Norbert Elias beschreibt in „Über den Prozeß der Zivilisation“ wie im Abendland verfeinerte Sitten und strikte Regulation der Körperfunktionen zu Distinktionsmerkmalen der gehobenen Gesellschaft wurden. Das Bestreben sich zu distinguieren entwickelte folgliche mit figurativer Mechanik, erst in den Oberschichten, dann in angeeigneter Form im Bürgertum und in immer weiteren Bevölkerungskreisen, eine Eigendynamik und führte ultimativ dazu, dass gesellschaftliche Interaktion zu dem wurde, was Mary Douglas später „den Verkehr zwischen körperlosen Geistern nennt.“ In diesem Essay wird jedoch der Annahme nachgegangen, dass es in 'zivilisierten Gesellschaften' und anderen menschlichen Gemeinschaften Einrichtungen gibt, in denen unterdrückte Triebe dieser Kontrolle entkommen: Diese 'geheimen Orte' sind der Gesellschaft zwar bekannt sind, bleiben aber diskursiv unbeachtet, um das Bild der Zivilisiertheit zu erhalten.
Einleitung
Verfeinerte Sitten und strikte Regulation der Körperfunktionen sind die Merkmale einer Gesellschaft im Prozess der Zivilisation. Eher unbeachtet bleiben inkorporierte geheime Räume, in denen unterdrückte, bzw. „nicht-gesellschaftsfähige“ Triebe und Bedürfnisse ausgelebt werden können.
Norbert Elias beschreibt in seinen zwei Bänden „Über den Prozeß der Zivilisation“ wie im Abendland – dem Gegenstand seiner Betrachtung - die Haltung des Körpers, Gebärden, Kleidung und Gesichtsausdruck modifiziert wurden, um der gehobenen Gesellschaft als Distinktionsmerkmale zum relativ gröberen Gebaren des einfachen Volkes zu dienen.[1] Erasmus von Rotterdam schrieb in diesem Sinne 1530 in seinem Werk „De civilitate morum puerilium“, den Körper zu züchten sei von so erheblicher Wichtigkeit, weil er Rückschlüsse auf die geistige Haltung eines Menschen zuließe. Einmal in Gang gesetzt, entwickelte dieses Bestreben sich zu distinguieren mit figurativer Mechanik, erst in den Oberschichten, dann in angeeigneter Form im Bürgertum und in immer weiteren Bevölkerungskreisen, eine Eigendynamik. Nach Norbert Elias führte dies dazu, dass Menschen in ihrer sozialen Bedingtheit mit Hilfe von Selbstzwängen ihre Triebe unterdrücken konnten und mussten, um nicht in gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit zu geraten. Dies führte ultimativ dazu, dass ihre Interaktion zu dem wurde, was Mary Douglas später „den Verkehr zwischen körperlosen Geistern nennt.“[2] Dass dieses Schwierigkeiten bereiteten musste, erkennt Elias mit einem kurzen Verweis auf Freud an. Er ging jedoch trotzdem davon aus, dass einmal erlernte Selbstzwänge auch in unbeobachteten Momenten weitergetragen werden.[3]
Meine Annahme ist, dass es in zivilisierten Gesellschaften und vielleicht auch in anderen menschlichen Gemeinschaften Einrichtungen gibt, in denen unterdrückte Triebe nicht mehr so vollkommen unter Kontrolle gehalten werden müssen. Ich habe dafür die Metapher des „geheimen Raumes“ benutzt, nicht weil diese Orte der Gesellschaft unbekannt sind, sondern weil sie diskursiv unbeachtet bleiben, um das Bild der eigenen Zivilisiertheit zu erhalten. Am Beispiel häuslicher und sexualisierter Gewalt möchte ich somit mit Elias eigenen Argumenten an dieser Auslassung an seiner umfassenden Theorie und an seinem Gesellschaftsbild leichte Kritik üben.
Die Funktion geheimer Räume im Zivilisationsprozess
Das Umfeld der Menschen im europäischen Mittelalter war, so Elias, vergleichsweise roh und körperliche Versehrung oder Vernichtung stellten eine ständige und unmittelbare Bedrohung dar. Daher befand man sich in fortwährender Kampfbereitschaft, befriedigte jedoch ebenso spontan die als positiv empfundenen körperlichen Gelüste. Die Eingrenzung der Triebe oder körperliche Anpassung waren noch gering. Im Laufe der Zeit konnten Gewalthandlungen jedoch verstärkt an Gewaltmonopole abgegeben werden, was befriedete Räume schuf. Dies zog allerdings auch eine Verpflichtung zur eigenen Friedfertigkeit und eine Ächtung der Gewaltanwendung durch einzelne Personen nach sich. Die befriedeten Räume ermöglichten ihnen, weniger existenzielle Tätigkeiten auszuüben. Im Laufe des Zivilisationsprozesses wurden durch verstärkte gesellschaftliche und ökonomische Interdependenzen immer mehr Menschen miteinander vernetzt und durch längere Abhängigkeitsketten aneinander gebunden. Man begann sich, erst durch sozialen Druck aus der Gruppe und später durch verinnerlichte Selbstzwänge, unter gezielterer Kontrolle des jeweiligen Affekthaushaltes entgegenzutreten.
