Bücher sind fixer Bestandteil unserer Alltagswelt geworden. Dabei umgeben sie uns nicht einfach, wir schmücken uns vielmehr damit, stellen die Bücher in Regalen zur Schau und möchten damit wohl auch etwas aussagen. Das Thema dieses Diplomarbeitsprojekts am Institut für Soziologie der Universität Wien dreht sich um diesen Aspekt eines „demonstrativen Buchkonsums“.
Bücher als Kulturgüter besitzen einen Doppelcharakter. Neben der Funktion der Informationsspeicherung dienen sie als Inszenierungs-/Repräsentationsobjekt, deren Verwendung einen wie auch immer gearteten Profit bringen. Im Bewusstsein dieser Funktion werden Bücher strategisch in Szene gesetzt. Ob im Hintergrund von Fernsehinterviews, zur Verstärkung des ExpertInnencharakters von Interviewten, ob zur Unterstreichung des staatsmännischen Charakters eines Politikers in Pressekonferenzen oder auch zur Unterstreichung von Werbebotschaften. Bücher sind bedeutende Objekte in den zentralen Repräsentationsräumlichkeiten von Wohnungen und dienen unserer alltäglichen Darstellung zur Hervorhebung unseres Lebensstils. Dementsprechend orientieren sich BesucherInnen an den dargestellten Büchern, um sich ein Bild ihres Gegenübers zu machen.
Die Arbeit stützt sich vor allem auf die soziologischen Theorien von Thorstein Veblen, Erving Goffman sowie Pierre Bourdieu, wobei letztere den Schwerpunkt bildet. Darin anschließend wird über einen sozialhistorischen Rückblick die Verwendungs- und Inszenierungsgeschichte von Büchern nachgezeichnet. Anschließend findet sich eine Deutung von dieser Praktiken in unseren Gegenwartsgesellschaften. Hier findet sich auch ein Überblick über die Ergebnisse bisher in Österreich durchgeführter Studien der Buchmarkt- und Leseforschung. Im empirischen Teil wird mit Hilfe qualitativer Bildanalyse am Beispiel von Abbildungen in Printmedien bzw. Werbesujets nachvollzogen, ob und wie Bücher dazu beitragen sollen oder können, „symbolisches Kapital“ auf die den Büchern zugeschriebene(n) Person(en) oder Produkten zu übertragen.
Inhaltsverzeichnis
VORWORT UND DANKSAGUNG
EINLEITUNG
Theoretischer Hintergrund
Inhaltlicher Aufbau
ERSTER ABSCHNITT: SOZIOLOGISCHE BASISTHEORIE
1. Die Theorie des demonstrativen Konsums von Thorstein Veblen
1.1. Leben und Werk
1.2. Der demonstrative Konsum
1.3. Anwendung auf die Forschungsfrage
2. Der dramaturgische Ansatz bei Erving Goffman
2.1. Leben und Werk
2.2. Der „dramaturgische Ansatz“
2.3. Anwendung auf die Forschungsfrage
3. Die Theorie der sozialen Distinktion von Pierre Bourdieu
3.1. Leben und Werk
3.2. Eine Theorie zur Überwindung von Gegensätzen
3.3. Der Habitus als Vermittler zwischen sozialem Raum und Lebensstilen
3.4. Der Raum der sozialen Positionen und Lagen
3.5. Die sozialen Felder
3.6. Die Kapitaltheorie
3.7. Anwendung auf die Forschungsfrage
ZWEITER ABSCHNITT: ZUR BEDEUTUNG DES BUCHES ALS SYMBOL UND REPRÄSENTATIONSOBJEKT
1. Begriffsdefinitionen: Das Buch als Symbol des kulturellen Kapitals
1.1. Linguistische Herkunft:
1.2. Medienwissenschaftliche Definitionen
2. Geschichte der Buchkultur
2.1. Die Frühgeschichte des Mediums Buch: Von der Rolle zum Kodex
2.2. Das Buch im Mittelalter
2.3. Gutenberg und die Reformation (15.-17. Jahrhundert)
2.4. Buchkultur zwischen Barock und Biedermeier (17. bis frühes 19. Jahrhundert)
2.5. Entwicklung eines Massenmarktes: Ende des 19. und 20. Jahrhundert
3. Ikonographie des Lesers/der Leserin
3.1. Buch und Geschlechterordnung im historischen Vergleich
4. Zusammenfassung und Resümee des historischen Abriss
5. Das Buch in der Gesellschaft
5.1. Der soziale Zugang zum Buch in Österreich
5.2. Der soziale Sinn für das Buch
5.3. Resümee
6. Zusammenführung und Anwendung auf die Forschungsfrage
DRITTER ABSCHNITT: EMPIRIE
1. Grundlagen qualitativer Sozialforschung
1.1. Das integrierte Repräsentationsmodell
2. Fotografien als sozialwissenschaftliche Daten
2.1. Presse- und Werbefotografien
3. Zur Vorgangsweise der Bildinterpretation
3.1. Auswahl des Materials
3.2. Interpretationsschritte
4. Bildanalyse 1: Deutschlandradio Kultur
5. Bildanalyse 2: Ing-Direktbank
6. Bildanalyse 3: Wiener Städtische Versicherung
7. Bildanalyse 4: Camel
8. Bildanalyse 5: Pressekonferenz von George Bush jun
9. Überblick über die weiteren Pressefotografien
10. Ergebnisse des methodischen Abschnitts
ERGEBNISSE UND RESÜMEE
LITERATURVERZEICHNIS
Audiovisuelle und multimediale Ressoucen
ANHANG
1. Tabellen- und Abbildungsverzeichnis im Text
2. Tabellen- und Abbildungsverzeichnis im Anhang
Vorwort und Danksagung
Gerade in den sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen wird Büchern ein besonders hoher Stellenwert eingeräumt. Sie sind selbstverständliche Accessoires für den universitären und wissenschaftlichen Alltag. Leistungen werden oft in der Quantität der Buchveröffentlichungen gemessen. Dieser besonderen Bedeutung bewusst zu werden und die Symbolkraft von Büchern zu erforschen, ist die vorliegende Arbeit gewidmet. Dem/der LeserIn soll dabei verdeutlicht werden, auf welchen Ursprüngen dieser Stellenwert wurzelt und wie er heute alltäglich in unseren Alltagsinszenierungen verwendet wird.
Die Erarbeitung dieses Themas gründet sich auf viele verschiedene Vorlesungen, Seminare und Arbeiten, die ich im Laufe meines Studiums gemacht habe. Glücklicherweise kann ich noch in einem Studienplan abschließen, in dem mittels einer Fächerkombination ein interdisziplinäres Studieren möglich war. Auch diese Arbeit ist diesem Arbeiten verbunden. So greife ich auf Forschungen und Ergebnisse aus der Sprach-, der Theater-, der Kommunikations- und der Buchwissenschaft, der Philosophie, der Geschichte, der Semiotik und den Cultural Studies zurück und ordne diese unter einem soziologischen Gesichtspunkt. Dabei freut es mich besonders, dass ich von VertreterInnen dieser Disziplinen auf Fragen aus ihrem Fachgebiet nützliche Hinweise und Ratschläge erhalten habe. Dazu möchte ich mich bei Mag. Anna-Maria Adaktylos (Akademie der Wissenschaften, Wien), Dr. Ulrike Graßnick (Institut für Anglistik, Münster) und Prof. Ursula Rautenberg (Institut für Buchwissenschaften, Erlangen) bedanken. Eine weitere große Unterstützung erfolgte über eine interdisziplinäre Diplomarbeitsgruppe mit zahlreichen Anregungen, Hilfestellungen und auch Kritik.
Ein wichtiges Anliegen liegt auch in der Verständlichkeit des Textes. Dazu bedanke ich mich bei Andreas und vor allem Anna, dass sie sich Zeit genommen haben, den Text dahingehend und auf etwaige Fehler durchgelesen zu haben.
Dank auch den Unternehmen, die mir die untersuchten Werbefotografien für die Analyse zur Verfügung gestellt haben. Eine Interpretation, die ohne die Mithilfe von Alfred, Alice, Andreas, Anna, Clemens, Dominik, Esther und Saskja nicht möglich gewesen wäre. Besonders bedanken möchte ich mich an dieser Stelle auch bei meinem Diplomarbeitsbetreuer Univ. Prof. Dr. Rudolf Richter für die Betreuung und Begleitung. Dazu gehören auch die Fragen und Hinweise die ich im DiplomandInnenseminar von ihm, als auch den anderen KollegInnen erhalten habe. Dank auch an meine Eltern für ihre Zuwendungen und Geduld.
Sehr gefreut habe ich mich über die Möglichkeit das Thema der vorliegenden Arbeit einem breiterem Publikum bekannt gemacht haben zu können. Dafür bedanke ich mich bei Prof. Murray Hall und der österreichischen Gesellschaft für Buchforschung sowie bei Dr. Christian Gastgeber, dem verantwortlichen Redakteur der Zeitschrift „biblos“.
Der Text wurde unter Berücksichtigung einer geschlechtergerechten Sprache verfasst. Dabei wurde das generische Maskulinum durch ein Splitting mit Großbuchstaben ersetzt (Vgl. Kargl et al. 1999).
Gerne nehme ich Anmerkungen und Kritik unter der E-Mail Adresse ingolf.erler@reflex.at entgegen.
Ingolf Erler
Einleitung
In unserem Alltag sind wir ständig von Objekten umgeben, die für uns eine symbolische Bedeutung haben. Diese aktivieren in uns, wenn wir sie wahrnehmen, internalisierte Denk- und Handlungsschemata. Die vorliegende Arbeit setzt sich mit einem solchen Objekt auseinander, dem, so die Ausgangshypothese, eine ganz besondere Bedeutung zugemessen wird: dem Buch. Bücher sind fixer Bestandteil unserer Alltagswelt geworden. Dabei umgeben sie uns nicht einfach, denn kaum jemand bewahrt Bücher wie Besteck in einer Lade auf. Wir schmücken uns vielmehr damit, stellen sie zur Schau und wollen damit auch etwas vermitteln.
Bücher als Kulturgüter besitzen einen zweifachen Doppelcharakter. Wir können sie als Ware, als auch als Kulturgut betrachten. Als Kulturgut erfüllen sie wiederum die Funktion als Informationsspeicher, als auch als Inszenierungs- und Repräsentationsobjekte. Im Bewusstsein dieser Funktion werden Bücher strategisch in Szene gesetzt, ob im Hintergrund von Fernsehinterviews, zur Verstärkung des ExpertInnencharakters von Interviewten (vgl. den „Bibliotheksraum“ in der ORF-Sendung „Willkommen Österreich“), ob zur Unterstreichung des staatsmännischen Charakters eines Politikers in Pressekonferenzen oder auch zur Skizzierung einer Werbebotschaft. Bücher sind bedeutende Objekte in den zentralen Repräsentations- räumlichkeiten von Wohnungen und dienen unserer alltäglichen Darstellung zur Hervorhebung unseres Lebensstils. Dementsprechend orientieren sich BesucherInnen an den dargestellten Bü- chern, um sich ein Bild von ihrem menschlichen Gegenüber zu machen.
Welche Reaktionen solche „Buchinszenierungen“ auslösen können, beschreibt der italienische Semiotiker und Schriftsteller Umberto Eco unterhaltsam in einer seiner Zeitungsglossen: „Eine andere Banalität schockiert viele, die sich in derselben Lage wie ich befinden, inso- fern sie eine relativ große Bibliothek besitzen - so groß, daß man beim Eintritt in die Wohnung nicht umhin kann, sie zu bemerken, auch weil es sonst nicht viel gibt. Der Be- sucher tritt ein und sagt: ‚So viele Bücher! Haben Sie die alle gelesen?’ Zu Beginn meinte ich, der Satz entlarve nur Leute, die nicht sehr vertraut mit Büchern sind, gewöhnt, nur Wandbretter mit fünf Krimis und einem Kinderlexikon in Fortsetzungslieferungen zu sehen. Aber die Erfahrung hat mich gelehrt, daß der Satz auch von unverdächtigen Leu- ten geäußert wird. Man könnte sagen, daß es sich immer noch um Leute handelt, für die Regale nur Möbel zur Unterbringung gelesener Bücher sind und die keine Vorstellung von einer Bibliothek als Arbeitsmittel haben, aber das genügt nicht. Ich behaupte, daß angesichts vieler Bücher jeder von der Angst des Erkennens erfasst wird und zwangsläufig auf die Frage rekurriert, die seine Qual und seine Gewissensbisse aus- drückt“ (Eco 1995:140f.).
