zu stellen, innerhalb derer sich mit Da- vid und Delacroix gleichermaßen Bewunderer für ihn fanden.
Die vorliegende Arbeit möchte von einer kunsthistorischen Betrachtung und Ein- ordnung seines Werkes absehen. Vielmehr soll gezeigt werden, dass sich Prud`hon mit dem o. g. Gemälde ganz in eine Malerei begab, die sich in den Dienst der Nation stellte (zuvor hatte er sich in seinem finanziell nicht unsicheren Leben mit zahlreichen Privat- aufträgen, darunter Dekorationen und Portraits sowie Vorlagen für Kupferstiche, über Wasser gehalten). So sehr dieses Bild seine Entstehung der Geburt der Republik mit ih- rem neuen Rechtssystem verdankte, so sehr war es an die Aufgabe gebunden, diese Neuordnung widerzuspiegeln, sie zu rechtfertigen, sie zu publizieren. Wie ernsthaft der Künstler mit dieser Aufgabe umging, welche Gedanken ihn zu den Ausführungen be- gleiteten und mit welchen Mitteln er seine Intentionen umsetzte, soll im Folgenden ge- zeigt werden. Dabei wird die Arbeit genealogisch vorgehen, die Entstehung und Ent- wicklung der Idee des Bildes nachzeichnen. Es soll versucht werden, zu zeigen, wie sehr Prud`hons Ausführungen mit der Entwicklung des Strafrechts Frankreichs im 18. und 19. Jh. korrespondieren. Dazu wird es nötig sein, diese Entwicklung in einem histo- rischen Teil vorab zu beleuchten. Im Weiteren werden dann Prud`hons Entwürfe hin- sichtlich der Übereinstimmung mit der Rechtsauffassung betrachtet.
1 Zur Genese einer Idee
1.1 Der Auftrag
Das Gemälde GERECHTIGKEIT UND GÖTTLICHE RACHE VERFOLGEN DAS VERBRE- CHEN war eine Auftragsarbeit für den Pariser Justizpalast. Sie wurde vermutlich im Jahr 1804 von Nicolas Thérèse Benoît Frochot, dem Pr é fet de la Seine, an Prud´hon heran- getragen. Die beiden hatten sich um 1795 in Dijon durch Louis C. Viardot kennen ge- lernt, für den Prud´hon zu diesem Zeitpunkt ein paar Arbeiten anfertigte.1 Die Bekannt- schaft der beiden einerseits, zu dieser Zeit erfolgreich abgeschlossene Dekorationsarbei- ten des Künstlers im Louvre andererseits, werden wohl die Wahl auf ihn fallen gelassen haben. Es heißt, bei einem Abendessen im Hause des Staatsmannes soll dieser gegen- über Prud´hon einen Versabschnitt aus den Oden des Horaz zitiert haben: „ Raro antece- dentem scelestum deseruit pede poena claudo. “2 Dieses Zitat war Frochots Assoziation, die er dem Künstler mit der Aufgabe reichte - ein neues Gemälde für den Sitzungssaal des Kriminalgerichts zu schaffen. Prud´hon, von der Beschaffenheit des Auftrags ganz ergriffen, fertigte unverzüglich einen ersten Entwurf zu diesem Thema im Arbeitszim- mer des Präfekten an. Es sollte nicht der letzte gewesen sein. Um die Bedeutung dieses Auftrags einschätzen und das Ergebnis von Prud`hons Arbeit bewerten zu können, muss man wissen, welche Funktion von Gemälden in Justizgebäuden bzw. Gerichtssälen aus- ging. Es zeigt sich, dass sich Prud`hons Gemälde in eine Reihe von Dekorationen ein- fügt, deren Ausführungen eng mit den politischen Verhältnissen und dem einhergehen- den Verständnis von Recht und Strafe zusammenhing.