Verhaltensratgeber der sich entwickelnden höfischen Gesellschaft der Renaissance, wie der von Erasmus, belegen eine erste auffällige Entwicklung in Richtung strengerer Verhaltenskodizes. Ebenso distinguiert grenzte sich später das, seit dem 18. Jh. an Bedeutung gewinnende, Bürgertum mit seinen „sittlicheren“ Verhaltensregeln vom Adel ab. Nach Elias Beobachtungen verlagerte sich in diesem Zeitraum die Sexualität zunehmend aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit in die Privatsphäre der entstehenden Kleinfamilien, als einzigen Ort der legitimen Reproduktion, hinein. Verstöße gegen solche wichtigen Verhaltensregeln wurden sozial geahndet. Die Entwicklung markiert ein Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle mit zunehmender Differenziertheit einer Gesellschaft.
Warum gerade die Sexualität, Grundlage der Reproduktion - und damit auch für das Fortbestehen der Menschheit - mit Peinlichkeit belegt wurde, lässt sich wahrscheinlich damit erklären, dass es sich dabei um einen Moment der Körperlichkeit handelt, der die Kontrolle und Affektbeherrschung durch den Geist in den Hintergrund drängt. Die Anthropologin Mary Douglas betrachtet den Körper als Abbild der Gesellschaft. Bei ihren Beobachtungen von Stammeskulturen hat sie den Umgang mit Kontrollverlusten in Gesellschaften variierender Differenziertheit untersucht. Sie kam zu dem Ergebnis, dass, je differenzierter eine Gesellschaft sich strukturiert, sie umso weniger totale Kontrollverluste zulässt.[4] Die Schwierigkeit, Sexualität zu steuern, könnte als Ausnahmezustand des bürgerlichen Körpers bezeichnet werden. Als solche wurde sie durch Selbstzwänge vor den Augen anderer verborgen und in die Kleinfamilie verlagert.
Elias behandelt in seiner Theorie „Über den Prozeß der Zivilisation“ die Thematik der Sexualität nur am Rande. An seiner Biografie und seinen Schriften gemessen, handelt es sich bei ihm selbst um einen hochgradig „zivilisierten“ und fein empfindenden Menschen, dessen großes Werk möglicherweise auch seiner eigenen akuten Erfahrungswelt entspricht. Vielleicht kann man daraus schließen, dass Sexualität sich auch für ihn in einem Bereich befindet, der die Scham- und Peinlichkeitsgrenze überschreitet. Dies könnte erklären, warum er dort – meiner Meinung nach – einen blinden Fleck hat.
Der Historiker Robert Muchembled, der dem Thema Sexualität keine Empfindlichkeiten entgegensetzt, sondern, von seiner Warte der „hedonistischen Gegenwart“ aus, ihre Geschichte in der Moderne ausgiebig und detailliert beschreibt und erklärt, weist auf einen wichtigen Umstand hin: Diese vornehme Verschiebung der Sexualität in die bürgerliche Ehe ließ sich nur durchführen, weil sie auf der anderen Seite durch Prostitution ergänzt wurde. Die käuflichen Frauen waren von „unersetzlicher soziale Bedeutung […] als Ventil für die sexuelle Repression des viktorianischen Zeitalters“,[5],[6] wurden aber trotzdem als schmutziges Geheimnis „vor den Augen respektabler Menschen geheim gehalten.“ Elias hatte erkannt, dass die Menschen sich im offiziellen Verkehr Selbstzwänge auferlegten. Bei der Prostitution, einem inoffiziellen oder auch „geheimen“ Raum vor allem im Bürgertum, der diskursiv verschwiegen und daher vielleicht von Teilen der Gesellschaft auch „nicht wahrgenommen“ wurde, konnten sie abgelegt werden. Noch heute, so belegt Muchembled, ist die Institution der Prostitution in unserer Gesellschaft wichtig, wenn auch in einer reduzierten Form.
Doch Elias hat auch einem anderen Aspekt der Sexualität in der Kleinfamilie keine Aufmerksamkeit geschenkt. Er macht in seiner Argumentation vor der Privatsphäre des bürgerlichen Hauses Halt und zeigt nicht mit dem Finger auf das, was hinter vorgezogenen Gardinen vor sich geht. Stattdessen beendet er die Diskussion über die Familie mit der Bestätigung, dass der Mensch seine Selbstzwänge vollständig verinnerlicht. Es ist aber für den Menschen schon notwendig, diese Selbstzwänge in der Partnerschaft abzulegen: Denn dort findet ja die Reproduktion statt. Ich möchte damit nicht versuchen zu widerlegen, dass die kulturelle Formung des Körpers und des Geistes auch im intimsten Moment fortgeführt wird. Trotzdem müssen diese angezüchteten Verhaltensweisen im dafür vorgesehenen Raum triebhaftem Verhalten zumindest zeitweilig Platz einräumen. Dass Elias dies nicht beschreibt unterstützt die Annahme, dass diese Räume im gesellschaftlichen Diskurs oft nicht auftauchen.
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[1] Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Band I & II. Amsterdam 1997 (1. Ausgabe 1939).
[2] Douglas, Mary: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt/M 1974, S. 110.
[3] Elias, Band I, S. 355
[4] Douglas: S. 111 ff.
[5] Muchembled, Robert. Orgasm and the West. Cambridge 2008, S. 179.
[6] Frauen hatten, so die Literatur, die Wahl zwischen den beiden Extremen: „Heilige“ oder „Hure.“
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- Stefanie Mallon (Autor), 2009, Die Funktion "geheimer Räume" im Zivilisationsprozess, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/158383
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