Die am häufigsten und vor allem die am gegensätzlichsten interpretierte Erzählung E.T.A. Hoffmanns ist der Sandmann. Durch die vielschichtige und mehrdimensionale Struktur des Werkes ist es bis heute nicht einfach den Überblick zu behalten und wirklich zu verstehen, worum es eigentlich geht. Daran haben auch die aus unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen angebotenen Erklärungsansätze nicht wirklich etwas ändern können. Mindestens genauso unterschiedlich wie ihre Vorgehensweisen bei der Interpretation sind nämlich auch ihre (mitunter ideologischen) Sichtweisen, die dem Werk einen Stempel aufzudrücken versuchen. Der Sandmann lebt von der Irritation und er produziert Irritation.
Es kann nicht Aufgabe dieser Hausarbeit sein, alle Ansichten erschöpfend zu diskutieren. Einen besonderen Beitrag zum Sandmann lieferte jedoch Sigmund Freud im Jahre 1919 in einer Arbeit über „Das Unheimliche“. Diese wird mir als Grundlage dieser Hausarbeit dienen, in der die zentrale Fragestellung wie folgt lauten soll: Wie funktioniert psychoanalytische Literaturwissenschaft und wie wirkt sich dieses Modell auf die Deutung des Sandmann aus?
Um diese Frage zu beantworten, werde ich wie folgt vorgehen: Nach einer eingehenden Betrachtung der psychoanalytischen Theorie zur Deutung literarischer Werke, werde ich eine schwerpunktmäßige Inhaltsangabe des Sandmannes vornehmen. Damit wäre dann das „theoretische Rüstzeug“ sowie das „Forschungsobjekt“ gegeben. Dann werde ich genauer auf Freuds Interpretation des Sandmanns eingehen um schließlich zu einer Alternative von Gisela Köhler zu kommen. In ihrer Dissertation über das Werk E.T.A. Hoffmanns bringt sie einige interessante Diskussionsbeiträge. Schließlich werde ich noch einmal auf die psychoanalytische Literaturwissenschaft zurückkommen, um Kritik sowie Möglichkeiten dieses Modells aufzuzeigen.
Inhalt
1. Einleitung
2. Die psychoanalytische Deutung literarischer Werke
2.1 Typische Träume
2.2 Der Ödipuskomplex
2.3 Der Held
2.4 Anwendung des psychoanalytischen Interpretationsmodells
3. E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann
4. Freuds Deutung des „Sandmann“
5. Eine alternative Deutung des Sandmann
6. Abschließende Betrachtung
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die am häufigsten und vor allem die am gegensätzlichsten interpretierte Erzählung E.T.A. Hoffmanns ist der Sandmann.[1] Durch die vielschichtige und mehrdimensionale Struktur des Werkes ist es bis heute nicht einfach den Überblick zu behalten und wirklich zu verstehen, worum es eigentlich geht. Daran haben auch die aus unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen angebotenen Erklärungsansätze nicht wirklich etwas ändern können. Mindestens genauso unterschiedlich wie ihre Vorgehensweisen bei der Interpretation sind nämlich auch ihre (mitunter ideologischen) Sichtweisen, die dem Werk einen Stempel aufzudrücken versuchen. Der Sandmann lebt von der Irritation und er produziert Irritation.
Es kann nicht Aufgabe dieser Hausarbeit sein, alle Ansichten erschöpfend zu diskutieren. Einen besonderen Beitrag zum Sandmann lieferte jedoch Sigmund Freud im Jahre 1919 in einer Arbeit über „Das Unheimliche“.[2] Diese wird mir als Grundlage dieser Hausarbeit dienen, in der die zentrale Fragestellung wie folgt lauten soll: Wie funktioniert psychoanalytische Literaturwissenschaft und wie wirkt sich dieses Modell auf die Deutung des Sandmann aus?
