[...] In der Erforschung der Vorhersagbarkeit von Lese- und Rechtschreibleistungen
wird im Besonderen die Teilkompetenz „phonologische Bewusstheit“
als gute Vorhersagevariable diskutiert (vgl. 5.1). Allerdings
ist noch offen, in welchem Verhältnis Schriftspracherwerb und
phonologische Bewusstheit stehen. Es gibt eine Reihe von
Untersuchungen, die die jeweilige Position zu bestätigen scheinen.
Exemplarisch sollen daher Studien vorgestellt werden, wobei bezüglich
unterschiedlicher Begrifflichkeiten die Vergleichbarkeit erschwert wird
(vgl. 5.1.).
Die Phasen des Schriftspracherwerbs werden von den Kindern individuell
durchlaufen. Es gibt Rückschritte und es werden Lernplateaus
eingelegt. Fehler sind auf diesem Weg nicht vermeidbar und werden
von allen Kindern gemacht. Allerdings gibt es auch Schüler, die besondere
Schwierigkeiten haben, sich die Schriftsprache anzueignen. Als
besonderes Problem soll der Übergang von der logographemischen
Phase zur alphabetischen Phase des Schriftspracherwerbs herausgearbeitet
werden. Auch die anderen Phasenübergänge bereiten Kindern
mit sonderpädagogischem Förderbedarf des Lernens Probleme, allerdings
beruht die alphabetische Strategie auf der phonologischen Bewusstheit
(vgl. 5.2.). Es soll aufgezeigt werden, warum Schüler mit sonderpädagogischem
Förderbedarf des Lernens möglicherweise phonologische Defizite zeigen,
die zum Versagen im Schriftspracherwerb führen können (vgl.
5.3.). Wenn davon ausgegangen werden kann, dass phonologische
Bewusstheit eine zentrale Rolle im Schriftspracherwerb spielt und dass
Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf häufig an dieser Hürde
versagen, dann bleibt dies nicht ohne Konsequenzen. Daher soll dargestellt
werden, wie mangelnde phonologische Bewusstheit zu Schriftspracherwerbsstörungen
führen kann (vgl. 5.4.).
Für andere Teilkompetenzen existieren sicherlich auch wichtige Verbindungen
zum Schriftspracherwerb. Allerdings ist der Stellenwert der
Vorhersagbarkeit der Lese- und Rechtschreibleistungen eher gering
und soll daher nicht eingehend dargestellt werden.
Im Anschluss daran müssten normalerweise Fragen beantwortet werden,
die sich auf die Förderung und die Lernangebote in den ersten
Schuljahren beziehen. Diese Fragestellungen erachte ich für maßgeblich,
da sie vielleicht einige Kinder davor bewahren könnten, zu Schülern
mit sonderpädagogischem Förderbedarf des Lernens zu werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretische Grundlagen
2.1. Die Beziehung zwischen der gesprochenen und der geschriebenen deutschen Sprache
2.2. Die Beziehung zwischen der Laut- und der Schriftstruktur
3. Der Schriftspracherwerb aus heutiger Sicht
3.1. Legasthenie – eine ältere Sicht auf den Schriftspracherwerb
3.2. Kritik am klassischen Konzept der Legasthenie
3.3. Die Umorientierung in der Lese-Rechtschreibforschung
3.4. Modelle zum Erwerb der Schriftsprache
3.5. Zusammenfassende Betrachtung über gewonnene Einsichten im Verlauf des Schriftspracherwerbs
4. Sprachbewusstheit
4.1. Vorbemerkungen
4.2. Definitionsprobleme
4.3. Allgemeine Charakterisierung der Sprachbewusstheit
4.4. Enge und weite Definitionen von Sprachbewusstheit
4.5. Teilkompetenzen der Sprachbewusstheit
4.6. Sprachbewusstheit und Schriftspracherwerb
4.7. Zusammenfassung
5. Die Bedeutung von phonologischer Bewusstheit für den gestörten Schriftspracherwerb
5.1. Phonologische Bewusstheit als Voraussetzung des Schriftspracherwerbs?
5.2. Schwierigkeiten von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf bei Beeinträchtigung des Lernens beim Erwerb der Schriftsprache
5.3. Erklärungsansätze für mangelnde phonologische Bewusstheit bei Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf bei Beeinträchtigung des Lernens
5.4. Konsequenzen mangelnder phonologischer Bewusstheit
5.5. Zusammenfassung
6. Resümee
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Anhang
1. Einleitung
Lesen und Schreiben als elementare Kulturtechniken nehmen in der Grundschule einen bedeutenden Raum ein. Sie zu beherrschen ist für jegliches weitere Lernen unersetzbar. Immer wieder klagen weiterführende Schulen über unzureichend ausgebildete Fähigkeiten und Fertigkeiten in diesen Bereichen. Auch neueste Erkenntnisse aus der Pisa- Studie setzen alarmierende Zeichen.
Durch Praktika an Schulen für Lernhilfe wurde die Frage aufgeworfen, warum gerade diese Kinder im Lesen und Schreiben an normalen Grundschulen versagten. Denn auch sie brauchen diese Techniken für ihr weiteres Leben. Um sich in der Praxis dieser Thematik zu stellen, sind grundlegende theoretische Kenntnisse erforderlich. Mein Interesse an dieser schwierigen und reizvollen Problematik war geweckt und bewog mich, vielfältige Literatur zu sichten. Im Zusammenhang mit dem Schriftspracherwerb wird immer wieder die Bedeutung von Sprachbewusstheit als eine mögliche Voraussetzung des erfolgreichen Erwerbs des Lesens und Schreibens betrachtet. Daher liegt es nahe, dass zahlreiche Literatur zum Schriftspracherwerb im sprachbehindertenpädagogischen Kontext existiert.
In der Literatur wird auch auf den Zusammenhang zwischen Sprachbewusstheit und dem gestörten Schriftspracherwerb aufmerksam gemacht. Gegenstand dieser Examensarbeit soll es sein, den Zusammenhang zwischen Schriftspracherwerb und Sprachbewusstheit bei Kindern mit sonderpädagogischen Förderbedarf bei Beeinträchtigung des Lernens darzustellen.
