Über die Reformdebatte erfolgt der Einstieg in die Thematik der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland. Zunächst wird ein Einblick in die Entstehung der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland geboten und die zwei Grundprinzipien der Finanzierung vorgestellt: das Umlageverfahren (im Weiteren UV genannt) und das Kapitaldeckungsverfahren (im Weiteren KdV genannt). Darauf folgt die Beschreibung der Einflussfaktoren auf eine Krankenversicherung sowohl beitragsseitig als auch auf der Seite ihrer Leistungsausgaben, um dann anschließend die gesetzliche Krankenversicherung (im Weiteren GKV genannt) mithilfe des Generational Accounting Ansatzes qualitativ zu analysieren. Die resultierenden generationellen Belastungsunterschiede werden unter aktuellen und unter variierten Werten der Parameter interpretiert. Zusätzlich werden die Belastungsunterschiede noch unter verschiedenen Gerechtigkeitstheorien beleuchtet, bevor ein Ausblick auf mögliche zukünftige Entwicklungen die Arbeit abschließt. Dieser betrachtet den Wechsel des Finanzierungsprinzips und Zukunftsmodelle der gesetzlichen Krankenversicherung, die eine Antwort auf die voranschreitenden Entwicklungen bieten könnten.
Inhaltsverzeichnis
Anhangsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Vorwort
1 Reformdebatte im Gesundheitswesen
2 Krankenversicherung als soziales Sicherungssystem
2.1 Historische Entwicklung der Krankenversicherung und der sozialen Frage
2.2 Finanzierungsgrundprinzipien eines Sicherungssystems
2.2.1 Kennzeichen des Umlageverfahrens
2.2.2 Kennzeichen des Kapitaldeckungsverfahrens
2.3 Einflussfaktoren auf ein Sicherungssystem
2.3.1 Isolierte Betrachtung der Einflussfaktoren
2.3.2 Erweiterte Betrachtung der Einflussfaktoren
3 Analyse der Belastungsunterschiede zwischen Generationen
3.1 Nachhaltigkeit eines Systems
3.2 Generational Accounting als Analyseinstrument
3.2.1 Ziel
3.2.2 Methodik
3.2.3 Kritik
3.2.4 Anwendung auf die Krankenversicherung
3.3 Vergleich der Finanzierungsgrundprinzipien
3.3.1 Verwendete Datenquellen.
3.3.2 Aufbereitungsvorgang der Daten
3.3.3 Berechnungsvorgang der Generationenkonten
3.3.4 Analyse unter Verwendung von aktuellen Parametern
3.3.5 Sensitivitätsanalyse der verwendeten Parameter
3.3.6 Umlage und Kapitaldeckungsverfahren im demographischen Wandel
3.4 Ansatz einer Generationengerechtigkeit in der Krankenversicherung
3.5 Folgerungen
3.5.1 Initiale Entscheidung für ein Finanzierungsprinzip
3.5.2 Wechsel des Finanzierungsprinzips
4 Zukunft der Krankenversicherungen
4.1 Modell der integrierten Krankenversicherung
4.2 Integration des Kapitalstocks aus privaten Versicherungsverhältnissen
4.3 Annahmen über zukünftige Entwicklungen
5 Forschungsausblick
5.1 Zusammenfassung
5.2 Grenzen des GA und der Gerechtigkeitstheorie
5.3 Ausblick
Anhang
Literaturverzeichnis
Anhangsverzeichnis
A1: Gesamte Einnahmen und Ausgaben der GKV
A2: Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts von 1998 bis 2007
A3: Formelle Darstellung des Generational Accounting nach Auerbach, Gokhale, Kotlikoff (1994)
A4: Variablenübersicht des Generational Accounting nach Fetzer, Moog, Raffelhüschen (2001) und Hagist, et al. (2005)
A5: EZB-Leitzins, Hauptrefinanzierungssatz
A6: Aufbereitungsvorgang der Demographiedaten
A7: Beschreibung des Prognosemodells für die Demographiedaten
A8: Deutschland - Bruttoinlandsprodukt (BIP) –reale Wachstumsrate (%)
A9: Kommunitarismus
A10: Beschreibung der Grundtypen einer integrierten Krankenversicherung
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Nettozahler und Nettoempfänger in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht
Abb. 2: Einfluss der Überfaktoren auf ein Gesundheitssystem
Abb. 3: Bevölkerungsstruktur und demographischer Wandel nach Alter und Geschlecht
Abb. 4: Einfluss des Netzes aus Unterfaktoren
Abb. 5: Generationenbilanzen im Jahr 1999 der GKV in Deutschland
Abb. 6: Generationenbilanzen für das UV unter aktuellen Parametern
Abb. 7: Generationenbilanzen für das UV unter aktuellen Parametern mit
Abb. 8: Belastungspfad über die Lebensdauer
Abb. 9: Generationenbilanzen des UV unter der Sensitivitätsanalyse
Abb. 10: Ergebnis der Sensitivitätsanalyse der demographischen Entwicklung
Abb. 11: Generationenbilanzen des UV unter der Sensitivitätsanalyse der Wachstumsraten.
Abb. 12: Ergebnis der Sensitivitätsanalyse der Wachstumsraten
Abb. 13: Umstellungsvarianten vom Umlageverfahren auf das Kapitaldeckungsverfahren
Abb. 14: Transferbedarf von UV bzw. KdV abhängig von der Umstellungsvariante
Abb. 15: Verlauf des Transferbedarfs von UV und KdV im kontinuierlichen Umstellungsvorgang
Abb. 16: Schema der integrierten Krankenversicherung
Abb. 17: Übersicht der Grundtypen einer integrierten Krankenversicherung
Abb. 18: Wirkungsgefüge einer Reform mit Transparenzsteigerung
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Vorwort
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Identifizierung von generationellen Belastungsunterschieden im Gesundheitssystem, deren Abhängigkeit vom Finanzierungsprinzip sowie Lösungsvorschlägen für eine gerechte Finanzierungsausgestaltung.
Über die Reformdebatte erfolgt der Einstieg in die Thematik der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland. Zunächst wird ein Einblick in die Entstehung der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland geboten und die zwei Grundprinzipien der Finanzierung vorgestellt: das Umlageverfahren (im Weiteren UV genannt) und das Kapitaldeckungsverfahren (im Weiteren KdV genannt). Darauf folgt die Beschreibung der Einflussfaktoren auf eine Krankenversicherung sowohl beitragsseitig als auch auf der Seite ihrer Leistungsausgaben, um dann anschließend die gesetzliche Krankenversicherung (im Weiteren GKV genannt) mithilfe des Generational Accounting Ansatzes qualitativ zu analysieren. Die resultierenden generationellen Belastungsunterschiede werden unter aktuellen und unter variierten Werten der Parameter interpretiert. Zusätzlich werden die Belastungsunterschiede noch unter verschiedenen Gerechtigkeitstheorien beleuchtet, bevor ein Ausblick auf mögliche zukünftige Entwicklungen die Arbeit abschließt. Dieser betrachtet den Wechsel des Finanzierungsprinzips und Zukunftsmodelle der gesetzlichen Krankenversicherung, die eine Antwort auf die voranschreitenden Entwicklungen bieten könnten.
1 Reformdebatte im Gesundheitswesen
Die Debatte zur Reformierung des Gesundheitswesens kann schon als eine „never ending Story“ empfunden werden. Seit der Einführung der gesetzlichen Kranken- versicherung wurden kontinuierlich Systemreformen1 durchgeführt. Die Bemü- hungen zur Verbesserung reichen vom Kostendämpfungsgesetz im Jahre 1977 bis zur Umsetzung des Gesundheitsfonds zu Beginn des Jahres 2009. Die Frage ob jede Veränderung in der Vergangenheit auch einer Verbesserung darstellte, wür- de zu einem eigenen Diskussionsthema auswachsen. Durch den stetigen Reform- bedarf mag der Anschein erweckt werden, die initiale Entscheidung das UV als Finanzierungsprinzip zu wählen wäre nicht optimal und die laufenden Verände- rungen seien die Notmaßnahmen, um diese Fehlentscheidung zu retten. Die Re- formen können auch als Reaktion auf die veränderten Rahmenbedingungen ver- standen werden. Durch die starke Medienpopularität und den direkten Kontakt bzw. die Betroffenheit der (wahlberechtigten) Bevölkerung mit dem Gesund- heitssystem kann auch die Vermutung aufkommen, dass Reformaktivitäten im Spannungsfeld zwischen Wählergunst und Verbesserung des Gesundheitssystems stehen könnten. Der kritische Fokus hierbei konzentriert sich auf Belastungsver- schiebungen zwischen Generationen. Fühlt sich die Bevölkerung unter einer Sys- temausgestaltung im Hinblick auf ihr gesellschaftliches Verständnis von einem Gleichgewicht aus Geben und Nehmen zunehmend ungerecht behandelt, steigt der Bedarf nach einer Reformierung. Besonders im Gesundheitssystem, das sich mit dem höchsten „Gut Gesundheit“ befasst, auf das ein jedes Individuum ein Anrecht in Form eines Grundbedürfnisses hat, entbrennen hitzige Debatten über Gerechtigkeit, Reformvorschläge und Schuldzuweisung.