1.2 Recht und Strafe im Ancien Régime
Gesetzesgrundlage im vorrevolutionären Frankreich war der Code Louis, ein Ge- setzeskodex in Auftrag gegeben von König Ludwig XIV., basierend auf dem Zivilrecht (ordonnance sur la r é formation de la justice civile) von 1667 und dem Strafrecht (or- donnance sur la r é formation de la justice criminelle) von 1670. Es war dies ein Instru- ment zur Festigung der absolutistischen Herrschaft, das der Willkür in Verwaltung und Justiz vorbeugen sollte. Zu großen Teilen auf dem kanonischen Recht aufbauend, war es ein religiös geprägtes Recht, das zudem der Befriedung von Königtum und Kirche Vor- schub leistete. Die Religiösität dieses Rechts zeigte sich nicht nur in der Bestimmung dessen, was als Verbrechen galt, so z. B. die Homosexualität und Sodomie3, sondern auch in der Ausbildung der Juristen, maßgeblich der Richter. Diese wurden meist an philosophischen Fakultäten von Theologen ausgebildet, unter denen die Vorstellung vom Straftäter als Sünder vorherrschend war und die Straftat als unmittelbare Folge des Sündenfalls betrachtet wurde.4
Entsprechend drakonisch fielen die Strafen in dieser Zeit aus. In den meisten Fäl- len war der Körper des Delinquenten die Zielscheibe, sei es seine Zeichnung durch Fol- ter, seine gesellschaftliche Auslöschung durch Verbannung oder seine physische Auslö- schung durch Hinrichtung. Die Anwendung von Körperstrafen lässt sich hierbei einer- seits auf das Inquisitionsrecht zurückführen, andererseits auf den alleinigen Herr- schaftsanspruch des Königs. Die Kirche vertrat die Auffassung, dass im Umgang mit Häretikern bspw. die Züchtigung des Körpers das Mittel zur Rettung der Seele sei. Die Folter wurde dadurch gerechtfertigt, dass durch sie lediglich der Körper Schaden neh- me, die Seele jedoch unverletzt bleibe. Der körperliche Schmerz heilte die kranke Seele, die körperliche Strafe war das Mittel der Rettung der Seele vor dem ewigen Tod und dadurch auch gerechtfertigt, wenn dieses Ritual zum Tod des Körpers und damit zum zeitlichen Tod der Seele führte - war sie hier heraus doch für die Ewigkeit gerettet. An- ders ist die Bestrafung jedoch aus Sicht des Königs zu verstehen. Der Wahlspruch des Absolutismus Letat, cest moi! mag hier zum Verständnis beitragen. Der König war der unangefochtene Souverän, in dessen Person sich die Ordnung der Gesellschaft subli- mierte. Kein Gesetz, das die Beziehungen der Menschen im Staat konstituierte, konnte ohne seine Zustimmung geschaffen werden oder zur Geltung kommen. Es ließe sich der Spruch deshalb auch ausführen als La loi, cest moi! Diese Macht erfährt besondere Spezifität dadurch, dass die Institution des Königs (das Amt gewissermaßen) untrennbar war von der Person des Königs; oder nach heutigem Verständnis: die juristische Person und die natürliche Person des Königs waren eins. Dies hatte nun zur Folge, dass ein Ge- setzesbruch einerseits ein Angriff auf die rechtsstiftende Institution des Königs und an- dererseits eine Beleidigung der Person des Königs darstellte.5 Der Verbrecher, der gegen geltendes Recht verstieß, stellte dies Recht und darüber hinaus die Macht des Königs, der dieses Recht geschaffen hatte, in Frage. Er machte sich deshalb in dreierlei Hinsicht schuldig: 1. Durch seine Tat beging er unmittelbar Unrecht an der Person des Opfers. 2. Der Gesetzesbruch fügte dem Königtum als ordnungsstiftender Gewalt Schaden zu. 3. Der Gesetzesbruch beleidigte die Person des Königs und kam damit einem physischen Angriff gleich. Die Bestrafung aus Sicht des Königs hatte nun die Aufgabe, die beschä- digte Ordnung wiederherzustellen und die Unantastbarkeit des Königtums sicherzustel- len. Weiterhin war die Bestrafung durch das Moment der Rache des Königs für die Be- leidigung seiner Person gekennzeichnet. Der Verbrecher war du]rch seine Tat zum Feind des Königs geworden, „ indem er das Gesetz gebrochen hat, hat der Übelt ä ter die Per- son des Fürsten angegriffen; und diese bem ä chtigt sich nun - vermittels ihrer Beauf- tragten - des K ö rpers des Verurteilten, um ihn gebrandmarkt, besiegt, gebrochen vorzuführen. “6 Das Mittel der Wiederherstellung der Souveränität war die Marter. Als körperliche Bestrafung (in der Hinrichtung zudem mit dem Tode verbunden) versinn- bildlichte sie die den Kampf zwischen König und Feind und dessen Sieg durch Vernich- tung. Öffentlich war der Strafvollzug deshalb, weil dem Volk die Wiederherstellung des Rechts, noch bedeutender aber die uneingeschränkte Macht des Königs vor Augen ge- führt werden sollte. Ohnehin war den Menschen oft gar nicht bekannt, wenn ein Verbre- chen begangen wurde, denn die Anklage, das Untersuchungsverfahren und die Urteils- verkündung vollzog sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit des Strafvollzugs hatte deshalb auch die Aufgabe, das Verbrechen kund zu tun. Nicht zuletzt deswegen entsprach die Bestrafung häufig auch einer Inszenierung des Verbrechens. Wenn möglich, wurde ein Mörder bspw. mit der Waffe malträtiert, mit der er selbst sein Opfer getötet hatte und der Tathergang durch eine ausgefeilte Choreografie nachemp- funden. Die mitunter sehr grausame Bestrafung hatte somit zwei wesentliche Funktio- nen: „ einerseits Spiegelbild des Verbrechens, andererseits seine Überm ä chtigung “7 zu sein.
