Seit etwa anderthalb Jahrzehnten beginnt sich nicht nur die kultursoziologisch-ethnographische und die kriminologische Literatur, sondern auch die Sozialtheorie immer nachhaltiger für das Thema „Mafia“ zu interessieren, der es weniger um eine Bewertung des Phänomens „Mafia“ geht, als um eine Rekonstruktion der Umstände und Bedingungen, unter denen es durchaus lohnen und rational sein kann, sich als Nachfrager wie als Anbieter um die Bereit- und Sicherstellung mafiöser „Leistungen“ zu bemühen. Ihren theoretischen Durchbruch verdankte die wissenschaftliche Diskussion um die „Krake“ Mafia Diego Gambetta, der in einem vielbeachteten Buch über die „sizilianische Mafia“ von 1993 mit Nachdruck darauf hin wies, dass Mafiosi als (unternehmerische) Anbieter auf einem monopolartig zu organisierenden Markt für Schutzleistungen zu verstehen sind, die angesichts der Tatsache, dass Eigentumsrechte durch staatliche Instanzen (aus den verschiedensten Gründen) nicht gewährt und geschützt werden, auch dann (freiwillig) nachgefragt werden, wenn die Zahlung von Schutzgeldern und die damit verbundene Erhöhung der Transaktionskosten zu einer „Verteuerung“ der „Güterpreise“ führen und jeder einzelne Nachfrager nach Schutzleistungen sich besser stellen könnte, wenn er auf die Entrichtung von Mafiasteuern verzichten könnte. Tatsächlich ist dies aber keinem einzelnen Akteur möglich, mit der Folge, dass mafiöse Strukturen sich die Bedingungen ihrer Reproduktion immer wieder selbst beschaffen können, was den üblichen (überaus wohlmeinenden) „Counter insurgency“-Strategien jede Durchschlagskraft nimmt.
Jan Hoffmans Arbeit schließt an diese Forschungstradition an und erarbeitet souverän und in höchst lesbarem Stil die Expansion der sizilianischen Mafia in den USA – vornehmlich in New York – heraus. Er diskutiert dabei in systematischer Weise die jeweiligen Entstehungsbedingungen, die immer dann günstig sind, wenn Schutzleistungen privat nachgefragt werden, weil sie als öffentliche Güter gerade nicht bereitgestellt werden. Um ein entsprechendes Schutzleistungsangebot zu machen, sind zugleich ganz spezifische Firmeneigenschaften erforderlich, die lebhaft geschildert werden und deren Darstellung theoretisch einsichtig macht, weshalb zum teil blutige Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Gewaltanbietern stattfinden bzw. warum zugleich immer wieder Versuche unternommen werden, Angebotskartelle zu bilden.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Sizilianische Mafia
2.1 Die Entstehung der sizilianischen Mafia
2.1.1 Sizilien
2.1.2 Die Entwicklung der Mafia
2.1.3 Wie die Mafia zu ihrem Namen kam
2.1.4 Wie wird man ein Ehrenmann?
2.2 Der Markt
2.2.1 Der Mafiosi als „dritter Mann“
2.2.2 Konkurrenz auf dem Markt
2.2.3 Der regulierte Markt
2.3 Die Struktur der Cosa Nostra
2.3.1 Die Identitat der Mafiosi
2.3.2 Die interne Struktur
2.4 Mafia als Unternehmen
2.4.1 Mafiose Macht
2.4.2 Mafia und Staat
3 Die Mafia in den USA
3.1 Die Entstehung der Mafia in den USA am Beispiel von New York
3.1.1 Auswanderung aus Sizilien
3.1.2 Integration in die „Neue Welt“ und Entstehung der Mafia
3.1.3 Die Entwicklung und die Struktur der Cosa Nostra in New York
3.2 Der Markt in den USA
3.2.1 Betatigungsfelder der US-Mafia
3.2.2 Probleme auf dem Markt
3.3 Das Unternehmen Mafia in den USA
3.3.1 Die Mafiose Macht in den USA
3.3.2 Das Verhaltnis zwischen Mafia und dem amerikanischen Staat
4.1 Die Entstehungshistorie
4.2 Die Strukturen
4.3 Die Markte
4.4 Das politische Umfeld
5 Zusammenfassung
6 Schlussfolgerungen
7 Literaturverzeichnis
8 Medienverzeichnis
9 Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
Der 16. Dezember 1985 war wieder einer dieser Tage, an dem die amerikanische Offentlichkeit Zeuge davon wurde, mit welcher Aggressivitat und Brutalitat die Cosa Nostra ihren Vorhaben nachging:1 Es war gegen 17.45 Uhr als Paul Castellano, der zeitweise machtigste Gangster der Vereinigten Staaten, auf offener StraBe zusammen mit seinem Fahrer, Leibwachter und Unterboss Thomas Bilotti erschossen wurde.
Diese Hinrichtung ist exemplarisch dafur, wie die Mafia mit Nachfolgefragen und internen Problemen umgeht. Paul Castellano trat nach dem Tod von Carlo Gambino dessen Nachfolge an der Spitze der Gambino-„Familie“ an. Dadurch stand dieser neun Jahre lang an der Spitze der Mafia-Pyramide, das heiBt er war der Boss aller Bosse der Mafia. Seine Regierungszeit war gekennzeichnet durch Wohlstand fur die Verbrecher und relative Stabilitat des mafiosen Systems. Doch nun war seine Zeit gekommen. „Big Paul“ war mittlerweile 70 Jahre alt und erfreute sich nicht mehr bester Gesundheit. Er war mude, krank und manche meinten, er verliere langsam den Bezug zur Realitat.
Als Mafia-Pate muss man gehasst werden, das wusste Castellano und es gehorte auch einfach dazu. Wurde man jedoch gehasst ohne gleichzeitig gefurchtet zu werden, wurde es gefahrlich. Die Furcht vor ihm war nach wie vor vorhanden, doch hatte sie sich geandert. Man furchtete sich nicht mehr nur vor seiner Starke, sondern vor seinem moglichen Schwacherwerden. Gegen Castellano wurde Anklage erhoben wegen Fuhren eines Auto-Rings fur gestohlene Autos sowie wegen Anstiftung zum Mord. Es war nicht das erste Mal, dass er vor Gericht stand, doch auch diese Anklagepunkte waren nur die Spitze des Eisberges der Taten, die man ihm hatte zur Last legen konnen. Die Gefahr, dass der „Boss der Bosse“ in seinem angeschlagenen Gesundheitszustand zukunftig noch ofter vor Gericht stehen sollte, machte andere fuhrende Mafiosi nervos. Auch die Tatsache, dass ein 70-jahriger alter Mann es wohl sehr gern verhindern wurde, seinen Lebensabend im Gefangnis zu verbringen, machte seinen Untertanen Angst. Diese Motive fuhrten dazu, dass man befurchtete „Big Paul“ konnte eine Vereinbarung mit der Polizei eingehen, seine Verbindungen verraten und sich somit in Sicherheit bringen. Diese Vorstellungen bereiteten in den Kopfen anderer hochrangiger Mafiosi Kopfschmerzen und daher musste gehandelt werden.
Da es sich bei Paul Castellano nicht um einen kleinen, gewohnlichen StraBenmafioso handelte, sondern um einen der machtigsten kriminellen Manner der Vereinigten Staaten, sollte seine Beseitigung eine offentliche Angelegenheit werden. Dieser Mordauftrag kam nicht von irgendwelchen Mafiosi oder von einer Randgruppe der eigenen Gambino-„Familie“, sondern war ein wohl uberlegter Schachzug der funf groBen Cosa Nostra „Familien“ New Yorks. Die Ermordung Castellanos wurde, wie es in der Mafia bei so wichtigen Personen ublich ist, mit allen New Yorker Familien abgesprochen und unter deren Verantwortung durchgefuhrt. Der „Boss der Bosse“ wurde an diesem besagten Tag durch einen Kugelhagel halbautomatischer Waffen getotet, funf Einschusse zielten auf seinen Korper sowie ein Gnadenschuss in den Kopf. Zeugen dieser Ermordung hatte es viele geben mussen, doch selbst als sich einige fanden, konnten sie sich nur daran erinnern, dass die Morder Trenchcoats trugen und in einer dunklen Limousine fluchteten.
Zuruckhaltung und Diskretion hatten das Leben Paul Castellanos gepragt. Er war stets bestrebt, dass sein Name in keinen Zeitungen oder Boulevardblattern erschien. Er sah sich selbst gern als cleverer amerikanischer Geschaftsmann, nicht unbedingt als Mafioso, der seine Landsleute in das gelobte Land des legalen Unternehmertums fuhren wollte. Wenn jedoch an der weit verbreiteten Meinung etwas Wahres dran ist, dass die Art des Todes das letzte Wort uber einen Menschen spricht, dann machte dieser Tod deutlich, dass Castellano trotz seines weltgewandten Auftretens und seiner beruchtigten Managerqualitaten eben doch nur ein ewiger einfacher Gewaltverbrecher geblieben war. Er starb seiner einstigen Macht beraubt, seines Mythos entzogen, als eine Unterweltleiche von vielen.
Macht oder Mythos
Die unfassbare Brutalitat, mit der mafiose Krafte vorgehen und scheinbar unbeeindruckt von Gesetzen und Staat taktieren konnen, schockiert die einfache Bevolkerung genauso wie sie diese Fulle an Macht fasziniert.
Wurde die Mafia, das organisierte Verbrechen allgemein, noch vor wenigen Jahrzehnten als Mythos, Hirngespinst oder aber als Aberglaube beschrieben, so zeigt uns doch die tagliche Realitat auf den StraBen der GroBstadte, dass der Mythos vom Realen nicht weit entfernt zu sein scheint. Die akribische Planung jeder mafiosen Handlung, Verbindungen bis in Regierungskreise hinein sowie die Struktur der verbrecherischen Organisationen im Allgemeinen, lassen den Schluss zu, dass diese
Teil einer rationalen, grausamen Unternehmenspolitik sind, kein Mythos, und somit auch wissenschaftlich untersucht werden konnen.
Beim Versuch, das organisierte Verbrechen nuchtern und logisch zu betrachten, sieht man meist als erstes die grausame Brutalitat in ihrem Vorgehen. Wenn wir aber herausfinden wollen, wie und warum Mafiosi handeln, was die Organisation Mafia uberhaupt ist und warum man so wenig gegen diese organisierte Kriminalitat unternimmt, reicht es nicht, Fakten uber mafiose Handlungen zu betrachten. Wenn wir etwas Genaues uber die Hintergrunde der mafiosen Entstehung und deren Legitimation erfahren wollen, dann sind wir gezwungen, genau hinzusehen. Das heiBt, wir durfen uns nicht mit vorschnellen Auffassungen und Erklarungen zufrieden geben. Wir mussen hinterfragen, was sich hinter der Erscheinung der parasitaren mafiosen Verbindung verbirgt, um die sozialen und allgemeinen Quellen fur deren Entstehung zu realisieren.