Um diese Frage zu beantworten, werde ich wie folgt vorgehen: Nach einer eingehenden Betrachtung der psychoanalytischen Theorie zur Deutung literarischer Werke, werde ich eine schwerpunktmäßige Inhaltsangabe des Sandmannes vornehmen. Damit wäre dann das „theoretische Rüstzeug“ sowie das „Forschungsobjekt“ gegeben. Dann werde ich genauer auf Freuds Interpretation des Sandmanns eingehen um schließlich zu einer Alternative von Gisela Köhler zu kommen. In ihrer Dissertation über das Werk E.T.A. Hoffmanns[3] bringt sie einige interessante Diskussionsbeiträge. Schließlich werde ich noch einmal auf die psychoanalytische Literaturwissenschaft zurückkommen, um Kritik sowie Möglichkeiten dieses Modells aufzuzeigen. Ich beginne also mit der psychoanalytischen Theorie der Literatur:
2. Die psychoanalytische Deutung literarischer Werke
Obwohl der Psychoanalytiker „nur selten den Antrieb zu ästhetischen Untersuchungen“[4] verspürt, so ist es doch manchmal unerlässlich, sich z.B. mit der Dichtung zu beschäftigen. Denn nicht zuletzt daraus lassen sich Vermutungen über die Quelle der Kreativität anstellen. Genau dies ist in umfangreicher Weise geschehen. Demnach entspringt der schöpferische Akt
dem Unbewussten. Bis heute ist diese Annahme ein Grundgedanke der Dichtungstheorie, der nicht nur von Freuds Mitarbeitern Sachs, Rank oder Stekel vertreten wurde.[5] Es wurde und wird vermutet, dass künstlerisch begabte Menschen in besonderem Maße über die Sprache des Unbewussten verfügen und diese auch benutzen könnten. Freud selbst war vorsichtiger,
für ihn war die eigentliche Begabung unanalysierbar. Er brachte die dichterischen Schaffensprozesse in einen engen Zusammenhang zur Triebtheorie und rückte sie in die Nähe psychopathologischer Erscheinungen.[6] Außerdem kommt er zu dem Schluss, dass in der Produktion des Dichters die aus der Traumarbeit bekannten Mechanismen wirksam seien.
Nicht alle die sich mit der Kunsttheorie auseinandergesetzt haben, sind der Auffassung, der schöpferische Akt entspringe aus dem Unbewussten. Bisweilen wird er auch im vorbewussten psychischen Geschehen fundiert. Er speist sich aus der Fähigkeit des Künstlers über Erinnerungen zu den verlorenen Gefühlen der eigenen Kindheit zurückzukehren.[7] Die überragende Bedeutung der frühkindlichen Erlebnisse für psychische Erkrankungen wurde auf den Bereich künstlerischer Begabung ausgeweitet.
Nach der psychoanalytischen Auffassung von Kunst äußern sich die nicht gelebten Strebungen und innersten Wünsche des Menschen auf drei verschiedene Arten: sie finden sich in Träumen und Phantasien wieder, sie führen im Fall der Neurose zu Symptomen, oder sie entgehen dem Konflikt zwischen Triebanspruch und Verzicht durch künstlerische Betätigung.[8] Dem Künstler wird in jedem Fall ein bestimmtes Maß an neurotischem Potential unterstellt, von Freud wie gewohnt eher vorsichtig, von seinem Schüler Stekel hingegen umfassend bis übertrieben. Nach Freud zeigen die Neurosen „einerseits auffällige und tiefreichende Übereinstimmungen mit den großen sozialen Produktionen der Kunst.“ Andererseits erfahre man bei der Triebanalyse der Neurosen, „dass in ihnen die Triebkräfte sexueller Herkunft den bestimmenden Einfluss ausüben, während die entsprechenden Kulturbildungen auf sozialen Trieben ruhen, solchen, die aus der Vereinigung egoistischer und erotischer Anteile hervorgegangen sind.“[9] Für Stekel dagegen ist nicht jeder Neurotiker ein Dichter, aber jeder Dichter ist ein Neurotiker.[10] Diese vereinfachende Darstellung erscheint jedoch überzeichnet und undifferenziert.
Freud hat unter anderem aus den hier genannten Grundannahmen die psychoanalytische Biographik abgeleitet. Durch Interpretation der Kunstwerke (ähnlich eines Traumes) versucht er Rückschlüsse auf die Psychologie des Künstlers zu ziehen. So geschehen in umstrittener Form bei Leonardo da Vincis Kindheitserinnerung.[11] Der Begrenztheit dieses Ansatzes steht
die Kritik an der herkömmlichen, bei Fakten stehen bleibenden Biographik gegenüber.[12] Genau dieses Stehen bleiben ist es, dass den beiden Pfeilern (Beobachtung und Deutung)
der Psychoanalyse als Wissenschaft entgegensteht. Die freie Assoziation oder die Traumdeutung basieren eben darauf, den verborgenen Sinn eines psychischen Phänomens deutend zu eruieren.
Freud gesteht ein, dass es unmöglich sei, „alle Faktoren im Entstehungs- und Wirkungsprozess eines Kunstwerks psychoanalytisch aufzulösen“.[13] Dennoch ist es die Aufgabe der
Psychoanalyse Aussagen über das Spannungsfeld zwischen den drei Polen „Künstler – Kunstwerk – Betrachter“ zu machen.[14] Freud wurde häufig vorgeworfen, er hätte sich in seinen Literaturinterpretationen zu sehr auf die Biographie des Künstlers fixiert. Bei der Interpretation des „Sandmanns“ werden wir sehen, dass dies nur bedingt zutrifft.