So drakonisch die Strafe im Ancien Régime häufig war, so undurchsichtig war das Strafverfahren. Von der Erhebung der Anklage bis zur Urteilsverkündung fand es unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und war durch ein einseitiges Machtverhältnis der Anklage gekennzeichnet. Sofern sich das Verfahren nicht ohne den Angeklagten selbst abspielte, war diesem der Inhalt der Anklage häufig nicht bekannt, was, sofern er über- haupt einen Anwalt in Anspruch nehmen durfte oder konnte, dazu führte, dass eine or- dentliche Verteidigung gar nicht möglich war.8 Zeugen durfte er i. d. R. nicht benennen und über die Identität seiner Denunzianten wurde er im Unklaren gelassen, auch waren ihm die Akten des Verfahrens nicht zugänglich. Die Feststellung der Wahrheit in Straf- sachen war für den Souverän und seine Richter ein absolutes Recht.9 Bei all diesem Un- recht erforderte die Geheimhaltung der Verfahren jedoch eine strenge gerichtliche Be- weisführung. Die Form des Beweises machte ein bestimmtes Strafmaß erst möglich. Unterschieden wurden die unvollkommenen (öffentliche Gerüchte über den Angeklag- ten), die halb-vollen (einziger Augenzeuge) und die vollen Beweise (zwei unbescholtene Augenzeugen), die in dieser Hierarchie Geldbußen, nicht-tödliche Körperstrafen und im Falle des vollen Beweises jede beliebige Strafe nach sich ziehen konnten.10 Häufig wur- de auch ein Geständnis des Beschuldigten angestrebt, meist unter Anwendung der Fol- ter. Legitimiert wurde diese Vorgehensweise dadurch, dass sich im damaligen Verständ- nis der Beschuldigte, wie gering auch immer die Anklage war, in jedem Fall schon eines Teils schuldig gemacht hatte.11 Foucault schreibt dem Geständnis eine doppelte Zweideutigkeit zu: Zum einen war es ein Beweiselement und Gegenstück der Untersu- chung. Das Geständnis rundete das Verfahren im Allgemeinen ab, in dem es die gründ- liche Ermittlung der Beweise bestätigte. Das Geständnis allein konnte jedoch nie zu ei- ner Verurteilung führen. Zum anderen ging es hervor aus einem Zwang und halb-freiwil- ligen Übereinkommen. Der Beschuldigte musste vor dem Verhör einen Schwur ablegen, was die Drohung inne hatte, sich vor Gott und den Menschen ggf. meineidig zu machen. Anschließend wurde er der Folter übergeben, um ihm das Geständnis abzupressen.12 In der Folter vermischten sich Ermittlungsakt und Strafmaßnahme dadurch, dass sie eines- teils zur Schaffung bzw. Festigung der Beweismittel beitrug und anderenteils eine Teil- Bestrafung für eine Teil-Schuld darstellte - gleichermaßen eine doppelte Legitimation. Ganz allgemein lässt sich über das Strafrecht des Ancien Régime sagen, dass es auf die Rache am Verbrecher bezogen war. So gesehen war es ausschließlich vergan- genheitsbezogen, zielte weder auf Abschreckung bzw. Vorbeugung von Verbrechen, weder auf Wiedergutmachung der Tat, noch auf die Besserung des Täters ab. Es war ein Instrument zur Festigung des Herrschaftsanspruchs des Souveräns, vermittels der Terro- risierung des Volkes durch den öffentlichen, allmächtigen Vollzug der Strafe.13