Das aktuell herrschende System der Umlagefinanzierung scheint trotz zahlloser Reformen aufgrund veränderter Rahmenbedingungen an seine Grenzen gestoßen zu sein. Damit stellen sich folgende Fragen:
- Wird eine Reform der GKV auf struktureller Basis notwendig?
- Ist ein Kapitaldeckungsverfahren geeignet zur Auflösung der als ungerecht empfundenen Belastungsunterschiede zum Wohle aller Beteiligten?
Die Beantwortung dieser provokanten Fragen erfordert einen genaueren Einblick in die Komplexität eines Krankenversicherungssystems und seinen (Finanzie- rungs-) Abhängigkeiten. Die Eine Reform, die alle Aspekte in ihrer Komplexität berücksichtigt, alle Schwachstellen beseitigt und auch potentiellen, systemimma- nenten2 Einflussfaktoren gewachsen ist, stellt eine sehr anspruchsvolle Heraus- forderung dar. Damit wird der ständige Anpassungsbedarf verständlich.
Die vorliegende Untersuchung erarbeitet Aspekte, die bei einem Reformvorhaben bzw. Verbesserungsziel der gesetzlichen Krankenversicherung (in Deutschland) zu beachten sind. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Akzeptanz durch die Bevölkerung, dazu kann das Gerechtigkeitsverständnis den wesentlichen Bei- trag liefern. Eine umfassende Aufarbeitung des Gerechtigkeitsaspekts würde den gesetzten Umfang dieser Arbeit sprengen. Dennoch erscheint es besonders sinn- voll, das Krankenversicherungssystem auch im Kontext der Generationengerech- tigkeit zu betrachten
2 Krankenversicherung als soziales Sicherungssystem
2.1 Historische Entwicklung der Krankenversicherung und der sozialen Frage
Im historischen Sinne wird unter der sozialen Frage eine politische Äußerung oder Forderung durch eine Gesellschaftsgruppe verstanden, weil die Mitglieder dieser Gesellschaftsgruppe sich benachteiligt fühlen.3 Als Auslöser der sozialen Frage in Europa gilt die Doppelrevolution im späten 18. und frühen 19. Jahrhun- dert durch die Arbeiterschaft. Sie setzt sich aus der industriellen Revolution, aus- gehend von England und der bürgerlichen politischen Revolution, ausgehend von Frankreich zusammen. Erstere bewirkte zusammen mit dem Pauperismus4 und der Errichtung von Fabriken die Ausbeutung der Arbeiterschaft, zweitere stärkte das Besitzbürgertum sowie die Säkularisierung und ermöglichte die Vertrags- bzw. Gewerbefreiheit. Dieses Zusammenspiel führte in vielen europäischen Län- dern zu einer starken Arbeiterschaft,5 so auch in Preußen. Um den staatlichen Einfluss im Inland und in Europa nicht zu verlieren, galt es für Bismarck die Wünsche der Arbeiterschaft zu befriedigen.
Zu diesem Zweck kündigte Bismarck 1881 in der berühmten Kaiserlichen Bot- schaft6 die Sozialreform an. Daraus entstanden im Juni 1883 die Grundzüge der GKV neben weiteren Sicherungsgesetzen zu Gunsten der Arbeiter. Die Finanzie- rung erfolgte seit der Gründung immer mittels arbeitsentgeltorientierten Beiträ- gen. Die Versicherungsanstalt fungierte als Kapitalsammelstelle und Verwal- tungsstelle der Ausgaben. Als die Hauptleistung der GKV noch im Krankengeld bestand, deren Höhe sich am Arbeitsentgelt orientierte, wurde die Beitragshöhe noch dem Äquivalenzprinzip gerecht: je höher der geleistete Beitrag desto höher die empfangene Leistung. Heute stehen Gesundheitsleistungen im Vordergrund, die je nach Bedarf und unabhängig vom individuellen Beitrag gewährt und aus einem gemeinsamen Topf bezahlt werden. Damit kommt als Quantifizierungskri- terium der Beiträge das Leistungsfähigkeitsprinzip zum Tragen: jene, die finan- ziell leistungsfähiger sind, tragen einen größeren Finanzierungsanteil an den ge- samten Gesundheitsausgaben, die weniger Leistungsfähigen tragen einen geringe- ren Anteil des Finanzierungsbedarfs. Im Umfeld einer kleinen sozialen Gemein- schaft, entsprechend der ländlichen Großfamilien vor der Doppelrevolution, ist dieses Fürsorgeprinzip selbstverständlich. Durch die Sozialreform weitet sich dieses familiäre Bündnis auf eine ganze Gesellschaft aus, mit anonymen Fürsor- gern und ihnen unbekannten Bedürftigen. Ihr Zusammenspiel wird durch die GKV geregelt, die in ihrer Grundform von 1948 auch noch heute so existiert. Die regulierende Hand ist der Staat. Er bestimmt Leistungsumfang, Beitragssatz, den Kreis der Pflichtversicherten und legt den gesetzlichen Versicherungsinstitutio- nen einen Kontrahierungszwang auf. Zur Bemessung der Beiträge ist der Staat auf einen Leistungsfähigkeitsindikator angewiesen. Das Arbeitsentgelt als allei- nigen Indikator zu Grunde zu legen, scheint in der heutigen Zeit unzureichend. So ist z.B. im Gesamteinkommen gewisser Versichertengruppen der Anteil anderer Einkommensarten, wie Kapitalerträge gestiegen.
Mit steigender Bedeutung der Kapitalmärkte, der Infragestellung einer gesell- schaftsweiten Fürsorgeverbundenheit und durch die Verwässerung der Beitrags- zahlungen an die Allgemeinheit, gewinnt im Sinne des Leistungsfähigkeitsprin- zips die außergesetzliche Sicherung an Attraktivität. Diese private Form der Krankenversicherung (im Weiteren PKV genannt), verspricht dem Beitragszahler eine höhere Äquivalenz seiner Beitragshöhe zu seinen in Anspruch genommenen Gesundheitsleistungen. Diese Leistungszuordnung findet zwar kohortenweise statt, bietet aber eine höhere Transparenz, da in der GKV alle Versicherten einer Kohorte entsprechen. Diese Transparenz unterdrückt die Wahrnehmung von Be- lastungsunterschieden als Auslöser der sozialen Frage.