Der Begriff „lernbehindert“ soll in dieser Arbeit nicht näher dargestellt werden, da dies für diese Arbeit zu weit führen würde. Die Gruppe der „lernbehinderten“ Schüler soll grundsätzlich als heterogene Gruppe verstanden werden. Die Ausführungen dürfen daher nicht im Sinne einer ausschließlich auf diese Personengruppe und für jeden Einzelnen zutreffenden Allgemeingültigkeit verstanden werden. Es können jedoch Entwicklungstendenzen aufgezeigt werden.
Es wird in dieser Arbeit notwendig sein, einige Begriffe darzulegen, die für deren weiteren Verlauf dieser Arbeit von Bedeutung sind. Diese Darstellung umfasst die Zusammenhänge, die auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache zurückgehen (vgl. 2.).
Die Ursachen, die dazu führen, dass Kinder als „lernbehindert“ klassifiziert werden sind sehr komplex. Fähigkeiten, die auf Sprachbewusstheit zurückzuführen sind, haben sich als ein Prädikator für den Erfolg im Schriftspracherwerb erwiesen. Allerdings war in der Erforschung des gestörten Schriftspracherwerb das Konzept der Legasthenie lange Zeit vorherrschend. Teilleistungsstörungen wurden dabei als ursächlich für die Entstehung von Schriftsprachstörungen angenommen wurde (vgl. 3.1.). Mit der Umorientierung der Schriftspracherwerbsforschung fanden jedoch auch andere Faktoren eine stärkere Beachtung, die wiederum in Korrelation zu den Fähigkeiten zur bewussten Betrachtung von Sprache stehen (vgl. 3.2.). Um eine Verständlichkeit für die heutige Schriftspracherwerbsforschung herzustellen, soll daher auch das klassische Legastheniekonzept und dessen Kritikpunkte beschrieben werden (vgl. 3.1.; 3.2.).
Allgemein hat sich die Betrachtung des Lerngegenstandes Schriftsprache von dem Konzept der Teilleistungsstörungen abgewandt. Der Erwerb der Schriftsprache wird in mehreren Phasen beschrieben und es wurden Modelle entwickelt, die sich im Allgemeinen in ihrer Grobstruktur ähneln. Untersuchungen zeigen, dass Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf die Phasen des Schriftspracherwerb in ähnlicher Folge durchlaufen wie „normal“ lernende Schüler. Es kann hier nicht jedes Modell erörtert werden, welches in der Literatur bereits veröffentlicht wurde. Aufbauend auf einer gründlichen Darstellung der Modelle von FRITH und GÜNTHER werden in dieser Arbeit die Modelle von BRÜGELMANN und SCHEERER-NEUMANN aufgeführt. Die beiden letztgenannten Modelle wurden im Rahmen der vorliegenden Examensarbeit gewählt, da sie einige bedeutende Kritikpunkte an den Modellen von FRITH und GÜNTHER deutlich werden lassen (vgl. 3.4.). Bezüglich der Abfolge der einzelnen Phasen des Schriftspracherwerbs sind sich diese vier Modelle jedoch ähnlich. Sie lassen zudem acht zentrale Einsichten erkennen, die Kinder im Laufe des Schriftspracherwerbs gewinnen müssen, damit er erfolgreich verläuft.
Die Umorientierung der Lese- und Rechtschreibforschung geht natürlich nicht an der Praxis des Unterrichtes vorbei. Eine didaktische Diskussion, die mit verschiedenen Modellen zum Schriftspracherwerb verbunden sind, werde ich in der vorliegenden Arbeit allerdings nicht führen. Dies würde über das Thema der Arbeit hinausreichen.
Die Erkenntnis, dass unsere Schriftsprache eine alphabetische Schrift ist, stellt eine wesentliche Einsicht in den Aufbau unseres Schriftsystems dar. Der alphabetischen Strategie des Lesens und Schreibens liegt phonologische Bewusstheit zu Grunde. Sie ist eine Teilkompetenz von Sprachbewusstheit. Das Interesse an den Forschungen zur Sprachbewusstheit nimmt seit Ende der 70er Jahre wieder zu (vgl. 4.1.). Allerdings machen große definitorische Unterschiede die Vergleichbarkeit der Ergebnisse schwer. Es soll daher erläutert werden, wodurch die Definitionsprobleme entstehen und wie vielfältig der Begriff ist (vgl. 4.2.). Grundlegend unterscheiden sich die Definitionen in dem, was sie als metasprachliche Äußerung bei Kindern erachten. Es geht dabei immer um die Sprachbewusstheit bei Kindern, die sich von der Erwachsener Personen unterscheidet (vgl. 4.3., 4.4.).
Der Terminus „Sprachbewusstheit“ umfasst ein sehr weites Feld metasprachlicher Fähigkeiten bzw. von Teilkompetenzen. Mit einer kurzen Darstellung dieser soll ein Überblick erreicht werden. Es kann, um die Übersichtlichkeit der Arbeit nicht zu beeinträchtigen, keinesfalls auf jede der Fähigkeiten näher eingegangen werden (vgl. 4.5.).
Die Entwicklung von Sprachbewusstheit wird in der Literatur vor allem mit der primärsprachlichen, mit der kognitiven Entwicklung und dem Schriftspracherwerb in Verbindung gebracht. Es soll hier nur der Zusammenhang mit dem Schriftspracherwerb erörtert werden, da er für zentral gehalten wird (vgl. 4.6.).
In der Erforschung der Vorhersagbarkeit von Lese- und Rechtschreibleistungen wird im Besonderen die Teilkompetenz „phonologische Bewusstheit“ als gute Vorhersagevariable diskutiert (vgl. 5.1). Allerdings ist noch offen, in welchem Verhältnis Schriftspracherwerb und phonologische Bewusstheit stehen. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die die jeweilige Position zu bestätigen scheinen. Exemplarisch sollen daher Studien vorgestellt werden, wobei bezüglich unterschiedlicher Begrifflichkeiten die Vergleichbarkeit erschwert wird (vgl. 5.1.).
Die Phasen des Schriftspracherwerbs werden von den Kindern individuell durchlaufen. Es gibt Rückschritte und es werden Lernplateaus eingelegt. Fehler sind auf diesem Weg nicht vermeidbar und werden von allen Kindern gemacht. Allerdings gibt es auch Schüler, die besondere Schwierigkeiten haben, sich die Schriftsprache anzueignen. Als besonderes Problem soll der Übergang von der logographemischen Phase zur alphabetischen Phase des Schriftspracherwerbs herausgearbeitet werden. Auch die anderen Phasenübergänge bereiten Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf des Lernens Probleme, allerdings beruht die alphabetische Strategie auf der phonologischen Bewusstheit (vgl. 5.2.).