Ein wesentlicher Schlussel fur die Benennung von Grunden und Ursachen sowie Hintergrunde der allgemeinen Akzeptanz des Phanomens Mafia liegt in der Nachzeichnung der politischen, okonomischen sowie sozialen Verhaltnisse und Gegebenheiten in den jeweiligen Entstehungsgebieten derer.
Die Einschrankung der Thematik
Die Thematik des organisierten Verbrechens, welches heutzutage allgemein als Mafia bezeichnet wird, ist jedoch zu umfassend, vielfaltig sowie gesellschaftlich und kulturell zu spezifisch, als dass eine Arbeit allein alle Formen und Mutationen des Phanomens Mafia ausreichend erklaren konnte. Daher lassen wir alles auBer Acht was nur deshalb als Mafia bezeichnet wird, weil es sich um eine Art von organisiertem Verbrechen handelt. Wir beschranken unseren Fokus auf eine einzige Mafia: auf die so genannte Ur- Mafia, die sich selbst als „La Cosa Nostra“ bezeichnet. Die Rede ist von dem Phanomen der sizilianischen Mafia. In der Kriminalgeschichte nimmt diese eine Sonderstellung ein, da es gewiss schon viele verbrecherische Geheimgesellschaften gab - aber keine reicht an diese Vereinigung sizilianischer Familien heran. Dieses sizilianische Verbrechersyndikat beschrankt sich jedoch nicht nur auf deren ursprunglichen Entstehungsort Sizilien. „La Cosa Nostra“ ist auch, und das nicht erst seit heute, in den Vereinigten Staaten zu finden und dort extrem erfolgreich.
Nun drangt sich die Frage auf, wie das Phanomen Mafia, das unter ganz bestimmten Umstanden auf der Insel Sizilien entstehen konnte, diese kriminelle Organisation in die Vereinigten Staaten transferieren konnte? Hierbei ist zu berucksichtigen, dass ich nicht einfach hinterfragen mochte, wie die Kriminalitat in den Vereinigten Staaten von Amerika entstanden ist, sondern ganz speziell, wie die sizilianische Mafia, welche ein Phanomen fur sich ist, in den USA entstehen und ihr sizilianisches Erfolgskonzept exportieren konnte.
Die Umstande und Gegebenheiten, welche man in der Entstehungszeit des mafiosen Verhaltens auf der italienischen Insel vorfand, waren der optimale Nahrboden fur organisiertes Verbrechertum. Die USA hingegen, speziell das Beispiel New York, stellen auf den ersten Blick einen ganz anderen Ort mit anderen Umstanden dar, keinesfalls zu vergleichen mit der abgeschiedenen Insel Sizilien. Es sollen daher die Besonderheiten der Entstehungselemente der sizilianischen Mafia dargelegt und analysiert werden, vergleichend an den Entstehungsorten Sizilien und den Vereinigten Staaten, speziell an der Stadt New York.
Hier stellt sich nun die Frage, ob es denn wirklich nur die auBeren Umstande waren, welche die Entstehung der Cosa Nostra begunstigten oder ob es sich hierbei um soziale Phanomene, bestimmte Handlungsmuster von Menschen, welche die Entstehung von einem derart organisierten Verbrechersyndikat positiv beeinflussen, tolerieren und vielleicht sogar fordern konnten, handelte? Um dies zuverlassig betrachten, analysieren und diskutieren zu konnen, mussen zuallererst die Handlungsmuster und Beweggrunde der Bevolkerung an den beiden zu betrachtenden Entstehungsorten analysiert werden.
Die Macht, uber welche das sizilianische Verbrechersyndikat speziell in den Vereinigten Staaten verfugt, ist kein Mitbringsel aus der alten Heimat, auch wurde diese Fulle an Macht und Beziehungen nicht von Sizilien eins zu eins exportiert. Wie ist es jedoch dann zu erklaren, dass der amerikanische Ableger der sizilianischen Mafia, sich so radikal ausbreiten, wachsen und expandieren konnte, sodass die Mutterstruktur und der Unternehmenserfolg der Cosa Nostra Siziliens indessen wahnsinnig klein wirken?
Wenn es sich also bei dem Phanomen Mafia wirklich um eine verbrecherische, streng gegliederte Organisation handelt, die aufgrund besonderer sozialer und infrastruktureller Umstande entstanden ist und die in unserer heutigen Zeit eine der erfolgreichsten kriminellen Vereinigungen darstellt, dann mussen wir auch Antworten auf die folgenden Fragen erhalten:
1. Wie konnte die sizilianische Mafia auch in den USA, speziell in der Stadt New York, entstehen und sich ausbreiten, obwohl auf den ersten Blick ganz andere soziale und infrastrukturelle Umstande vorhanden waren als im Mafia-Ursprungsland Sizilien?
2. Warum ist die Entstehung der Mafia auf soziale Phanomene sowie auf bestimmte Handlungsmuster der Menschen in den Entstehungsgebieten zuruckzufuhren?
3. Welche Umstande und Gegebenheiten fuhrten dazu, dass sich der amerikanische Ableger der sizilianischen Mafia besser entwickeln und dadurch dominierender werden konnte als die Ursprungsorganisation im Heimatland der Mafia Sizilien?
Der Aufbau der Arbeit
Den Ausgangspunkt unserer Betrachtungen bildet im zweiten Kapitel die sizilianische Mafia an sich. Dazu wird im ersten Unterpunkt dieses Kapitels die Entstehung der Cosa Nostra auf der Insel Sizilien beleuchtet und analysiert. Zu berucksichtigen ist hierbei die spezielle Situation der Insel, die Gegebenheiten dieser Ortlichkeit und die jeweilige historische Machtkonstellation, welche Einfluss auf die sozialen und moralischen Situationen der Bevolkerung hatte. Des Weiteren werden wir die Entstehungsgeschichte der Mafia von ungefahr 1860 an verfolgen und Fakten herauskristallisieren, die fur den Zuspruch und die Akzeptanz auf der Insel und den daraus resultierenden Machtzuwachs der Mafiosi verantwortlich sind. Wir werden erfahren wie die Mafia zu ihrem Namen kam, herausfinden welche Voraussetzungen vorhanden sein mussten, um ein Mitglied der Mafia, ein so genannter „Ehrenmann“, zu werden als auch wie die rituelle Zeremonie durchgefuhrt wird, die bis in unsere heutige Zeit ihre Anwendung findet. Im zweiten Unterpunkt dieses Kapitels widmen wir uns dem allgemeinen Markt auf dem die Mafia tatig ist. Hierzu analysieren wir die anfanglichen Tatigkeiten der Mafiosi, die Hintergrunde, welche die Basis fur die Ausubung ihrer Aktivitat bildeten, sowie die Konkurrenzsituation und die des regulierten Marktes. Im dritten Unterpunkt gehen wir auf die genauen Identitaten der mafiosen Verbrecher ein, analysieren die internen Strukturen, die einen Mafiosi umgeben, bis hin zur pyramidenformigen nationalen Struktur der Cosa Nostra, welche die Insel leitete und bis heute leitet. Der vierte und letzte Unterpunkt dieses Kapitels soll uns Erkenntnisse daruber gewahren, wie die Macht der Mafioso vom 19. Jahrhundert an bis in unsere heutige Zeit fast kontinuierlich wuchs und uns Aufschluss daruber geben, inwieweit die Politik mit der Mafia zusammenarbeitete und wenn, wie sie bekampft wurde.
Im dritten Kapitel dieser Arbeit befassen wir uns mit den Hintergrunden der sizilianischen Mafia in den Vereinigten Staaten von Amerika, speziell am Beispiel der Stadt New York. Hierzu versuchen wir die Gegebenheiten, mit denen die sizilianischen Auswanderer Anfang des vergangenen Jahrhunderts zu kampfen hatten, zu rekonstruieren, gehen auf die Integrationssituation der Sizilianer in die amerikanische Welt ein und analysieren die Entstehungshintergrunde sowie die Struktur der sizilianischen Mafia in den USA. Der zweite Unterpunkt dieses Kapitels widmet sich dem Markt, auf dem die US-Mafia tatig ist. Hierbei soll der Ausgangspunkt der mafiosen Tatigkeiten in den Vereinigten Staaten sowie der derzeitige Markt, auf dem die Mafia operiert, skizziert und mit all seinen Problemen dargestellt werden. Der letzte Unterpunkt dieses Kapitels beschaftigt sich mit dem Unternehmen Mafia in den USA an sich. Hierzu soll die mafiose Macht, welche die Cosa Nostra in den Vereinigten Staaten besitzt, aufgezeigt sowie das Verhaltnis zwischen Mafia und dem amerikanischen Staat visualisiert werden.
Dieses Wissen uber die historische Entwicklung der Mafia sowie die Tatsachen zu den einzelnen Komponenten, welche die Entstehung und die Ausweitung der Mafia begunstigten, sind notwendig fur die Bearbeitung des vierten Kapitels. In diesem Kapitel sollen die Entstehungsgeschichten, die Strukturen, die Markte sowie das politische Umfeld der beiden Mafiaentstehungsorte verglichen werden. Diese damit gesammelten Erkenntnisse helfen uns, um in Kapitel funf die gestellten Forschungsfragen zusammenfassend zu beantworten und schlieBlich im sechsten Kapitel einige Schlussfolgerungen zu ziehen.
Die Fakten uber die Entstehung, die Hintergrunde und die Ursachen der Entwicklung und Ausbreitung der Cosa Nostra stammen groBtenteils aus Quellen von Historikern, Soziologen, Vernehmungs- sowie Gerichtsprotokollen Aussagewilliger sowie aus Zeitungsberichten.
2 Die Sizilianische Mafia
Der 23. Mai 1992, der Tag an dem die ganze Welt auf die sizilianische Mafia aufmerksam wurde2. Es ist gegen 18 Uhr, als Giovanni Brusca, ein „uomo d'onore"3, die SchnellstraBe vor dem Abzweig nach Capaci beobachtet. Kurz vorher wurde die Kanalisation der StraBe von anderen Mafiosi mit etwa 400kg Sprengstoff prapariert. Als Brusca bemerkt, dass sich die Kolonne sehr langsam auf sie zu bewegt, zogert er noch, doch dann im richtigen Moment druckt er auf den Knopf.
Die gewaltige Detonation zerreiBt den Asphalt, der erste Wagen der Kolonne wird in die Luft gewirbelt und landet etwa 60 Meter entfernt in einem Olivenhain. Aus dem zweiten, kugelsicheren Wagen wird der Motor gerissen, danach sturzen die Reste des Wagens in den Explosionskrater. Das dritte Fahrzeug wird nur beschadigt, ist aber noch intakt.
Die Insassen der ersten beiden Fahrzeuge wurden getotet. Hierbei handelte es sich um den fuhrenden Anti-Mafia-Ermittler und Untersuchungsrichter Giovanni Falcone und seine Frau (beide im kugelsicheren Wagen) sowie deren 3 Leibwachter in dem vorausfahrenden Fahrzeug. Durch diesen Anschlag entledigte sich zwar die sizilianische Mafia ihres groBten Feindes, jedoch wurde durch dieses Attentat die ganze Welt auf die Arroganz und die uberragende Macht der Mafia aufmerksam.