2.2 Finanzierungsgrundprinzipien eines Sicherungssystems
In diesem Kapitel wird das Grundprinzip des Umlageverfahrens und des Kapital- deckungsverfahrens dargestellt, sowie Vorteile des jeweiligen Finanzierungsprin- zips aufgezeigt.7
2.2.1 Kennzeichen des Umlageverfahrens
Bei dieser Finanzierungsform finanzieren die Beitragszahlungen der laufenden Periode unmittelbar die Sicherungsleistungen der laufenden Periode.8 Zu jedem Zeitpunkt kann nur lediglich soviel ausgegeben werden, wie eingenommen wird. Der aktive bzw. gesündere Bevölkerungsanteil finanziert den passiven bzw. be- dürftigeren Anteil, oder gleichbedeutend ausgedrückt: die Nettozahler finanzieren die Nettoempfänger. Unter dem Begriff „Netto“ ist die individuelle Bilanz aus Zahlungen an das System und empfangenen Leistungen aus dem System zu ver- stehen. Jeder Beitragszahler erwirbt durch seine Abgaben einen rechtlichen An- spruch auf Transferleistungen. Dieses Recht kommt besonders dann zum Tragen, wenn der Versicherte statistisch betrachtet die kritischen Altersschwellen über- schreitet und von seiner Eigenschaft als Nettozahler zum Nettoempfänger wech- selt und vice versa. Die Lage der Altersschwellen im Lebensverlauf eines Versi- cherten bedingt sich im Wesentlichen durch sein individuelles Morbiditätsrisiko, seine individuelle Leistungsfähigkeit, sowie sein Geschlecht und drückt sich in der Höhe der Transferempfangsbedürftigkeit und entsprechend in der Zahlungs- fähigkeit aus. Wird von einer Frau bzw. einem Mann mit durchschnittlichem Morbiditätsrisiko und durchschnittlicher Leistungsfähigkeit ausgegangen, beschreibt der Verlauf der Zahlungsströme über den Lebensverlauf ein typisches Muster, das in Abb. 1, S.5 dargestellt ist.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Nettozahler und Nettoempfänger in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht9
Ein repräsentativer Mann verlässt im Alter von 23 Jahren den Nettoempfängerbe- reich und tritt ab 65 Jahren wieder in diesen Bereich ein. Innerhalb dieser Zeit- spanne übersteigen seine durchschnittlichen Beiträge seine durchschnittlichen Ausgaben, damit ist er ein Nettozahler. Eine repräsentative Frau durchlebt ihre Eigenschaft als Nettozahlerin in den Altersjahren 23 bis 29 und 39 bis 53, dabei ist ihr Beitragsüberschuss im Vergleich zu Männern nur minimal und wesentlich kürzer. Die Gründe liegen in der Kindergeburt und in dem geschlechtsspezifisch höheren Bedarf an Gesundheitsleistungen. Die Betreuung der Kinder und die familiären Verpflichtungen führen vornämlich Frauen durch. Damit stehen ihnen geringere Verdienstmöglichkeiten offen als den Männern. In einem UV muss also zusätzlich zur intergenerationellen Umlage von „Jung“ zu „Alt“ auch eine intra- generationelle Umlage von Mann zu Frau erfolgen. Wie aus Abb. 1, S.5 ersicht- lich wird, tragen einfach gesagt die jüngeren erwerbstätigen und gesünderen Ge- neration die Ausgaben der älteren, kränkeren und erwerbslosen Generation sowie die wirtschaftlich leistungsfähigeren Männer die mit sozialen Aufgaben stärker belasteten Frauen. Im Diagramm fällt der konstante waagerechte Verlauf der Ausgabenhöhen unabhängig von Alter und Geschlecht ab einem Lebensalter von 90 Jahren auf. In der Realität trifft dies mit Sicherheit nicht zu. Nach Fetzer, Moog, Raffelhüschen (2003) ist dies jedoch ein gesunder Kompromiss aus der Medikalisierungsthese und der Kompressionsthese.10 Erstere besagt eine Zunah- me der Morbidität mit dem Alter und somit steigende Ausgaben mit steigendem Alter.11 Die Zweite unterstellt ein Anwachsen der Ausgaben erst in den letzten zwei Jahren der erwarteten Lebensdauer. Würde die Lebenserwartung steigen, würden dieselben Ausgaben anfallen wie unter der kürzeren Lebenserwartung, nur eben später. In der Zeitspanne, in der der Erwartungswert steigt, blieben die Ausgaben somit konstant.12 Aufgrund dieser Argumentation ist die getroffene Annahme konstanter Ausgaben ab dem Alter von 90 Jahren zu rechtfertigen.
Unabhängig vom Finanzierungsprinzip einer Krankenversicherung besteht ihre Aufgabe immer im Ausgleich von unterschiedlichen Krankheitsrisiken. Die spe- zielle Ausgestaltungsform des UV in der GKV mit leistungsfähigkeitsabhängigen Beiträgen und identischen Zugangsmöglichkeiten zu Gesundheitsleistungen (So- lidarprinzip) bewirkt weitere Umverteilungseffekte, wie erstens von besser zu schlechter Verdienenden sowie zweitens von Kinderlosen zu Familien bzw. Al- leinerziehenden, da Kinder meist kostenlos mitversichert werden können.
Ob der erste Umverteilungseffekt nicht besser im Besteuerungssystem aufgeho- ben wäre, stellt einen eigenen Untersuchungsgegenstand dar. An dieser Stelle sei nur auf ein bekräftigendes Argument eingegangen. Ein höheres Einkommen wür- de den einkommensabhängigen Beitrag an die Krankenversicherung erhöhen, dies entspricht wirkungsgleich einer finanziellen Mehrbelastung durch eine Erhö- hung des individuellen Steuersatzes.
Der zweite Umverteilungseffekt hängt von der individuellen Entscheidung ab, ob bildlich gesprochen in Nachwuchs oder in Konsumgüter investiert wird. Diese gesellschaftsweite Entscheidung erreicht für das gesamte System eine existentiel- le Bedeutung. Fällt sie zu ungunsten eines Nachwuchses aus, erodiert die Finan- zierungsgrundlage des Systems. Je weniger Kinder geboren werden, desto gerin- ger ist die Verzinsung des „Humankapitals“, da potentiell weniger Kindeskinder geboren werden. Aus finanzieller Sicht sinkt der Vorsorgeanreiz in ein Kind zu investieren, da der Ertrag des Kindes auf die Gesellschaft verwässert wird. Statt- dessen wird mit einem ähnlichen rationalen Entscheidungsansatz der anderen Mitglieder der Gesellschaft gerechnet. Um sich rein aus Sicht der Konsummög- lichkeiten nicht schlechter zu stellen, müsste die sichere gegenwärtig höhere Konsummöglichkeit präferiert werden. Zugleich könnte diesen Versicherten un- terstellt werden, dass sie auf einen anders denkenden Bevölkerungsrest hoffen, der sich mit einer altruistisch veranlagten Entscheidungsgrundlage für Nach- wuchs entscheidet und damit indirekt ihre gegenwärtige Konsumlaune mitfinan- zieren soll.13
Dem Individuum einer Gesellschaft wird bezüglich seiner Nutzenerwartung ein risikoaverses14 Verhalten unterstellt. Allein weil er sich versichern will, ist diese Unterstellung gerechtfertigt. Das Individuum steht zusätzlich vor dem Maximie- rungsproblem, sein verfügbares Einkommen zu seinem maximalen Nutzen aufzu- teilen. Angenommen es besteht die Wahl einerseits seine individuelle Konsumgü- terwünsche, oder andererseits sein altruistisches Verlangen zu befriedigen. Sein Nutzen z.B. aus einem Eigenheim (als Alterssitz) ist ihm sicher, sein Nutzen aus einem Kind (zur Vorsorge zukünftiger Konsummöglichkeiten) wird durch das UV relativiert. Aus kurzfristiger Sicht ist sein Nutzen aus dem Eigenheim unmit- telbar zuzuordnen, sein Nutzen aus dem Kind wäre nur langfristig mittelbar zure- chenbar. Daraus entsteht die Gefahr, die gegenwärtigen sicheren Konsummög- lichkeiten gegenüber der nüchternen Renditeerwartung von einem Nachwuchs zu bevorzugen. Je mehr Paare diese Abwägung ähnlich vornehmen, desto unattrak- tiver wird ein Kind aus Sicht des eigenen Vorsorgenutzens in einem UV. Das Prinzip nährt die verminderte Anreizsetzung für einen Nachwuchs und schwächt sich seitens der Versorgung selbst. Zusätzlich steigt die durchschnittliche Le- benserwartung durch z.B. verbesserte medizinische Versorgung und verringerte physische Arbeitsbelastung. Diese so genannte Doppelalterung, durch weniger Kinder bzw. geringen jungen Bevölkerungsanteil bei gleichzeitig höherem Anteil alter Menschen, formt die Alterspyramide einer Gesellschaft zu ungunsten des UV um. Das Verhältnis von Nettozahlern zu Nettoempfängern wird stetig kriti- scher. Auf die demographische Bevölkerungsstruktur wird in Kapitel 2.3.1 noch- mals eingegangen.
Unter die umstrittene15 These von Mackenroth (1952) „Jeder Sozialaufwand (So- zialtransfer) kann nur aus dem Sozialprodukt der laufenden Periode bestritten werden.“16, fällt auch das Gesundheitssystem. Um seiner These gerecht zu wer- den, ist das Prinzip Umlageverfahren die einzige adäquate Finanzierungsform. Als Kritik zu Mackenroth’s These wird eine entsprechende Überlegung zu einem kapitalgedeckten System angestellt: In Zeiten, in denen die Nettoauszahlungen die Nettoeinzahlungen übersteigen, muss der angesparte Kapitalstock abgebaut werden. Im volkswirtschaftlichen Sinne steht angespartes Kapital in keiner frei konsumierbaren Form zur Verfügung, da es, um sich zu vermehren, investiert worden ist. Das investierte Kapital wird durch den Faktor Arbeit aufgebraucht bzw. Arbeit wird entlohnt und durch seine Abgabenbelastung an ein Sozialsiche- rungssystem weitergeleitet. Diese Überlegung beschreibt im Grunde das Umla- geprinzip nur über den Umweg des Sparvorgangs und der arbeitsvermehrenden Investitionen, mit dieser Argumentationsfolge entspräche das KdV ebenfalls der These von Mackenroth.