Theoretischer Hintergrund
Die vorliegende Arbeit stützt sich vor allem auf die soziologischen Theorien von Thorstein Veblen, Erving Goffman sowie Pierre Bourdieu, wobei letztere den Schwerpunkt bildet. Bourdieu modifizierte und erweiterte die bekannte Kapitaltheorie von Karl Marx um weitere Aspekte potentieller Macht bzw. akkumulierter Arbeit. Neben dem ökonomischen Kapital (Geld, Erbe, materielle Güter, Produktionsmittel) kann Kapital auch als soziales (soziale Netzwerke, Beziehungen), kulturelles (Besitz legitimer Bildung, Wissen und Geschmack) sowie als sym- bolisches Kapital (Prestige, Renommee) auftreten. Das kulturelle Kapital kann dabei in drei Formen auftreten: als inkorporiertes (einverleibtes) in einem Bildungsprozess, als durch Titel und Zeugnisse legitimiertes, sowie in objektivierter Form, d.h. „in Form von kulturellen Gütern, Bildern, Büchern, Lexika, Instrumenten oder Maschinen, in denen bestimmte Theorien und de- ren Kritiken, Problematiken usw. Spuren hinterlassen oder sich verwirklicht haben“ (Bourdieu 1997b: 53). Wir können nun davon ausgehen, dass Bücher an sich objektiviertes kulturelles Kapital darstellen, auch dann, wenn man sie nicht gelesen, also das kulturelle Kapital nicht in- korporiert hat, und dem Besitzer/der Besitzerin, dem/der sie zugeordnet werden, symbolisches Kapital verschaffen können. Das bedeutet dann auch, dass man diese Bücher zeigen muss, um daraus symbolischen Profit schlagen zu können. Es bedeutet weitergehend, dass die Bedeutung dieses demonstrativen Buchkonsums feldspezifisch und akteurspezifisch variiert. Diesen Aspekt des Darstellens versuchen wir in dieser Arbeit mit den Theorien von Thorstein Veblen sowie Erving Goffman zu beschreiben. Thorstein Veblen zeigte bereits 1899 in „The Theory of the Leisure Class“, wie demonstrativer Konsum zur Prestigesteigerung angewandt wird. Erving Goffman, dessen bekanntestes Buch sicherlich „The Presentation of Self in Everyday Life“ ist, stützt sich ebenso auf diesen darstellenden Aspekt, für ihn tritt jedoch der anthropologisch notwendige Aspekt der Inszenierung in der Interaktionsordnung in den Vordergrund: Wir wollen in der Interaktion mit anderen das ausdrücken, was wir als unser „Image“ verstehen. Dazu verwenden wir vielerlei Mittel: unsere Kleidung, die Wahl unserer Sprache, aber auch das umliegende „Bühnenbild“.
Das dahinterliegende Problem liegt in der Spannung zwischen Normalität und Einzigartigkeit. Zum einen möchte jedes Individuum so wie alle anderen Menschen sein und von ihnen akzeptiert werden. Gleichzeitig wünscht sich jeder Mensch auch, etwas „besonderes“, „unvergessen“ zu sein. Dieser Balance zwischen „ phantom normalcy “ und „ phantom uniqueness “ liegen unsere sozialen Darstellungen zugrunde. Bücher helfen uns dabei, dieses „Image“, das Bild, von dem wir annehmen, das andere es von uns haben, mitzugestalten. Mit Büchern als Teil der Darstellung möchten wir etwas ausdrücken, das beim Gegenüber einen gewissen Eindruck hinterlassen soll.
Inhaltlicher Aufbau
Der erste Abschnitt setzt sich mit den drei erwähnten Theorien auseinander. Dabei werden wir uns nach einer kurzen biographischen und theoretischen Einführung sehr rasch den für diese Diplomarbeit interessanten Theoriebestandteilen widmen.
Im zweiten Abschnitt wenden wir uns dem Buch als Symbol und Repräsentationsobjekt zu. Zur Annäherung zeichnen wir die etymologische Debatte um den Begriff und die medienwissenschaftlichen Definitionsversuche nach, um daraus einen - nach Bourdieu - „sozialen Sinn“ für das Buch zu beschreiben. Dazu dient auch eine historische Beschreibung eines demonstrativen Gebrauchs des Buches sowie ein Überblick über die Ergebnisse bisher in Österreich durchgeführter quantitativer Studien zum Buchgebrauch.
Gerade der historische Abriss über den sozialen Gebrauch des Buchs zeigt sehr deutlich den Wandel des Buchs vom exklusiven Repräsentationsobjekt der Herrschaft zu einer, vor allem durch technische Entwicklung und zunehmende Bildung ausgeweiteten, sozialen Nutzung. Gleichzeitig sehen wir, dass Bücher immer schon zur Repräsentation von Wissen und Macht verwendet wurden und dass dies im Laufe der Zeit immer wieder Anlass für Kritik durch Intellektuelle war, egal ob es sich dabei um Seneca im antiken Rom oder Adorno in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft handelt.
Einen hilfreichen Überblick zur Frage der Übertragung des objektivierten kulturellen Kapitals auf symbolisches Kapital bekommen wir über die Ergebnisse einer Studie von Jutta Assel und Georg Jäger, in der sie verschiedene Kategorien der ikonographischen Darstellung von Lesenden im Laufe der Geschichte nachzeichneten.
Um ein Verständnis der Verwendung des Buches in der Gegenwartsgesellschaft zu bekommen, nähern wir uns dem heutigen Gebrauch zuerst über einige empirische Studien der Buchmarktund Leseforschung an. Diese gehen in einen Überblick über verschiedene Formen des sozialen und individuellen Buchgebrauchs, sowie über die Bedeutung von Büchern für verschiedene Personengruppen, über. Dabei versuchen wir auch zu ergründen welche Faktoren in den repräsentativen Buchgebrauch einfließen. So werden Bücher für eine geisteswissenschaftliche Akademikerin in Wien vermutlich eine andere Bedeutung haben, als für einen Bauhilfsarbeiter in Tirol. Vier Dimensionen gehen in diesen Vergleich auf:
- Die Bildung bzw. das Einkommen, die einen sehr wichtigen Einfluss auf das Buch- verhalten haben;
- Das Geschlecht, so zeigt sich in den bisher durchgeführten quantitativen Studien, dass Frauen zwar mehr Bücher lesen, diese jedoch häufiger in Bibliotheken ausborgen, woraus sich die Frage ergibt, ob für Männer der Inszenierungsaspekt stärker im Vordergrund steht;
- Die geographische Lage (Begünstigt die Stadt eine andere, affirmativere Einstellung zum Buch?); und schließlich als überdeterminierende Ebene
- die diesen Einstellungen zugrunde liegenden Lebensstile.
Im daran anschließenden empirischen Teil (vierter Abschnitt) versuche ich mit Hilfe von qualitativer Bild- und Textanalyse an Hand von Abbildungen in Printmedien, darunter vor allem Werbebildern, nachzuvollziehen, ob und wie Bücher dazu beitragen sollen oder können, „symbolisches Kapital“ auf die den Büchern zugeschriebene(n) Person(en) zu übertragen. Ein abschließendes Kapitel fasst schließlich die Ergebnisse zusammen.
Erster Abschnitt: Soziologische Basistheorie
Zu Beginn behandeln wir den theoretischen Hintergrund der nachfolgenden Untersuchung. Dabei konzentrieren wir uns auf drei Theoretiker, in deren Werken wir einen Schwerpunkt auf kulturelle Inszenierungen zur Gewinnung eines daraus abgeleiteten „Mehrwerts“ finden. Zuerst betrachten wir die Theorie des „demonstrativen Konsums“ von Thorstein Veblen. Sein Ansatz wurde für diese Arbeit gewählt, da er uns zeigt, wie mit demonstrativem Konsum von Gütern Prestige gewonnen werden kann. Wir werden sehen, dass diese demonstrative Zurschaustellung von Objekten, um Macht, Intellekt und ökonomischen sowie kulturellen Reichtum zu demonstrieren, bereits eine lange Tradition hat.
An dieses Werk fügt sich Erving Goffmans „dramaturgischer“ Ansatz, der uns darlegt, wie selbstverständlich wir in unserem alltäglichen Handeln Darstellungen und Inszenierungen ein- setzen. Goffman verweist uns dabei auch auf Helmuth Plessner, der Inszenierungen als anthro- pologische Notwendigkeit zur Identitätskonstitution des Menschen beschreibt. Während sich Thorstein Veblens Analyse noch auf den ökonomischen Reichtum beschränkt, benötigen wir für unsere Arbeit einen weiteren Ansatz, der uns dabei hilft, diese Theorie auch im kulturellen und symbolischen Bereich anzuwenden. Wir finden diesen in der Arbeit des Soziologen Pierre Bourdieu. Die der Arbeit zugrunde liegende Hypothese basiert auf dessen theoretischem Werk und arbeitet überwiegend mit dem von ihm vorgeschlagenen Begriffs- apparat. Daher werden wir uns eingehender mit seiner soziologischen Theorie befassen. Wir behandeln seine grundlegenden Begriffe „Habitus“, „Feld“, „Sozialer Raum“ und „Kapital“, die uns zu einer Theorie der sozialen Distinktion führen. Damit verstehen wir besser, wie Bücher eingesetzt werden können, um sich von anderen kulturellen Praxen und damit von anderen sozialen Lebenslagen abzusetzen. Nach der Theorie von Bourdieu orientieren wir uns in unserem Geschmack, unserem Lebensstil nach dem Prinzip unseres Habitus, der zu einem großen Teil von unserer sozialen Lage im sozialen Raum, aufgeschlüsselt nach verschiedenen Kapitalien, mitstrukturiert wird.
Die Unterkapitel sind so aufgebaut, dass sie zuerst in das Leben und Werk der Theoretiker einführen. Anschließend widmen wir uns den Aspekten ihrer Arbeit, die für unsere Forschungsfrage vorrangig wichtig sind, um diese dann auch konkret in die vorliegende Forschungsfrage einzubetten.
Die Theorie des demonstrativen Konsums von Thorstein Veblen
„ Die Weltgeschichte ist die Weltausstellung “
(Adorno 1998a 1941 : 78).
Thorstein Veblen zählt zu den Klassikern der Prestigesoziologie. In seinem bekanntesten Werk „Die Theorie der feinen Leute” (Im Original: „Theory of the leisure class“, 1899) analysiert er die „prestigegenerierende Funktion von Konsumgewohnheiten“ (Vogt 2000: 435). Für Veblen spaltete sich die Gesellschaft in eine müßige, unproduktive Klasse und in diejenigen Klassen der Gesellschaft, die sich ihren Lebensunterhalt durch produktive Arbeit verdienen müssen. Die Mitglieder ersterer befinden sich dabei in einem permanenten Wettbewerb um soziales Prestige. Ausgetragen wird dieser, so Veblen, durch augenf ä lligen Konsum (conspicuous consumption), demonstrativen M üß iggang (conspicuous leisure) von bekannt teuren Gütern und augenf ä llige Verschwendung (conspicuous waste). Diese für das Gesetz von Angebot und Nachfrage paradoxe Erscheinung ging in die volkswirtschaftliche Theorie als Veblen-Effekt ein:
„Steigt der Preis solcher Güter, mit denen man protzen kann, so erhöht sich die Nachfrage, weil sich der Angeber davon eine weitere Prestige-Steigerung verspricht. Alle Leute können sehen wieviel er sich leisten kann“ (Streissler 1994: 143).
Auf den Ansatz von Thorstein Veblen wird für diese Arbeit deshalb zurückgegriffen, da wir damit sehen können, welchen Effekt die Selbstdarstellung über Konsumgewohnheiten und Objekte auf die RezipientInnen hat, der schließlich in einer zusätzlichen Prestigezuschreibung zurückwirkt. Während Thorstein Veblen noch in erster Linie Konsum im klassischen Sinn als Nutzung und Verzehr von ökonomischen Werten betrachtet, werden wir später an Hand der Theorie von Pierre Bourdieu die Anwendung im kulturellen Feld behandeln.
Leben und Werk
Thorstein Bunde Veblen, am 30. Juli 1857 als eines von neun Kindern norwegischer Einwanderer im US-Bundesstaat Wisconsin geboren, wuchs in Minnesota, in einer historisch bedeutenden Phase der amerikanischen Geschichte auf. Der Kapitalismus hatte sich weitgehend durchgesetzt, drei Jahre nach seiner Geburt kam es zum Sezessionskrieg, der schließlich zum Ende der Sklavenhaltergesellschaft führte. Veblens Vater, ein reicher Farmer, ermöglichte seinem Sohn ein Philosophiestudium an der Universität Yale, das er mit einer Arbeit über Kant 1884 abschloss. Erst acht Jahre nach Beendigung des Studiums erhielt Veblen einen Lehrauftrag über politische Ökonomie an der University of Chicago, den er 1906 aus „persönlichen Gründen“ verlassen musste. Ähnlich erging es ihm wenige Jahre später in Stanford.