Wie kam es dazu, dass ein Richter der groBte Feind der Mafia werden konnte? Die Geschichte beginnt Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Damals wurden in ca. zwei Jahren etwa tausend Menschen ermordet. Diese waren „uomo d'onore“, deren Angehorige und Freunde sowie Polizisten und Unbeteiligte. Bei diesem blutigsten aller Mafiakonflikte handelte es sich jedoch nicht um einen Krieg, sondern um ein Bundnis von Verbrechern, die sich um die Fuhrung der Mafia von Corleone sammelten. Diese Gruppe erzwang sich durch ihre Morde eine diktatorische Macht uber die ganze Mafia Siziliens.
Unter den Opfern waren unter anderem auch die Sohne des Ehrenmannes Tommaso Buscetta, welcher aufgrund seiner kriminellen Verbindungen auf beiden Seiten des Atlantiks (Amerika und Sizilien) den Namen „Boss von zwei Welten“ trug. Nachdem Buscetta in Sudamerika verhaftet und nach Italien ausgeliefert worden war, versuchte er mit Strychnin Selbstmord zu begehen. Er uberlebte und entschied sich dafur auszupacken, da er damit rechnete von der Mafia sowieso umgebracht zu werden. Dem Einzigen, dem er sich jedoch anvertrauen wollte, war Giovanni Falcone. Durch die Aussagen Buscettas und den Bruch der „omerta“4 erhielt Falcone erstmals einen Einblick in das Innenleben der sizilianischen Mafia. Diese neuen Informationen, die noch nie von einem , ,Ehrenmann“ so detailgetreu dargestellt wurden, zeichneten ein vollig neues Bild von Befehlsstrukturen, Methoden und Geisteshaltungen der mafiosen Vereinigung. Heutzutage kann man sich nicht vorstellen, was man uber die Institution Mafia alles nicht wusste, wenn Buscetta sich Falcone nicht offenbart hatte. Nicht nur, dass der „Boss der zwei Welten“ Falcone uber Riten, Namensgebung und die Kommandostruktur aufklarte, er nannte auch zahlreiche Namen, was spater zu mehreren Verurteilungen fuhren sollte. Dem Beispiel Buscettas folgten andere Ehrenmanner, die ebenso um ihr Leben durch die Corleonesie furchteten. Der Untersuchungsrichter Falcone hatte nach allen Aussagen 8607 Seiten Beweismaterial gesammelt. Sie waren die Grundlage fur einen der groBten Mafia-Prozesse aller Zeiten, die sogenannten „Maxi-Prozesse“5, welche in einem eigens dafur errichteten, bombensicheren Gericht stattfanden. Nach 22 Verhandlungsmonaten sprach der Richter 342 Mafiaangehorige fur schuldig und verurteilte sie zu insgesamt 2665 Jahren Haft. Funf Jahre spater, 1992, wurde das Urteil durch das Kassationsgericht6 fur rechtskraftig erklart. Nur vier Monate nach diesem Urteil wurde Falcone ermordet (vgl. Fischer, 2000, S.15; vgl. Falcone, 1992, S.7f.).
Diese Ermordung hatte weitreichende Folgen, die bis heute zu spuren sind. Die Mafiabekampfung, die Falcone vorantrieb hatte demnach soviel Erfolg, dass sich die Mafia in die Enge getrieben sah. Weiterhin kam dadurch ans Tageslicht, dass die Cosa Nostra nicht nur in der Theorie und in Sagen eine straff organisierte kriminelle Vereinigung ist, nein sie ist real.
Falcone pflegte zu sagen, dass wenn die Cosa Nostra wirklich existiert, sie dann auch eine Geschichte hat. Und wenn sie eine Geschichte hat, dann hat sie auch einen Ursprung, und sie wird ein Ende haben (vgl. Dickie, 2006, S.23).
Um diesem besagten Ursprung der Cosa Nostra auf den Grund gehen zu konnen, werde ich in dem folgenden Kapitel versuchen die Entstehung, die Struktur sowie die Einflusse und Voraussetzungen, die zu dieser Entwicklung der Mafia fuhrten, naher zu beleuchten, darzustellen und zu erklaren.
2.1 Die Entstehung der sizilianischen Mafia
Die politische Struktur Siziliens ist schon seit Jahrhunderten fur die auBerordentliche Schwache des formellen Herrschaftsapparates, fur Misstrauen und sogar fur die Feindschaft der Bevolkerung gegenuber allen staatlichen Organen bekannt (vgl. Hess, 1988, S.16). In diesem tiefen Misstrauen der Gesellschaft Suditaliens und Siziliens steckt der Ursprung der Mafia (vgl. Gambetta, 1994, S.107).
Um dem Phanomen der sizilianischen Mafia auf den Grund zu gehen, begeben wir uns in das 19. Jahrhundert zuruck und werden versuchen im folgenden Kapitel alle wichtigen Fragen, Aspekte und Hintergrunde, die zur Entstehung der Cosa Nostra beigetragen haben, zu beleuchten, zu hinterfragen und zu beantworten.
2.1.1 Sizilien
Wirtschaftlich gesehen ist Italien ein geteiltes Land. Im Norden des Landes, speziell im Stadtedreieck Mailand, Turin und Genua, bluht die Wirtschaft enorm. Der Suden Italiens jedoch gilt im europaischen Vergleich als Entwicklungsgebiet. Die Menschen beider Regionen beurteilen dieses Phanomen unterschiedlich. Die Suditaliener sehen diesen Unterschied als Folge der Ausbeutung durch die Kolonialherren, Norditaliener sehen ihn jedoch als Folge des mediterranen Schlendrians (vgl. Muller, 1990, S.10). Um die Grundlagen in der ungleichen wirtschaftlichen Struktur herauszufinden, muss man zuallererst die historische Entwicklung betrachten.
Sizilien ist gekennzeichnet durch Fremd- und Feindseligkeit der Bevolkerung gegenuber allen staatlichen Organisationen. Die einzigen Institutionen, auf die sich die Sizilianer verlassen, sind die Selbsthilfe und vor allem die Familie. Diese Unfahigkeit der Bevolkerung, Loyalitat gegenuber formellen staatlichen Organisationen zu zeigen, ist ein Produkt der sizilianischen Geschichte. Betrachtet man die historische Entwicklung Siziliens, erkennt man, dass es schon seit mehr als 2000 Jahren von verschieden Kolonialmachten besiedelt und beherrscht wurde (vgl. Uesseler, 1987, S.79f.). Die Ferne der herrschenden Machte sowie der standige Wechsel machten es der Bevolkerung fast unmoglich, sich mit den verschiedenen Herrschaftstragern zu identifizieren. Einige dieser Fremdherrschaften pragten durch ihre Mentalitat, ihren Umgang mit den Menschen sowie durch die Art ihrer Ausbeutung den Volkscharakter der Sizilianer. In der Zeit der romischen Herrschaft uber Sizilien wurde die Insel vor allem als Getreidelieferant benutzt. Die Arbeiter, welche fur die Romer auf den Feldern tatig waren, waren Sklaven. Diese machten schatzungsweise die Halfte der damaligen Bevolkerung im Altertum Siziliens aus, ca. 300.000 Menschen (vgl. Hess, 1988, S.16). Auch Griechen, Normannen, Karthager, Ostgoten und sogar Araber eroberten die Insel, sodass diese vom 9. bis Anfang des 13. Jahrhunderts ein Zentrum des Islams in Italien bildete. Die letzte Kolonialmacht, der die Sizilianer unterstanden, waren die spanischen Bourbonen, unter denen es zum Konigreich Neapel zahlte.
Am 7. Juni 1860 wurde die Hauptstadt Siziliens, Palermo, erstmals zu einer italienischen Stadt. Der Grund dafur war eine Invasion durch Guiseppe Garibaldi mit ungefahr 1000 Freiwilligen, die sich zum Ziel gesetzt hatten, Sizilien mit dem neu gegrundeten italienischen Nationalstaat zu vereinen. Unter der Fuhrung Garibaldis schaffte es die hoch motivierte Streitmacht die spanischen Bourbonen von der Insel zu vertreiben (vgl. Dickie, 2006, S.47). Sizilien gehort seitdem politisch gesehen zu Italien.
Wie alle anderen Inbesitznahmen wurde auch die Eingliederung in das italienische Konigreich von den Sizilianern als das Eindringen einer fremden Macht gesehen. Die Bevolkerung stand der neuen Regierung mit Abneigung und Indifferenz gegenuber. In Gesetzeshutern sahen die Einheimischen ihre argsten Feinde. MaBnahmen der Regierung, die diesen Hass unbewusst forderten, waren zum Beispiel die Einfuhrung der Wehrpflicht oder auch das fur die armere Bevolkerung weitaus schlechtere neue Steuersystem. Hinzu kam die Enttauschung der landlosen Bauern, deren Hoffnung auf ein eigenes Stuck Ackerland nicht befriedigt werden konnte. Das enteignete Land ging schnell in den Besitz finanzkraftiger GroBgrundbesitzer uber. Der ruckstandige und fanatische Klerus, welcher auf der Insel groBen Einfluss auf die auBerst glaubigen Bauern hatte, forderte den Hass auf die Regierung und gab diesem sogar den kirchlichen Segen (vgl. Hess, 1988, S.29f.).
Diese Geschichte Siziliens pragte deren Einwohner insoweit, dass sie wenig Vertrauen gegenuber alien uber sie herrschenden Machten hatten. Gambetta zufolge hat die Mafia ihren Ursprung in diesem tief verwurzelten Misstrauen, welches Suditalien schon seit dem 19. Jahrhundert kennzeichnet. Dies erklart auch, warum sich die Mafia nur in diesen Gebieten entwickeln konnte, an anderen Orten, zum Beispiel in Norditalien, jedoch nicht. Das „offentliche Vertrauen“, die Grundlage gesellschaftlichen Zusammenlebens, wurde durch die harte spanische Politik des „divide et impera“7 zerstort. Um diesen gesellschaftlichen Vertrauensverlust zu entgehen, fluchteten sich die Sizilianer in die engsten Familien- und Freundschaftsbeziehungen, es uberlebte nur das „private Vertrauen“ (vgl. Gambetta, 1994, S.107; vgl. Raith, 1992, S.225ff.). Dies bedeutete fur die offiziellen Ordnungshuter der Insel, dass sie faktisch nicht wahrgenommen wurden. Probleme, welche die Bevolkerung miteinander hatten, wurden untereinander bereinigt. In den einzelnen Gebieten der Insel gab es zwar sogenannte und auch eingeteilte „Feldhuter“8, diese jedoch kamen ihren Aufgaben nur wenig bis gar nicht nach. Berichte zu einer allgemeinen Bestandsaufnahme uber die Sicherheitslage in den Provinzen, durch Beamte der „Publicia Sicurezza“ oder durch Burgermeister geschrieben, stellen folgende Verhaltnisse dar:
„Konigliche Polizeistation von Monreal an den hochwohlloblichen Herrn Prasidenten der Provinz Palermo, 5. November 1893 ...