Betrachtet man das UV unter dem Gesichtspunkt der Mackenroth These und ei- ner keynesianischen17 Wirtschaftsauffassung, bietet es einige Vorteile, die im Folgenden kompakt aufgeführt werden:18
1. Die Gesundheitsausgaben werden durch Kapital gedeckt, die zum betrachte- ten Zeitpunkt mit demselben Geldwert bewertet werden wie der Kapitalwert. Die zur Finanzierung der Ausgaben benötigten Mittelzuflüsse sind damit si- cher vor Inflation.
2. Der nationale Kapitalkreislauf braucht nicht auf Kapitalanlagen im Ausland zurückzugreifen, um das nötige Verzinsungsvolumen zu erhalten. Eine Kapi- talanlage im Ausland importiert dessen wirtschaftliche Risikostruktur und lie- fert das nationale Sicherungssystem an diese Risiken aus.
3. Ein Aktiencrash oder die aktuelle Bankenkrise könnten kapitalgedeckte Sys- teme (wie in Großbritannien) in Auszahlungsschwierigkeit der Sicherungsein- lagen versetzen. Bricht ein kapitalgedecktes System letztendlich zusammen, wird die Sicherungsleistung eines solidarischen Systems durch niemanden mehr garantiert. Nur nach dem Prinzip des UV wäre dann noch eine Solidari- tät gegenüber den Bedürftigen möglich.
4. Eine höhere Sparquote zur Kapitalstockbildung ist nicht nötig. Eine höhere Sparquote führt zu Nachfrageausfällen, falls dieses Kapital nicht durch Inves- titionen zu einem höheren verfügbaren Einkommen führt. Diese Investitionen werden aber nur notwendig, falls ein Nachfrageüberhang nach Gütern besteht. Durch eine höhere Sparquote kann aber genau dieser Konsumanreiz ge- schwächt werden. Nach Keynes entscheidet die Investitionshöhe über die Sparquote und nicht umgekehrt. Also folgt aus einer höheren Sparquote nicht zwangsweise mehr verfügbares Kapital in einer Volkswirtschaft, wie es dem KdV als Vorteil zugeschrieben wird.
5. Einführungsgeschenke sind möglich. Beispiele dazu wären: Den Leistungs- umfangs der Krankenversicherung zu erweitern ohne, dass sich dieser Zu- satznutzen in einer Beitragssteigerung widerspiegelt. Oder Generationen den Vorteil eines Sicherungssystems zu gewähren, ohne von ihnen eine zeitglei- che Gegenleistung zu fordern.
6. Ein geforderter Übergang vom UV zum KdV würde zur Doppelbelastung der Folgegenerationen führen, da sie sowohl für die eigene Vorsorge als auch für Altlasten des UV aufkommen muss (siehe Kapitel 3.5.2).
Trotz dieser genannten Vorteile hat das UV mit seinen Schwächen in einer dop- pelalternden Gesellschaft zu kämpfen, die zu einer Verschuldung des Systems führen. Diese wird mit der Strategie des „defecit spending“ durch den Staat ge- deckt.19 Auf den ersten Blick erscheint das KdV als ideale Alternative um der Folgebelastungen einer schrumpfenden jungen Generation, die eine wachsende ältere Generation versorgen muss, aus dem Weg gehen zu können.
2.2.2 Kennzeichen des Kapitaldeckungsverfahrens
Bei der Finanzierung eines Sicherungssystems nach dem KdV fließen die regel- mäßigen Beitragszahlungen des Versicherten in einen Kapitalstock. Mit dem an- gesammelten Kapital müssen seine gesamten in Anspruch genommenen Versi- cherungsleistungen bezahlt werden. Ist der Versicherte bereit und in der Lage, einen hohen Beitrag zu leisten, sind seine verfügbaren Leistungen auch umfang- reicher. Dieser Zusammenhang aus Leistung und Gegenleistung folgt dem Äquivalenzprinzip20. Die Finanzierung der PKV funktioniert nach diesem Prin- zip. Die privaten Versicherungsinstitutionen kalkulieren eine, vom Versicherten abhängige, individuelle Versicherungsprämie. Entscheidend für die Prämienhöhe sind z.B. das Alter und relevante Vorerkrankungen bei Eintritt in die Versiche- rung. Auf Basis dieser Eigenschaften werden die erwarteten Gesundheitsleistun- gen abgeschätzt und dementsprechend die individuelle Prämienhöhe kalkuliert, die zu einem hinreichend großen Kapitalstock führt. Die Versicherungsinstitution garantieren ihren Versicherten eine konstante Prämienhöhe über die gesamte Ver- tragslaufzeit und die Begleichung der Krankheitskosten für den vereinbarten Ge- sundheitsleistungskatalog. Ihre Aufgaben umfassen damit auch die Verwaltung und Vermehrung des angesparten Kapitals, um zukünftige Zahlungen an den Versicherten auch unter veränderten Rahmenbedingungen leisten zu können.
Würden die Prämienhöhe, der Leistungskatalog und der Kapitalstock wortwört- lich individuell verwaltet werden, entstünde daraus nicht nur ein immenser Ver- waltungsaufwand, sondern auch die Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit in Folge einer Fehleinschätzung des Krankheitsrisikos. Um dies abzuwenden, werden Ver- sicherte mit ähnlichen Eigenschaften in Kohorten zusammengefasst. Für die Ver- sicherungsinstitutionen sind diese Eigenschaft des Versichert schwer zu beo- bachten. Sie unterliegen einem Informationsnachteil gegenüber dem Kenntnis- stand des Versicherten. Die Versicherungsinstitution muss davon ausgehen, dass dem Versicherten sowohl sein Krankheitsbild, als auch der logische Zusammen- hang bekannt ist, eine niedrigere Prämie bezahlen zu müssen, falls er ein besseres Krankheitsbild vorgibt. Um diesen Informationsnachteil zu minimieren, behelfen sich die Versicherungsinstitutionen mittels adverser Selektion21. Die Versiche- rungen gestalten dafür ihre Vertragsangebote bezüglich Beitrag und Sicherungs- leistungen in der Art, dass der Versicherte durch seine Vertragswahl seine Eigen- schaften offenbart. Im Durchschnitt gilt diese Kausalität, da der Versicherte im Schein seiner Unwissenheit über sein Krankheitsbild einen umfangreicheren Si- cherungsleistungskatalog wählt, um sein Risiko eventuell eine Gesundheitsleis- tung aus eigener Tasche begleichen zu müssen, zu minimieren.
Mittels dieses Selektionsmechanismus und des „Versicherten-Poolings“22 kommt das Gesetz der großen Zahlen zum Tragen. Bei hinreichender Kohortengröße kann davon ausgegangen werden, dass sich die tatsächliche Schadenssumme über alle Kohortenmitglieder der erwarteten mittleren Auszahlungswahrscheinlichkeit annähert.23 Dies entspricht einer Art „internem“ Risikostrukturausgleichs (im Weiteren RSA), auf dessen Existenz in gleichem Maße ein Gesundheitssystem mit UV angewiesen ist.
Die gegenwärtige Ausgestaltung der GKV ist zusätzlich noch auf einen „exter- nen“ RSA angewiesen. Dieser gleicht die unterschiedlichen Zahlungsstrukturen verschiedener Institutionen in der GKV aus, die durch ein Ungleichgewicht an Krankheitsrisiken der Versicherten in Folge des Kontrahierungszwangs der Ver- sicherer entstehen kann.
Diese „externe“ finanzielle Ausgleichsfunktion entspräche in einer Krankenversi- cherung mit KdV einer kohortenübergreifenden Quersubventionierung von jenen mit guten Krankheitsrisiken zu Kohorten mit schlechten Krankheitsrisiken. Dies wäre innerhalb einer privaten Versicherungsinstitution theoretisch denkbar, aber nicht rechtens. Die juristische Begründung entspricht der umgekehrten Argumen- tationsweise, mit der die kohortenfremde Verwendung des Kapitalstocks im Ka- pitel 4.2 gerechtfertigt wird.
