Die Ernährungsanamnese ist die Grundlage der Diät- und Ernährungsberatung. Nach der Ernährungsanamnese erfolgt die Ernährungstherapie. Die Ernährungsanamnese wird von Diätassistenten und Diätassistentinnen sowie Ernährungswissenschaftlern und Ernährungswissenschaftlerinnen durchgeführt. Nach der Ernährungsanamnese kann das Ernährungsverhalten in die Richtung der notwendigen diätetischen Therapie (Ernährungstherapie) modifiziert werden. Diätassistent Sven-David Müller widmet sich in seiner Masterarbeit dem Thema Ernährungsanamnese und führt Sozialforschung in Form von qualifizierten Interviews durch. Das Ergebnis der Masterarbeit ist erstaunlich. Die Ernährungsanamnese muß weiter wissenschaftlich geprüft werden und braucht neue Ansätze und ein strengen Qualitätsmanagement.
Sven-David Müller ist staatlich anerkannter Diätassistent und Diabetesberater der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). Seine Ausbildung zum Diätassistenten hat er an der Diätlehranstalt des Kreiskrankenhauses in Bad Hersfeld - Akademischen Lehrkrankenhaus der Universität Gießen - absolviert. Danach war er als Diätassistent praktisch in der Diätküche sowie beratend an Kurkliniken in Bad Neuenahr-Ahrweiler (Bundesknappschaftskurklinik) und Bad Wildungen-Reinhardshausen (Edertalklinik) tätig. Danach war er fast 10 Jahre an der Universitätsklinik der RWTH Aachen in der Medizinischen Klinik III (Direktor: Universitätsprofessor Dr. med. Dipl. Biochem. Siegfried Matern) tätig. Nach Volontariat und Redaktionsausbildung arbeit Sven-David Müller als Medizinjournalist und Gesundheitspublizist. Er war Herausgeber verschiedener Fachzeitschriften und ist heute noch Redaktionsbeirat verschieder anerkannter Jourmale im Bereich Medizin und Ernährung. Er hat mehr als 180 Arbeiten in nationalen und internationalen Fachzeitschriften publiziert.
Sven-David Müller hat verschiedene Verbände und Organisationen (mit)gegründet und ist heute erster Vorsitzender des Deutschen Kompetenzzentrum Gesundheitsförderung und Diätetik e.V. Hier setzt er sich für die interdisziplniäre Zusammenarbeit in der Gesundheitsförderung ein. Sven-David Müller wurde 2005 mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Diese Auszeichnung erhielt er für seinen Einsatz um die Volksgesundheit in den Bereichen Ernährung und Diabetes mellitus. Er ist Autor von verschiedenen Büchern. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet 120 Titel in 9 Sprachen von ihm. www.svendavidmueller.de
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Forschungsfrage
2. Problem Übergewicht und Adipositas
2.1 Häufigkeit von Übergewicht und Adipositas in Deutschland
2.2 Ursachen von Übergewicht und Adipositas
2.3 Fehl- und Überernährung als Mitauslöser von Übergewicht und Adipositas sowie ernährungsbedingten und ernährungsabhängigen Krankheiten
2.4 Therapiestrategie bei Übergewicht und Adipositas sowie ernährungsbedingten und ernährungsabhängigen Erkrankungen
2.5 Ernährungstherapie bei Übergewicht und Adipositas
3. Professionelle Diät- und Ernährungsberatung
3.1 Ziele der Diät- und Ernährungsberatung
4. Was Schulung von der Diät- und Ernährungsberatung unterscheidet
5. Die Anamnese als Start des Beratungsprozesses
6. Verhaltenstherapie bei Übergewicht und Adipositas
7. Methoden zur Erfassung des Ernährungsverhaltens
7.1 Vor- und Nachteile der retrospektiven Ernährungsanamnese
7.2 Die prospektive Ernährungsanamnese (Ernährungstagebuch) als Verlaufskontrolle
7.3 Darstellung der Probleme der Ernährungsanamnese in der Standardliteratur
8. Theoretische Überlegungen zur qualitativen Sozialforschung
8.1 Unterschiede der quantitativen und der qualitativen Sozialforschung
9. Methodenauswahl
9.1 Die qualitative Sozialforschung erschließt auch das Ernährungsverhalten
9.2 Das qualitative Interview als Methode der Datenerhebung
9.3 Das problemzentrierte Interview
10. Konzeption der Untersuchung
10.1 Ernährungsfachkräfte - Gruppe 1
10.2 Patienten / Klienten - Gruppe 2
10.3 Unterschiede in der Beantwortung der Gruppen 1 und 2
11. Ergebnisse der Untersuchung
11.1 Ergebnisse der Untersuchung der Gruppe 1
11.2 Ergebnisse der Untersuchung der Gruppe 2
12. Auswertung der Untersuchung
12.1 Auswertung der Untersuchung der Gruppe 1
12.2 Auswertung der Untersuchung der Gruppe 2
13. Zusammenfassung und Schlussfolgerung
14. Literatur
15. Anhang
1. Einleitung und Forschungsfrage
Die Häufigkeit von ernährungsabhängigen und ernährungsbedingten Erkrankungen nimmt in den westlichen Industrienationen zu. Insbesondere die Zahl der Übergewichtigen und Adipösen steigt in allen Bevölkerungsschichten an. Die ernährungsabhängigen und ernährungsbedingten Erkrankungen verursachen hohe Kosten und steigern die Mortalität. Sie werden ausgelöst, begünstigt oder beeinflusst durch Fehl- und/oder Überernährung. Zur Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention solcher Erkrankungen ist die Diät- und Ernährungsberatung ein wichtiges Element der Schulung, Beratung und Information beziehungsweise Behandlung. Die Diät- und Ernährungsberatung wird in Deutschland in der Regel ärztlich angeordnet und sollte durch qualifizierte Fachkräfte wie Diätassistenten und Diplom Ökotrophologen mit entsprechendem Schwerpunkt in strukturierter Form durchgeführt werden.