Ich beehre mich, Euer Hochwohlgeboren mitzuteilen, dass die Feldhuter dieser Gemeinde in keiner Weise der Regierungsautoritat beim Schutze der offentlichen Sicherheit behilflich sind. Wenn ein Verbrechen geschieht, erscheinen sie fur einen Augenblick; aber dann entziehen sie sich mit groBer Geschicklichkeit und Schlaue der Aufgabe irgendeiner Untersuchung, und man kann von Ihnen die Fortfuhrung irgendeiner Dienstleistung im Interesse der offentlichen Sicherheit nicht erhoffen. Sie beschaffen keinerlei Indiz, nichts, was die Justiz aufklaren konnte, wie man auch nicht von ihnen erwarten kann, dass sie irgendeine vorbeugende MaBnahme treffen oder die unter Polizeiaufsicht stehenden, die anderen vorbestraften Personen und die Gaststatten uberwachen.
Sie leisten keinerlei Patrouillendienste ... Zur eigenen Verfugung ist diesem Amt nur ein einziger Feldhuter zugeteilt, der morgens um 9 Uhr erscheint, mittags weggeht und abends um 6 erscheint, um nur die Post zu bringen. Und es war nicht moglich diesen Zustand zu verbessern.
Mit vorzuglicher Hochachtung (Hess, 1988, S.24)
„Gemeindeverwaltung von Bolognetta, 4. November 1893.
Diese Gemeinde hat acht Feldhuter, dazu den Fuhrer; keiner von diesen, der Fuhrer eingeschlossen, ist zu Pferde. Bis auf den Fuhrer erhalten sie keinen Lohn, sondern private Vergutungen von den Eigentumern, im Verhaltnis zum Land, das diese besitzen. Sie beziehen keine anderen Einkunfte“
(Hess, 1988, S.25)
In diesem letzten Zitat ist zu erkennen, wie die Verhaltnisse im damaligen Sizilien vorzufinden waren. Die Feldhuter, Organe der offentlichen Sicherheit, wurden von Privatpersonen bezahlt und standen somit auch unter deren Einfluss. Neben diesen Ordnungshutern gab es naturlich auch noch die „Carabinieri“9 und militarische Einheiten, welche zwar oft eine gute Ausbildung, Schlagkraft und Ausrustung hatten, doch auch diesen Kraften gelang es nicht, der Offentlichkeit die Sicherheit zu garantieren, die sie benotigte, um Vertrauen in das Sicherheits- und Rechtssystem zu erlangen.
Betrachtet man die Statistiken der Mord-, Raub- und Erpressungsraten fur die Jahre 1890 - 1893 in Italien, so wird deutlich, dass diese in Sizilien deutlich uber dem italienischen Durchschnitt lagen, namlich fast dreimal so hoch. Diese Zahlen besagen jedoch nicht, dass in Sizilien Anarchie herrschte und jeder tun und lassen konnte was er wollte. Hess sieht die deutlich hoheren Mord- und Erpressungsraten in Sizilien als Teil von Sanktionen (z. B. Rache) eines anderen, subkulturellen Normensystems (vgl. Hess, 1988 S.27).
Der Norditaliener Danilo Dolci versuchte mittels exemplarischer Befragung dieses andere Bewusstsein der Einwohner der Stadt Palermo zu erforschen. Diese Berichte der einfachen Leute zeichnen ein drastisches Bild von den Lebensverhaltnissen und Wertorientierungen im Sizilien der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Das zentrale Thema in diesen Studien ist die Gewalt in den sozialen Beziehungen der Menschen. Es werden Situationen geschildert, in denen es vollig normal sei zu toten, die Leute seien daran gewohnt, einfach abgebruht (vgl. Muller, 1990, S.14).
Ein schwerwiegendes Indiz fur diese hohen Verbrechensraten auf Sizilien sieht Gambetta in der spanischen Kolonialisierung, welche gefahrliche Auswirkungen auf die Regionen hatte. Er belegt dies mit der Tatsache, dass heutzutage alle ehemaligen spanischen Kolonien die hochsten Mordraten der Welt aufzeigen. Hingegen sind das Festland Spaniens sowie Norditalien, welches nicht Spanien unterworfen war, wesentlich ruhiger (vgl. Gambetta, 1994, S.107). Sizilien sowie der Suden Italiens litten Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts unter der unfahigen Verwaltung sowie der Willkurjustiz der damaligen Regierung. Diese geschilderten Umstande, wie sich das Leben auf der Insel abspielte, hebelten das Vertrauen zwischen Untertanen und Staat aus.
Durch dieses „Nicht Vorhandensein“ von Vertrauen in den Staat, sowie von Schutzgebern fur die Offentlichkeit, entstand ein Machtvakuum, der Nahrboden fur die „Schutzindustrie“, die Mafia.
2.1.2 Die Entwicklung der Mafia
Die Mafia hat ihren Anfang auf den GroBgrundbesitzen Westsiziliens, so jedenfalls ist die offizielle Lehrmeinung seit fast einem halben Jahrhundert (vgl. Gambetta, 1994, S.114).
Zur Zeit des Feudalismus hatten Landadlige sowie Feudalherren in Sizilien jegliche politische Macht und Entscheidungsbefugnisse bis in den privaten Bereich der ihnen Untergebenen hinein. Die offiziell freien Bauern waren ihrem „padrone“10 11 insofern ausgeliefert, da dieser allein uber die Produktionsmittel, den Boden und die Gerate verfugte. Um sich vor Banditen zu schutzen und die Kontrolle uber die Bauern beizubehalten, stellten die Barone kleine Privatarmeen auf, die sogenannten „bravi“n. Fur einen Bauern war es eine Existenzentscheidung, ob ihnen der Befehlshaber einer solchen m eist brutalen Privatarmee, wohlgesonnen war oder nicht. Da auf dem Land keine Gefangnisse oder Gerichte vorhanden waren, vollstreckten die Privatarmeen ihre Urteile selbststandig. Die Todesstrafe war selbst bei kleineren Delikten keine Seltenheit. Ab dem Jahr 1816 wurde die Abschaffung des Feudalismus nur schrittweise umgesetzt (1816-1841) und die Lehen wurden in Privateigentum umgewandelt. Fur die Bauern anderte sich jedoch wenig. Ihre Herren hieBen jetzt nicht mehr Lehnsherrn sondern GroBgrundbesitzer (vgl. Muller, 1990, S.36f.).
Eine entscheidende Auswirkung der Abschaffung des Feudalismus war die Verwandlung von Grund und Boden in eine auf dem Markt frei handelbare Ware. Dies fuhrte zur Herausbildung einer neuen mittelstandischen Klasse, die sich Stuck fur Stuck die ehemals adligen Landereien sicherte. Diese Landpachter wurden „Gabellotto“12 genannt, der Prototyp des Mafiosi.
Durch die Vermarktung dieses Grundbesitzes wurde die bestehende Ordnung dramatisch erschuttert. Bauern und Hirten, die durch die Abschaffung der feudalen Rechte noch armer geworden waren, wurden zur Bedrohung fur die Grundbesitzer, deren Position immer schwacher zu werden drohte. Die Mittelschicht Siziliens sah in der Option Grundbesitz zu erwerben eine Moglichkeit zum sozialen Aufstieg. Im Zuge dessen wurden einzelne Vertreter dieser Schicht zu Konkurrenten (vgl. Gambetta, 1994, S.115). Der Literatur zufolge, gelten diese neuen grundbesitzenden Mittelschichten als die ursprungliche Mafia. Die Gabellotto waren:
„...schlicht und einfach von ihren personlichen Interessen geleitet [...]: Sie zogen Vorteile aus den Bewegungsspielraumen, die sich durch die Abwesenheit der Grundbesitzer ergaben, lieBen kein Mittel zur weiteren Verbesserung ihrer Stellung aus, verurteilten die Bauern zu harter Arbeit und zwangen die Eigentumer zum Verkauf oder zur Verpachtung zu fur diese hochst ungunstigen Bedingungen.“ (Gambetta, 1994, S.116)
Die Entstehung dieses neuen Standes ist nach Hess fur das Verstandnis des mafiosen Verhaltens von enormer Wichtigkeit. Denn dieser realisierte seinen Profit in der bedingungslosen Ausbeutung der Unterpachter und Tagelohner auf der einen und der Verringerung seiner Verpflichtungen auf der anderen Seite (vgl. Hess, 1988, S .44). Je mehr die damaligen Halbpachter zu GroBpachtern wurden, desto groBer wurde ihre Macht, die eigentlich nur von den Baronen geliehen war. Das Gewaltmonopol, das Recht der Barone uber Leben und Tod ihrer Untertanen zu entscheiden, wurde von deren Pachtern stellvertretend wahrgenommen. Es entstand demnach zwischen dem Gabellotto und dessen Untertanen eine Herrschaftsbeziehung, welche nach Coleman dadurch gekennzeichnet ist, dass der eine Akteur Kontrollrechte uber die Handlung des anderen besitzt (vgl. Coleman, 1991b, S.83). Somit konnten die Gabellotti bestimmen, wer, wie und auf welche Weise bestraft wird, bis hin zum Todesurteil. Dieses Phanomen, anstelle des Staates Strafen bis hin zum Tod zu erteilen, wurde spater als das Charakteristikum der Mafia angesehen, obwohl es naturlich nur eines von vielen ist (vgl. Uesseler, 1987, S.84f.). Gambetta sieht in dem Gabellotto jedoch keinen Mafiosi. Er ist der Meinung, dass es viele theoretische und empirische Grunde dafur gibt, „dass die Identifizierung des Gabellotto mit dem Mafioso so irrefuhrend ist wie jeder andere Versuch, die Mafia auBerhalb ihres spezifischen Kontextes auszumachen - dies fuhrt dazu, sie mit ihren Kunden zu verwechseln“ (Gambetta, 1994, S.116). Zwei so verschiedene Erscheinungen, Gabellotto und Mafioso, konnen nicht miteinander verschmelzen. Der Mafioso an sich muss an keinen bestimmten Beruf gebunden sein. Hierbei konnte es sich um jede Berufsgruppe der damaligen Zeit handeln. Das Einzige, was ein Mafiosi konnen muss, ist glaubwurdig Schutz zu verkaufen. Man darf demnach nicht die allgemeinen gewalttatigen Unternehmer, die es uberall auf der Welt gibt, mit Mafiosi verwechseln, die viel seltener sind und sich von denen stark unterscheiden.