Wäre dieser Ausgleich möglich, würde er für die Versicherungsinstitutionen be- sonders dann hilfreich sein, falls die auf Lebenszeit garantierte konstante Prä- mienhöhe einer Kohorte nicht eingehalten werden könnte. Für diese Problematik verfügt der Versicherer sonst nur über die Möglichkeit eine erhöhte Prämie bei Neuverträgen in den entsprechenden Kohorten zu verlangen. Als „externer“ RSA zwischen Versicherungsinstitutionen mit KdV könnte der Kapitalmarkt gesehen werden. Jene Versicherer mit überwiegend guten Krankheitsrisiken können nicht benötigtes Kapital anbieten, das von Versicherern nachgefragt wird, deren Ko- horten sich als überwiegend schlechte Krankheitsrisiken entwickelt haben. Dieser Mechanismus verschärft die Konkurrenz zwischen den Versicherungsinstitutio- nen, die im Sinne eines Wettbewerbsmarktes mit den üblichen Marketinginstru- menten24 um ihre Neuverträge werben.
Neben der Absicherung der Zahlungsfähigkeit bei Eintritt des Versicherungsfalls müssen sich Versicherungen auch gegen Preissteigerungen für Gesundheitsleis- tungen absichern, die durch ein steigendes allgemeines Preisniveau oder durch den technischen Fortschritts, der aufwendigere und teurere Behandlungen ermög- licht, ausgelöst sein können. Zu diesem Zweck wird das angesparte Kapital zum Marktzinssatz angelegt (siehe Kapitel 2.3.1).
Unter den Annahmen:
- des freien Wettbewerbs zwischen Versicherungsinstitutionen,25
- des identischen Zugangs zu Kapitalanlagemöglichkeiten,
- der Rationalität von Versicherten (Ausschluß des moralischen Risikos26 ),
- der effektiven Kalkulationsmethoden der Versicherungsinstitutionen
müssten alle Versicherungsinstitutionen die individuellen bzw. kohortenweisen Kapitalstöcke vollständig aufbrauchen und damit Nullgewinne erwirtschaften. Dieses wirtschaftliche Ziel ist konstituierend für sachzielorientierte Organisatio- nen27 und harmoniert mit der Verantwortung, die Gesundheitsversorgung der Menschen zu sichern. Ein Konflikt baut sich allerdings unter dem Aspekt auf, dass ein Versicherungssystem mit KdV immer auf Kalkulationen beruht, die Ge- schäftsmodelle mit Gewinnabsicht anziehen könnten.
Diese Kalkulationsabhängigkeit des KdV verhilft dieser Finanzierungsart auch zu seiner Unabhängigkeit von der Bevölkerungsstärke der Folgegenerationen. Jeder kann direkt mit eigenen Mitteln für sich selbst vorsorgen, ohne den bildhaften Umweg über ein Kind wie im UV. Damit ist jeder nur für sich verantwortlich, somit reduziert offensichtlich auch dieses Finanzierungsprinzip, mit entsprechen- der Gegenargumentation zu dieser Thematik aus Kapitel 2.2.1, den Anreiz zur Nachwuchsbildung.
Gegenüber dem Umlageverfahren scheint das KdV folgende Vorteile zu bieten:28
1. Die bessere Messbarkeit der Verzinsung von Kapital als die von „Humanka- pital“ verspricht höhere mögliche Ausgaben in Nettoempfängerzeiten bei gleichen Vorleistungsbeträgen in Nettozahlerzeiten durch den Zinseszinsef- fekt.
2. Das Ansparen eines Kapitalstocks ist gleichzusetzen mit Konsumverzicht. Unter der Annahme eines übertragbaren Kapitalstocks von Generation zu Ge- neration durch Investitionsvorgänge, könnte der gegenwärtige Konsumver- zicht zu einem höherem zukünftigen Volkseinkommen führen.
3. Durch die Anlage des angesparten Kapitals in Entwicklungs- und Schwellen- ländern wird ihre Entwicklung gefördert. Sie könnten zu potentiellen Han- delspartnern für die Industrieländer heranwachsen.
4. Die durch den Vertragsabschluss bestehenden Wahlmöglichkeiten der Versi- cherten über ihren gewünschten Sicherungsumfang lässt sie einen transparen- ten Zusammenhang aus Beitragshöhe und Leistungsumfang erkennen. Dieses Merkmal betrifft besonders individuelle Absicherungswünsche außerhalb des gesetzlichen Leistungskatalogs. Deren Finanzierung kann nicht auf die Ge- samtheit der Versicherten verteilt werden. Darum sind Zusatzleistungen nur im Privatvertrag versicherbar, der aus kalkulatorischen Gründen nach einem KdV finanziert sein muss.
5. Mit der verbesserten Leistungszuordnung wird jeder Versicherte für sich selbst verantwortlich, damit personalisiert sich die Kostenkontrolle. Durch den fehlenden Verwässerungseffekt der Kosten (wie im UV) könnte bei den Versicherten ein Ausgabenbewusstsein entstehen und die Ausgabenseite eines Gesundheitssystems entlastet werden. Zusätzlich kann mit dem KdV der durch ein UV potentiell geschaffene Anreiz, möglichst viele Gesundheitsleis- tungen abgreifen zu wollen, reduziert werden. Ein Versicherter im UV sieht sich mit fehlender altruistischer Grundeinstellung im Zweifelsfall immer als Nettozahler.
6. Für Kritiker des UV stellt der Kapitalmarkt die bessere Vorsorge für eine mo- derne Gesellschaft dar.
Prinzipbedingt lässt sich ein Zusammenhang von UV und gesetzlicher Versiche- rung, sowie von KdV und privater Versicherung erahnen. Diese hypothetische Verknüpfung wird im abschließenden Kapitel 5.3 aufgegriffen.
2.3 Einflussfaktoren auf ein Sicherungssystem
Alle einwirkenden Effekte auf ein soziales Sicherungssystem stellen ein komple- xes Netz aus vielen Einflussfaktoren dar. Die Faktoren können in gegenseitiger Beeinflussung stehen und aus Sicht des Sicherungssystems exogen oder endogen erscheinen. Um die Relevanz von Faktoren und im Besonderen ihr Effekt auf die Einnahmenseite und Ausgabenseite eines Sicherungssystems beschreiben zu kön- nen, werden aus diesem Netzwerk zuerst die „Überfaktoren“ selektiert und in ihrer einfachen Wirkungsweise auf das Sicherungssystem ohne Beachtung reflek- tierender Effekte des Systems auf den Faktor betrachtet.
In einem zweiten Schritt wird deren Abhängigkeit von „Unterfaktoren“ einbezo- gen und mögliche Rückkopplungen auf diese Faktoren durch das Finanzierungs- prinzip eines Sicherungssystems untersucht.
Es erscheint als sinnvoll jene „Überfaktoren“ genauer zu betrachten, auf die die Analysen in Kapitel 3.3.4 und Kapitel 3.3.5 zurückgreifen werden. Diese umfas- sen den Marktzins, die demographische Bevölkerungsstruktur und ihre Entwick- lung, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und das allgemeine Preisniveau.
2.3.1 Isolierte Betrachtung der Einflussfaktoren
Sie entspricht der ersten Betrachtungsweise von Einflussfaktoren auf das Siche- rungssystem.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Einfluss der Überfaktoren auf ein Gesundheitssystem29
Der Marktzins ist laut Gabler30 derjenige Zins "…, der sich auf den Geld- und Kapitalmärkten einer Volkswirtschaft im Durchschnitt einer Periode einstellt.“ Mit diesem Zinssatz steigert sich der Marktwert von Geld innerhalb einer Perio- de. Im Falle einer kapitalgedeckten Versicherung erlangt das angesparte Kapital unter steigendem Marktzins einen höheren zukünftigen Wert als in der Gegen- wart. Unter der Annahme einer Steigerung des Preisniveaus der Sicherungsleis- tung mit einer maximalen Wachstumsrate in Höhe des Marktzinses würde sich für die Versicherten kein intertemporaler Konsumverlust ergeben. Der Gegenwert für einen aktuellen Konsumverzicht entspricht unter dieser Bedingung dem Mehrkonsum in der Zukunft. Ein stabiler bzw. steigender Marktzins ist somit für ein nach dem KdV finanziertes Sicherungssystem essentiell, um seine Pflicht zur Deckung der Ansprüche erfüllen zu können. Reicht der angesparte Kapitalstock nicht aus, müssen die Versicherungsinstitutionen eine Nachkalkulation durchfüh- ren, die meist zu einer Zusatzprämie führt.