Es soll aufgezeigt werden, warum Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf des Lernens möglicherweise phonologische Defizite zeigen, die zum Versagen im Schriftspracherwerb führen können (vgl. 5.3.). Wenn davon ausgegangen werden kann, dass phonologische Bewusstheit eine zentrale Rolle im Schriftspracherwerb spielt und dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf häufig an dieser Hürde versagen, dann bleibt dies nicht ohne Konsequenzen. Daher soll dargestellt werden, wie mangelnde phonologische Bewusstheit zu Schriftspracherwerbsstörungen führen kann (vgl. 5.4.).
Für andere Teilkompetenzen existieren sicherlich auch wichtige Verbindungen zum Schriftspracherwerb. Allerdings ist der Stellenwert der Vorhersagbarkeit der Lese- und Rechtschreibleistungen eher gering und soll daher nicht eingehend dargestellt werden.
Im Anschluss daran müssten normalerweise Fragen beantwortet werden, die sich auf die Förderung und die Lernangebote in den ersten Schuljahren beziehen. Diese Fragestellungen erachte ich für maßgeblich, da sie vielleicht einige Kinder davor bewahren könnten, zu Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf des Lernens zu werden.
2. Theoretische Grundlagen
2.1. Die Beziehung zwischen der gesprochenen und der geschriebenen deutschen Sprache
Die Schrift hat sich vor vielen Jahrhunderten auf der Grundlage der Sprache entwickelt.
Etwa 3000 vor Christus sind Begriffsschriften entstanden. In dieser Phase der Schriftentwicklung erfolgte die Darstellung von Gegenständen über die visuelle Repräsentation. Als eine der ersten Formen von Schrift hatten die Begriffsschriften „die Funktion einer Gedächtnisstütze, eines Abbildes von Wirklichkeit und waren auf die Wiedergabe von Inhalten gerichtet.“ (OSBURG 1997, S.11) Die symbolisierten Gedankeninhalte hatten noch keinen Bezug zu ihrer lautlichen Struktur. Sie stellten somit auch keine Wörter, sondern die Gegenstände dar (vgl. GÜNTHER 1995, S.18).
Diese Schrift wurde immer weiter entwickelt. Dabei drang man zu weiteren Einheiten und Besonderheiten der gesprochenen Sprache vor, so zum Beispiel zu den Silben und schließlich zu noch kleineren Einheiten. Etwa 1500 – 1000 vor Christus erfand ein Semitenvolk ein Alphabet, welches ausschließlich aus Konsonanten aufgebaut war. Die Griechen übernahmen dieses Alphabet und ergänzten es durch Vokale. Die Alphabetschrift, die sich damit entwickelt hatte, gab lautliche Ereignisse wieder. Sie ist die bevorzugte Schrift europäischer Länder. Im Laufe vieler Jahrhunderte passte sich die Schriftsprache immer weiter der Lautsprache an.
Nicht nur historisch betrachtet gab es die Schrift vor der Sprache. Auch in der kindlichen Entwicklung lernen Kinder das Lesen und Schreiben, wenn sie bereits in der Lage sind zu sprechen.
Die besondere Beziehung zwischen der Laut- und der Schriftsprache besteht darin, dass in der sprachlichen Situation Inhalte nicht nur über Sprache vermittelt werden. Unbewusst kommunizieren wir gestisch, mimisch und variieren den Tonfall, um die Verständlichkeit des Inhaltes zu stützen (parasprachliche Kommunikationsmittel). In der Schriftsprache stehen uns solche Mittel nicht zur Verfügung und deshalb müssen Formulierungen bewusster gewählt werden, damit Inhalte verständlich bleiben. Weiterhin werden wir auf Grund dieser zusätzlichen Elemente von einem Gesprächspartner auch dann noch verstanden, wenn wir grammatisch unvollständig oder in Ellipsen sprechen. In der Schriftsprache ist dies nicht zulässig. Sätze oder Texte weisen sich gerade dadurch aus, dass „Wortverbindungen [...] durch bewußte Operationen zu entfalteten grammatischen Strukturen erweitert werden, und es muß eine Auswahl von geeigneten Wörtern und Ausdrücken erfolgen.“ (CRÄMER / SCHUMANN 1992, S.292)
Der Sprecher muss sich weiterhin im Gegensatz zum Schreiber der Lautstruktur nicht bewusst sein. So ist es beim Sprechen nicht notwendig zu wissen, wie das Wort geschrieben wird. Beim Schreiben der lautlichen Form des Wortes dagegen sehr wohl, da man „eine Lautfolge sukzessiv nach der gesprochenen Sprache auch in der geschriebenen Sprache in der gleichen Reihenfolge“ (SASSENROTH 31998, S.20) abbildet.
Eine weitere Besonderheit in der Beziehung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache ist die Tatsache, dass die deutsche Sprache eine Alphabetschrift ist. Kennzeichen jeder Alphabetschrift ist es, dass sie nur von Personen entschlüsselt werden kann, die die durch die Schrift repräsentierte Sprache sprechen. Der Grund dafür sind die Buchstaben bzw. Buchstabenverbindungen, die den Inhalt nicht direkt wiedergeben. Buchstaben (-verbindungen) stehen vielmehr für Lauteinheiten unserer Sprache. Daher gelingt es uns trotz der höheren Anzahl der Laute im Vergleich zu den Schriftzeichen jede Folge von Lauten aufzuschreiben. Es muss nur mit der lautlichen Struktur unserer Sprache übereinstimmen. Anders bei den Begriffsschriften: Sie stellen Bilder, Symbole oder Zeichen für einen Begriff zur Verfügung, die die Wortbedeutung kennzeichnen (vgl. Abb.1). Deshalb können Begriffsschriften auch von jemand entziffert werden, der nicht weiß, wie der dargestellte Begriff ausgesprochen wird (vgl. CRÄMER / SCHUMANN 1992, S.294).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Gegenüberstellung der deutschen Schrift als Alphabetschrift mit dem Chinesischen als einer Begriffsschrift, die noch einmal die Eigenheiten beider Schriften darstellt (aus: CRÄMER / SCHUMANN 1992, S.294).