„Über den genauen Verlauf seiner Karriere streiten sich bis heute die Spezialisten. Manche meinen, er wäre mit seinen gewagten Thesen, aber ebenso mit seinen zahlreichen außerehelichen Liebesaffären im konservativen Hochschulsystem permanent angeeckt. Die neueren Forschungsergebnisse zeichnen einen sanfteren, weniger medienwirksamen Veblen, dem nur eine einzige derartige Affäre zugeschrieben werden kann und möglicherweise nicht einmal die. (...) Man wird wohl nicht falsch liegen, wenn man sagt, daß er es letztlich nicht schaffte, sich in das für Außenstehende mitunter merkwürdig ritualisierte Hochschulleben einzufügen, und es daher nie zu einem eigenen Lehrstuhl brachte“ (Luxbacher 1999)1.
Begründet wird dies mit seiner exzentrischen Lehre und seinem unorthodoxen Lebenswandel. Veblen galt als Misanthrop, der Jahre seines Lebens in völliger Vereinsamung verbrachte. Dabei verhalf ihm seine Außenseiterperspektive bei der Entdeckung von Funktionslogiken seiner Gesellschaft (vgl. Haselberg/Heintz 1997: 16f., Vogt 2000: 435).
Er glaubte nicht an die Fähigkeit des Menschen, aus sich selbst heraus eine bessere Ordnung verwirklichen zu können. Seine Hoffnung auf Gesellschaftsveränderung setzte er, so kurios das auch heute klingen mag, in die Maschinen und die moderne Technik, die das menschliche Verhalten determinieren (Haselberg/Heintz 1997: 10 u. 13). Institutionell begründete Thorstein Veblen 1919 die New School for Social Research in New York, aus der er sich 1926 zurückzog. Veblen starb am 3. August 1929 in seiner Wohnung im kalifornischen Menlo Park.
Folgt man Theodor W. Adorno, lassen sich drei Quellen für Veblens Denken auflisten: der ältere, darwinistisch geprägte Pragmatismus, der Positivismus und der Marxismus. Bereits an der Universität kam Veblen in Kontakt mit den Thesen von William Graham Sumner, der die Darwinsche Evolutionstheorie auf die soziale Entwicklung übertrug. Daneben stand er den zeitgenössischen Vertretern des Pragmatismus Charles Sanders Peirce und John Dewey nahe (vgl. Vogt 2000: 435). Diese Nähe zeigt sich an der Verwendung der Begriffe adaptation und adjustment2:
„Die Wahrheit von Gedanken wird daran ermessen, ob sie dieser Anpassung dienen und zum Überleben der Gattung beitragen. Veblens Kritik setzt dort an, wo die Anpassung unvollkommen geleistet ist“ (Adorno 1998a 1941: 74).
Dazu zeigt sich für Adorno im spezifischen Inhalt Veblens Anpassungslehre, in seinem Fortschrittsglauben und Vertrauen auf die industrielle Technik eine Affinität zum älteren Positivismus von Saint-Simon, Comte und Spencer. Ein Beispiel dafür ist die, an die Comte’sche Stadienlehre erinnernde, Vorstellung eines langsamen und ungleichmäßigen Fortschritts in der Geschichte. Schließlich sieht Adorno in Veblens Kritik am Privateigentum eine Nähe zur marxistischen Theorie. Diese sei jedoch eher oberflächlicher Natur:
„Seine Kritik ist keine Kritik der politischen Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft in ihren Voraussetzungen, sondern eine ihres unökonomischen Lebens. Der ständige Rekurs auf die Psychologie und habits of thought zur Erklärung ökonomischer Tatbestände ist mit der Marxischen objektiven Wertlehre unvereinbar. (...) Die Vorstellung eines Verbrauchs, der nicht um seiner selber willen, sondern auf Grund als objektiv zurückgespiegelter gesellschaftlicher Qualitäten der Tauschobjekte erfolgt, ist verwandt der Marxischen Lehre vom Fetischcharakter der Ware (...). Sein Denken ist ein Amalgam aus Positivismus und historischem Materialismus“ (ebd. 75f.)3.
In der Ökonomie gilt Veblen als Begründer des evolution ä ren Institutionalismus. Bereits während seines Studiums in Yale kam er in Kontakt mit der historischen Schule der Nationalökonomie, die dem Anspruch, ökonomische Naturgesetzlichkeiten zu formulieren, skeptisch gegenüber stand und eine stärker sozialwissenschaftlich ausgerichtete Wirtschaftslehre vertrat (Luxbacher 1999). Ziel war es, aus der Systematisierung und Verallgemeinerung von historischen Daten zu empirisch haltbaren Aussagen zu gelangen. Im Gegensatz zur mechanischen, der Physik entlehnten Modellbildung der Klassik und Neoklassik sieht Veblen in der Evolutionstheorie das Vorbild für das Verständnis ökonomischer Prozesse (Hapke 2000).
Im Wechselspiel zwischen Instinkten und den sich veränderten Lebensbedingungen bilden sich Konventionen und Gewohnheiten (conventions und habits) heraus, die sich in gesellschaftlichen Institutionen verfestigen. Eine der zentralen Institutionen stellt das Privateigentum dar. Besitz, immer in Verbindung mit Macht und sozialem Status, führt in der öffentlichen Zurschaustellung zu einem effektiven Prestigegewinn (conspicuous consumption). Da es in der US- amerikanischen Gesellschaft zur Zeit Veblens keine geburtsständischen Gruppierungen gab, wurde die st ä ndische Differenzierung im Sinne Max Webers über Besitz- und Prestigeakkumulation hergestellt (vgl. Vogt 2000: 436). Damit entstand „ein Wettlauf um Ansehen und Ehrbarkeit“ (Veblen 1997 1899: 48)4, der niemals beendet wird, da die AkteurInnen Prestige durch die immer weitere Akkumulation von Gütern erlangen. In einer Gesellschaft, die daran gewöhnt ist, derartige Vergleiche zu ziehen, wird der sichtbare Erfolg zur Grundlage des Ansehens und zum Selbstzweck. Diese Leistung demonstriert man, um Prestige zu gewinnen.
„Um Ansehen zu erwerben und zu erhalten, genügt es nicht, Reichtum und Macht zu besitzen. Beide müssen sie auch in Erscheinung treten, denn Hochachtung wird erst ihrem Erscheinen gezollt“ (ebd. 52).
Der demonstrative Konsum
Um vom angehäuften Besitz zum Prestige zu kommen, konstatiert Veblen die bereits anfangs erwähnten symbolischen Vermittlungsmechanismen demonstrativen Müßiggangs (conspicuous leisure) und demonstrativen Konsums (conspicuous consumption).
Der Begriff des Müßiggangs bedeutet dabei nicht einfach Trägheit oder Ruhe, sondern vielmehr die „nicht produktive Verwendung der Zeit“. Aus der gesellschaftlich vorherrschenden Überzeugung, dass „produktive Arbeit unwürdig sei“, und um zu zeigen, dass man sich ein solches „müßiges Leben“ leisten kann, übt man eben „unproduktive“ Tätigkeiten aus (vgl. ebd. 58).
„[D]azu gehört unter anderem in unseren Tagen die Kenntnis toter Sprachen oder der okkulten Wissenschaften, eine fehlerfreie Orthographie, die Beherrschung von Grammatik und Versmaßen, die Hausmusik und andere häusliche Künste, Mode, Möbel und Reisen, Spiele, Sport, Hunde- und Pferdezucht“5 (ebd. 59f.).
Dazu das Erlernen „der guten Manieren“ (ebd. 61), wobei die dabei investierte („verschwendete“) Zeit eine wichtige Rolle spielt (vgl. ebd. 62).
Im Laufe der Zeit rückt diese Form des „gebildeten Müßiggangs“ immer stärker in den Hintergrund gegenüber einer anderen Praxis: dem demonstrativen Konsum.
„Der demonstrative Konsument genießt frei und ungehemmt das Beste, was an Esswaren, Getränken, Narkotika, Häusern, Bedienung, Schmuck, Bekleidung, Waffen, Vergnügen, Amuletten, Idolen und Gottheiten zu haben ist“ (Vogt 2000: 437).
Dabei wird der Prestigegewinn durch zusätzlichen stellvertretenden Konsum noch größer. Ehefrauen, Dienstboten, Freunde und Gäste werden zur stellvertretenden Mu ße (Veblen 1997 1899 : 71) angehalten.
„Der Besitz von Sklaven, die Güter erzeugen, verrät Wohlstand und persönliche Kühnheit; doch die Haltung von Sklaven, die nichts erzeugen, verrät noch größeren Reichtum und eine noch höhere Stellung. Unter diesem Prinzip entsteht ein [sic] Klasse von Dienern - und je mehr es sind desto besser -, deren einzige alberne Aufgabe darin besteht, ihrem Herrn aufzuwarten und damit dessen Fähigkeit zu beweisen, eine große Menge an unproduktiven Dienstleistungen zu konsumieren“ (ebd. 74).
In einer vergleichbaren Rolle beschreibt Veblen die „unproduktive“ Ehefrau, die nur noch als Repräsentationsfigur erscheint:
„Arbeit gehört nicht ‚zur Welt der Frau’. Ihre Welt ist der Haushalt, den sie ‚verschönern’ und dessen ‚schönster Schmuck’ sie sein sollte. (...) Dank seiner patriarchalischen Herkunft stellt nämlich unser soziales System der Frau in ganz besonderem Maße die Aufgabe, die Zahlungsfähigkeit des Haushalts so deutlich als möglich zu bezeugen“ (ebd. 175).
Ein bemerkenswertes Beispiel für eine solche stellvertretende Muße findet Veblen in den Kleidungsvorschriften der „müßigen Klasse“ seiner Zeit: dem Korsett der Frau und dem Livree der Diener. Indem diese den Körper einschnüren und die Bewegungsfreiheit einschränken, demonstrieren sie den Reichtum des Hauses, eines Hauses, dass sich Ehefrauen oder Bedienstete „leisten“ kann, deren Kleidung bereits zeigt, dass sie damit für manuelle, praktische Arbeit kaum in der Lage sind und daher zum reinen Schmuck werden (vgl. ebd. Kapitel VII: „Die Kleidung als Ausdruck des Geldes“)6.
Beim demonstrativen Konsum geht es nicht um den direkten Nutzen des Konsums eines Produkts, sondern um den, wie es Bourdieu später nennen wird, symbolischen Distinktionsgewinn durch Verschwenden von Waren mit hohem Preis (vgl. Kapitel 1.3., Bourdieu 1987 1979 ). Zur Illustration führt Veblen das verwendete Besteck als Beispiel an, wenn der „müßige Haushalt“ den teuren handgeschmiedeten Silberlöffel einem maschinell hergestelltem billigen Aluminumlöffel vorzieht, auch wenn letzterer womöglich den erforderten praktischen Zweck besser erfüllt.
Die ästhetischen Geschmacksnormen der Gesellschaft gehorchen, behauptet Thorstein Veblen, ebenso dieser Logik, indem das als schön befunden wird, was teuer und nutzlos ist. Dabei ist es nicht so wichtig, welche Alltagsästhetiken eingesetzt werden, sondern an welchem ästhetischen Ideal man sich orientiert. Dies nennt Thorstein Veblen Prestigegewinn.
In der von Theodor W. Adorno 1941 veröffentlichten Kritik an „Veblens Angriff auf die Kultur“ bewundert dieser Veblens Buch, auch wenn es dem „Spleen“ einer übertriebenen Arbeitsethik unterworfen sei, und dadurch zu anderen Schlussfolgerungen kommt7. Während Veblen den Müßiggang geißelt, liegt das Problem für Adorno in der ungleichen Verteilung des Reichtums und nicht am Müßiggang.
„Im Gegensatz zu Veblen sah Adorno darin [im Müßiggang, Anm. I.E.] ein Moment des Widerstands gegen die konformistische Tyrannei der modernen Industriegesellschaft“ (Vogt 2000: 438).
Veblen „vergötze“ die Sphäre der Produktion, indem er den gesellschaftlichen Prozess nicht als Gesamtprozess versteht. Veblens Kritik richtet sich moralisch gegen den Schwindel, nicht jedoch gegen den Zustand der Gesellschaft. In seiner Betonung des Aspekts der Anpassung verherrlicht Veblen den „Darwinschen Kampf ums Dasein.“ Adorno hält dem entgegen mit:
„Dem heute Möglichen sich anpassen, heißt, nicht länger sich anpassen, sondern das Mögliche verwirklichen“ (Adorno 1998a 1941 : 96).