Ein nach dem UV finanziertes Sicherungssystem ist in dieser direkten Sicht nicht vom Marktzins abhängig. Für dieses System spielt die demographische Struktur der Versicherten eine entscheidende Rolle. Als Messzahl der demographischen Verteilung gilt der Altenquotient31, der das Verhältnis von Rentnern zu Erwerbs- tätigen beschreibt. Unter Standardaltersgrenzen ergibt sich für das Jahr 2009 ein Wert von 34, d.h. 34 mindestens 65-Jährige stehen 100 20 bis 64-Jährigen gegen- über. Unter konstanten Parametern32 wird für das Jahr 2034 ein Wert von 56 prognostiziert.
Die Abb. 3, S.15 veranschaulicht die Verteilung der Gesamtbevölkerung in Deutschland über deren Alter und Geschlecht.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Bevölkerungsstruktur und demographischer Wandel nach Alter und Geschlecht33
Lag im Jahr 2009 der Schwerpunkt noch im Bereich der 35 bis 50-Jährigen, liegt dieser 25 Jahre später im Bereich der 60 bis 75-Jährigen. In einem UV bedeutet dies, dass weniger Jüngere immer mehr Ältere finanzieren müssen. Um diese Entwicklung im UV zu schultern, können die Beiträge erhöht oder die Leistungen gesenkt werden. Sowohl die Nettozahlergenerationen als auch die Nettoempfän- gergenerationen büßen unter einem steigenden Altenquotienten an gegenwärtigen Konsummöglichkeiten ein. Das KdV erscheint auf den ersten Blick immun ge- genüber dieser demographischen Entwicklung zu sein, denn jeder Versicherte sorgt selbst durch seinen Kapitalstock für die eigenen Konsummöglichkeiten im Alter. Erinnert man sich an die Abhängigkeit des KdV von einem gesunden Kapi- talmarkt mit sicheren Renditen, wird diese Immunität fragwürdig. Der Werterhalt und die Wertsteigerung von Kapital erfordert eine Investition in leistungsfähige Wertschöpfungsprozesse, deren Durchführung letztendlich immer auf Menschen zurückzuführen ist. Diesbezüglich richtete der Politiker Norbert Blüm seine auf- rüttelnden Bedenken an die Gesellschaft:34
„…Wer es mit der Leistungsgesellschaft gut meint, liefert unseren Sozialstaat nicht der Anbindung an das Kapital aus. Der Lohn hat bessere Beziehungen zur Leistung als die Spekulation. Wenn das Ka- pital nicht wieder stärker von Leistung und Arbeit legitimiert wird, bringt sich der Kapitalismus selber um. …“.
Eine Antwort auf diese mögliche „Scheinimmunität“ wird Kapitel 3.3.6 liefern. Unabhängig vom betrachteten System stellt sich unter dieser anhaltenden demo- graphischen Entwicklung jedoch die Frage: Wird der Anteil junger Generationen noch stark genug sein, um die Hilfsbedürftigen zu pflegen und (gleichzeitig) die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft aufrecht zu halten, falls der Altenquotient immer extremere Werte annimmt?
Als Messgröße der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gilt das Bruttoinlandspro- dukt35 (im Weiteren BIP genannt). Die Berechnung des BIP kann über die Sum- me aller Einkommen dieser Volkswirtschaft erfolgen.36 Ist das Niveau des BIP hoch, liegen der Berechnung im Durchschnitt hohe Einkommensniveaus zu Grunde bzw. das BIP pro Kopf ist ebenfalls hoch. Verfügen die Mitglieder eines Sicherungssystems über ein hohes Einkommen, können sie auch hohe Beiträge zahlen. Dies ist sowohl für ein UV als auch für ein KdV von Vorteil, da dem Si- cherungssystem im Durchschnitt zahlungskräftige Mitglieder zur Verfügung ste- hen. Eine Steigerung des BIP geht in der Regel auch mit einer Einkommensstei- gerung einher, die die Finanzierung eines Sicherungssystems verbessert.
Das BIP kann auch mittels Summe aller Ausgaben einer Volkswirtschaft berech- net werden.37 Diese alternativen Berechnungsmethoden mit identischem Ergebnis setzen an der Logik an, dass für jede ausgegebene Geldeinheit auch eine Geld- einheit eingenommen werden musste. Ist das Niveau des BIP in einer Volkswirt- schaft hoch, sind demnach die Einnahmen und die Ausgaben hoch.
Die Bewertung des allgemeine Preisniveaus in einer Volkswirtschaft erfolgt im Allgemeinen als Preisindex der Lebenshaltung.38 Er beschreibt den Preis eines typischen Warenkorbs aus Konsumgütern, die ein repräsentativer Privathaushalt nachfragt. Der Konsum von Gesundheitsleistungen stellt einen Bestandteil des Warenkorbs dar. Steigen die Gesundheitskosten, wirkt sich dies je nach Gewich- tung der Indexberechnung mehr oder weniger stark auf den Preisindex bzw. das allgemeine Preisniveau aus. Herrscht in einer Volkswirtschaft ein hohes Preisni- veau bzw. steigt es an, wachsen die Ausgaben einer Krankenversicherung. Dies kann die Krankenversicherung durch Beitragssteigerungen oder Leistungskür- zungen kompensieren. Eine Beitragssteigerung bzw. eine Nachkalkulation ist für Versicherungsinstitutionen mit einem UV bzw. mit einem KdV möglich. Die Möglichkeit der Veränderung des Leistungsumfangs ist abhängig vom Versiche- rungsverhältnis. Eine GKV erlässt per Gesetz eine Leistungskürzung, eine PKV könnte dies nur mit einer entsprechenden Klausel im Vertragswerk.
Diese beiden Möglichkeiten zur Bewältigung einer Preisniveauveränderung, ei- nerseits einnahmenseitig und andererseits ausgabenseitig, sind vergleichbar mit der Sichtweise zur Berechnung des BIPs. Für das gleiche Ziel kann der Weg über die Einkommensseite oder über die Ausgabenseite führen. Dieser Perspektiven- wechsel eines identischen Zielobjektes lässt es anders erscheinen, seine Dimensi- on bleibt erhalten.
Dies bedeutet: sind in einer Volkswirtschaft die Einkommen hoch, sind auch die Ausgaben hoch; sind die Gesundheitsleistungen hochwertig, muss auch ein hoher Preis dafür bezahlt werden. Eine unterschiedliche Entwicklung der beiden Di- mensionen, Einkommen und Ausgaben bzw. Gesundheitskosten und Beitragshö- he der Krankenversicherung, wird und kann sich daher nur in geringen Abwei- chungen bewegen. Zur Bewältigung dieser Abweichungen kommt einem Siche- rungssystem, das sich nach dem Prinzip des UVs finanziert, ein gegenwärtig ho- her Nettozahleranteil ihrer Versicherten entgegen. Für ein System mit Finanzierung nach dem KdV ist das zukünftige stabile Verhältnis von Kapital- wert zum allgemeinen Preisniveau wichtig.
Inwiefern die Ausgestaltung der Krankenversicherung einen Effekt auf diese vier Faktoren (Marktzinssatz, Demographie, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, all- gemeines Preisniveau) ausüben könnte, und zu welchen möglichen Unterfaktoren sie in Abhängigkeit stehen, beschreibt der nächste Abschnitt.
2.3.2 Erweiterte Betrachtung der Einflussfaktoren
Sie entspricht der zweiten Betrachtungsweise von Einflussfaktoren auf das Siche- rungssystem.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 4: Einfluss des Netzes aus Unterfaktoren39
Der Marktzins stellt sich auf dem weltweiten Kapitalmarkt durch die angebotene und nachgefragte Menge an Kapital ein. Zur Reduzierung der Komplexität wird der Marktmechanismus auf eine geschlossene Volkswirtschaft beschränkt. An dieser Stelle soll lediglich das Netz an Einflussfaktoren aufgezeigt werden. In Kapitel 3.3.6 wird eine das Sicherungssystem betreffende Argumentation zum Kapitalmarkt bei einer offenen Volkswirtschaft angestellt.