Daraus abgeleitet ähnelt sich die graphische Struktur von Wörtern der deutschen Sprache dann, wenn der Klang von Wörtern ähnlich ist, nicht aber, wenn die zu verschriftenden Wörter äußerlich gleiche Merkmale aufweisen. BRÜGELMANN gibt dazu folgendes Beispiel:
„‚Stange‘ und ‚Rohr‘ sind äußerlich ähnliche Gegenstände, aber die Wörter haben lautlich und in der graphischen Form wenig gemeinsam. Andererseits haben ‚Stange‘ und ‚Wange‘ wenig miteinander zu tun [...], aber sie klingen ähnlich. Deshalb entsprechen sie auch den Buchstabenfolgen.“ (BRÜGELMANN 1983, S.13)[1]
Eine weitere wesentliche Eigenart in der Beziehung zwischen der Laut- und der Schriftsprache ist der höhere Abstraktionsgrad der geschriebenen Sprache:
Es erfolgt eine Abstraktion von den sinnlichen Eigenschaften der Sprache, wie es BRÜGELMANN in seinem oben aufgeführten Beispiel beschrieben hat.
In der schriftlichen Sprache fehlt der Gesprächspartner. Im Gegensatz zur mündlichen Kommunikation kann das Geschriebene in der aktuellen Situation nicht bewertet werden. Dem Schreiber ist es zunächst nicht möglich zu kontrollieren, inwieweit das Geschriebene verstanden wurde.
So schreibt auch WYGOTSKI:
„Die Situation der schriftlichen Sprache fordert von dem Kind eine doppelte Abstraktion, die von der lautlichen Seite der Sprache und die vom Gesprächspartner.“ (WYGOTSKI 1977, S.225)
WYGOTSKI schlussfolgert daraus, dass die Schriftsprache eine „Symbolisierung zweiter Ordnung“ (ebenda, S.225) ist, da sie die lautlichen Symbole noch einmal symbolisiert.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Schriftsprache im Gegensatz zur Lautsprache einen wesentlichen höheren Grad an Abstraktion vorweisen kann. Sie erfordert außerdem einen höheren Bewusstheitsgrad und ist willkürlicher (vgl. CRÄMER / SCHUMANN 1992; S.293).
2.2. Die Beziehung zwischen der Laut- und der Schriftstruktur
Die besonderen Beziehungen zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache lassen vermuten, dass auch die Strukturen der Schrift- und der Lautsprache eine besondere Beziehung zueinander aufweisen.
Die Grundlage der Lautsprache sind die Phone. Sie sind individuell produzierte Sprachlaute. Phone treten in den unterschiedlichsten Varianten, zum Beispiel in den verschiedenen Dialekten der deutschen Sprache, auf. Sie sind sinnlich konkret wahrnehmbare Einheiten. Auf der Grundlage bestimmter Gemeinsamkeiten der Phone werden sie zu einer bestimmten Klasse der Phoneme[2] zusammengefasst. Das Phonem ist „eine Abstraktion, die all das umfaßt, was eine Klasse von Phonen, die bedeutungsunterscheidend (distinktiv) wirken, gemeinsam haben, also z.B. alle /k/ gegenüber dem /m/.“ (LINKE / NUSSBAUMER / PORTMANN 31996, S.426). Die Phoneme fassen also zum Beispiel alle unterschiedlichen [k] zu der Klasse des Phonems /k/ zusammen. Die Phoneme sind eine Abstraktion der Phone, sie sind ein Konstrukt und somit sinnlich nicht wahrnehmbar.
Definiert werden Phoneme als die „kleinste bedeutungsunterscheidende sprachliche Einheit, z.B. /r/ : /f/ in rein : fein, /h/ : /m/ in Haus : Maus“ (LEWANDOWSKI 51990a, S.797). Die distinktiven Merkmale der Phoneme müssen in der Schrift abgebildet werden. Deshalb gibt die deutsche Schrift nur diejenigen Lautmerkmale wieder, die auch distinktive Funktion haben. Andere lautliche Unterschiede können dagegen vernachlässigt werden. In der deutschen Sprache existieren beispielsweise die Phone [r] (Zungen-r) und [R] (Rachen-r). Mit diesen beiden Phonen kann allerdings keine Bedeutung unterschieden werden. Ob man das Wort „Rose“ nun [ro:se] oder [Ro:se] spricht, hat keine distinktive Funktion. Es sind somit Varianten des Phonems /r/, die aber in der Schrift nicht berücksichtigt werden.
Analog zu den Phonemen der Lautsprache existieren in der Schriftsprache die Grapheme[3]. Mit ihrer Hilfe werden die Phoneme in der Schriftsprache umgesetzt. Auch Grapheme sind abstrakte Einheiten, die nicht konkret dargestellt werden können. Grapheme sind Klassen von Buchstaben[4]. Buchstaben können in unterschiedlichen Schrifttypen und Schriftgrößen, in Druck- oder in Schreibschrift auftauchen. Alle Varianten des Buchstaben a, zum Beispiel a, a, a oder a bilden ein gemeinsames Graphem. Bezogen auf die Schriftsprache geben Grapheme als kleinste Einheit Bedeutungsunterschiede wieder. Die Bedeutungsunterscheidung zwischen „Hund“ und „Mund“ entsteht zum Beispiel nur durch die Grapheme <h> und <m>.
Die graphische Form der Grapheme hat in den meisten Fällen keinen Bezug zu den Phonemen, die sie darstellen. Auch werden ähnliche Phoneme nur selten durch graphisch ähnliche Zeichen repräsentiert:
„Die akustische Ähnlichkeit von /g/ und /k/ schlägt sich nicht in einer optischen Ähnlichkeit der Schriftzeichen nieder. Andererseits gleicht beispielsweise das <F> dem <E> in seiner graphischen Struktur. Dies entspricht jedoch keiner funktionellen Ähnlichkeit in ihrer Beziehung zur Lautstruktur. Sie ist zufällig und hat nichts mit der Logik des Schriftsystems zu tun.“ (CRÄMER / SCHUMANN 1992, S.295)
Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass die Grapheme nicht nach bestimmten Regeln den Phonemen zugeordnet wurden, sondern dass die Zuordnung willkürlich erfolgte.
Jeder Alphabetschrift stehen nur wenige graphische Zeichen zur Verfügung, mit denen trotz ihrer Begrenztheit eine unbegrenzbare Anzahl an Phonemsequenzen verschriftet werden kann, da die Zuordnung von lautlichen Einheiten zu Buchstaben (-verbindungen) erfolgt. Anders gesagt: die Lauteinheiten „stellen die lautsprachlichen Bezugseinheiten für die Schriftebene dar.“ (ANDRESEN 1985, S.21)
In der deutschen Sprache gibt es fünf Prinzipien, nach denen die „Laut- und Schriftebene einander“ (ebenda, S.21ff) zuordnet werden können:
1) Phonemprinzip: Die Phoneme werden in erster Linie durch Grapheme repräsentiert, weswegen unsere Schrift an erster Stelle eine phonematische Schrift ist.