Später, 1950, werden schließlich David Riesman, Reuel Denney und Nathan Glazer in ihrem Buch „The Lonely Crowd“ erneut Thorstein Veblens „geltungssüchtigen Konsumenten“ (conspicious consumer) aufgreifen und in ihre Theorie einbauen. Dieser versuche, sich „einer Rolle anzupassen, die ihm seine wirkliche oder jedenfalls angestrebte soziale Stellung auferlegt“8 (Riesman et al. 1961 1950: 129). Für die Autoren stellt dieser Typ den innengeleiteten Menschen des frühen Kapitalismus dar, der nach frühzeitig internalisierten Werten und Ideologien handelt9.
„Selbst wenn er alte Meister sammelt, so ist auch dies schon ein standardisiertes Vorgehen, das in einem bestimmten Verhältnis zu seinem standesgemäßen Aufwand steht, während es außerdem noch eine gute Kapitalsanlage oder jedenfalls doch eine sichere Spekulation darstellt“ (ebd. 129).
Anwendung auf die Forschungsfrage
Bei Thorstein Veblen finden wir erstmals in der soziologischen Theorie einen Ansatz, der die Verbindung zwischen der Darstellung und der damit verbundenen reflexiven Prestigezuschreibung der RezipientInnen aufzeigt. Konsum ist damit nicht, wie oftmals von der ökonomischen Theorie angenommen, ein reines Zeichen der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung. Konsum führt auch zur symbolischen Bedürfnisbefriedigung und der Verleihung eines symbolischen Kapitals, das wir später bei Pierre Bourdieu behandeln werden. Während Thorstein Veblen seine Theorie noch schwerpunktmäßig auf den ökonomischen demonstrativen Konsum beschränkt, ist für unsere Forschungsfrage vor allem der kulturelle Bereich von besonderer Bedeutung. Wenden wir nun seinen Ansatz auf unsere Forschungsfrage an, können wir die Praxis, Bücher zur Schau zu stellen, gut mit Veblens Begriffsapparat beschreiben.
Über das Eigentum wird in den kapitalistischen Gegenwartsgesellschaften Macht und sozialer Status ausgedrückt. In modernen Wohlstandsgesellschaften rückt dabei die grobe Unterscheidung der sozialen Lage nach der ökonomischen Situation immer weiter in den Hintergrund zugunsten von kultureller und sozialer Distinktion. Der von Veblen angesprochene „Wettlauf um Ansehen und Ehrbarkeit“ (Veblen 1997: 48) wird nicht mehr nur im Feld des Ökonomischen ausgetragen, sondern tritt auch in den Bildungslaufbahnen, in der Akkumulation sozialer Beziehungen und Netzwerke oder in der ungleichen Partizipationsmöglichkeit innerhalb der Mediengesellschaft auf. Bücher, so die noch zu bestätigende Hypothese, sind Symbole, die unter anderem für Kultur, Bildung und Intellektualität stehen. Damit sind sie geeignete Güter zur Selbstdarstellung und Prestigegewinnung.
Gewiß werden Bücher auch gelesen, wobei Veblen diese Praxis oftmals auch als eine Form des demonstrativen Müßiggangs (conspicuous leisure) ansieht. Daneben erfüllen sie jedoch in der demonstrativen Zurschaustellung die Funktion von conspicuous consumption. Wer sich Bücher zuordnen kann, wird mit symbolischem Gewinn belohnt. Dabei tritt ein Wechselspiel zwischen Konsum und Müßiggang auf. Bücher sind auf der einen Seite Waren und Konsumgut; wertvolle Bücher können viel Geld kosten und eignen sich daher vortrefflich zum demonstrativen Konsum (conspicuous consumption). Gleichzeitig stehen sie für Bildung und Kultur, sich diese anzueignen und zu lesen ist meist eine hochgradig „nicht produktive Verwendung der Zeit“. Interessant ist es, wenn Veblen hier vom „gebildeten Müßiggang“ spricht, worunter er die Kenntnis toter Sprachen, der Rechtschreibung und Grammatik, von Manieren und anderen kulturellen Thematiken versteht. Hier rückt er neben dem ökonomischen Grundkapital auch die investierte und seiner Meinung nach verschwendete Zeit in den Vordergrund.
Damit Bücher zu einem gesellschaftlichen Symbol für Kultur und Bildung, von conspicuous leisure und conspicuous consumption werden können, bedarf es einer gesellschaftlichen Bedeutungszuschreibung, der wir uns im zweiten Abschnitt zum Buch als Symbol und Repräsentationsobjekt eingehend widmen werden.
Der Ansatz eines „demonstrativen Konsums“ wird ein halbes Jahrhundert nach Thorstein Veblen von einem kanadischen Soziologen aufgegriffen und theoretisch verfeinert: Erving Goffman, der sich vor allem den genauen Ablauf innerhalb der „Interaktionsordnung“, wie das Wechselspiel zwischen Darstellung und Interpretation abläuft, ansah. Auf seine Theorie werden wir als nächstes eingehen.
Der dramaturgische Ansatz bei Erving Goffman
„ Die Unbestimmbarkeit der Natur des Menschen ist Quelle der Inszenierung “ (M ü ller-Doohm/ Neumann-Braun 1995: 10)
Erving Goffman war ein soziologischer Denker, dessen Werk meist dem symbolischen Inter- aktionismus zugeordnet wurde, obwohl seine Theorie auf die verschiedensten soziologischen Paradigmen zurückgreift. Eine der häufigsten Charakterisierungen seiner Theorie liegt im Begriff des „dramaturgischen Ansatzes“ (vgl. Richter 2002: 83, Hettlage/ Lenz 1991)10. Erving Goffmans Hauptinteresse bestand darin, zu untersuchen, wie eine sinnhaft inter- pretierbare Ordnung in Kommunikationssituationen hergestellt wird. Im Zentrum stand dabei die „Interaktionsordnung“, also „jene Räume, Gelegenheiten und Zusammenkünfte, in denen die Individuen - in unmittelbarer körperlicher Gegenwart anderer bzw. in Orientierung und Wechselwirkung mit diesen anderen - einen Arbeitskonsens über die Beschaffenheit ihrer Wirklichkeit herstellen“ (Hettlage 2002: 190).
Während Pierre Bourdieu die in den 1950er und 1960er Jahren sehr populäre Rollentheorie großteils durch seine Habitustheorie ersetzte, erarbeitete Erving Goffman eine konzeptuelle Radikalisierung und Präzisierung des Rollen-Ansatzes. Seine Perspektive ist, im Gegensatz zu den meisten anderen Rollentheorien, die Sichtweise des Individuums auf die Gesellschaft (Hitzler 1998: 93). Sein theoretischer Vorschlag war das Bühnenmodell. Dabei ging es nicht um ein Überstülpen des Theatermodells auf das reale Leben. Das Theatermodell war für Goffman vielmehr ein theoretisches Gerüst, das der Soziologie helfen soll, Interaktionsordnungen mit den Mitteln der theoretischen Herstellung von Inkongruenz und Distanz verstehen zu können (vgl. Goffman 2002 1959: 232). Es ging ihm um die Zuhilfenahme eines dramaturgischen Blicks, um hinter das Alltägliche und Selbstverständliche blicken zu können. Mit dem Modell des Theaters gelänge es einfacher, die verschiedenen Rollen innerhalb der Interaktionsordnungen aufzudecken, die wir im Alltag nicht (gleich) sehen würden.
Leben und Werk
Erving Goffman wurde am 11. Juli 1922 in Manville/ Provinz Alberta in Kanada als Sohn der jüdischen Einwanderer Max und Anne Goffman geboren11. Goffman begann zuerst ein Studium der Chemie an der University of Manitoba in Winnipeg (Kanada), um schließlich, über einen Job am National Film Board in Ottawa zur Gesellschaftswissenschaft zu kommen. Er studiert Sozio- logie an der University of Toronto (Kanada) und an der University of Chicago, der er noch bis 1951 angehörte. Schließlich verbrachte er 1949-1951 am Department of Social Anthropology der University of Edinburgh in Großbritannien, um währenddessen Feldforschungen auf den Shet- land-Inseln durchzuführen. In Chicago schrieb Goffman 1953 unter Anselm Strauss seine Dissertation zur „Communication conduct in an island community”. Die Ergebnisse flossen später in sein bekanntestes Werk „Wir alle spielen Theater“ („The Presentation of Self in Every- day Life“) ein. Nach einigen Jahren in Bethesda, Maryland, sowie in Washington, D.C., übersiedelte Goffman 1957 nach Berkeley zur University of California, an der er 1958 eine ordentliche Professur erhielt. Dort arbeitete er zusammen mit Herbert Blumer und avancierte zu einer „Kultfigur“. Ein letztes Mal übersiedelte Goffman 1968 an die Ostküste, um den Posten eines Professors für Anthropologie und Soziologie an der University of Pennsylvania zu übernehmen. Goffman wurde schließlich 1981 zum Präsidenten der „American Sociological Association“ gewählt, verstarb jedoch schon am 19. November 1982 an den Folgen einer Krebserkrankung (Abels 1998: 157f., Hettlage 2002: 188).
Das Werk Goffmans besteht neben Aufsätzen und seiner Dissertation aus elf größeren Werken. Diese befassen sich mit verschiedensten Themen. Natürlich steht vor allem der Aspekt der Inter- aktionsordnung im Vordergrund (vor allem in den Büchern „Frame Analysis“ und „Interaction Ritual“). Seine Presidential Address als Vorsitzender der amerikanischen soziologischen Gesell- schaft, die er nicht mehr vortragen konnte, sollte unter dem Titel „Die Interaktionsordnung“ genau davon handeln (Knoblauch 2001). Es geht ihm in seinen Ausätzen und Büchern um „Techniken der Imagepflege“ („On Cooling the mark out“ 1952, „Face-work“ 1955); die Situation von Insassen totaler Institutionen (wie Gefängnissen und Nervenheilanstalten, in „Asylums“ 1961) oder die sichtbaren bzw. sozialen Merkmale der Stigmatisierung („Stigma“ 1963). Das Thema des Territoriums in der Interaktionsordnung spricht Goffman in „Das Individuum im öffentlichen Austausch“ („Microstudies of the public order” 1971) an. Daneben setzt sich Goffman mit alltäglichen Inszenierungen („The presentation of self in everyday life“) und Geschlechter- Inszenierung in der Werbung („Gender advertisements“) auseinander (vgl. Abels 1998, Helle 2001, Hettlage 2002).
Der „dramaturgische Ansatz“
„ Alles, was tief ist, liebt die Maske. “
(Friedrich Nietzsche „ Jenseits von Gut und B ö se “ 1886: 40, zit. nach Abels 1998: 176)
In den letzten Jahren häufen sich Veröffentlichungen, die von einer „Inszenierungsgesellschaft“ sprechen und damit eine festgestellte Zunahme symbolischer Inszenierungen in der Kunst, der Politik, aber auch in der Alltagswelt beschreiben, wenn gesellschaftliche Gruppen darin wett- eifern, sich und ihre Lebenswelt wirkungsvoll in Szene zu setzen (Fischer-Lichte 2004b, Soeffner 1995, Willems 1998). Dabei beziehen sich die VertreterInnen häufig auf den Begriffs- apparat der Theaterwissenschaft. Dieser subsumiert unter dem Überbegriff der Theatralität vier Aspekte:
1. die Performance und die Aufführung, die eine leibliche Präsenz der AkteurInnen und Zu- schauerInnen voraussetzt und sich dadurch auszeichnet, dass es zu einer direkten Interaktion beider Gruppen kommt. Bedeutend ist hier der soziale Prozess, der sich während der Aufführung abspielt. Daher lässt sich die Aufführung nie vollständig planen und bleibt immer ein einmaliges Ereignis. Der Begriff der Performanz (vom englischen to perform) zielt hingegen stärker auf den Handlungsvollzug ab, d.h. dass Äußerungen einen neuen Sachverhalt schaffen. Wir kennen dies von Eheschließungen, wenn durch den Satz „ich erkläre euch hiermit zu Mann und Frau“ die soziale Tatsache der Ehe begründet wird (vgl. Fischer-Lichte 2004a);
2. die Inszenierung als spezifischer Modus der Zeichenverwendung. Dieser Begriff kam erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts in die deutsche Sprache. Ursprünglich stammt In die Szene setzen / Inscenierung aus dem Französischen, mit der bereits im 17. Jahrhundert gebräuchlichen Redewendung „mettre quelqu’un, quelque chose sur la scène“ (‚jemanden oder etwas zum Gegenstand des Theaters zu machen’, Fischer-Lichte 1998: 82). Der Begriff betont den Prozess des Ausprobierens, Festlegens und immer wieder Veränderns dessen, „was in der Aufführung zu welchen Zeitpunkt an welchem Punkt des Raums erscheinen soll“ (Fischer-Lichte 2004b: 14). Als ästhetische Kategorie bezieht sich die Inszenierung auf den Aspekt der Wahrnehmung, wobei ihre Wirkung gerade darin liegt, nicht als Inszenierung wahrgenommen zu werden;
3. die Korporalit ät;
4. die Wahrnehmung, die sich auf die ZuschauerInnen und deren Beobachtungsperspektive bezieht. (ebd.)