Die Nachfrage nach Kapital bestimmt sich u.a. durch die Kapitalintensität40 einer Wirtschaft. Handelt es sich um eine hoch entwickelte Volkswirtschaft, z.B. be- dingt durch den technischen Fortschritt, ist zur Erstellung einer Leistung im Durchschnitt wenig vom teuren Faktor Arbeit nötig und viel Kapital in Form von Maschinen investiert worden. Reicht die ungebundene Kapitalmenge in dieser Volkswirtschaft aus, um diese Investitionen tätigen zu können, bleibt der Markt- preis für Geld und damit der Kapitalzins konstant. Erfordert die Nachfrage an produzierten Leistungen mehr Investitionen, steigt in einem kapitalintensiven Wirtschaftsraum die Nachfrage nach ungebundenem Kapital. Das Ansparen von Kapital bleibt so lange attraktiv, bis sich sein Marktgleichgewicht wieder einge- stellt hat. In diesem Anpassungszeitraum profitiert der Kapitalstock eines Siche- rungssystems durch die Wertsteigerung von Kapital.
Das Finanzierungsprinzip des KdV beschreibt einen Sparvorgang, um sinnbild- lich in guten Zeiten für schlechte Zeit vorzusorgen.41 Die Gewichtung der zu- künftigen Konsummöglichkeiten gegenüber dem Gegenwärtigen kann als Spar- quote bezeichnet werden. Sie beschreibt den Anteil des verfügbaren Einkom- mens, der nicht für den gegenwärtigen Konsum verwendet wird.42
Ein KdV ist über den Marktzins von der Sparquote, dem technischen Fortschritt und der Arbeitsmarktsituation einer Volkswirtschaft abhängig. Widmen wir uns zunächst der Arbeitsmarktsituation. Besteht dort ein Mangel an Arbeitskräften, ist dies aus dieser Sichtweise vorteilhaft für ein KdV, da der Faktor Arbeit durch Nachfragen von Kapital substituiert werden muss. Für ein UV sind niedrige Be- schäftigungszahlen problematisch, arbeiten wenige Leute können auch nur Weni- ge in das Sicherungssystem einzahlen. Die schwache Finanzierungsbasis wird durch einen hohen Umverteilungsbedarf der Personen ohne Arbeit weiter ver- schärft. Es wäre denkbar, dass durch steigenden Wettbewerb auf dem Gesund- heitsmarkt die Nachfrage an Arbeitskräften in diesem Wirtschaftssektor steigt. Damit wirkt sich die Arbeitsmarktsituation als endogener Einfluss auf das Ge- sundheitssystem aus. Der Beschäftigtenanteil43 im Gesundheitswesen weist mit ca. 11 % (im Jahre 2006) keinen irrelevanten Anteil am Gesamtangebot von Ar- beitsplätzen auf.
Nach dem Solow-Wachstumsmodell wirkt sich der technologische Fortschritt arbeitsvermehrend auf die Gesamtproduktion einer Volkswirtschaft aus.44 In sei- nem Modell wird der technologische Fortschritt als existent in jeder Volkswirt- schaft gesehen. Die Wachstumsrate des technologischen Fortschritts wird als konstante Steigerung der Arbeitseffizienz über den Zeitverlauf angenommen. Je Arbeitseinheit steigert sich das Produktionsvolumen mit der Rate des techno- logischen Fortschritts. Ein Gesundheitssystem wird in zweierlei Hinsicht vom technologischen Fortschritt beeinflusst.45 Er belastet einerseits die Ausgabenseite einer Krankenversicherung über aufwendige Behandlungsmethoden und teure Pharmazeutika (Produktinnovationen), die zusätzlich noch die Lebenserwartung der Versicherten steigern und sie damit länger durch die Versicherung versorgt werden müssen. Andererseits ermöglicht der technische Fortschritt auch effekti- vere Behandlungsmethoden (Organisatorische Innovationen und Prozessinnova- tionen), durch die die kurative Behandlungsdauer verkürzt wird und der Patient die Ausgabenseite der Krankenversicherung geringer belastet. Somit wirkt sich der technologische Fortschritt auch kostensenkend auf das Gesundheitssystem aus. Arbeitsunfähige Patienten können mit einer besseren medizinischen Behand- lung erwartungsgemäß wieder schneller in ihr Berufsleben eingegliedert werden und stärken dann als Beitragszahler wieder die Einnahmenseite einer Kranken- versicherung. Durch intensive Forschungstätigkeiten ist der technologische Fort- schritt stärker im Gesundheitssystem nutzbar und stellt in dieser Sichtweise einen endogenen Einflussfaktor auf das Gesundheitssystems dar.
Bleibt noch die genaue Betrachtung der demographischen Struktur und seine Entwicklung und damit das Bevölkerungswachstum einer Volkswirtschaft. Die demographische Struktur ist abhängig vom „Nachschub“ an Personen in die Ge- sellschaft, von der „Fluktuation“ von Personen in andere oder aus anderen Län- dern und vom „Ausscheiden“ der Personen aus der Gesellschaft. Mit „Nach- schub“ ist die Geburtenrate von Kindern gemeint. Sie wird in der Statistik als Geburtenziffer in Kinder pro Frau im gebährfähigen Alter (15-49 Jahren) ange- geben. Wie die Diskussion der Finanzierungsprinzipien in Kapitel 2.2 gezeigt hat, bietet weder das UV noch das KdV einen systembedingten Anreiz für eine positi- ve Nachwuchsentscheidung. Die demographische Struktur ist in dieser Weise ein endogener Einflussfaktor auf das Gesundheitssystem. Die „Fluktuation“ von Per- sonen meint Einwanderer und Auswanderer. Der gute internationale Ruf des deutschen Sozialstaats und damit auch des Gesundheitssystems könnte für Im- migranten aus anderen Ländern in gewisser Weise einen Anreiz bieten, falls z.B. ihr Heimatland keine notwendige medizinische Versorgung stellen kann. Dieses Motiv ließe sich auf ein schlechtes Krankheitsrisiko des Immigranten zurückfüh- ren. In einem UV wäre er möglicherweise ein Nettoempfänger und würde ein Einführungsgeschenk erhalten, in dem er Gesundheitsleistungen in Anspruch nimmt, ohne die nötigen Gegenleistungen erbracht zu haben. Andererseits stellt ein Immigrant im UV auch einen weiteren potentiellen Nettozahler dar.
Im anderen Fall könnte die steigende Unzufriedenheit von Personen mit Netto- zahlereigenschaft in einem UV die Motivation erzeugen, auszuwandern. Dieses Motiv wäre in einem KdV nur denkbar, falls der Versicherte sein bisher ange- spartes Kapital „mitnehmen“ könnte. Versicherte, die auswandern, würden die Einzahlungsseite des Sicherungssystems schwächen. Andererseits falls sie nicht mehr zurückkehren, entlasten sie das Gesundheitssystem, da eine Person weniger mit altersbedingter Nettoempfängereigenschaft versorgt werden müsste. Für die Krankenversicherung mit Finanzierung nach dem UV ist demnach der Saldo aus der Anzahl von Ein- zu Auswanderungen (Außenwanderungssaldo) entscheidend. In welcher Weise wird in Kapitel 3.3.5 analysiert. Eine Krankenversicherung mit KdV bietet aus finanzieller Sicht der sozialen Sicherung nur einen Migrationsan- reiz, falls der Emigrant seinen Kapitalstock auf die neue Versicherung im Aus- land übertragen kann. Für einen Immigrant steht der Anreiz nur, falls er seinen Neuvertrag unter einer günstigeren Prämie als die Heimische abschließen könnte, oder seine Vorsorgeleistungen aus dem Heimatland angerechnet werden würden. Wie die vorangegangenen Argumentationen gezeigt haben, steht die Morbidität und Mortalität und damit die Lebenserwartung in einer potentiellen Abhängigkeit vom technologischen Entwicklungsstand der Volkswirtschaft bzw. des Gesund- heitssystems. Die Technologie ermöglicht den Verzicht auf schwere körperliche Tätigkeiten und reduziert Erkrankungsfälle, die auf Überbeanspruchung zurück- zuführen sind. Zusätzlich erlaubt ein gutes Gesundheitssystem bessere Behand- lungsmöglichkeiten von Erkrankungen und verringert morbiditätsbedingte Todes- fälle. Somit nimmt die Lebenserwartung der Versicherten zu und eine höhere Anzahl alter Personen mit durchschnittlich starker Nettoempfängereigenschaft muss vom Gesundheitssystem länger getragen werden. Unter dieser Sichtweise ist auch die Lebenserwartung ein endogener Einflussfaktor auf das Gesundheits- system. Die gegenwärtig herrschende demographische Struktur in Deutschland, siehe Abb. 3, S.15, verdeutlicht die Reduzierung des „Nachschubs“ an Personen und damit einen Bevölkerungsrückgang. Damit eine Wirtschaft wächst, wäre nach dem Solow-Modell46 jedoch ein Bevölkerungswachstum notwendig. Mit ihm sinkt, ausgehend vom stationären Zustand der Kapitalintensität, das Pro-Kopf-Einkommen durch mehr Mitglieder in der Volkswirtschaft. Aller- dings steigt mit ihm auch der Anteil der Erwerbstätigen und damit die Lohnsum- me (durchschnittlicher Lohn x Anzahl Erwerbstätiger). Je mehr Individuen ein Einkommen besitzen, desto mehr Personen können Beiträge in ein Sicherungs- system einzahlen und desto mehr können sich einen Nachwuchs leisten.