Wie bereits erwähnt, resultiert die Lust am künstlerischen Schaffen aus verhüllter Triebbefreiung.[15] Das Kunstwerk ist eine Kompromissbildung aus sexuellen Triebregungen und antagonistischen Tendenzen der Triebverdrängung (ähnlich wie beim Traum). Die gewählte Form des Kunstwerkes ist dabei peripher, entscheidend ist, dass die unverhüllte Darstellung der individuellen Phantasien des Künstlers gesellschaftlich nicht annehmbar sein könnten. Deshalb werden diese Phantasien in künstlerische Formen mit ästhetischer Wirkung transferiert. Die Wirkung beim Betrachter ist, dass genau der seelische Zustand in ihm ausgelöst wird, in dem sich der Künstler während der Produktion seines Werkes befand.[16]
2.1 Typische Träume: Sigmund Freud hat in seinem Werk die Traumdeutung[17] seine Untersuchungsmethode für die Interpretation von Träumen umfassend beschrieben. Dabei ist vor allem die These von zentraler Bedeutung, dass jeder Traum eine Wunscherfüllung sei. Diese Wünsche stammen jedoch aus dem Unbewussten, sie wurden aus der Sphäre des Bewussten verdrängt. Der Traum „entstellt“ diese Wünsche, sodass zwischen dem „latenten“ (den verschlüsselten, verborgenen Wünschen) und dem „manifesten“ (der eigentlichen Handlung) Trauminhalt unterschieden werden muss. Nachdem er seine Methode an vielen Beispielen erläutert und erprobt hat, kommt er zu dem Schluss, dass es neben den sehr individuellen auch „typische“ Träume gibt. Diese zeigen nur geringfügige Abweichungen von einem stereotypen Traum, der von den verschiedensten Leuten geträumt wird.[18] Somit beansprucht die Traumdeutung eine Art allgemeine Gültigkeit. Da Freud der Ansicht ist, dass Kunstwerke genau wie Träume aus verdrängten Wünschen entstehen, überträgt er die Deutungsmethode des Traumes auf kreative Prozesse und deren Produkte. Mithilfe zwei typischer Träume hat er zum Beispiel die Ödipussage, die „zum Schnittpunkt von Traum, Mythologie, Dichtung und Psychoanalyse“[19] wurde, eingehend analysiert (siehe unten).
2.2 Der Ödipuskomplex: Das Phänomen der beiden extremen Wünsche eines Sohnes, den eigenen Vater zu töten und die Mutter zur Frau zu nehmen (beim Mädchen ist es umgekehrt), wird als „Ödipuskomplex“ bezeichnet.[20] Freud hat aus der Ödipussage diese beiden verdrängten Wünsche als die wichtigsten herausgezogen. Er erklärt die über Jahrhunderte andauernde Wirkung dieses Stückes Weltliteratur aus der allgemeinmenschlichen Veranlagung zum Ödipuskomplex. Demnach müssen zwei grundsätzlich verschiedene, aber gleich bedeutende ästhetische Dimensionen Beachtung finden: Nicht nur das Verhältnis des Dichters
[...]
[1] vgl. Fuchs: Kritik der Vernunft, 2001, S.67
[2] vgl. Freud: Das Unheimliche, 1919
[3] vgl. Köhler: Narzissmus…, 1971
[4] vgl. Freud: Das Unheimliche, 1919, S.243
[5] vgl. Steinbauer: Die Psychoanalyse…, 1987, S.150
[6] vgl. Steinbauer: Die Psychoanalyse…, 1987, S.150
[7] Ebd., S.153
[8] Ebd., S.162
[9] vgl. Freud: Totem und Tabu, 1912/13, S.124
[10] vgl. Steinbauer: Die Psychoanalyse…, 1987, S.162
[11] vgl. Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, 1910, S.87-152
[12] vgl. Steinbauer: Die Psychoanalyse…, 1987, S.165
[13] vgl. Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, 2001, S.56
[14] vgl. Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, 2001, S.66
[15] vgl. Steinbauer: Die Psychoanalyse…, 1987, S.190
[16] Ebd., S.190
[17] vgl. Freud: Die Traumdeutung, 1900
[18] vgl. Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, 2001, S.12 f.
[19] vgl. Steinbauer: Die Psychoanalyse…, 1987, S.201
[20] vgl. Freud: Archaische Züge…, 1916, S.211
- Citation du texte
- Christof Niemann (Auteur), 2003, Die psychoanalytische Deutung literarischer Werke unter besonderer Berücksichtigung von E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/15845
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