2) Morphemprinzip: Das Morphem wird als „kleinste bedeutungstragende Einheit“ (LINKE / NUSSBAUMER / PORTMANN 31996, S.60) definiert. Das Prinzip beruht darauf, dass wir nicht Einzelgrapheme schreiben, sondern Morpheme. Ein Morphem wird immer gleich geschrieben, „auch wenn sich die lautliche Gestalt durch Einwirken der Umgebung ändert“ (ANDRESEN 1985, S.23). Dadurch kann die Bedeutung vermittelt werden und die Wortverwandtschaften werden deutlich. Zum Beispiel wird „Band“ am Ende mit <d> geschrieben, obwohl hier ein [t] zu hören ist. Dies beruht auf der Ableitung vom Plural „Bänder“, bei dem das [d] deutlich heraus gehört werden kann.
3) Das grammatische Prinzip: Zu diesem Prinzip zählen die Groß- und Kleinschreibungsregeln. Je nach der Zuordnung eines Wortes zu einer bestimmten Wortart wird es entweder groß oder klein geschrieben. Ein weiteres grammatisches Prinzip ist die Regel, dass Wörter am Satzanfang immer groß geschrieben werden.
4) Semantisches Prinzip: Wörter, die sich in ihrer Lautstruktur ähnlich sind, aber grundsätzlich unterschiedliche Bedeutung haben, werden anders verschriftet. Beispiele hierzu sind die Wörter <Lid> / <Lied>, <reisen> / <reißen>, <Lerche> / <Lärche>.
5) Historisches Prinzip: Auf Grund dieses Prinzips werden einmal entstandene Schreibweisen aufrechterhalten, „auch wenn sich die Aussprache geändert hat.“ (ebenda, S.23; vgl. CRÄMER / SCHUMANN 1992, S.300) Somit wirkt Sprache als Stabilisationsfaktor. Die Schreibung von /p/ und /t/ wird auch heute noch verwendet, obwohl sich die Aussprache geändert hat.
6) Graphisch-formales Prinzip: Um einer Verwechslung von Wörtern mit sich ähnelnden Graphemen beim Lesen entgegen zu wirken, kam es zum Einschub von einem Dehnungs-h und -ie bei Wortstämmen mit nicht mehr als vier Graphemen ( z.B. Sohn, Bier, u.s.w.).
Das wichtigste Prinzip ist das Phonemprinzip, „da die deutsche Orthographie weitgehend phonemisch, keinesfalls aber phonetisch orientiert ist“ (SASSENROTH 31998, S.28). Die Beziehungen zwischen der Laut- und der Schriftstruktur sind vielschichtig. Die Grapheme der Schriftsprache beziehen sich nicht auf die Laute der konkret gesprochenen Sprache, sondern auf die Phoneme der deutschen Hochsprache. Von besonderer Bedeutung ist die gegenüber den zu verschriftenden Phonemen geringere Graphemanzahl. Zwangsläufig besteht nicht immer eine 1:1 Relation zwischen den Phonemen und den Graphemen.
Die Beziehungen zwischen den Graphemen und den Phonemen sind in den Graphem-Phonem-Korrespondenzen festgehalten. BERGK stellt fest, „daß nur in 6 Fällen die Korrespondenz zwischen Graphem und Phonem einlinig ist […], also einer 1:1 Beziehung entspricht.“ (BERGK 1980, S.144) Es sind die Grapheme <f, k, l, m, p und ß>. Darüber hinaus gibt es vielfältige Entsprechungen zwischen den Graphemen und Phonemen (vgl. Abb.2; vgl. Abb.19, S.112; vgl. Abb.20, S.113):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Zuordnung von Graphemen und Phonemen (aus: BERGK 1980, S.144)
1) Es gibt eingliedrige Phoneme, die durch ein mehrgliedriges Graphem repräsentiert werden. Hierzu zählt zum Beispiel das Phonem / / in < Sch ule>, < Ch ef> oder < St ab>.
2) Ein Graphem wird einer Phonemverbindung zugeordnet. Das Graphem <x> steht für das Phonem /ks/, zum Beispiel in dem Wort <He x e> oder <Ta x i>.
3) Es gibt auch mehrdeutige Grapheme, d.h. ein Graphem steht für verschiedene Phoneme, wie es für das Graphem <d> zutrifft. In dem Wort „Wald“ steht das <d> für das Phonem /t/, in „Wälder“ aber für das Phonem /d/.
4) Schließlich kann ein Phonem auch durch unterschiedliche Grapheme verschriftet werden, das Phonem ist dann also mehrdeutig. Das Phonem /a:/ kann zum Beispiel geschrieben werden als:
- <a> in <Gr a s>,
- <ah> in <M ah l>
- <aa> in <S aa l>.
BERGK gibt an, dass die „Mehrzahl der eingliedrigen Grapheme mehrdeutig“ und „die Mehrzahl der mehrgliedrigen Grapheme eindeutig ist.“ (ebenda, S.145)
3. Der Schriftspracherwerb aus heutiger Sicht
3.1. Legasthenie – eine ältere Sicht auf den Schriftspracherwerb
Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gingen Mediziner im Falle von Störungen der Lese- und Schreibleistungen von krankhaften Gehirnveränderungen aus, die genetisch bedingt waren. Die pathologischen Veränderungen bezogen sich nach MORGAN und HINSHELWOOD auf das Lese- und das Sprachzentrum. Sie führten 1896 den Begriff „kongenitale Wortblindheit“ (zit. nach ROTH 1999, S.19) ein.
RANSCHENBURG prägte 1916 den Terminus „Legasthenie“. Dieser Begriff stammt aus dem Griechischen, wobei „legin“ lesen und „asthenia“ Schwäche bedeutet. Die „Legasthenie“ kann also mit Leseschwäche übersetzt werden. Kinder, die auch nach den ersten Schulbesuchsjahren noch nicht altersentsprechend lesen konnten, deren Sinnesorgane aber intakt waren, gehörten nach RANSCHENBURG zur Gruppe der Legastheniker. Legasthenie bedeutet für ihn aber immer auch, dass diese Kinder in ihrer geistigen Entwicklung retardiert sind. Somit wurden diese Kinder an Hilfsschulen unterrichtet (vgl. ebenda, S.19).