In der Zeit, in der sich die Methoden der Mafia herausbildeten, expandierte der Zitrusfruchteanbau in Sizilien. Von 1834-1850 steigerte sich der Zitrusfruchteexport von 400.000 auf 750.000 Kisten pro Jahr. Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts stieg die Ausfuhr sogar auf 2,5 Millionen Kisten. Somit lieferte der Zitrusanbau im Jahr 1876 das Sechzigfache des durchschnittlichen Hektarertrages auf der ubrigen Insel. Und genau dies ist das Umfeld in dem die Mafia groB werden konnte. Der Anbau von Zitrusfruchten bestand aus einer Kombination von Gefahrdung und hohen Profiten. Fur den Anbau mussten enorme Anfangsinvestitionen getatigt werden. Weiterhin waren die Pflanzen sehr empfindlich. Vandalismus an Baumen oder Fruchten war eine standige Gefahr. Dieses Umfeld, die Moglichkeit der Besitzer hohe Gewinne zu erwirtschaften aber auch die Gefahr durch Willkur Anderer alles zu verlieren, war ein hervorragendes Umfeld fur die Schutzgelderpressung durch die Mafia (vgl. Dickie, 2006, S.53f.). Obwohl der gewinntrachtige Zitrusfruchteanbau in vielen Kustenregionen Siziliens betrieben wurde, halt auch Dickie die Mafia fur ein westsizilianisches Phanomen. Die Stadt Palermo war um 1860 die Drehscheibe fur GroB- und Einzelhandel sowie der wichtigste Hafen der Insel. Mit fast 200.000 Einwohnern war sie das politische, wirtschaftliche und juristische Zentrum Siziliens. Bei den Grundeigentumern und Vermietern in dieser Region war mehr Geld im Umlauf als irgendwo sonst auf der Insel. Die Mafia wurde demnach nicht aus Armut oder Isolation, sondern aus Macht und Reichtum geboren. Die parlamentarische Untersuchungskommission sah das nicht anders:
„Wo die Gehalter geringer und das Leben des Taglohners armer ist, in Patti, Castroreal, in Syrakus und Trapania, gibt es das Symptom der Mafia nicht, die offentliche Sicherheit bietet dieselben Garantien und denselben Verlauf wie in anderen ruhigen Orten des Konigreichs.. .Misilmeri und Partinico, Monreal und Bagheria, wo das Grundeigentum aufgeteilt ist, wo die Arbeitsplatze sicher sind, wo die Zitrusfruchteplantagen Eignern und Landwirten Reichtum einbringen, dort sind gewohnlich die Einflusszonen der Mafia. In Palermo, in seinen Vororten, seinen Garten, sind die bekanntesten und machtbesessensten Mafiosi reiche Leute; sie leben von der Arbeit anderer.“
(Pezzino zitiert nach Gambetta, 1994 S.119)
Die Mafiosi bedienten sich demnach dort, wo das Geld in Sizilien zu finden war. Denn wo Reichtum vorhanden ist, gibt es auch eine Nachfrage nach Schutz. Wie kann aber ein Verkaufer Schutz verkaufen, der zum Beispiel nur einen einzigen Kunden hat? Gambetta zufolge waren diese Schutzgeber im einfachsten Fall schlichte Angestellte, wie zum Beispiel die Schlager der Barone oder die Landaufseher der Gabellotti (vgl. Gambetta, 1994, S.117). In diesem Fall sind die Schutzgeber unter der Kontrolle des Kaufers, da er sie selbst angestellt hat und sie ihm dienen. Wie kam es nun dazu, dass sich Schutzanbieter selbststandig machen konnten? Hierzu benotigte der Anbieter mehrere Kunden, die seine Dienste in Anspruch nahmen. Dadurch war der Schutzgeber fur den Abschluss laufender Geschafte unverzichtbar geworden. Um nicht in Abhangigkeit eines bestimmten Kaufertypus zu gelangen, war es fur den jeweiligen Schutzanbieter von Vorteil, wenn seine Kunden aus mehreren Branchen stammten. Der angebotene Schutz, gefachert auf unterschiedliche Bereiche, wird dadurch zu einer „abstrakten Ware“ (Gambetta, 1994, S.118).
Wenn die Mafia demzufolge dort entsprang, wo Geld in Umlauf war, warum ist sie dann nicht uberall dort zu finden gewesen, wo die Wirtschaft bluhte? Denn die Mafia entstand auch nicht in allen Kustenstadten, in denen eine dynamische Wirtschaftskraft zu finden war. Und sie entstand auch nicht nur in reichen Gebieten allgemein, sondern auch in armeren Stadten des westsizilianischen Hinterlandes. Gambetta vertritt hierbei die Auffassung, dass die Unterschiede zwischen Ost- und Westsizilien nicht in den stadtischen Gebieten ihren Ursprung haben, sondern auf dem Land, in dem unterschiedlichen Verhalten des Landadels. Denn nur in den Markten, die an die Anbaugebiete Westsiziliens grenzten, entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts die Mafia. Demnach ist es anzunehmen, dass die Merkmale der Mafiosi durch die Bedingungen des Hinterlandes angeregt wurden, vor allem durch das Angebot von Schutzgewahrung (vgl. Gambetta, 1994, S.123).
Halten wir die Fakten fest:
- die ersten mafiosen Tatigkeiten wiesen also die Kustengebiete auf,
- die Mafiosi waren bei weitem nicht so eng mit den Gabellotti verbunden wie fruher noch angenommen
- und im Hinterland Siziliens, in dem der Grundbesitz zersplitterter war, gab es weniger Geschaftsabschlusse.
Hieraus sollte man jedoch nicht folgern, dass es auf dem Land einen unterentwickelten Schutzmarkt gegeben hatte, im Gegenteil. Von 1812 - 1860 erhohte sich die Zahl der Grundeigentumer von Zwei- auf etwa Zwanzigtausend. Der Privatgrund wuchs in den letzten 40 Jahren des 19. Jahrhunderts von 250.000 auf 650.000 Hektar. Diese Veranderungen in den Besitzverhaltnissen hatten naturlich auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen fur diese Region. Je mehr Grund und Boden den Privatleuten zur Verfugung stand, umso mehr stieg die Nachfrage nach Schutz fur diese. Im Osten der Insel wurde diese Nachfrage nach Schutz durch die Eigentumer selbst befriedigt, es bestand ein groBerer Zusammenhalt untereinander und die dortige Bevolkerung war der italienischen Regierung weniger feindlich gesonnen. Der Westen hingegen, wo die adligen, eigentlichen Besitzer der Landereien fast nie anwesend waren, gab es mindestens zwei Bereiche, in denen Schutz vonnoten war: erstens die Kontrolle der Bauern und zweitens der Schutz der Eigentumsrechte (vgl. Gambetta, 1994, S. 123 f.; vgl. Hess, 1988 S.43ff.; vgl. Uesseler, 1987, S.85ff.).
Es ist nicht genau festzustellen, ob die Kontrolle uber die Bauern erste Belege fur die Entstehung der Schutzindustrie waren. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Bauern nach der Abschaffung des Feudalismus armer geworden waren und es in vielen Orten nach dem Jahr 1860 zu Revolten gegenuber deren Grundbesitzern kam. Die Frage nach Schutz erhohte sich insoweit, da sich die Bauern gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Kollektivbewegungen zusammenschlossen und somit die Grundeigner um ihren Besitz, aber auch die Gabellotti um ihre Pachtrechte bangen lieBen.
Ein weiterer Anlass, der die Nachfrage nach Schutz und damit die Anwendung von Gewalt steigen lieB, waren die Beziehungen zwischen den Agrarprodukten aus dem sizilianischen Hinterland und den reichen stadtischen Markten. Es ging hierbei jedoch nicht nur um die Produkte, sondern auch um die Frage „wer z.B. Grundstucke pachten, bei Versteigerungen erwerben durfte, wer uber die Wasserquellen verfugen, wer Weg und Weiderechte haben sollte, wer Kredit, wer die Dreschvertrage bekam, wer die Produzenten auf den stadtischen Markten vertreten, wer die Transporte kontrollieren wurde“ (Gambetta, 19 94, S.130). Diese neuen Geschaftsfelder waren ein willkommenes Betatigungsfeld fur den mafiosen Schutz. Bei den Anfangen dieses Schutzgeldgeschaftes der Mafia wurde der meist imaginare Schutz nicht in Form von Geld sondern in Naturalien honoriert. Blok beschreibt diese damals ublichen Machenschaften und Methoden der fruhen Mafia wie folgt:
„Die Territorien der verschiedenen Gemeinden in der Gegend wurden in Bezirke unterteilt, die jeweils aus mehreren, von einer bestimmten cosca[13] GroBgutern bestand. Der campiere war der Huter des Gutes und unter dem Deckmantel dieser Rolle erzwang er die Tributzahlungen und sammelte die Abgaben ein, die zur Halfte ihm selbst gehorten, wahrend die andere Halfte an den capomafia des Bezirkes ging... Die campieri erzwangen nicht nur von den bauerlichen Teilpachtern Abgaben, sondern drangten sich... auch dem Verwalter des Gutes auf..., versuchten... durch mehr oder weniger verhaltene Drohungen, den Eigentumer zur Beschaftigung eines der ihren zu bewegen. Obwohl sich diese „Manner des Vertrauens“, wie die campiere genannt wurden, „Respekt“ zu verschaffen wussten , indem sie Viehrauber und sonstige Gelichter vom Gut fernhielten, erwies sich ihre Gegenwart fur den Verwalter oder Eigentumer als Belastung.“
(Blok zitiert nach Arlacchi14, 1989 S.46)
Fassen wir also zusammen:
- Von der Hauptstadt Palermo aus herrschte die Aristokratie des 19. Jahrhunderts uber die groBen Landereien Westsiziliens und kontrollierte den Markt der Verpachtungen.
- In den Dorfern und der Umgebung der Hauptstadt musste sie sich jedoch mit einer Vielzahl von Gewalttatern auseinandersetzen (vgl. Lupo, 2005, S.61).
- Das Hinterland des westlichen Siziliens schaffte demnach die Eingangsbedingungen fur die mafiosen Dienstleistungen,
- die Stadt bot weitere vorteilhafte Anwendungsgebiete dieser Praktiken
- und der Staat, welcher es durch seine Sicherheitsorgane nicht schaffte der Mafia entgegenzuwirken, trug zur Entstehung und zur Blute dieser sowieso bei.
Gambetta sieht dies nicht anders, er ist der Auffassung, dass der enorme Machtzuwachs der Mafia ohne den Sonderaspekt der Spannungen auf dem Land nicht moglich gewesen ware (vgl. Gambetta, 1994, S.131).
2.1.3 Wie die Mafia zu ihrem Namen kam
„Mafia“ ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis in unsere heutige Zeit ein uberaus oft gebrauchtes Wort. Hierbei handelt es sich um einen sehr vielschichtigen Begriff, der sich damals wie heute auf mehrere unterschiedliche Dinge, Gruppierungen oder Umstande beziehen lasst. Es ist daher auBerst schwierig ein Thema, eine Typologie oder eine Abfolge von „in sich homogenen Phanomenen“ unter dem Begriff „Mafia“ zu bringen (vgl. Lupo, 2005, S.7).
Das Wort „Mafia“ ist das erste Mal in einem Dokument, einem Verzeichnis uber die Versohnung eines Ketzers mit seinem Glauben aus dem Jahre 1658, in Palermo niedergeschrieben worden. Das Wort ist hier als Spitzname hinter dem Namen einer Hexe zu finden: „Catarina la Licatisa, nomata ancor Maffia“. Das soviel bedeutet wie Kuhnheit, Herrschsucht und AnmaBung (vgl. Hess, 1988, S.1). Nach Dickie bedeutet das Adjektiv „mafiosi“ im palermitanischen Dialekt soviel wie „schon“, „kuhn“ und „selbstbewusst“. Die Bezeichnung „Mafioso“ bedeutete demnach, dass man ein gewisses Etwas, eine Eigenschaft hatte, die man „mafia“ nannte.