1.3 Die Reform des Strafrechts
1.3.1 Gesellschaftsveränderungen und zunehmende Kritik
Ab der Mitte des 18. Jh. macht sich Kritik an den Methoden der Strafverfolgung breit. Während Philosophen und Intellektuelle offen die Unverhältnismäßigkeit der Stra- fen beklagen und sich besonders gegen die Todesstrafe stellen, bemängeln Jurisprudenz und auf administrativer Ebene die Richter und Justizangestellten die Regellosigkeit der Verfahren.14 Rechtsgelehrte übten eine pragmatische Kritik, die auf die private Aneig- nung (Käuflichkeit und Vererbung des Richteramtes), die Verquickung zweier Gewalten (Gesetzgebung und Rechtsprechung) und die Privilegiertheit des Rechts (Ungewissheit der Rechtsprechung durch allerlei Sonderregelungen) abzielt und die damit verbunde- nen Schwächen, Maßlosigkeiten, Übertreibungen und Lücken der Rechtsprechung. Die anderen stellen sich hingegen ganz rechtsphilosophisch die Frage, welchem Zweck die Bestrafung eigentlich und überhaupt dienen soll.
Die Neuordnung der Strafgewalt ab den 1790er Jahren ist die Folge einer kontinu- ierlichen Entwicklung und schleichenden Veränderung der französischen Gesellschaft im 18. Jh. Zum einen nehmen Gewaltdelikte ab, während Eigentumsdelikte zunehmen. Das Bevölkerungswachstum sowie ein steigender Lebensstandard mögen eine Erklä- rung dafür sein, dass Diebstähle zu den vorrangigen Vergehen werden.15 Die Schwere
der Verbrechen nimmt im Allgemeinen ab und mit ihr auch die Schwere der Strafen. Gleichermaßen ist man geneigt, nun auch die geringeren Eigentumsdelikte zu verfolgen, die sich gegen die Grundlage der bürgerlichen Existenz richten. Die Käuflichkeit des Richteramtes - einst ein fiskalischer Trick des Souveräns - verschafft einer ganzen Klasse die Möglichkeit, eine Justiz im eigenen Interesse zu gestalten und trägt dazu bei, dass die monarchische Justiz zunehmend den Charakter einer bürgerlichen Justiz erhält.16
Immer wieder wird auch die Maßlosigkeit der Gewalt der Strafe kritisiert. Nicht zuletzt erkennt man in den Exzessen der Hinrichtung die Gefahr, dass sich das Volk an dieses Schauspiel gewöhnen und daraus lernen könnte, die eigene Unterdrückung eben- falls mit blutiger Gewalt zu bekämpfen bzw. zu rächen. Auf anderer Ebene hingegen, wie Foucault erkennen will, hält im Strafprinzip auf subtile Weise aber gleicherma- ßen forciert das Prinzip der Ökonomie Einzug.17 Nicht nur, wie gezeigt, im Bezug auf die unermüdliche Verfolgung von Delikten, die das Eigentum und damit die Grundlage jeglicher Ökonomie betreffen, sondern auch im Umgang mit den Rechtsmitteln selbst: Das Maßhalten beim Verhängen der Strafe wird allgemeines Prinzip. Nach dem folgen- den Ausblick auf die rechtsphilosophischen Überlegungen zu dieser Zeit wird sich zei- gen, dass sich eben im Maßhalten - dem vorrangigen Prinzip der Ökonomie - die pragmatische mit der rechtsphilosophischen Sicht vereinen konnte.