Für die klassischen Definitionen der Legasthenie werden vor allem die Kriterien:
a) Intelligenz
b) Schulische Leistungen und teilweise auch
c) Intakte Sinnesorgane (Auge und Ohr) herangezogen.
Im Allgemeinen wird Legasthenie „verstanden als eine spezielle Schwäche im Erlernen des Lesens und Schreibens bei durchschnittlicher Intelligenz.“ (DUPUIS / KERKHOFF 1992, S.388).
Diese Definition geht von einer Diskrepanz zwischen der Intelligenz und den Lese- und Schreibleistungen aus. Während diese Kinder einen normalen Intelligenzquotienten vorweisen können, liegen ihre Leistungen im Lesen und Schreiben unter den altersentsprechenden Leistungen.
Viele Autoren beziehen die Schulleistungen in anderen Fächern mit ein und erweitern die oben aufgeführte Definition. LINDNER spricht 1951 dann von Legasthenikern, „wenn ein Kind ungefähr normaler Intelligenz unter normalen Schulverhältnissen und trotz aller Bemühungen der Erwachsenen das Lesen (oder Schreiben) nicht oder nur mit größter Anstrengung erlernen kann, während in den übrigen Fächern keine auffallenden Probleme vorhanden sind.“ (zit. nach ROTH 1999, S.20). Sonderschüler wurden aus derartigen Definitionen dementsprechend herausgenommen.
Nach außen tritt Legasthenie als „ein isoliertes Versagen […] im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens“ (VALTIN 31974, S.18) in der ersten Klasse auf. Nach dem Konzept der Teilleistungen geht man davon aus, dass das Lesen- und Schreibenlernen das Resultat mehrerer Teilfunktionen ist. Diese Funktionen können einzeln geübt werden. Am Prozess des Erlernens von Lesen und Schreiben sind „die Wahrnehmungsfunktionen als optische und akustische Differenzierungsleistungen; Gedächtnisfunktionen zur Speicherung von Buchstaben-Laut-Beziehungen, Wortbildern und akustisch und optisch dargebotene Sequenzen; feinmotorische Funktionen wie Graphomotorik und Auge-Hand-Koordination“ (SCHMID-BARKOW 1999, S.53) beteiligt.
Die Ursachen der Legasthenie wurden von den Vertretern des „klassischen Legastheniekonzepts“ (VALTIN 1996, S.370f) in diesen speziellen Teilleistungsstörungen bzw. in kognitiven Funktionsstörungen, die genetisch bedingt sind, gesehen.
Weit verbreitet war die Annahme von SCHENK-DANZINGER, dass es sich bei der Legasthenie um eine ursächliche „Zuordnung von Wahrnehmungsschwäche mit der besonderen Ausprägung als Raumorientierungsunsicherheit (Gliederungsschwäche, Differenzierungsschwäche Raumlagelabilität) und der Annahme eines Legastheniesymptoms bei den als Reversionen [...] bezeichneten Verlesungen“ (GRISSEMANN 1996, S.11) handelt. Nach SCHENK-DANZIGER, aber auch nach anderen Vertretern, zeigen sich Raumlageunsicherheiten nach außen durch Verwechslungen von gestaltähnlichen, aber bezogen auf die Raumlage unterschiedlichen Buchstaben. Die Verwechslungen können als Reversionen[5] oder Inversionen[6] auftreten (vgl. ROTH 1999, S. 23).
Einige Autoren haben weiterhin eine Korrelation zwischen schwachen Lese- und Rechtschreibleistungen, Unsicherheiten in der Raumlage und Linkshändigkeit beobachtet (vgl. ebenda, S.24).
3.2. Kritik am klassischen Konzept der Legasthenie
Der Legasthenie wurde von MORGAN und HINSHELWOOD eine Erblichkeit unterstellt. Dagegen sprechen Hinweise, dass viele Kinder mit schwachen Leistungen im Lesen und Schreiben aus einem „soziokulturell anregungsarmen Milieu“ (VALTIN 1996, S.371) kommen. Lehrerwechsel in den ersten Klassen sind ein weiteres Kennzeichen der Lerngeschichte von Legasthenikern. Aus VALTINs Untersuchung Ende der 60er Jahre[7] geht hervor, dass „bei 13 der lese- rechtschreibschwachen und 7 der gutlesenden Kinder […] drei- bis viermal ein Lehrerwechsel stattgefunden hat.“ (VALTIN 31974, S.189) Dies ist zwar keine bedeutsame Differenz, doch können Kinder in einzelnen Fällen durch die mit dem Lehrerwechsel verbundenen verschiedenen Unterrichtsmethoden verunsichert sein. Zusätzlich treten häufig mit dem Lehrerwechsel Schwierigkeiten in der Anpassung auf. Beide Faktoren beinhalten die Möglichkeit einer Störung im Lesen- und Rechtschreibenlernen.
Sehr kennzeichnend sind dagegen die unterschiedlichen Wohnverhältnisse der Kinder: Etwa 15 Familien mit einem Legastheniker stehen pro Familienmitglied ein oder aber auch mehrere Räume zum Wohnen zur Verfügung. Bei der Kotrollgruppe fand VALTIN den doppelten Wert (vgl. ebenda, S.197). Auf etwa neun legasthenische Kinder kommen zwei Kinder aus der Kontrollgruppe, bei denen mindestens zwei oder aber mehr als zwei Personen in einem Zimmer leben müssen. Einflüsse, wie die der sozialen Herkunft sind dementsprechend nicht vollständig auszuschließen.