Wie kam es, dass das Wort „Mafia“, das zuvor positiv besetzt war, einen kriminellen Beigeschmack bekam? Dickie begrundet dies mit dem sehr erfolgreichen, im sizilianischen Dialekt verfassten Theaterstuck „I mafiusi di la Vicaria“15, welches 1863 seine Urauffuhrung hatte. Die hier benannten Mafiosi stellten eine Gruppe von Haftlingen dar, welche Eigenschaften besaBen und Redewendungen benutzten, die wir heutzutage den Mafiaangehorigen zuordnen wurden. Diese Haftlinge hatten einen Boss, ein Initiationsritual und wie die heutigen Mafiosi auch, nannten sie ihr Schutzgeld „pizzo“16. Das, was man heutzutage uber dieses Gefangnis erfahrt, spiegelt alles wieder, was das Theaterstuck in seinem Inhalt auch darstellte. Diese Haftanstalt Palermos entwickelte sich sehr schnell zur Denkfabrik, zum Sprachlabor und Kommunikationszentrum des organisierten Verbrechens auf Sizilien. Ein Beobachter der damaligen Zeit sah sie als eine „Art Regierung“ fur die damaligen kriminellen Banden an. Das Wort „Mafioso“ kommt in dem genannten Theaterstuck nur ein einziges Mal vor, und zwar im Titel. Den Begriff „Mafia“ sucht man in diesem Stuck vergebens. Doch trotzdem wurden die Bezeichnungen „Mafia“ und „Mafioso“ nach dem sensationellen Erfolg des Stuckes auf Verbrecher angewandt, die ahnlich wie die Akteure auf der Buhne handelten. Die neue Bedeutung dieser Worter fand ab diesem Zeitpunkt den Weg von der Theaterbuhne auf die StraBe (vgl. Dickie, 2006, S.86f.; vgl. Gambetta, 1994, S.190f.; vgl. Borovicka, 1985, S.5f.).
Die Theaterauffuhrung und deren Folgen allein reichen jedoch nicht aus, um die Namensgebung „Mafia“ zu begrunden. Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts wurde aber selbst bei offiziellen Berichten uber die Sicherheitslage der Insel kein Wort uber die „Mafia“ verloren. Weder die Verbrecher noch deren Sympathisanten bezeichneten sich selbst oder ihre Organisation als „Mafia“. Erst als sich die italienische Regierung mit den kriminellen Gruppierungen auf der Insel beschaftigte, setzte sich der Name „Mafia“ allgemein durch und wurde somit zu einem wesentlichen Bestandteil der Geschichte dieser kriminellen Organisation.
Wie jedoch schon erwahnt, ist die Herkunft des Wortes „Mafia“ nicht zu hundert Prozent geklart. Viele Autoren leiten es auch aus dem Arabischen, von dem Wort „mahias“ ab, was soviel bedeutet wie „Prahlhans“ oder „dreister Kerl“. Eine weitere diskutierte Moglichkeit verbirgt sich hinter der Ableitung von „Ma afir“, dem Namen des sarazenischen Stammes, der Palermo eine Zeit lang beherrschte. Die dritte Theorie, dass „Mafia“ aus dem Arabischen stammt bezieht sich auf das Wort „maha“, was soviel bedeutet wie Steinbruch oder Steinhohle. Die so genannten „mafie“, die Steinhohlen in der Nahe von Marsala, boten den verfolgten Sarazenen und spater anderen Fluchtlingen Schutz (vgl. Hess, 1988, S.2). Diese Theorien der Abstammung des Wortes „Mafia“ halte ich jedoch fur streitbar, da sie nicht eindeutig belegbar sind. Auch Hess beschreibt, dass noch im Jahr 1838, als der General von Trapania in einem Bericht an das
Justizministerium uber mafiose Verhaltensweisen von Betrugern berichtete, das Wort „Mafia“ darin nicht zu finden sei. DreiBig Jahre spater jedoch ist der Gebrauch dieses Wortes fur die typischen sizilianischen Verbrecherbanden allgemein ublich. Auch Hess fuhrt dieses Phanomen auf das schon genannte Theaterstuck von Rizotto und Mesca „I mafiusi della Vicaria“ zuruck.
Nach und nach verband man in der damaligen Zeit das Wort „Mafia“ mehr mit den Delikten eines Hehlers und Planers als mit den Delikten ublicher Banditen und „ausfuhrender“ Verbrecher. Fortan stand das Wort „Mafia“ fur das organisierte Verbrechen in Sizilien allgemein, bis „sensationshungrige Journalisten, verwirrte norditalienische Juristen und auslandische Autoren“ (Hess, 1988, S.3) den Namen „Mafia“ als eine direkte Organisation festschrieben.
Der Verschworungstheoretiker und neu ernannte Prafekt von Palermo, Marquis Filippo Antonio Gualtiero, schickte am 25. April 1865 einen beunruhigenden Geheimbericht an seinen Vorgesetzten, den Innenminister. In diesem Bericht sprach er von einem gestorten Verhaltnis zwischen der Bevolkerung und dem Staat. Dieses habe zu einer Situation gefuhrt, in der „die sogenannte Maffia oder Verbrechergesellschaft immer frecher werden kann“ (Alatri zitiert nach Dickie, 2006, S.91). Gualtiero berichtete, dass e s sich die Mafia in den Zeiten der Aufstande in Palermo zur Gewohnheit gemacht hatte, verschiedenen politischen Gruppierungen ihre Krafte zur Verfugung zu stellen. Dadurch konnte sie ihren Einfluss mehren und durch die gewonnene Starke immer auf der Oppositionsseite der Regierung stehen. Durch diesen Bericht kamen die Geruchte uber die Mafia aus der Inselhauptstadt Palermo erstmals den Machthabern in Italien zu Ohren. Die Analyse des Prafekten war in der Hinsicht richtig, dass das organisierte Verbrechen ein integraler Bestandteil der Inselpolitik sei. Er bemerkte jedoch nicht, dass die Mafia nicht nur in der Opposition sondern bereits in der bestehenden Ordnung vertreten war (vgl. Dickie, 2006, S.86ff.; vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1993b).
Seit diesem Bericht Gualtieros und der namentlichen Festlegung der kriminellen Organisation der Insel, setzte sich das Wort „Mafia“ schnell in der Allgemeinheit durch, parallel dazu wurde es zum Gegenstand hitziger Auseinandersetzungen. Der Mafia wurde demnach ohne ihr Zutun, nur durch diesen Bericht, ein Name gegeben, was entscheidend fur ihr zukunftiges Ansehen beitrug. Wichtig ist, hierbei ist zu erkennen, dass der von auBen zugewiesene Name ein regelrechtes Markenzeichen geschaffen hat und es somit ermoglicht wurde, dass sich die Menschen einer Organisation anschlieBen konnten, die uber eine Reputation verfugte (vgl. Gambetta, 1994, S.192). Seitdem fuhrte
jede fehlgeschlagene Aktion des Staates gegen die Mafia zu einem Glaubwurdigkeitsverlust der Regierung. Dadurch kam die Mafia nach und nach in den Ruf, klug, immun gegen Verfolgung, leistungsfahiger und gerechter als der Staat zu sein. Der Historiker Franchetti bestatigte diesen Imagegewinn der Mafia durch deren Namensgebung schon im 19. Jahrhundert mit den Worten:
„Das Substantiv Mafia kam einer Klasse von Gewalttatern gerade recht, die nur auf ein Substantiv gewartet hat, das sie selbst bezeichnet, und die aufgrund ihres Charakters und ihrer besonderen Bedeutung in der sizilianischen Gesellschaft zu Recht einen anderen Namen tragt als die gewohnlichen Verbrecher anderer Lander.“
(Bericht des Hauptkommandos der Finanzpolizei zitiert nach Lupo, 2005, S.71)
Damals wurde der Name „Mafia“ wirklich nur fur die verbrecherische Organisation auf Sizilien verwendet. Mit der Zeit entwickelte sich die Bedeutung des Wortes „Mafia“ weiter und wurde so Synonym fur Verbrechergruppen aller Art. Damit verlor man jedoch auch die reale Angst vor der eigentlichen Organisation. Der Ermittlungsrichter und ehemals groBte Feind der sizilianischen Mafia, Giovanni Falcone, sagte vor wenigen Jahren:
„Wahrend man fruher davor zuruckschreckte, das Wort „Mafia“ auszusprechen, benutzt man es heute sogar zu viel. Es gefallt mir nicht, dass man fortwahrend von „Mafia“ spricht, um etwas sehr Allgemeines zu beschreiben, denn dabei vermischt man nur Phanomene, die zwar in der Tat zum organisierten Verbrechen gehoren, mit der eigentlichen Mafia aber wenig oder gar nichts zu tun haben.“ (Segno zitiert nach Lupo, 2005, S.7)
Diese Polemik Falcones richtete sich gegen die beschriebene Verharmlosung der aus Westsizilien stammenden kriminellen Elite. Er nannte in dieser Aussage die sizilianische Mafia die „eigentliche Mafia“ und kritisierte demnach, dass es eine Inflation des Namens „Mafia“ gegeben hatte, was dazu fuhrte, dass man die wahre, die Ur-Mafia zu furchten vergaB. Heutzutage sagen wir zu jeder kriminellen und halbwegs organisierten Vereinigung „Mafia“. Sei es die russische, die chinesische, die Fleisch- oder Zigarettenmafia, dafur konnte man Hunderte Beispiele finden (vgl. Arlacchi, 1993, S.16).
Der eigentlich reale, in der Offentlichkeit aber wenig bekannte Name der sizilianischen Mafia ist jedoch „La Cosa Nostra“, was soviel bedeutet wie „Unsere Sache“, wie sie sich selber nennt. Dickies Auffassung zufolge bezeichnete sich die sogenannte Ur-Mafia in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg das erste Mal selbst als „Cosa Nostra“. Einer Theorie nach hat dieser „junge“ Name seinen Ursprung bei den sizilianischen Einwandererfamilien in den Vereinigten Staaten. Dort sprach man von „unserer Sache“, weil die Organisation angeblich Verbrechern aus anderen ethnischen Gruppen nicht offen stand. Da die Mafia jedoch keine schriftliche Aufzeichnungen oder Protokolle von Gesprachen oder Vereinbarungen jeglicher Art fuhrt, kann man die Herkunft von „Cosa Nostra“ nicht beweisen. Die erste Erwahnung findet der Name bei der Vernehmung des Kronzeugen Joe Valachi, der diesen in seinem Verhor erwahnte und von nun an willkurlich als Eigenname gesehen wurde. Der Kronzeuge im Maxiprozess, TommasoBuscetta, bestatigte den Namen „Cosa Nostra“ ebenfalls. Er selbst geht davon aus, dass dieser eine langere Geschichte hat als die letzten 60 Jahre des 20. Jahrhunderts. Jedoch gibt es auch dafur keinen Beleg (vgl. Dickie, 2006, S.331). Der Autobiographie Don Antonio Calderones'17 zufolge, welche PinoArlacchi aus der Ich-Perspektive wiedergibt, ist jedoch der Name „Cosa Nostra“ schon ewig der Bestandteil der sizilianischen Mafia. Dies wurde Calderone bei seiner eigenen Aufnahme in die Mafia so uberliefert:
„Der Reprasentant hielt inne. Es ging ihm anscheinend zu schnell voran. 'Also die echte Mafia ist nicht das, wovon alle reden. Die echte Mafia ist die Cosa Nostra'. [...] Ich war uberrascht. Es war das erste Mal, dass ich diesen Namen horte. Zwar hatte ich schon einmal davon gehort, zur Zeit Valachis, des amerikanischen Kronzeugen. Ich hatte davon in den Zeitungen gelesen, aber geglaubt, die Cosa Nostra sei die amerikanische Mafia. 'Die unsere heiBt wirklich Mafia', hatte ich mir damals gesagt.