An dieser Stelle sind die drei verantwortlichen Faktoren Bevölkerung, Investition und technologischer Fortschritt für das Wirtschaftswachstum nach dem Solow Modell erklärt. Nach seinem Modell kann eine Volkswirtschaft nur aufgrund des technischen Fortschritts dauerhaft wachsen.47 Für ein Wirtschaftswachstum in einer „doppel“ alternden Gesellschaft muss ein stark steigender technologischer Fortschritt die Rückläufigkeit der Bevölkerung überkompensieren. Von jedem dieser Wachstumsfaktoren ist das Gesundheitssystem in einer Weise abhängig, beeinflusst sie jedoch auch in gewisser Weise. Eine Verschiebung im Gleichge- wicht des komplexen Systems von Einflussfaktoren kann je nach Richtung einem System mit Finanzierung nach dem KdV oder einem System mit UV seine jewei- lige Überlegenheit zuspielen. Wie die Sensibilität der Finanzierung eines Siche- rungssystems formuliert oder bewertet werden kann, wird im folgenden Kapitel 3 beschrieben.
Das Kapitel 2 hat die Kennzeichen der Finanzierungsgrundprinzipien nach einem UV oder nach einem KdV aufgezeigt. Zusätzlich hat das Kapitel einen Überblick über Rahmenbedingungen geschaffen, denen sich ein Krankenversicherungssys- tem stellen muss. Welche Auswirkungen eine Veränderung der Rahmenbedin- gungen auf die Nachhaltigkeit eines Gesundheitssystems hat, wird im folgenden Kapitel untersucht.
3 Analyse der Belastungsunterschiede zwischen Generationen
Einen Beitrag zur Diskussion, welches Finanzierungsprinzip im Sinne der Nach- haltigkeit einen systembedingten Vorsprung besitzt, liefert dieses Kapitel. Dabei werden die Belastungen der Versicherten durch das Gesundheitssystem mittels des Generational Accounting qualitativ analysiert und die Belastungsveränderun- gen, abhängig von der Konstellation der Einflussfaktoren, dargestellt. Die Erkenntnisse aus der Analyse werden im Anschluss zur Bewertung der demographischen Anfälligkeit und Generationengerechtigkeit verwendet.
[...]
1 Für einen kompakten Überblick, vgl. o.V., 2010.
2 Ein Effekt der sich erst durch die Existenz oder Veränderung eines Systems als relevant für das System herausstellt.
3 Vgl. Neumann, Schaper, 2008.
4 Pauperismus bedeutet Massenarmut der Gesellschaft, siehe Neumann, Schaper, 2008, S.22.
5 Vereinigung vom „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“(Bewegung von Lassalle) und „So- zialdemokratischen Arbeiterpartei“ (Bewegung von Bebel & Liebknecht), siehe Neumann, Schaper, 2008, S.27.
6 Vgl. Neumann, Schaper, 2008.
7 Die Inhalte aus Kapitel 2.2.1 und 2.2.2 basieren auf eigenem Verständnis, welches zahlreiche Quellen abbildet, vgl. Breyer, Zweifel, Kifmann 2004; Eisen o.J.; Homburg 1987; Neumann, Schaper 2008; Queisser 1993; Trappe 2000.
8 Das UV wird auch gerne mit dem Ponzi-Spiel verglichen, der Namensgeber Ponzi tilgte seine Schulden (Sicherungsleistungen) durch Aufnahme neuer Schulden (laufende Beitragszahlun- gen), vgl. Famulla und Spremann, 1980 zitiert nach Homburg, 1988, S.80.
9 Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Fetzer, Raffelhüschen, 2002, S.5.
10 Vgl. Fetzer, Moog, Raffelhüschen, 2003.
11 Vgl. Fetzer, Moog, Raffelhüschen, 2003.
12 Vgl. Fetzer, Moog, Raffelhüschen, 2003.
13 Der wissenschaftlich nüchterne Sprachgebrauch darf nicht als human anstößig missverstanden werden.
14 Bei einer Entscheidung mit zwei identischen Erwartungswerten wird das Individuum jene mit dem risikoärmeren Ergebnis bevorzugen, vgl. Breyer, Zweifel, Kifmann 2004.
15 Diskussion und Kritik, siehe Homburg, 1988, S. 66 ff.
16 Siehe Neumann, Schaper, 2008, S.173.
17 Im Falle ausbleibender Investitionen tätigt der Staat Investitionen, die er durch kurzfristige Schulden Aufnahme (deficit spending) finanziert. Die höheren Steuereinnahmen durch den aus- gelösten Wirtschafts-Boom dienen zur Schuldentilgung.
18 Vgl. Neumann, Schaper, 2008.
19 Vgl. Keynesianische Wirtschaftsauffassung, siehe Fußnote 17.
20 Vgl. Breyer, Zweifel, Kifmann, 2004.
21 Vgl. Trappe, 2000.
22 Bildung einer Kohorte aus Versicherten die ähnlichen Merkmale aufweisen.
23 Vgl. Breyer, Zweifel, Kifmann 2004.
24 Klassische Marketing Mix umfasst: Leistungs- und Programmpolitik, Preis- und Konditionspo- litik, Distributionspolitik, Kommunikationspolitik, siehe Meffert, Burmann, Kirchgeorg, 2008, S.22.
25 Der Wettbewerb herrscht nicht im Kampf um Bestandskunden, da diese ihren individuellen Kapitalstock bei einem Versicherungswechsel nicht mitnehmen können und damit ihr Wechsel- anreiz minimal ist, Ausnahme: Übergangsregelung wie z.B. nach der Reform 2009.
26 Vgl. Trappe, 2000.
27 Vgl. Sturm, 2001.
28 Vgl. Neumann, Schaper, 2008.
29 Quelle: Eigene Darstellung.
30 Siehe Gabler(Hrsg.), o.J.a.
31 Siehe Bundesministerium für Arbeit und Soziales, o.J.b.
32 Sie werden als „Unterfaktoren“ Geburtenrate (1,4 Kinder pro Frau), Zuwanderungen (200000 pro Jahr), konstante Lebenserwartung (Frauen: 89,2 und Männer: 85 Jahre) und im Abschnitt der erweiterten Betrachtung der Einflussfaktoren einbezogen.
33 Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an Bundesministerium für Arbeit und Soziales, o.J.a.
34 Siehe Blüm, 2006, Absatz 2.
35 Vgl. DESTATIS, o.J.a; vgl. Mankiw, 2000.
36 Herleitung, siehe Mankiw, 2000, S.18 ff.
37 Herleitung, siehe Mankiw, 2000, S.18 ff.
38 Vgl. Mankiw, 2000.
39 Quelle: Eigene Darstellung.
40 Entspricht dem Verhältnis aus Kapital- und Arbeitseinsatz bzw. Kapitaleinsatz je Erwerbstäti- gen, vgl. Mankiw, 2000.
41 Vgl. Reiners, 2008.
42 Siehe Gabler, o.J.b.
43 Siehe Bundeszentrale für politische Bildung, 2008, S.6.
44 Vgl. Mankiw, 2000.
45 Vgl. Breyer, Zweifel, Kifmann 2004.
46 Vgl. Mankiw, 2000.
47 Vgl. Mankiw, 2000.
- Quote paper
- Florian Bachler (Author), 2010, Zur Frage der Generationengerechtigkeit in der gesetzlichen Krankenversicherung, Umlage- oder Kapitaldeckungsverfahren?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/157680
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