Darüber hinaus konnte das Konzept spezieller Teilleistungsstörungen empirisch nicht eindeutig bewiesen werden. Besonders die Reversionen, die als Hinweise für eine Wahrnehmungsstörung im Sinne von Raum-Lage-Unsicherheiten galten, sind nach vielfältigen Untersuchungen seit den 60er Jahren besonders fragwürdig. Sie konnten nicht als legasthenietypische Fehler nachgewiesen werden. Auch VALTIN fand in ihrer Untersuchung keinen Beweis für Raum-Lage-Unsicherheiten. Ganz im Gegensatz „machten Kinder mit guten Lese-Rechtschreib-Leistungen prozentual sogar mehr Reversionen als die Legastheniker, bei denen gravierende Lesefehler, wie Auslassen, Hinzufügen und Ersetzen von Buchstaben, überwogen.“ (VALTIN 1996, S.371). Die Reversionen betrugen bei den Legasthenikern ca. 30%, bei den Kindern der Vergleichsgruppe immerhin 40%. Während bei den legasthenischen Kindern das Ersetzen von Wörtern häufig vorkommt, konnte VALTIN dies bei keinem Kind der Kontrollgruppe beobachten. Oftmals lösten Legastheniker sogar ganze Aufgaben nicht. VALTIN erklärt den Unterschied zwischen Legasthenikern und der Kontrollgruppe folgendermaßen:
„Demgegenüber bedeuten Buchstabenverstellungen als Nichtrespektieren der Lage und Stellung eines Buchstabens eine leichtere Fehlerart, und insofern scheint es plausibel, da sie bei den Kontrollkindern prozentual häufiger auftreten.“ (ebenda, S.153)
VALTIN konnte in der gleichen Untersuchung auch den Zusammenhang zur Linkshändigkeit nicht bestätigen (vgl. ebenda, S.162ff).
Weiterhin besitzen die Leistungen von Vorschulkindern in Tests zur Überprüfung der visuellen Differenzierung keine Aussagekraft für spätere Leistungen im Lesen. Zwar variieren die Leseleistungen und die Fortschritte im Lesen von Erstklässlern erheblich. Dennoch lassen sich „unterschiedliche Lernfortschritte im Lesen [...] z.B. nur in Ausnahmefällen auf Schwächen in der visuellen Wahrnehmung zurückführen“ (BRÜGELMANN 1984, S.70). VALTIN konnte sogar zeigen, dass Legastheniker in der Schnelligkeit der wahrzunehmenden Inhalte deutlich besser sind als die Kinder der Kontrollgruppe (vgl. VALTIN 31974, S.151).
Ähnliche Kritiken richten sich auch gegen auditive Teilleistungsstörungen bei Legasthenikern. BRÜGELMANN gibt an, dass Tests zur auditiven Teilleistung höchstens 10 % der Leistungen im Lesen und Schreiben erklären können (vgl. BRÜGELMANN 1984, S.72). Er kritisiert außerdem, dass verschiedene Tests nicht mehr nur Voraussetzungen für gute Leseleistungen abfragten, sondern vielmehr bereits bestimmte Elemente. Außerdem hat „Jung (1981) [...] gezeigt, daß die als Lautdifferenzierungsfehler verstandenen d/t-, b/p- und g/k- Vertauschungen meist Probleme der Auslautverhärtung bei Explosivlauten und wie die übrigen gehäuften lauttreuen Schreibungen eher einer intakten auditiven Wahrnehmung entsprechen“ (GRISSEMANN 1996 , S.12 ).
Kritisiert wird außerdem die Diskrepanzdefinition der Legasthenie, da als Folge dieser Definition Kinder mit unterdurchschnittlichem Intelligenzquotienten keine Förderung erhielten. Schüler, die im Lesen und Rechtschreiben durch erwartungswidrige Leistungen auffielen, wurden und werden als „Underachiever“ bezeichnet. Man muss allerdings bedenken, dass die Diskrepanz zwischen Intelligenz und Lese- Rechtschreibleistungen bei wiederholten Überprüfungen wieder anders ge-staltet sein kann. „Underachievment“ gibt also nicht etwa eine stetige Größe an. Deshalb sollte der Begriff „Underachievment“ auch nicht dazu führen, dass nur Schüler gefördert werden, deren Leistungen erwartungswidrig, also bei normaler Intelligenz, schwach sind. Sondern es müssen eben auch Schüler, bei denen man schwache Lese- und Rechtschreibleistungen auf Grund einer geringeren Intelligenz erwartet, gefördert werden. Folglich kann die Diskrepanzdefinition auch nicht gerechtfertigt sein (vgl. GRISSEMANN 1996).
An der Förderung selbst wurde Kritik geübt, da sie sich einseitig auf die Techniken des Lesens und die Rechtschreibregeln bezog. Zusätzlich wurden Übungen zur Förderung der Wahrnehmungsleistungen durchgeführt, wie beispielsweise:
a) „außersprachliche Wahrnehmungsübungen zur Behandlung akustischer und optischer Wahrnehmungsschwächen;
b) Konzentrationsübungen und Übungen zur Überwindung der <<Raumlagelabilität>>; [...]
c) besondere Trainings zur Unterscheidung visuell und akustisch verwechslungskritischer Buchstaben und Buchstabenfolgen“ (ebenda, S.13).
Vor allem die Übungen zur visuellen Wahrnehmung wurden an nicht – sprachlichen Materialien durchgeführt. Es konnte jedoch keine Trans-ferleistung auf Lese- und Rechtschreibaufgaben beobachtet werden.
Der große Mangel dieses Förderkonzeptes wird darin gesehen, dass die Übungsaufgaben nicht in das „Sprachhandeln“ (ebenda, S.13) eingebettet wurden. Weiterhin gab es häufiger organisatorische Probleme, so zum Beispiel, dass sich die Therapie oder die Förderung nur auf eine bis zwei Stunden in der Woche eingrenzte.
Das Konzept der Teilleistungsstörungen bei Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten hat insgesamt eine starke Relativierung erfahren. Sowohl die visuellen als auch die akustischen Schwächen in der Wahrnehmung sind durch eine Reihe von Untersuchungen entschärft worden. Dafür werden sprachliche Zusammenhänge mehr und mehr betont.
3.3. Die Umorientierung in der Lese-Rechtschreibforschung
Die genannten Kritiken führten Anfang der 80er Jahre zu einer Umorientierung in der Lese- und Rechtschreibforschung. Die verschiedenen Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben werden nicht mehr unter dem Begriff „Legasthenie“ gefasst, sondern unter dem Begriff „Schriftspracherwerbsstörungen“ oder „Lese-Rechtschreibschwäche“. Dies setzte natürlich voraus, dass man den „normalen“ Prozess des Schriftspracherwerbs erforscht, um Schwierigkeiten in diesen Prozess einordnen zu können. Vor allem lassen beide Begriffe deutlich erkennen, dass vielfältige Ursachen zu Schwierigkeiten führen können. Vor allem der Terminus „Schriftspracherwerbsstörungen“ spiegelt die in Kapitel 2.1. und 2.2. beschriebenen Zusammenhänge zwischen der Schriftsprache und der Lautsprache wider. Durch den verwendeten Begriff „Erwerb“ kommt außerdem der Aneignungsprozess, der nur durch die Aktivität des Schülers vollzogen werden kann, zum Ausdruck.