Mit Helmuth Plessner ist die conditio humana durch ihre exzentrische Position bestimmt. Das bedeutet, dass der Mensch im Gegensatz zum umweltfixierten Tier durch Weltoffenheit gekenn- zeichnet ist (Haucke 2000, Plessner 2003). Zwar sind die organischen Unterschiede zwischen Menschen und höheren Tieren nicht gravierender als zwischen anderen Tierarten. Der Mensch kann sich jedoch selbst gegenüberstehen, ein Bild von sich entwerfen, sich mit den Augen eines/ einer anderen wahrnehmen und seine Handlungen reflektieren. Mit der Inszenierung als dem Vorgang, durch eine spezifische Auswahl, Ordnung und Strukturierung von Personen oder Objekten etwas zur Erscheinung zu bringen, entwirft sich der Mensch anderen und sich selbst gegenüber.
„In dieser Debatte fällt dem Inszenierungsbegriff eine Schlüsselfunktion zu. Denn einerseits lässt sich Inszenierung durchaus als Schein, Simulation, Simulakrum begreifen. Es handelt sich bei ihr jedoch um einen Schein, eine Simulation, ein Simulakrum, die allein fähig sind, Sein, Wahrheit, Authentizität zur Erscheinung zu bringen. Nur in und durch Inszenierung vermögen sie uns gegenwärtig zu werden“ (Fischer-Lichte 1998: 89).
Die Tatsache der „Maskierung“ und „Inszenierung“ ist damit als anthropologische Konstante begründet (Hitzler 1998: 97).
Bereits Charles Horton Cooley (1854-1929) griff auf das Bühnenmodell zurück, um soziales Verhalten verstehen zu können. Cooley trennt zwischen zweierlei Umwelten der Menschen, der physischen (material conditions) und der soziokulturellen Umwelt (human or social conditions). Für die erste können wir mit Hilfe unserer Sinneswahrnehmungen ein dingliches Wissen bilden. Für die zweite dient die Sinneswahrnehmung vor allem als Medium der Kommunikation und damit der Möglichkeit, Symbole wahrzunehmen, um ein soziales Wissen (social knowledge) zu entwickeln. Um nun die den Sinnen „nicht unmittelbar zugänglichen Wesenheiten der Kultur und der Gesellschaft mitteilbar zu machen“, verwendet der Mensch Symbole (Helle 2001: 52).
„We must not forget that the symbol is nothing in itself, but only a convenient means for developing, imparting, and recording a meaning, and that meanings are the product of a mental-social complex and known to us only trough consciousness“ (Cooley 1926: 6812 zit. nach Helle 2001: 52; vgl. Richter 2002: 69f.).
Robert E. Park (1864-1944) stellte fest, dass das Wort Person in seiner ursprünglichen Bedeutung eine Maske bezeichnet. Wir kommen als Individuen zur Welt und werden Personen, indem wir einen Charakter aufbauen. Dabei wählen wir unsere sozialen Masken nicht zufällig, sondern danach, wie wir uns präsentieren wollen (Goffman 20021959: 21). Nach Goffman haben wir eine Vorstellung von uns selbst sowie des Selbstbilds, von dem wir annehmen, es in den Augen der anderen zu haben: dem Image (face) (Abels 1998: 169). Wir wissen auch, welche Erwartungen in eine bestimmte Rolle (part) gesetzt werden. Dabei wollen wir in der Interaktion ausdrücken, was wir beim/ bei der InteraktionspartnerIn als Eindruck hinterlassen möchten. Dies geschieht in unserer dramaturgischen Gestaltung, die dazu dient, das Besondere an uns zum Ausdruck zu bringen. Das dahinterliegende Problem liegt in der Spannung zwischen Normalität und Einzigartigkeit. Zum einen möchte jedes Individuum so sein wie alle anderen Menschen und akzeptiert werden. Gleichzeitig wünscht sich jeder Mensch, etwas „Besonders“ zu sein, „unvergessen“. Dieser Balance zwischen phantom normalcy und phantom uniqueness liegen unsere sozialen Darstellungen zugrunde (Abels 1998: 196).
Die Darstellung (performance) bezeichnet das Gesamtverhalten der Personen anderen gegen- über. Derjenige Teil der Darstellung, den wir als „standardisiertes Ausdrucksrepertoire“ regel- mäßig und allgemein für die Vorstellung einsetzen, ist die Fassade (front). Dazu gehört auch der gestaltete Raum unseres Auftritts, mit seinen Möbelstücken, Dekorationen und Requisiten: unser Bühnenbild, weiters die Statussymbole, Geschlecht, Kleidung, Körperhaltung oder Sprechweise, die von Goffman unter die pers ö nliche Fassade gereiht werden; schließlich die sozialen Erwartungsmuster an eine bestimmte Rolle, die sozialen Fassaden (Goffman 2002: 23-30).
Erving Goffman beschreibt in „Wir alle spielen Theater“ zahlreiche Strategien unserer dramatischen Gestaltungen. In der „Idealisierung“ wird gesellschaftlichen Werten eine gesteigerte Bedeutung zugemessen, ein Phänomen, das wir in Bourdieus Werk beispielsweise in der Bildungsbeflissenheit des Kleinbürgertums wiederfinden. Eine weitere Strategie wäre die Mystifikation, in der sich der Darsteller Geheimnisse zulegt, um sich selbst interessanter zu machen (ebd. 32).
In Goffmans Analyse teilt sich der Raum der Interaktionsordnung zumindest in zwei Bereiche: die Vorderb ü hne (front stage) und die Hinterbühne (back regions). Zusätzlich findet sich noch ein Auß en. Wenn wir von diesen Bühnen sprechen, gehen wir grundsätzlich immer vom Bezugs- punkt des/der DarstellerInnen und der aktuellen Funktion aus. Die Vorderbühne ist der Bereich, der vom/ von der Darstellenden als Ort der Inszenierung bestimmt ist. In ihm treten alle Formen der dramatischen Gestaltung auf. Die Hinterbühne, der „back stage Bereich“, dient der Vor- bereitung auf die Darstellung und der Entspannung. Sie ist dem/der Zusehenden grundsätzlich verschlossen. Die Kontrolle über dieses Bühnenbild ist von ausschlaggebender Wichtigkeit. Sollte eine ZuschauerIn plötzlich die Hinterbühne betreten, kann dies zu einer ernsten Be- drohung der Darstellung führen. Auf unser Thema übertragen führt Goffman das Beispiel von Frauen an, welche „die ‚Saturday Evening Post’ auf dem Rauchtisch im Wohnzimmer liegen“ lassen „und einen Band ‚True Romance’ (‚Das hat sicher die Putzfrau liegenlassen’) im Schlaf- zimmer“ verstecken (ebd. 41).
Anwendung auf die Forschungsfrage
Während Thorstein Veblen herausarbeitete, dass Menschen über die Darstellung ihrer Gewohn- heiten beim/ bei der BeobachterIn etwas bewirken, das dahin führen kann, dem Darstellenden Prestige zuzuschreiben, analysiert Erving Goffman vor allem die Interaktionsordnung, in der dies stattfindet. Dazu entwickelt er eine Erklärung für die dahinterliegenden Strategien. Im sozialen Spiel steht jedeR unter dem doppelten Zwang, einerseits als ZeicheninterpretIn zu erkennen, was vorgeht (Interpretationszwang), und sich gleichzeitig selbst als ZeichengebendeR zu erkennen zu geben (Kundgabezwang). Diese gegenseitigen Informationen helfen uns, die Situation zu definieren. Der/die Zeichengebene versucht dabei, ausgehend von seinem/ihrem Selbstbild und dem angenommenen Image sich selbst möglichst gewinnbringend darzustellen. „Wir handeln, sprechen, interagieren nicht einfach: wir inszenieren unser Handeln, Sprechen und Interagieren, indem wir es für uns und andere mit Deutungs- und Regieanweisungen versehen“ (Soeffner 1995: 150).
Damit versucht der Akteur „absichtlich oder unabsichtlich“ sich so auszudrücken, dass die InteraktionspartnerInnen von ihm in bestimmter Weise beeindruckt werden (Goffman 2002: 6). Dem/der ZeicheninterpretIn stehen schließlich verschiedenste Informationsquellen zur Ver- fügung. Vor allem in der „primären Rahmung“, wenn der erste Eindruck erzeugt wird, helfen dabei Erfahrungen, die wir mit ähnlichen Personen gemacht haben, oder nicht überprüfte Klischeevorstellungen. Damit setzen sie ein „Informationsspiel - einen potentiell endlosen Kreislauf von Verheimlichung, Entdeckung, falscher Enthüllung und Wiederentdeckung“ in Gang (ebd. 12). Um diese Interaktionsordnung untersuchen zu können, greift Goffman auf ein Bühnenmodell zurück. Die Bühne steht dabei für den Ort der Inszenierung, das Publikum für die Interpretation. In den realen Interaktionen wird es natürlich nur sehr selten zu einer solchen ein- deutigen Zuweisung kommen. Daher sollte dieses Modell in erster Linie als methodische Hilfs- konstruktion gesehen werden.
Das Bühnenmodell kann darüber hinaus auch für die Analyse von räumlichen und materiellen Konfigurationen verwendet werden. Bemerkenswert ist dabei die Unterscheidung in die Vorder- und Hinterbühnen, die Orte gewünschter und unerwünschter Darstellung. Statussymbole, die sich im Bereich der Vorderbühne befinden, fungieren in diesem Sinne als Identifikationsschlüssel, mit denen eine „ganze Grammatik an Erwartungen“ (Goffman 1980 1974: 339) und ein entsprechendes praktisches Bewusstsein der Akteure verbunden ist. Wir gehen in dieser Arbeit davon aus, dass Bücher in bestimmten Konstellationen einen wesentlichen Bestandteil der Vorderbühne einer dramatischen Inszenierung darstellen. Mit Goffman können wir nun davon ausgehen, dass Inszenierungen auf den Vorderbühnen nicht zufällig entstehen, sondern notwendigerweise helfen, unsere Identität anderen gegenüber zu vermitteln und daher oftmals intentional sind. Bücher sind ein Mittel, unser gewünschtes Image anderen gegenüber zu vermitteln. Sie haben historisch eine gesellschaftlich zugeschriebene Bedeutung erhalten. Auf diesen Aspekt werden wir vor allem im zweiten Kapitel des zweiten Abschnitts eingehen. Menschen haben sich, um ihren Status und ihre Identität darzustellen, immer wieder mit Büchern umgeben. Den Personen wurden dadurch Eigenschaften und Rollenbilder zugeordnet. Der Praxis der Abbildungen von Menschen mit Büchern in einem historischen Kontext werden wir uns im dritten Kapitel des zweiten Abschnitts zuwenden. Dass wir diese Strategien und Praxen der Darstellung mittels Büchern auch heute noch finden, wird das Thema des fünften Kapitels im zweiten Abschnitts sowie des empirischen Teils sein. Festzuhalten bleibt in der Theorie Erving Goffmans vor allem die Bedeutung der Darstellung zur Bildung eines Images. Dieses kann dann, wie wir schon bei Thorstein Veblen gesehen haben, zur Gewinnung von Prestige dienen.
Ein weiterer Aspekt, der sich mit dem Begriffsapparat Goffmans beschrieben lässt, soll noch kurz erwähnt werden: Bücher sind für Inszenierungen sehr praktisch. Sie sind relativ preis- günstig, nehmen nicht viel Platz ein und stellen dennoch sehr deutlich Dispositionen des/der Eigentümers/in dar. Stehen sie im Bücherregal, erkennt man ohne dafür geschulten Blick kaum, ob diese auch gelesen werden oder rein der Inszenierung dienen. Ein Blick auf die Hinterbühne, die Räume, in denen Bücher liegen, die gerade gelesen werden, könnte oft viel mehr über die reale Buchlektüre aussagen.
Die Wahl der Objekte, die wir in unsere Inszenierung einbeziehen, spricht stark dafür, welche Bedeutung wir den jeweiligen Objekten beimessen. Dabei spielt es vordergründig keine Rolle, ob wir diese Bücher auch lesen, sondern welches Image wir damit beschreiben wollen. Wie wir bereits bei Veblen gesehen haben, spielt die Klassenlage eine Bedeutung darin, ob die Inszenierung glückt und Prestige erzeugt wird oder nicht. Die Mikrosoziologie Erving Goffmans behandelt diesen Aspekt nicht eingehender. Diese Frage rückt dagegen in den Mittelpunkt der Theorie von Pierre Bourdieu, mittels derer wir die Verbindung von sozialer Position und Disposition zum Buch verstehen können.