Der Reprasentant wiederholte die Worte im Stakkato immer wieder, um sie in unsere Kopfe einzuhammern: 'Dies ist die Cosa Nostra - Co -sa No —stra! Versteht ihr? Cosa Nostra, nicht Mafia. Mafia nennen sie die Hascher, die Zeitungen'.“ (Arlacchi, 1993, S.68)
Ob die legendare sizilianische Schutzindustrie nun Cosa Nostra oder Mafia genannt wird ist ziemlich nebensachlich, dem groBten Teil der Mafiosi ware es wahrscheinlich am liebsten, wenn „ihre Sache“ uberhaupt nicht namentlich bekannt ware und wenn17 man sich uber ihre Existenz nur mit gewissen Bewegungen von Korperteilen verstandigen konnte. Damit mochte ich sagen: ob wir die sizilianische Mafia nun Bruderschaft, ehrenwerte Gesellschaft, Mafia oder aber Cosa Nostra nennen, in der Organisation wird sich deshalb weder in der Struktur noch in deren Methoden etwas andern.
2.1.4 Wie wird man ein Ehrenmann?
Um ein „uomo d'onore“ werden zu konnen, musste der typische Sizilianer uber gewisse Eigenschaften verfugen. Mut sowie Erbarmungslosigkeit, um Auftrage ohne Gewissensbisse ausfuhren zu konnen, waren Grundvoraussetzungen fur den zukunftigen Mafioso. Um diese Eigenschaften zu testen wurde nicht selten ein sogenanntes „Eintrittsbillett“ verlangt. Dieses bestand aus dem Nachweis eines bereits durchgefuhrten Mordes. Eine zweite Voraussetzung fur den Ehrenmann war eine durchsichtige und geordnete Familiensituation. Dies wurde unter anderem aus dem sizilianischen Ehrenbegriff heraus geboren und teilweise auch aus der Weitsicht, sich nicht emotional erpressbar machen zu lassen, zum Beispiel durch die Trennung von einer bisherigen Ehefrau. Eine dritte Voraussetzung war die Abwesenheit jeglicher Art von Verwandtschaftsbeziehungen zu Polizisten: dies diente der Vermeidung von Loyalitatskonflikten zwischen Blutsverwandtschaft und „Familienverwandtschaft“.
Bei diesen elementaren Punkten fur die Aufnahme in die Cosa Nostra mussen wir jedoch auch unterscheiden zwischen „sauberen Gesichtern“18 und den einfachen „soldati“. Diese auch sogenannten „stillen Mitglieder“ wurden nur sehr selten mit kriminellen Auftragen versehen. Ihre Aufgabe war es, die Deckung fur legale Geschafte darzustellen oder aber den Flankenschutz fur politische und okonomische Operationen zu gewahren19.
Erfullt eine Person diese eben genannten drei Voraussetzungen, wird sie von der Cosa Nostra beobachtet sowie vorsichtig auf die Bereitschaft gepruft, Mitglied dieses Netzwerkes zu werden. Ist die Bereitschaft der betreffenden Person vorhanden, wird sie an einen abgelegenen Ort gefuhrt und es wird mit ihr im Beisein von mindestens drei Mitgliedern der „zukunftigen Familie“ die Zeremonie des Treueeides der Cosa Nostra vollzogen (vgl. Uesseler, 1987, S.106f.; vgl. Calvi, 1993, S. 11 f.; vgl. Stille, 1999, S.139). Diese Zeremonie ist keine Erfindung der Neuzeit, also des 20. Jahrhunderts. Quellen belegen, dass es schon in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts ein Initiationsritual der Mafia gab, welches dem heutigen immer noch verbluffend ahnlich ist. Aus einem Bericht des Polizeichefs von Palermo geht hervor, dass um das Jahr 1870 viele Ehrenmanner vor ihrer Initiation einer Gruppe von Ober- und Unterbossen vorgestellt wurden. Demnach musste einer dieser Manner den Oberarm oder die Hand des zukunftigen Mafioso anritzen, sodass Blut floss. Dieses Blut wurde auf ein Heiligenbild gestrichen, welches danach wahrend des Schwurs verbrannt wurde. Mit diesem Ritual sollten symbolisch alle Verrater vernichtet werden (vgl. Dickie, 2006, S.62). Ein wegen dieses Berichtes entsandter Sonderbeauftragter der Regierung kam zu dem Urteil: „Damit hat sich den Behorden ein ganz neues, riesiges und vielschichtiges Feld fur Ermittlungen eroffnet“ (Dickie, 2006, S.63). Dieser Beauftragte hatte es wohl damals nicht geglaubt, wenn man ihm gesagt hatte, dass es dieses Ritual auch noch 100 Jahre nach seinem Besuch in Sizilien geben wurde. Auch Don Antonio Calderone wurde mit einer solchen Zeremonie in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in die Cosa Nostra aufgenommen. Laut seinen Schilderungen ist der Ablauf fast identisch mit diesem, von dem der Sonderbeauftragte schon um das Jahr 1870 horte. Ein Beispiel hierfur ist die Autobiographie Calderones'. Vor dessen Initiation wurden er und die anderen „Neuen“ aufgefordert, sich einen Paten zu wahlen. Ublicherweise wahlte man denjenigen aus, der einen bis zur beabsichtigten Aufnahme in die Cosa Nostra begleitet und somit die Verantwortung ubernommen hatte, diesen der „Familie“ vorzustellen. Der Ablauf des zeremoniellen Teils lief laut Calderones' Aussagen wie folgt ab:
„Onkel Peppino nahm daraufhin eine Nadel [...] und fragte mich: „Mit welcher Hand schieBt Du?“ [...] Da stach er mich in einen Finger, lieB etwas Blut heraustropfen und auf ein Heiligenbildchen laufen. [...]. Es war das Bild der Jungfrau Maria, der Schutzpatronin der Cosa Nostra, deren Fest am 25. Marz stattfindet.
Onkel Peppino zundete ein Streichholz an und legte die Flamme an eine Ecke des Bildchens, dann forderte er mich auf es in die Hand zu nehmen, bis es vollkommen verbrannt war. [...]. Wahrenddessen forderte mich Onkel Peppino auf, gemeinsam mit ihm den Schwur zu sprechen. Nach dieser Formel muss ein Mitglied, das die Gebote der Cosa Nostra verrat, verbrennen wie das Heiligenbildchen der Jungfrau Maria.“
(Arlacchi, 1993, S. 71)
Dieser Aussage zufolge, welche auch andere Aussteiger in ahnlicher Form wiedergaben, lasst erkennen, dass sich an dem Grundritual im Laufe der Zeit nichts geandert hatte. Die Tradition ist somit ein wesentlicher Bestandteil der Schutzindustrie und dies ist auch ein Grund dafur, dass die Mafia uber so viele Jahrzehnte und bis heute organisiert sowie strukturiert ist und erfolgreich agieren kann.
Dass dies der Fall ist, ist naturlich nicht nur auf die Tradition des Initiationsritus zuruckzufuhren, es bedarf auch gewisser Normen, eigener Mafiagesetze und Kodexe. Dass die mafiosen Schutzunternehmen solch einen Ehren- und Verhaltenskodex besitzen, wurde bisher zwar noch nie schriftlich jedoch durch mehrere Aussagen von Aussteigern belegt.
2.2 Der Markt
Damit die Mafia uberhaupt entstehen beziehungsweise existieren kann, muss ein Markt mit den dazugehorigen Kunden fur ihr Tatigkeitsfeld vorhanden sein. Hierbei betrachten und analysieren wir im folgenden Kapitel vorzugsweise den Markt sowie die Gegebenheiten, die es der Mafia ermoglichten sich vom 19. Jahrhundert an bis in unsere heutige Zeit zu einem Unternehmen mit Milliardenumsatzen zu entwickeln.
2.2.1 Der Mafiosi als „dritter Mann“
Der Grund, warum es das Tatigkeitsfeld „Schutz“ fur die sizilianische Mafia gibt, ist analytisch betrachtet ganz einfach und leicht verstandlich. Wurden wir Webers Theorie der Verhaltensweisen von Tauschpartnern auf dem Markt folgen, so durfte es keinen Bedarf an mafiosen Schutz auf diesem geben. Denn diese besagt:
„Die Garantie der Legalitat des Tauschpartners beruht letztlich auf der beiderseits normalerweise mit Recht gemachten Vorraussetzung, dass jeder von beiden an der Fortsetzung der Tauschbeziehungen, sei es mit diesem, sei es mit einem anderen Tauschpartner auch fur die Zukunft ein Interesse habe, daher gegebene Zusagen halten und mindestens eklatante Verletzungen von Treu und Glauben unterlassen werde. “
(Weber, 1980, S.383)
Die Realitat in Sizilien sah und sieht bis in unsere heutige Zeit jedoch anders aus. Gambetta beschreibt daher dies mit der Sicht, die ihm ein palermitanischer Rinderzuchter bezuglich seines gesellschaftlichen Vertrauens darlegte: „Der Metzger, der zu mir kommt und mir ein Tier abkaufen will, weiB, dass ich ihn hereinlegen will. Andererseits weiB ich ebenfalls, dass er mich seinerseits hereinlegen will“ (Gambetta, 1994, S.29). Die beiden Geschaftsleute befinden sich sozusagen in einem Gefangenendilemma (vgl. Wiswede, 1998, S.155), weil sie nicht die rationalen Verhaltensweisen der Tauschpartner des „Werberschen-Marktes“ aufweisen. Wurden beide genau wissen, dass sie vom anderen nicht hereingelegt werden, konnten sie den groBten Nutzen aus dem beidseitigen Geschaft ziehen. Der Metzger wurde ein gutes Produkt bekommen und sofort einen guten Preis dafur zahlen, was dem Viehhandler zugute kommen wurde. Da dieses Wissen jedoch nicht vorhanden ist, gibt es drei weitere Alternativen: Geht nur der Metzger davon aus nicht betrogen zu werden, der Viehhandler jedoch schon, konnte es dazu kommen, dass der Metzger einen hohen Preis fur ein minderwertiges Produkt bezahlt. Der NutznieBer dieser Transaktion ware einzig und allein der Viehhandler. Andersherum wurde die Gewinnaufteilung nur umgekehrt aussehen. Der Viehhandler wurde ein gutes Produkt liefern, jedoch vom Metzger nicht oder nicht punktlich bezahlt werden. Die dritte Moglichkeit ist diese, welche der Viehhandler schilderte. Da beide wissen vom anderen betrogen zu werden, verkauft der Viehhandler ein minderwertiges Produkt und bekommt dafur im Gegenzug zum Beispiel auch nur die Halfte des vereinbarten Betrages. Aus diesem Grund fuhrt der Viehhandler seine Aussage weiter aus: „Darum brauchen wir zur Einigung einen „Peppe“20 ; danach bezahlen wir beide ihm einen prozentualen Anteil am Geschaft“ (Gambetta, 1994 S.29). Die beiden Geschaftsleute brauchen demnach eine Garantie, da sie sich gegenseitig misstrauen, kooperatives Verhalten jedoch Vertrauen voraussetzt. Diese Garantie und das Vertrauen bietet sozusagen der dritte Mann, der „Peppe“, dem beide vertrauen. Die Rolle des „Peppe“ beschrankt sich normalerweise darauf, die beiden Seiten in Kontakt zu bringen und Informationen zu geben, ob sich ein bestimmtes Geschaft lohnt oder nicht. Dafur bekommt der Vermittler eine Provision von zwei Prozent. Tritt der „Peppe“ daruber hinaus als Garant fur die Qualitat der Ware ein und fur deren Bezahlung, so erhoht sich die Provision dementsprechend. Der Nutzen beider Parteien ist somit ausgeglichen. Dies impliziert jedoch nicht, dass es die beste Handlungsoption fur beide ist, denn wurden sie einander uneingeschrankt vertrauen, hatten sie den groBten Nutzen. Das abgeschlossene Geschaft unter Zuhilfenahme des „Peppe“ schmalert ihren Gewinn um die geforderte Provision, dieser ist aber selbst dann noch hoher, als wenn beide versucht hatten einander zu betrugen. Der „Peppe“ schafft somit durch seine Position eine Vertrauensbasis fur das angestrebte Tauschgeschaft, welche ohne ihn nicht vorhanden gewesen ware.