Wie es Kirchner in seinem Aufsatz angeht, so lassen sich die Überlegungen über den Sinn der Strafe in zwei Denkrichtungen einteilen.18 Auf der einen Seite die Philanthropen, darunter Voltaire, die mit der Strafe die Besserung, d. h. Resozialisierung der Delinquenten erreichen wollten. Es ging ihnen weniger darum, das Verbrechen zu sühnen, als vielmehr den Verbrecher für den Wiedereintritt in die Gesellschaft, aus de- ren Gemeinschaft er sich durch sein Verbrechen ausgeschlossen hatte, vorzubereiten. Dem gegenüber standen die Pragmatiker, darunter Cesare Beccaria als promovierter Ju- rist, die in der Strafe das Mittel zur Abschreckung bzw. Vorbeugung von Verbrechen sahen. Gemeinsam war beiden Denkrichtungen die Abkehr von einer vergangenheitsbe- zogenen, hin zu einer zukunftsbezogenen Pragmatik des Strafvollzugs. Nicht mehr die Überlegungen, wie ein begangenes Verbrechen gerächt oder wiedergutgemacht werden sollte, sondern wie zukünftige Verbrechen verhindert werden könnten, standen im Vor- dergrund. Verschieden waren jedoch die Ansichten, wie dies gelingen könnte. Die Phi- lanthropen wollten durch eine Besserung des Täters die Wiederholung des Verbrechens verhindern. Die Pragmatiker wollten durch die Bestrafung potentielle Nachahmer ab- schrecken. Während bei den Philanthropen also die Person des Täters fokussiert wurde, war sie für die Pragmatiker lediglich Mittel zum Zweck. Es zeigte sich, dass im Verlauf der Neuordnung des französischen Strafrechts der letzteren Ansicht der Vorzug gegeben wurde. Deshalb sollen an dieser Stelle Beccarias Kritik und Reformvorschläge skizziert werden.
1.3.2 Die Kritik Cesare Beccarias
1764 legte er mit seiner kurzen Schrift ÜBER VERBRECHEN UND STRAFEN eine in Europa breit rezipierte Abhandlung über das Strafwesen vor. Er selbst schließt seine Ar- beit mit dem Resümee: „ damit die Strafe nicht die Gewalttat eines oder vieler gegen einen einzelnen Bürger sei, mußsie durchaus öffentlich, rasch, notwendig, die ge- ringstm ögliche unter den gegebenen Umst ä nden, den Verbrechen angemessen und vom Gesetze vorgeschrieben sein. “19 In dieser Zusammenfassung kommen die Kritik der Zustände und die Ansichten über den Sinn der Strafe - einem Lehrsatz gleich - zum Vorschein. Beccaria bemängelt die Unordnung und Regellosigkeit der juristischen Pro- zesse. Er fordert eine strikte Trennung von gesetzgebender und rechtsprechender Ge- walt, die bis dato, vermittels uneindeutiger Gesetze und Strafkataloge, noch häufig in der Person des Richters vereint waren, der über Recht und Unrecht, Schuldfähigkeit des Angeklagten und das Strafmaß entschied. Aus dieser Unordnung heraus fordert er des- halb eine gesetzmäßige Ordnung der Strafprozesse, sowohl im Hinblick auf das Straf- maß, als auch im Bezug auf den Ablauf der Verhandlung. In erster Hinsicht hält er auf das Ausmaß des Verbrechens abgestimmte Strafen für wesentlich und schlägt für Ge- waltverbrechen die Körperstrafe, für Diebstahl die Geld- bzw. Arbeitsstrafe, für Ehrlo- sigkeit den Verlust der Ehre und für den Müßiggang die Verbannung vor, nicht ohne da- rauf hinzuweisen, dass sich das Ausmaß der jeweiligen Strafe nach dem Schaden zu richten habe, welcher der Gesellschaft durch das Verbrechen entstanden ist.20 Für die Durchführung der Gerichtsprozesse fordert er den Ausgleich der einseitigen Machtver- hältnisse zu Gunsten des Angeklagten. Dieser hat bis zur Vollständigkeit der Beweise als unschuldig zu gelten. Aus diesem und aus dem Grunde zweifelhafter Wahrheitsfin- dung verbietet sich sogleich die Folter zum Zwecke der Geständigkeit.21 In ihr vermag Beccaria ein