Die Theorie der sozialen Distinktion von Pierre Bourdieu
Das Werk dieses „Schlüsselautor[s] für Kulturtheorie und -forschung“ (Fröhlich/Mörth 1994: 9) beeindruckt vor allem durch seine Vielfalt. Die Themen seiner Arbeiten sind sehr breit gestreut. Dabei beginnen die ältesten, noch hauptsächlich ethnologischen Studien in der Berber- gesellschaft der algerischen Kabylei. Die soziologischen Arbeiten analysieren unter anderem die soziale Gebrauchsweise der Photographie, ungleiche Chancen im Bildungsbereich sowie kultur- soziologischen Themen zu Essen, Freizeit, Geschmack in der Kunst, Analysen des intellektuellen und wissenschaftlichen Felds, Forschungen über Bischöfe, Unternehmer und den Notwendigkeitsgeschmack der ArbeiterInnen. Dazu gehören Arbeiten in den Feldern der Religions-, Rechts-, Kunst-, und Mediensoziologie bis hin zu seiner später ausgearbeiteten Theorie der männlichen Herrschaft. Diese „partiellen Theorien des Sozialen“ (Bourdieu 1979: 41) entwickeln sich zwischen theoretischer Reflexion und empirischer Forschungsarbeit stetig weiter. Dabei erweitert sich im Laufe der Zeit auch der disziplinäre Blick Bourdieus von der Philosophie, über die Ethnologie zur Soziologie.
Leben und Werk
Pierre Bourdieu wurde 1930 als Sohn eines Postbeamten und einer Bauerntochter in einem kleinen Dorf im entlegenen Béarn (Pyränen) geboren. Aufgrund mehrer glücklicher Umstände gelang ihm die Aufnahme an die Pariser Eliteuniversität École Normale Supérieure (vgl. Bourdieu 2002: 12). Die damit überwundene soziale, geographische, kulturelle, sprachliche und ökonomische Distanz verhalf Bourdieu zu einem ausgeprägten sozialen Sinn für die Analyse der Gesellschaft und sollte schließlich auch sein Schaffen prägen. Während seiner Militärzeit in Algerien setzte er sich mit ethnologischen Methoden auseinander, die er später zur „Befremdung der eigenen Kultur“ (Hirschauer/ Amann 1997) im Béarn anwandte. In den 1960er Jahren, Zeit seiner bedeutendsten bildungssoziologischen Arbeiten, arbeitet Bourdieu zuerst an der Universität Lille, ab 1964 wird er Directeur de recherches an der Pariser École pratique des Hautes Études. Bourdieu arbeitet in dieser Zeit noch sehr eng mit Raymond Aron, daneben bildet sich um ihn eine sehr rege, interdisziplinäre Forschungsgruppe. Diese gründet 1975 als Plattform die Zeitschrift „Actes de la recherche en sciences sociales“. In den 1970er Jahren, der Zeit seiner kultur-soziologischen und klassentheoretischen Forschungen, erscheint sein großes Werk zur französischen Sozialstruktur: „La distinction. Critique sociale du jugement “ (1979, dt.: „Die feinen Unterschiede“). Dieser zum Klassiker gewordene Band macht Bourdieu über die Grenzen der französischen wie der soziologischen Welt hinaus bekannt. Mit seiner Berufung an das Collège de France 1982, der prestigeträchtigsten Forschungsstätte in der Hierarchie der französischen Bildungsinstitutionen, wendet Bourdieu seinem Blick auf eine Analyse des wissenschaftlichen Betriebs Frankreichs, die er 1984 als „Homo Academicus“ veröffentlicht. Ab dieser Zeit beschäftigt er sich in zahlreichen kleineren Arbeiten mit den Teilbereichen oder, wie er sagt, „Feldern“ der Gesellschaft. Daneben begründet er das europäische Magazin „Liber“ mit, um seine Hoffnung eines „Europas der Intellektuellen“ voran zu bringen. In seinem letzten Lebensabschnitt wurde Bourdieu vor allem durch sein Engagement gegen den Neoliberalismus und gegenüber den Primat der Ökonomie über die Politik bekannt. In diese Zeit fällt auch seine umfassende Beschreibung des französischen Alltags in „Le Misère du Monde“ (1993, dt. „Das Elend der Welt“). Mit dem kleinen Essayband „Sur la télévision“ (1997, dt. „Über das Fern- sehen“) lanciert Bourdieu die Taschenbuchreihe „Raisons d’agir “ aus der eine gleichnamige politische Bewegung entsteht. Pierre Bourdieu stirbt am 23. Januar 2002 im Alter von 72 Jahren in Paris13 (Zur Biographie siehe: Bourdieu 2002, Erler 1999, Jurt 2003, Schwingel 1995, Steinrücke 2004).
Eine Theorie zur Überwindung von Gegensätzen
Pierre Bourdieu ging es in seiner Theorieentwicklung um eine Überwindung der traditionellen Gegensätze zwischen Subjektivismus14 und Objektivismus15, dem Ökonomischem und Symbolischem (vgl. Steiner 2001: 5f.). Dabei knüpft er an das von Karl Marx formulierte Grundproblem des Zusammenwirkens von Individuum und Gesellschaft an. Marx beschreibt dieses anschaulich im berühmten Satz des achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte:
„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ (Marx 1960 1852: 115).
Er widmet sich somit der Frage, wie sich Subjekte autonom innerhalb der „strukturierten Strukturen“ bewegen.
Von Karl Marx übernimmt Pierre Bourdieu die Vorstellung einer in Klassen gegliederten Gesellschaft. Gleichzeitig bricht er in einigen Punkten mit der marxistischen Theorie. So wirft er ihr eine intellektuelle Illusion vor, wenn sie theoretisch bestimmte Klassen mit real oder tatsächlich mobilisierbaren Klassengruppierungen gleichsetzt16. In diesem Zusammenhang kritisiert er auch den lange Zeit unter MarxistInnen weit verbreiteten Ökonomismus, der die symbolischen Kämpfe unterschlage (Bourdieu 1985: 9ff.).
„Ich für meinen Teil habe versucht, jenen fast theologisch behandelten Gegensatz zu überwinden zwischen den Klassentheorien und den Schichttheorien, einem Gegenstand, der sich zwar in den Soziologievorlesungen gut ausmacht und auch dem Denken à la DIAMAT gut Gesicht steht, faktisch aber nichts weiter darstellt als den Reflex eines bestimmten Standes der intellektuellen Arbeitsteilung.“ (Bourdieu 1993a: 53, Hervorhebung im Original).
In diesem Sinne lautete seine Antwort auf die Frage, ob er sich selbst als Marxist verstehe, mit:
„Folglich ist die Alternative: Marxist sein oder nicht sein, eine religiöse und bestimmt keine wissenschaftliche“ (Bourdieu 1992a: 67.).
Ein zweiter Anknüpfungspunkt für seine Theorie liegt in der Aussage: „Das Reale ist relational“ (Bourdieu 1998: 15). Bourdieu bezieht sich in seiner Theorie auf Ernst Cassirers Gegensatz von „substantiellen Begriffen“ und „funktionalen und relationalen Begriffen“17. Während „substantialistische“ Interpretationen jede Praxis als für sich stehend, unabhängig vom Kontext und der „Korrespondenz“ mit der Umgebung betrachten, rückt Bourdieu die Verhältnissein den Mittelpunkt.
„Was man gemeinhin einen Unterschied nennt (...) [ist] in Wirklichkeit (...) eine Differenz (...), ein Abstand, ein Unterscheidungsmerkmal, kurz, ein relationales Merkmal, das nur in der und durch die Relation zu anderen Merkmalen existiert.“ (Bourdieu 1998: 18).
Als „reflektierter Eklektizist“ (Bourdieu 2000: 120), auch in Anlehnung an John von Salisbury (1120-1180) und Robert Merton stand Bourdieu auf den Schultern der Riesen der Soziologiegeschichte. So bezieht er sich explizit auf die soziologischen Theorien von Max Weber oder Émile Durkheim18, wissenschaftstheoretisch war er von der französischen Tradition eines Gaston Bachelard und Georges Canguilhem geprägt. Dazu kommt die Auseinandersetzung mit Sartre und Lévi-Strauss, Aron und Althusser, Foucault und Derrida19, die nicht einflusslos auf sein eigenes Denken blieben. Weiteren Einfluss auf sein Werk hatten Immanuel Kant, Auguste Comte und Norbert Elias (Bourdieu 2002, Fuchs-Heinritz/ König 2005).
Pierre Bourdieu, der zwar selbst sagt, dass Theorie, die nur von Intellektuellen für Intellektuelle geschrieben wird, keine Sekunde der Mühe wert ist (Bourdieu 1993a: 7), schreibt in einer sehr verästelten und schwierig zu lesenden Sprache, ein Stil, den er damit begründet, dass sich gesellschaftlich Komplexes nur auf komplexe Weise sagen lässt (Schwingel 1995: 10). Dabei fordert er den/die LeserIn mit Satzungetümen, zahlreichen Anspielungen und Wortspielen sowie einer nur sehr selten erläuterten Begriffsverwendung. Dazu kommt, dass die verschiedenen ÜbersetzerInnen oftmals verschiedene Äquivalente im Deutschen finden20.
Nichtsdestotrotz fasziniert die Arbeit von Bourdieu, seine umfangreichen empirischen Forschungen, kreativen Weiterentwicklungen bereits vorhandener Theorie sowie seine eigene Theorie-Arbeit. Selbst sein Schreibstil wirkt wie eine Anwendung seiner eigenen Theorie, in der sich so vieles um Darstellung, Distinktion und Symbolik dreht. Gerade in ihrer schweren Verständlichkeit eignet sie sich hervorragend zur intellektuellen Distinktion (Bourdieu 1990). Bedeutende Begriffe des Bourdieuschen Werks sind „Habitus“, „Kapital“, „Feld“ und „sozialer Raum“. Einzeln betrachtet wirkt ihre Verwendung oftmals verwirrend, da sie nur in ihrer Verbindung dem Gesamtkonzept Bourdieus gerecht werden. Daher werden wir im Folgenden diese Begriffe auch in ihrer Interdependenz erklären. Wir werden uns diesen Begriffen auch mit Hilfe von kleinen Beispielen nähern, die einem besseren Verständnis dienen sollen.
Der Habitus als Vermittler zwischen sozialem Raum und Lebensstilen
“ Der Habitus ist das vereinigende Prinzip, das den verschiedenen Handlungen des Individuums ihre Koh ä renz, ihre Systematik und ihren Zusammenhang gibt. “
(Krais 2004: 95)
Die Entstehung der Soziologie als Wissenschaft konnte erst mit der durch die Aufklärung einsetzenden Entzauberung der Welt entstehen. Von da an ist die Welt nicht mehr die von Gott gesetzte, einzig mögliche Ordnung. Mit der Entzauberung oder Verweltlichung rückt das Individuum in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Menschen werden als handlungsfähige, selbstverantwortliche und prinzipiell gleiche Individuen anerkannt. Sie bilden gemeinsam die Gesellschaft. Diese Praxis zu untersuchen ist die Soziologie im 19. Jahrhundert angetreten. In unseren alltäglichen Handlungen produzieren wir permanent Gesellschaft, ohne dies explizit zu tun. Die Soziologie muss daher den Menschen als vergesellschaftlichtes Individuum denken, die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft erkennen, „das Paradoxon vom objektiven Sinn ohne subjektive Absicht lösen“ (Bourdieu 1981: 170).
Das bis heute einflussreichste Konzept zur Lösung dieser Frage ist das Konzept der „Rolle“ (vgl. Hillmann 1994: 742ff.). Andere soziologische Denker, beispielsweise Norbert Elias in “Die Gesellschaft der Individuen” (Elias 1999: 243ff.) oder Pierre Bourdieu verwendeten und entwickelten den Begriff des Habitus. Dieser kann als Alternative zum Begriff der “Rolle” gesehen werden (vgl. Krais 2004: 92ff.).
Talcott Parson (1902-1979) unterstellt in seiner Rollentheorie ein bewusstes Wissen der Inter- aktionspartner um die Erwartung des Anderen, eine bewusste Zweck-Mittel Rationalität.
Soziales Handeln in der Theorie von Pierre Bourdieu ist demgegenüber differenzierter aufgebaut und folgt dem „praktischen Sinn“ der handelnden Subjekte21.