Das Vertrauen bei offentlichen Geschaften ist jedoch nicht so sehr belastet, da zum Beispiel beim Fleischmarkt das Gewicht, die Gesundheit und die Qualitat der Tiere unter Kontrolle stehen. Trotzdem wird dabei auf den „Peppe“ zuruckgegriffen, da man mit ihm die vorgeschriebene Prozedur des Handels umgehen und sich somit die Steuer ersparen kann. Die Kosten fur den Garant dieser illegalen Geschafte sind niedriger, als die dafur zu bezahlenden Steuern. Dieser „Peppe“ und seine Kollegen stellen somit das dar, was wir als Mafioso kennen. Den Hauptmarkt fur diese mafiosen Dienstleistungen muss man bei den Geschaften suchen, bei denen bruchiges oder keinerlei Vertrauen vorhanden ist. Hierbei handelt es sich groBtenteils um illegale Geschafte, da man bei diesen nicht auf die Durchsetzung der staatlichen Gesetze und Regelungen zuruckgreifen kann. Der sogenannte „dritte Mann“ kann einzeln oder aber auch als Organisation auftreten. Hierbei kann der „Peppe“ den Schutz einer aber auch beider Parteien ubernehmen. Es muss beachtet werden, wenn der „Peppe“ Schutz fur verschiedene Geschaftsbereiche anbietet, sich die organisatorischen Anforderungen dafur verkomplizieren. Der Unterschied, ob der „Peppe“ ein einfacher „Makler“ ist, der vermittelt oder aber mafiose Eigenschaften entwickelt, hangt davon ab, ob dieser Informationen oder Garantien produziert. Da in Bezug auf die Mafia nicht so sehr der Mangel an Informationen sondern eher der Mangel an Vertrauen im Spiel ist, ist es sehr wahrscheinlich anzunehmen, dass wenn der „Peppe“ Garantien verkauft, er mafiose Verhaltensweisen entwickelt (vgl. Gambetta, 1994, S.30f.).
[...]
1 Die folgenden Schilderungen des Attentats auf Paul Castellano, dem damaligen Boss aller Bosse, basieren auf Zeitungsberichten sowie auf den Schilderungen der beiden FBI Agenten Andris Kurins und Joseph F. O'Brien, die beide Teil der breit angelegten Oberservation Castellanos waren (vgl. DER SPIEGEL, 1985b; vgl. McFadden, 1985; vgl. Raab, 1986; vgl. WDR.de, 2005; vgl. O'Brien, 1992, S.7f.).
2 Die folgenden Schilderungen des Attentats auf Giovanni Falcone und dessen Begleitern, basieren auf Zeitungsberichten, Dokumentationen sowie auf den Aufzeichnungen der Historiker Dickie und Hofmann (vgl. DER SPIEGEL, 1992a; vgl. Dickie, 2006, S.15ff.; vgl. Hofmann, 2003, S.76f; vgl. Delle Donne, 1993, S.9f.; vgl. Stille, 1999, S.42f.; vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2000; vgl. „Verrat und Blutrache“, NDR, 23min.-46min.)
3 „Uomo d'onore“: Mann der Ehre; ist die mafiainterne Bezeichnung fur einen Mann, der in eine Mafia- „Familie“ formell aufgenommen wurde. Zu beachten ist hierbei, dass keineswegs alle mit den „Familien“ in Verbindung Stehenden Mannern auch „uomini d'onore“ sind. Die meisten dieser in Verbindung stehenden gehoren nur der sogenannten Mafia-Peripherie an (vgl. Raith, 1992, S.30).
4 „omerta“: bedeutet Verschwiegenheitspflicht. Das Wort wurde von „uomo“ in seiner Bedeutung als „Mann“ abgeleitet, um eine dem Mann innewohnende Eigenschaft zu bezeichnen. Die „omerta“ gilt als ein zentraler Punkt mafioser Ehrvorstellung, sie beschreibt die Schweigepflicht allen nicht der eigenen Gruppe Angehorenden gegenuber. Im weiteren Sinne wird diese Verschwiegenheitspflicht auch von allen anderen Menschen erwartet, insofern diese nichts uber die Mafia allgemein verbreiten sollen, schon gar nicht irgendwelchen Behorden (vgl. Raith, 1992, S.30; vgl. Sifakis, 1987, S.250)
5 „Maxi-Prozesse“: Bezeichnung fur die GroBprozesse gegen eine Vielzahl von vermutlichen Mafiosi. Der erste fand 1986/87 gegen 475 Personen statt, der zweite 1987/88 gegen 79 und der dritte 1988 gegen 170 Beschuldigte. Der erste ProzeB, 1986/87, gegen 475 Verdachtige wird falschlicherweise oft als der groBte Prozess gegen die Mafia gesehen. Denn schon in den 30er Jahren des 20.Jahrhunderts stand eine Gruppe um Genco Russo mit 500 Mitgliedern vor Gericht (vgl. Raith, 1992, S.29).
6 oberste Gerichtshof Italiens
7 „divide et impera“: bedeutet ubersetzt: „teile und herrsche“
8 Die Feldhuter ubten eine offentliche Ordnungsfunktion aus, wurden von der jeweiligen Gemeinde bezahlt und unterstanden dem Burgermeister; es bestand jedoch ein zweifelhafter Wert dieser Ordnungsorgane, da diese nicht einmal Uniform trugen
9 „Carabinieri“: polizeiliche Gendarmerie mit langer Tradition; heute sind die Carabinieri eine eigenstandige Teilstreitkraft der italienischen Armee.
10 „padrone“: der jeweilige Feudalherr der Bauern
11 „bravi“: die Tapferen; die benotigte Qualifikation fur die „Bravo“ waren die Fahigkeit zur Gewalttatigkeit und Geschicklichkeit im Umgang mit Waffen
12 „Gabellotto“: Formal ist dies nur ein Pachter der Landereien. In Wirklichkeit ubernahm er alle Rechte des Feudalherren, in den Augen der Bauern trat er an die Stelle der Barone. Der Herkunft nach ist der Gabellotto nur ein kleiner Landbesitzer, Handler oder Viehmakler, der durch seine Erpressungen gewisse Mittel erlangt hat. Er ist demnach einer aus der Masse der Bauern, der es geschafft hat, sich emporzuarbeiten und an zu Geld zu gelangen (vgl. Hess, 1988, S.44).
13 „cosca“: unterste und kleinste Einheit des Mafiasy stems, die meist nur einige dutzend Leute umfasst und sich um einen Mafioso gruppiert, der ein kleines Dorf oder einen kleinen Stadtteil regiert. Der Begriff „Famiglia“ wird oft als Synonym zu „cosca“ oder „cosca“-Verbanden verwendet (vgl. Galluzzo, 1985, S.175).
14 Pino Arlacchi: Professor fur Angewandte Soziologie, zuerst an der Universitat Cosenza seither in Florenz; ist Italiens angesehenster und fuhrender Mafia- und Drogenforscher. Von 1984-86 war er als Berater der parlamentarischen Antimafia-Kommission tatig; 1991 entwickelte er die danach realisierte Antimafia-Polizei fur Italien.
15 „I mafiusi di la Vicaria“: bedeutet ubersetzt: „Die Mafiosi des Gefangnisses von Vicaria“
16 „pizzo“: Schutzgeld an die Mafia; stammt aus dem Sizilianischen, die fruhere Bedeutung war „Schnabel“. Durch Gewahrung des „pizzo“ erlaubte man jemanden, sich den „ Schnabel nass zu machen“; die Anderung der Bedeutung des Wortes fur die Bevolkerung geschah durch das Schauspiel „I mafiusi di la Vicaria“ um das Jahr 1863; im Jahr 1857 wurde „pizzo“ in einem sizilianischen Worterbuch noch mit „Schnabel“ ubersetzt, ab dem Jahr 1868 fand man die Ubersetzung „erpresstes Geld“ (vgl. Dickie, 2006, S.86)
17 Antonio Calderone: geboren 1936 in Catania (Sizilien), war bis zu seiner Flucht aus Sizilien im Jahre 1983 stellvertretender Chef der „Familie“ von Catania. Sein Bruder, Giuseppe „Pippo“ Calderone war Chef der „Familie“ von Catania und Mitte der siebziger Jahre Chef der sogenannten „Regionalkommission“, dem obersten Koordinierungs- und Schlichtungsorgan der Mafia.
18 „saubere Gesichter“: darunter wurden unter anderem Freiberufliche, Personen der offentlichen Verwaltung, Politiker und Unternehmer gesehen
19 auf das Verhaltnis zwischen Staat/Politik und Mafia werde ich in einem spateren Kapitel eingehen
20 „Peppe“: Wird hier als dritter Mann bezeichnet; Unparteiischer, der zwischen beiden Parteien vermitteln oder Garantien vergeben kann
- Citar trabajo
- Jan Hoffmann (Autor), 2006, Die Entstehung der Mafia, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/159278
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