pervertiertes Wechselspiel zwischen Gottes- und Menschengericht zu er- kennen, wenn ein Unschuldiger vor Gott die Wahrheit zu schwören hat, die ihm an- schließend durch die Qualen der Folter als Lüge in den Mund gelegt wird: „ [...] das Gesetz, das zu einem solchen Eid verpflichtet, befiehlt, entweder ein schlechter Christ oder ein Märtyrer zu sein. “22 Zur Verbesserung der Stellung der Angeklagten soll eine Verhaftung ohne formale Begründung nicht mehr möglich sein und dem Angeklagten ein Recht auf Verteidigung gegeben werden. Um Grundsätzlich eine qualitative Verbes- serung der Arbeit von Anklage und Verteidigung zu erreichen, schlägt Beccaria vor, den Verfahren einen zeitlichen Mindestrahmen vorzuschreiben. Auch soll das Verfahren oh- ne Ansehen der Person (jedoch nicht ohne Berücksichtigung der Umstände, in der eine Person sich befindet) von statten gehen. Als hilfreich betrachtet er hier ein auch aus dem Stand des Angeklagten zusammengesetztes Gericht.23 Öffentlichkeit und Transparenz der Gerichtsverfahren sind weitere Eckpfeiler seines Programms. Die Geheimhaltung der Strafprozesse des Ancien Régime ist das Zeichen eines Rechts über das Volk. Öf- fentlichkeit und der dadurch gewährte Einblick in die Rechtschaffenheit der Gerichte sind hingegen Merkmale eines Rechts für und durch das Volk. Hierzu sei aber auch eine allgemein verständliche Sprache der Gesetzbücher nötig, so dass ein jeder, unabhängig von Stand und Bildung, den Urteilsspruch nachvollziehen kann. In der einfachen Spra- che der Gesetzestexte sieht Beccaria schon ein gewaltvorbeugendes Mittel, denn wer zweifelsfrei erkennen kann, welche Nachteile aus seinem Handeln entstehen, wird sich zumindest schon aus rationalen Gründen gegen ein sträfliches Verhalten entscheiden.24
Beccaria führt seine Leser sehr schnell zu der Erkenntnis, dass die Bestrafung nicht dazu dienen kann, ein begangenes Verbrechen ungeschehen zu machen, noch da- zu, dem Verbrecher für seine Tat körperliche Qualen aufzuerlegen.
[...]
1 Vgl. Helen Weston: Prud´hon: Justice and Vengeance. In: The Burlington Magazine, Bd. 117 (1975), Nr. 867, S. 353-363, Fußnote Nr. 7
2 Horaz: Oden III, V. 32 (frei übersetzt: Und selten wohl blieb lahmen Fu ß es die Strafe hinter dem Verbrechen zu- rück.)
3 Vgl. Angela Taeger: Intime Machtverhältnisse. Moralstrafrecht und administrative Kontrolle der Sexualität im ausgehenden Ancien Régime, München 1999
4 Vgl. Thomas Kirchner: Pierre-Paul Prud´hons „La Justice et la Vengeance divine poursuivant le Crime“ - Mahnen- der Appell und ästhetischer Genuß. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 60 (1991), S. 541-75, hier: S. 546 f.
5 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1994, S. 63
6 Ebd., S. 65
7 Ebd., S. 74
8 Vgl. ebd., S. 48
9 Vgl. ebd.
10 Vgl. ebd., S. 49 f.
11 Vgl. ebd., S. 57
12 Vgl. ebd. S. 53
13 Vgl. ebd. S. 75
14 Vgl. ebd. S. 99 f.
15 Vgl. ebd., S. 96 f.
16 Kirchner mach in seinem Aufsatz darauf aufmerksam, dass im Jahre 1788 eine Initiative Ludwigs XVI. (!) für ein modernes Strafrecht am Einspruch des Parlamentes und der Stände scheiterte - ein eindringliches Beispiel der Verselbständigung der Justiz durch Interessenskonflikte der Klassen (vgl. hierzu [wie Anm. 4], S. 548).
17 Vgl. ebd., S. 101 ff.
18 Vgl. Kirchner: Prud´hons Justice [wie Anm. 4], S. 547 f.
19 Cesare Beccaria: Über Verbrechen und Strafen (nach der Ausgabe von 1766), 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1998
20 Vgl. ebd., S. 107 ff.
21 Vgl. ebd., S. 92 ff.
22 Ebd. S. 104
23 Vgl. ebd., S. 86 ff.
24 Vgl. ebd., S. 167 f.
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