Mittlerweile ist die Konzeption des Habitus von Bourdieu zu einem einflussreichen Bestandteil der soziologischen Gegenwartstheorie geworden. Dabei hat dieser Begriff bereits eine lange Karriere hinter sich. Seine Ursprünge finden sich in der aristotelischen Philosophie, später wird er von Thomas von Aquin verwendet22. Mit der cartesianischen Wende des „Cogito ergo sum“, die das Denken in das Zentrum der Philosophie rückt, verschwindet diese körperliche Sicht wieder aus dem abendländischen Wissenschaftsdiskurs, bis er spätestens im 20. Jahrhundert wiederentdeckt wird. In der Soziologie findet sich der Begriff bei Émile Durkheim, Max Weber, Arnold Gehlen, Norbert Elias, aber auch Peter Berger und Thomas Luckmann (vgl. Erler 2004).
Pierre Bourdieu greift auf die Habitus-Konzepte erstmals Anfang der 1960er Jahre bei seinen Feldforschungen in Algerien zurück. Der Begriff diente dabei der Erklärung des paradox wirkenden Umgangs der maghrebinische Bevölkerung mit dem von den französischen Kolonialtruppen eingeführten kapitalistischen Wirtschaftssystem23. In der vorkapitalistischen Wirtschaft verbot die Logik der einfachen Reproduktion und die damit einhergehende zyklische Zeitperspektive jegliche Antizipation der Zukunft, soweit dies nicht den bereits im Gegebenen eingeschriebenen objektiven Möglichkeiten gehorchte (Schultheis 2004: 26). Tauschprozesse wurden bis dahin durch die Strategien der Ehre geregelt und folgten der Logik von Gabe und Gegengabe (Krais 2004: 98f.). In der kapitalistischen Wirtschaft beruht die Wirtschaftsstruktur dagegen auf Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit und erfordert eine berechnende und vorausschauende Verhaltensdisposition. Bourdieu zeigt die symbolische Gewalt im Blick der Kolonialherrn gegenüber dem „Abweichenden“ und „Fremden“ (Schultheis 2004:18).
„Die üblichen Vorurteile gegenüber der vermeintlichen Unfähigkeit dieser Menschen, in ‚geordneten Verhältnissen’ zu leben (mangelnde Hygiene in den Wohnungen, fehlende ökonomische Planung, geringe Arbeitsmotivation, Unzuverlässigkeit etc.), waren ein vor- zügliches Mittel zur Legitimierung der kolonialen Konstellation, ähnlich wie die heutigen Theorien von der so genannten Kultur der Armut die Existenz sozialer Ausschließung unter Rückgriff auf quasi-genetische Reproduktionsmuster erklären und legitimieren“ (ebd. 26).
Die bisherigen Erfahrungen der kabylischen Bauern und Bäuerinnen, die damit gegebene Sicht- weise der Welt und die Vorstellungen von dem, was zu tun und zu lassen ist, hatten sich den Individuen so stark eingeprägt, dass sie unter den neuen Bedingungen nur noch unangemessen, ‚unvernünftig’ und damit auch erfolglos im Hinblick auf die Sicherung ihrer Existenz handeln konnten (vgl. Krais 2004: 99). Bourdieu bezeichnet diese Trägheit des Habitus als hysteresis. Damit sehen wir den Einfluss historisch entstandener und mittlerweile als „natürlich“ empfundener sozialer Konstruktionen auf unser Handeln und die Bewertung des Handelns anderer.
Die einzelnen „Akteure“ als „sozialisierte Körper“, lassen sich durch drei aufeinander bezogene Positionierungen beschreiben: die „ Disposition “24, die „ soziale Position “ bzw. die „ Position, die jemand einnimmt “ sowie „ die Position, die jemand bezieht “ (vgl. Bourdieu 1998: 17). Mit der Disposition beschreibt Bourdieu die identitätskonstituierenden Merkmale der AkteurInnen, die persönlichen Attitüden, Gesten, Vorlieben, also „Seelenzustände“, die auch „Körperzustände sind“ (Vgl. Bourdieu 1987: 142). Die soziale Position bezeichnet den primären sozialen Kontext, die Position des Akteurs im Netz von Beziehungen. Wie die Identität und Positionierung von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, beschreibt schließlich die Position, die jemand einnimmt. Diese Positionierung zeigt auch die Machtposition des/der jeweiligen AkteurIn in der Gesellschaft (vgl. Papilloud 2003: 31-35). Damit geht Bourdieu über Goffmans Interaktionsordnung hinaus, und integriert in die mikrosoziologische Theorie eine makrosoziologische Perspektive der gesellschaftlichen Ordnung.
Der Habitus selbst bildet sich nun aus diesen verinnerlichten Dispositionen, die Verhalten und Denken, Wahrnehmung und Emotionen, Mimik und Gestik, Sprache und Körpersprache regulieren und steuern:
„Der Begriff Habitus bezeichnet im Grunde eine recht simple Sache: wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person versperrt ist. Wer z.B. über einen kleinbürgerlichen Habitus erfügt, der hat eben auch, wie Marx einmal sagt: Grenzen seines Hirnes, die er nicht überschreiten kann. Deshalb sind für ihn bestimmte Dinge einfach undenkbar, unmöglich, gibt es Sachen, die ihn aufbringen oder schockieren. Aber innerhalb dieser seiner Grenzen ist er durchaus erfinderisch, sind seine Reaktionen keineswegs immer voraussehbar“ (Bourdieu 1993b: 33f.).
Der Habitus ist somit einerseits gesellschaftlich bedingt und beruht auf individuellen und kollektiven Erfahrungen, andererseits lässt er dem/der AkteurIn innerhalb bestimmter Grenzen einen gewissen Freiraum25. An den Dispositionen des Habitus lassen sich dabei drei Aspekte analytisch auseinander halten (vgl. Schwingel 1995: 56):
1. die Wahrnehmungsschemata, welche die alltägliche Wahrnehmung der sozialen Welt strukturieren26 ;
2. die Denkschemata, mit
- Alltagstheorien und Klassifikationsmustern27,
- impliziten ethischen Normen zur Beurteilung gesellschaftlicher Handlungen (Ethos),
- ästhetischen Maßstäbe zur Bewertung kultureller Objekte und Praktiken (Geschmack), sowie
3. die Handlungsschemata.
Diese drei Ebenen sind ineinander verflochten, verinnerlicht und sind uns im Handeln nicht oder nur „höchst bruchstückhaft“ (Bourdieu 1987: 283) bewusst. Dies sind sie vor allem auch dadurch, da ihr Entstehungsprozess, die Verinnerlichung mittels „stiller Pädagogik“, vergessen wurde.
Damit strukturiert der Habitus das, was wir wahrnehmen, wie wir dieses Wahrgenommene beurteilen, verarbeiten und bewerten und schließlich wieder neue Handlungen setzen, die von anderen AkteurInnen wahrgenommen werden. Die Entstehung des Habitus ist dabei nicht arbiträr, sondern eingebettet in die jeweiligen Lebenslagen.
Der Raum der sozialen Positionen und Lagen
Unumstritten ist die Existenz sozialer Ungleichheit. In ihrem Wortsinn meint sie meist nichts anderes, als die Feststellung ungleicher Positionen im sozialen Raum, die wiederum zu ungleichen Chancen führen. Es ist unter den zahlreichen Theorien und Ideologien weitaus umstrittener, wie soziale Ungleichheit zu benennen ist und ihre Ursachen zu beschreiben sind. Lange Zeit dominierten marxistische Klassentheorien zur Beschreibung ökonomischer Ungleichheit, feministische Theorien setzten sich mit der Geschlechterdifferenz, andere Theorien mit Ungleichheit nach Kriterien von Ethnie, „Rasse“ oder Kulturzugehörigkeit auseinander.
Pierre Bourdieu, seinem relationalem Ansatz folgend, zeichnet soziale Ungleichheit in einem Schema als „Raum der sozialen Positionen und Lagen“. Unter Raum versteht er dabei ein „Ensemble von Positionen, die distinkt und koexistent sind, einander äußerlich, bestimmt durch ihr jeweiliges Verhältnis zu allen anderen, durch ihre wechselseitige Äuß erlichkeit und durch Relationen von Nähe und Nachbarschaft bzw. Entfernung wie auch Ordnungsrelationen wie über, unter und zwischen “ (Bourdieu 1998: 18, Hervorhebung im Original). Dieses Modell zeigt die Positionierung der AkteurInnen nach den ihnen verfügbaren gesell- schaftlichen Machtmitteln und den damit verbundenen sozialen Chancen. Der Raum wird mit Hilfe eines Achsenkreuzes dargestellt, wobei auf der Ordinate (y) das Kapitalvolumen, auf der Abszisse (x) die Verteilung nach ökonomischen und kulturellen Kapital aufgetragen ist28. Damit bekommt das Diagramm je nach Kapitalvolumen ein Oben und Unten sowie eine „linke“ und „rechte“ Seite, d.h. einen intellektuell-kulturellen sowie einen ökonomisch-materiellen Pol29. Als zusätzliche Dimension wird die historisch-zeitliche Entwicklung von Kapitalvolumen- und struktur der einzelnen Positionsträger, symbolisiert über die potenzielle soziale Laufbahn der jeweiligen Berufsgruppen, mittels Vektoren dargestellt. Pierre Bourdieu fasst die AkteurInnen in ihren Berufsgruppen zusammen, da diese zum einen die Stellung innerhalb der Produktionsverhältnisse bezeichnen, andererseits den Zugang zu den spezifischen Habitusformen erzeugen oder auswählen (Bourdieu 1987: 176).
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Abbildung 1: Sozialer Raum
Über diesem Raum der sozialen Positionen und Lagen muss man sich ein in seinem Aufbau identisches Diagramm vorstellen, der die verschiedenen Lebensstile nach der Verteilung im sozialen Raum zeigt: Den Raum der Lebensstile Hier lassen sich die Geschmacksausprägungen, wie bevorzugte Musik, Literatur, Malerei, Zeitschriften und Zeitungen, politische Parteien, Auto- marken, Getränke und Speisen, Vereine, Hobbies, Sportarten usw. ablesen. Die Verbindung zwischen den beiden Ebenen wird von der dritten Ebene des sozialen Raums geleistet: dem Habitus.
Der Habitus fungiert hier als „Vermittlung zwischen Struktur und Praxis“ (Bourdieu 1974: 125) zwischen der Position im sozialen Raum und dem Lebensstil. Als „verinnerlichte Gesellschaft“ wirkt er, da er die geronnene Erfahrung, das Produkt der Geschichte des Individuums ist. Dieses Individuum ist selbstverständlich im sozialen Raum positioniert. Der jeweilige Habitus wird somit von dieser Position aus geprägt, prägt damit aber auch gleichzeitig den sozialen Raum. Er ist ein opus operatum, eine strukturierte Struktur genauso wie ein modus operandi, eine strukturierende Struktur.
Damit kommen wir zu einer praktischen Erklärung des Habitusbegriffs. Von Geburt an ist der Mensch in soziale Zusammenhänge einbezogen und befindet sich in einer aktiven Auseinander- setzung mit der Welt (vgl. Krais/ Gebauer 2002: 61). Soziale Unterschiede werden dabei in diesem Modell als Kategorien des Geschmacks wahrgenommen. Dieser leitet auch das Prinzip wahlverwandtschaftlicher Gesellschaftsformen und Gruppenintegration: Bourdieu findet in seinem Modell eine Erklärung, weshalb sich Menschen mit ähnlichem sozialem Background oft mit sehr ähnlichen Lebensstilen widerfinden. Diese strukturellen Homologien lassen sich nicht nur rein ökonomisch erklären, beispielsweise indem sich Menschen mit einem gewissen Einkommen nur bestimmte Automarken leisten können. Es lassen sich damit auch Präferenzen für politische Parteien, Zeitungen, Berufe, Essgewohnheiten bis hin zur Frage der Partnerwahl und des Heiratsmarkts erklären (vgl. Bourdieu 1987).