Die Erforschung des Schriftspracherwerbs hat seinen Ursprung in der Kognitionspsychologie. Allerdings beschränkte sich die Forschung erst einmal auf das Lesen und auf das Schreiben von Erwachsenen. Die Analyse der normalen Schriftsprachentwicklung ergab, dass verschiedene Teilprozesse beim Lesen und Schreiben zusammenspielen, die sich in ihrer Qualität unterscheiden: „Das Schreiben des Erwachsenen nutzt sowohl Graphem-Phonem-Korrespondenzen, orthographische und morphematische Strukturen und ist auch wortspezifisch, d.h. an lexikalische Eintragungen im Gedächtnis orientiert“ (SCHEERER-NEUMANN 1998b, S.54). Die darauf folgende Analyse des kindlichen Schriftspracherwerbs zeigte, dass Kinder diese Strategien nicht gleichmäßig und konstant erwerben, sondern dass sie zu bestimmten Entwicklungszeitpunkten einzelne Strategien bevorzugt anwenden. Kinder bilden zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Entwicklung Modelle darüber, wie Grapheme zu Wörtern verbunden werden. Sie entwickeln also „Theorien über das Verhältnis von Schrift und Sprache“ (BRÜGELMANN 21986, S.15) und nähern sich somit sukzessiv an die Schrift an. Der Schriftspracherwerb ist deshalb „als Lern- und Entwicklungsprozess zu verstehen, der sich nicht linear und kontinuierlich dem Lesen und Schreiben des Erwachsenen annähert“ (SCHEERER-NEUMANN 1998a, S.33). Dieser Prozess kann beobachtet werden, wenn Kinder bestimmte dominante Strategien des Lesens und Schreibens anwenden. Diese Erkenntnisse werden konkret in Stufenmodellen des Schriftspracherwerbs veranschaulicht (vgl. 3.4.).
Mit einem veränderten Bewusstsein für den Schriftspracherwerb als Problemlöse- und Entwicklungsprozess hat sich auch die Sicht auf Fehler beim Lese- und Schreibenlernen verändert. Fehler galten lange Zeit als „sichtbare Abweichung von der Norm und dokumentierten den mißlungenen Lernerfolg“ (BÖRNER 1995, S.47). Sie zählten als Normabweichung und mussten daher unbedingt vermieden werden. Diese Betrachtungsweise von Fehlern ist der Ansicht gewichen, dass Fehler nicht mehr unter allen Umständen zu vermeiden sind. Da sich Lernen in einem Prozess vollzieht, der „sich nicht gleichförmig und stetig, sondern in Sprüngen, mit Plateaus und Rückfällen“ (BRÜGELMANN 21986, S.18) vollzieht und Kinder aktiv ihre Erfahrungen mit der Schrift versuchen zu konstruieren, sind Fehler notwendige Einsichten, die ihnen helfen den Weg zur Normorthographie zu finden. Kinder bilden Hypothesen über die Schrift aus ihren individuellen Erfahrungen mit der Schrift. Die Aktivität der selbständigen Hypothesenbildung kommt in Fehlern zum Ausdruck. Fehler können einen Fortschritt in der Entwicklung von Lesen und Schreiben ankündigen (vgl. BRÜGELMANN 1983, S.173). Sie sind daher notwendig und eine Zwischenstufe auf dem Weg zur Aneignung der Schriftsprache. Fehler geben einerseits Aufschluss darüber, welche Kenntnisse sich ein Kind bereits über die Schrift angeeignet hat, andererseits verdeutlichen sie Unklarheiten über die Funktion und den Aufbau der Schrift. Weiterhin kann bei einem behutsamen Umgang mit Fehler bei Kindern die Notwendigkeit entstehen, die eigenen Verschriftungen an die Norm anzupassen.
[...]
[1] Mit diesem Beispiel beschreibt BRÜGELMANN eines der grundlegenden Prinzipien der deutschen Schrift. Er verweist aber auch darauf, dass die graphische Wortform noch von anderen Aspekten bestimmt wird. Diese treten in der deutschen Sprache allerdings nicht wesentlich in Erscheinung. Er verweist dabei auf COULMAS, E.: Über die Schrift. 1981. Kapitel I, III und VI. und auf GÜNTHER, H.: Geschriebene Sprache – Funktion und Gebrauch, Struktur und Geschichte. Forschungsberichte des Instituts für Phonetik und sprachliche Kommunikation der Universität München Nr. 14. 1981.
[2] Ich beziehe mich bei der Beschreibung der Phoneme auf eine weit verbreitete Definition, obwohl unterschiedliche Ansichten existieren. Die unterschiedlichen Positionen zum Phonembegriff haben keine Bedeutung für den weiteren Verlauf dieser Arbeit. Im Allgemeinen unterscheiden sich die Phonembegriffe im Abstraktionsgrad (vgl. OSBURG 1997, S.42).
[3] Wie bei den Phonemen gibt es unterschiedliche Begriffsauffassung von dem Terminus „Graphem“. Deshalb habe ich mich auch hier für eine allgemeingültige Definition entschlossen.
[4] Buchstaben sind die kleinsten Einheiten der Schriftsprache.
[5] Reversion: Verwechslung von Buchstaben, die sich horizontal unterscheiden, wie <b> und <d>
[6] Inversion: Verwechslung von Buchstaben, die sich vertikal unterscheiden, wie <d> und <p>
[7] VALTIN untersuchte Ende der 60er Jahre 100 Kinder nach bestimmten Kriterien, um zu überprüfen, ob die für die Legasthenie angenommenen Ursachen sich tatsächlich beweisen lassen. Die Kinder wurden in der 2. und in der 3. Klasse untersucht. Die Stichprobe umfasste 50 Kinder, die einen „Prozentrang von 5 und weniger in einem standardisierten Rechtschreibtest […], sowie eine mindestens durchschnittliche Intelligenz“ (VALTIN 31974, S.125) aufwiesen. Zur Kontrollgruppe zählten dementsprechend 50 Kinder, bei denen die untere Grenze des Prozentrangs maximal 50 aufgewiesen haben musste (vgl. VALTIN 31974, S.125ff).
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