Die gesellschaftliche Position im sozialen Raum wird durch das Kapitalvolumen, der Verteilung zwischen den Kapitalsorten innerhalb dieses Volumens, und schließlich durch die Differenz zu den anderen AkteurInnen im sozialen Raum30 bestimmt. „Die fundamentalen Gegensatzpaare (oben - unten, reich - arm, etc.) setzen sich tendenziell als grundlegende Strukturierungs- prinzipien der Praxisformen wie deren Wahrnehmung durch“ (Bourdieu 1987: 279). Diese „Systeme dauerhafter Dispositionen“ werden zu „strukturierenden Strukturen“, da sie wiederum „als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen“ (Bourdieu 1979: 165) fungieren. In einer Grafik zeigt Bourdieu den Kreislauf sehr anschaulich (siehe Abbildung 2). Die Lebensbedingungen31 wirken auf bzw. strukturieren den Habitus32. Dieser wiederum strukturiert einerseits das „System der Erzeugungsschemata von klassifizierbaren Praktiken und Werken“, andererseits das „System der Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata“, den Geschmack. Diese wirken sich selbstverständlich auf die Praktiken und Werke aus, die den Lebensstil, als System von klassifizierten und klassifizierenden Praktiken, i.e. von Unterscheidungszeichen“ (Geschmacksrichtungen) prägen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Habitus (nach Bourdieu 1987: 280)
Das habituelle Dispositionssystem stellt die Grundlage für den „sozialen Sinn“33 dar. Dieser praktische Sinn dient den AkteurInnen als Orientierungshilfe im sozialen Raum. Dabei wird nicht zwischen der geistigen und körperlichen Erfahrung getrennt. Für letztere verwendet Bourdieu die griechische Übersetzung von Habitus: Hexis. Auch diese „leibliche Hexis“ (ebd. 270), die Körperhaltung und -bewegung, die Art zu sprechen, sind habituell bedingt.
[...]
1 Seine kritische Haltung zum Universitätsbetrieb zeigt Veblen bereits sehr deutlich im vierzehnten Kapitel der „Theory of the Leisure Class“ mit dem Titel „Die Bildung als Ausdruck der Geldkultur“ (Veblen 1997 1899 : 348-382).
2 Die deutschsprachige Ausgabe übersetzt beide Begriffe mit Anpassung. Adaption wird im Englischen im Kontext von Gew ö hnung benutzt, während adjustment stärker den aktiven Prozess der Angleichung und Abstimmung betont.
3 Zum Fetischcharakter der Ware: Marx, Karl: Das Kapital Band 1, Erstes Buch, Erster Abschnitt, Erstes Kapitel: Die Ware, 4.: Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis (Marx 1963a: 85-91).
4 Etwas deutlicher im Englischen original: „a race for reputability on the basis of an invidious comparison“ (Veblen 1996).
5 „So, for instance, in our time there is the knowledge of the dead languages and the occult sciences; of correct spelling; of syntax and prosody; of the various forms of domestic music and other household art; of the latest properties of dress, furniture, and equipage; of games, sports, and fancy-bred animals, such as dogs and race-horses“ (Veblen 1996).
6 Diesen Gedanken greift Pierre Bourdieu später wieder auf und sieht ihn auch noch in den westlichen Gegenwartsgesellschaften verwirklicht (vgl. Bourdieu 2005: 54f.).
7 Für Adorno antizipierte Veblen bereits die totale Herrschaft, zum Beispiel in seinen Analysen des Sports als chauvinistische, „kriegerische“ Rituale (vgl. Veblen 1997 1899, Kapitel X „Überreste der Tapferkeit im modernen Leben“, vgl. Erler 2000), die schließlich im
20. Jahrhundert auf totalitären Massenveranstaltungen instrumentalisiert werden (vgl. Adorno 1998a 1941: 77 u. 79). Auch die von Adorno konstatierte Entwicklung der Kultur zur Kulturindustrie, welche die Funktion habe, den sozialen Kitt zwischen antagonistischen Klassenfraktionen zu bilden, wurde von Veblen bereits 1899 vorweggenommen, indem für ihn Kultur „nie etwas anderes gewesen [sei] als Reklame, als Ausstellung von Macht, Beute, Profit“ (ebd. 78). Beachtenswert findet Adorno auch die frühe Behandlung der Frauenfrage bei Veblen.
8 „The Veblenese conspicuous consumer is seeking to fit into a role demanded of him by his station, or hoped-for station, in life“ (Riesman et al. 1989: 118).
9 Dieser Typus werde im Laufe des 20. Jahrhunderts vom auß engeleiteten Verbraucher abgelöst, der sich von anderen leiten lässt und nicht mehr danach trachtet, „seinen Besitz vor ihnen zu entfalten und ihnen damit in die Augen zu stechen.“ Vielmehr handelt der neue Typ des au ß engeleiteten Verbrauchers nach den Werten seiner Zeitgenossen (peers).
10 Hubert Knoblauch (2001) kritisiert diese Zuschreibung auf eine „dramaturgische Theorie des Soziallebens“ als einseitig und schlägt vor, Goffman als Erforscher der sozialen Ordnung der Interaktionen zu beschreiben. Da sich diese Arbeit auf das bekannteste Werk Goffmans „Wir alle spielen Theater“ konzentriert, werden wir dennoch die Beschreibung Goffmans Theorie als „dramaturgischen Ansatz“ beibehalten.
11 Es ist mir bisher nicht gelungen, eine Quelle zu finden, die neben der Konfession auch den Beruf der Eltern anführt.
12 Cooley, Charles H. (1926): The Roots of Social Knowledge. In: American Journal of Sociology 32. 1926/27, S. 59-79.
13 Eine Übersicht über das Gesamtwerk bieten Ingo Mörth und Gerhard Fröhlich vom Institut für Soziologie an der Universität Linz unter http://hyperbourdieu.jku.at. (2005)
14 Unter subjektivistischen Ansätzen subsumiert Bourdieu unter anderem Sartre oder Alfred Schütz, denen gegenüber er argumentiert, dass sich Individuen nicht vorraussetzungslos zueinander verhalten, sondern innerhalb einer Struktur von vorgegebenen und selbst (mit-)gestalteten “Gravitations- und Kraftfeldern” agieren. Wie wir später sehen, werden diese vorgegebenen Strukturen inkorporiert und prägen den “Habitus” der Menschen (vgl. Fröhlich 1994, S.34).
15 Darunter subsumiert Bourdieu die Konzepte u. a. von Émile Durkheim, Karl Marx und Claude Lévi-Strauss, denen gegenüber Bourdieu die Handlungsautonomie der AkteurInnen wieder stärker in die Theorie einbauen will. Genauso wenig wie diese voraussetzungslos agieren, agieren sie völlig von Umwelteinflüssen determiniert.
16 Dies geht soweit, dass Bourdieu einmal die Frage stellt, wie weit unsere sozialen Strukturen von heute nicht Ergebnis der symbolischen Strukturen von gestern sind, ob also nicht die heutigen „Klassen“ zumindest teilweise Ergebnis des Marxschen Theorie-Effekts sind (Bourdieu 1992a: 32).
17 Für Cassirer ist das Symbol der Schlüssel zum Wesen des Menschen. Seine “Philosophie der symbolischen Formen” geht davon aus, dass eine mögliche Definition des “Wesens” des Menschen, wenn überhaupt, dann nur also funktionale, nicht als substantielle möglich ist. Der Mensch lässt sich nicht durch ein ihm innewohnendes Prinzip definieren, sondern nur durch sein Wirken. Dieses Wirken bestimmt die Sphäre des “Menschseins”.
18 Zum Theoriebezug Bourdieus auf Weber, Durkheim und Marx siehe Papilloud (2003: 9-28).
19 Die Theorie Bourdieus lässt sich niemals von der soziologischen Theoriegeschichte abgelöst betrachten. Bourdieu nimmt immer wieder Theorieansätze implizit aus der Vergangenheit oder anderen Disziplinen und baut sie in seine Theorie ein. So bezieht er sich beispielsweise in seinem Hauptwerk „La Distinction“ zweifelsfrei auf die Arbeiten Thorstein Veblens und dessen „Theory of the Leisure Class“ (siehe Erster Abschnitt, Kapitel 1).
20 So wird beispielsweise das von Bourdieu verwendete Wort “corps” (Körper) häufig mit “Leib” übersetzt, was wiederum philosophiegeschichtliche Implikationen erzeugt, die mit dem Bourdieuschen Werk nicht vereinbar sind. Auch das von Bourdieu verwendete “agent” kann sich in den deutschen Übersetzungen als „Akteur“, “handelndes Individuum” sowie als “soziales Subjekt” wiederfinden. Bourdieu hat sich gegen den Begriff “Akteur” genauso ausgesprochen wie gegen den Begriff des “sozialen Subjekts”, da “agent” im Französischen noch weitere Bedeutungen besitzt. So meint es nicht nur den/die Handelnde(n) sondern auch den für eineN Organisation oder Macht Handelnden. Die Konnotation von “agent” impliziert damit auch das handelnde Individuum als soziales Wesen, das durch seinen Handlungen Gesellschaft produziert. Wir werden im vorliegenden Text dennoch den weit verbreiteten Begriff des/der “Akteurs/in” verwenden. Ebenso „kreativ“ ist die Übersetzung des Französischen „sens pratique“ in das Deutsche „sozialer Sinn“. Dazu kommt, das manche Begriffe unterschiedlich stark ins Deutsche übertragen wurden, wie „Einverleibung“ statt „Inkorporierung“ oder „Verinnerlichung“ bzw. „Interiorisation“. (vgl. Fröhlich 1994: 51 FN1 u. 2, Krais/Gebauer 2002: 84 FN1).
21 Krais zieht in ihrem Aufsatz auch die in der Parson’schen Formulierung des Rollenkonzepts explizite Trennung von Körper und Geist als Kontrast zum Habitus-Konzept heran. Der Habitus, ganz besonders in der Theorie von Bourdieu, bezieht den Körper ganz bewusst in die Theorie ein. Er ist, wie Bourdieu immer wieder betont, inkorporierte Struktur, inkorporierte Geschichte.
22 Von der philosophischen Begriffsdefinition her bedeutet Habitus (lat.) „’Haltung’, das Gehabe, das Gebaren, die dauernde Gestalt, Verhaltens- und Erscheinungsweise eines Menschen, bei Thomas v. A. (Summa theol. I,II 49,2 ad 1) insbes. die zuständliche Eigenschaft, die dauernde Anlage eines Dinges zu etwas, die ‚Fertigkeit’ im Unterschied zur dispositio (Anlage) als solcher, der ‚Fähigkeit’; daher auch die Gewohnheit.“ (vgl. Kirchner, Michaëlis 1998: s.v.). Damit versucht Aquin die Vermittlungsinstanz zwischen der Potentialität und der Ausführung einer Handlung auszudrücken (vgl. Krais/Gebauer 2002: 26ff.).
23 „Mit der französischen Kolonisation erlebt Algerien, bis dahin geprägt durch eine vorkapitalistische Wirtschaftsweise und -ethik, eine dramatische Umgestaltung: brutale Durchsetzung zutiefst fremder ökonomischer Prinzipien, rapider Verfall der traditionellen landwirtschaftlichen Produktionsweise, Entstehung eines neuen Subproletariats, ökonomische Präkarisierung und gesellschaftliche Entwurzelung als Los breiter Bevölkerungsschichten“ (Schultheis 2004: 17).
24 Anordnung, Anlagen, Bereitschaft, Empfänglichkeit.
25 In seinen älteren Arbeiten erklärt Bourdieu diesen Zusammenhang gerne mit der damals gerade entwickelten generativen Grammatik von Noam Chomsky (vgl. Bourdieu 1997c: 62). Der Linguist Chomsky nimmt an, dass jedeR SprecherIn basierend auf einer bereits angeborenen „Universalgrammatik“ die spezifische Grammatik seiner Sprache hervorbringt. Bourdieu dreht dieses Modell um, indem er den Habitus nicht als angeboren, sondern als erfahrungsabhängige Konstruktion entwirft. Die Parallele zu Chomsky besteht jedoch darin, dass beide von einem „System generativer Strukturen, das unbegrenzt viele Äußerungen erzeugen kann“ (Krais/Gebauer 2002: 32) ausgehen. Mit dessen Hilfe sind die AkteurInnen fähig, auf alle neuen Situationen mit immer wieder neu entwickelten Äußerungen zu reagieren. Die Entwicklung setzt sich im Wechselspiel zwischen gesellschaftlicher Bestätigung und Korrektur immer weiter fort (Krais/Gebauer 2002: 33).
26 Vgl. Probleme selektiver Wahrnehmung in der empirischen Sozialforschung.
27 Vgl. “Typik” und “Relevanz” bei Alfred Schütz (1899-1959, vgl. Richter 2002: 96-98).
28 Auf den „Kapital“ Begriff gehen ab Seite 41 genauer ein.
29 Vgl. die im Französischen übliche Einteilung in das rechte und linke Seineufer in Paris, rive gauche und rive droite.
30 Daher auch der französische Originaltitel „La distinction“ für „Die Feinen Unterschiede“.
31 „objektiv klassifizierbar (Konditionierungsklassen) und Position innerhalb Struktur der Lebensbedingungen (vgl. Bourdieu 1987: 280).
32 „Habitus als strukturierte und strukturierende Struktur“ (ebd.).
33 Im französischen Original „le sens pratique“: der praktische Sinn.
- Citation du texte
- Ingolf Erler (Auteur), 2005, Das Buch als soziales Symbol, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/157163
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