Die Diät- und Ernährungsberatung hat einen festen Platz in der Prophylaxe und Therapie von Erkrankungen. Ein wesentlicher Bestandteil der Beratung ist die Anamnese (Ernährungsanamnese). Zum einen ist zu Beginn der Diät- und Ernährungsberatung das bisherige Ernährungsverhalten zu analysieren und zum anderen ist im Verlauf der Beratungseinheiten in vielen Fällen die Dokumentation des Ess- und Trinkverhaltens sinnvoll. Viele Ernährungsfachkräfte sehen jedoch insbesondere in der Führung von sogenannten Ernährungstagebüchern Probleme. Diese Probleme bestehen sowohl für sie selbst, da die Auswertung und Besprechung einen nicht zu unterschätzenden Zeitfaktor ausmachen, als auch für die Patienten, denen Ernährungsfachkräfte oftmals unterstellen, dass ihre Angaben nicht stimmen. Das Phänomen des Over- und Underreportings ist insbesondere für Patienten, die unter Übergewicht, Adipositas oder einer anderen Essstörung leiden, in der Literatur beschrieben.
Das Dilemma ist, dass ohne eine verlässliche Ernährungsanamnese und Verlaufskontrolle durch den Patienten beispielsweise in Form von Ernährungstagebüchern bei Beratern und Patienten Probleme entstehen. Dem Berater fehlen wesentliche Hintergründe für eine effektive, effiziente und individuell stimmige sowie erfolgsorientierte Diät- und Ernährungsberatung. Und der Patient steht vor dem Problem, einerseits sein Essverhalten nicht objektiv einschätzen und erinnern zu können. Andererseits muss dadurch jede Beratungsleistung ihr Ziel verfehlen. Diese Situation führt bei Beratern und Patienten gleichermaßen zur Frustration. Es zeigt sich, dass Berater und Patient (Klient) abhängig voneinander sind: Wenn eine Seite Probleme hat, wirkt sich das entscheidend auf die andere Seite aus. Das komplementäre Verhältnis von ,Diätberater' und ,Diätbedürftigem' erfordert ein hohes Maß an pädagogischem Wissen beim Berater und Eigenmotivation beim Patienten. Zudem ist die bisherige Situation auch aus volkswirtschaftlicher Sicht nicht zu akzeptieren, da einerseits Kosten durch die Beratung verursacht werden und andererseits die Effekte zu wünschen übrig lassen. Insgesamt steigen durch inadäquate Beratung sogar die Kosten im Gesundheitswesen, da ernährungsabhängige und ernährungsbedingte Krankheiten nicht seltener werden.
Vor dem Hintergrund der Kostenlawine, die durch ernährungsabhängige und ernährungsbedingte Erkrankungen verursacht wird, und dem Leid, das diese Erkrankungen für die Betroffenen bedeuten, ist es erforderlich zu überprüfen, ob und in welcher Form die Ernährungsanamnese insbesondere im Verlauf durch Ernährungstagebücher sinnvoll und effektiv ist. In der vorliegenden Masterarbeit gehe ich der Forschungsfrage nach, welchen Stellenwert die Ernährungsanamnese vor dem geschilderten Hintergrund in der Diät- und Ernährungsberatung daher sinnvoller Weise einnehmen sollte und ob es Alternativen gibt. Ist die Ernährungsanamnese gegebenenfalls selbst in Frage zu stellen oder ihre Bedingungen?
Legende:
B: Berater (Ernährungsfachkraft)
P: Patient (Klient)
2. Problem Übergewicht und Adipositas
Die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas hat in den letzten Jahrzehnten global zugenommen. Die Bundesrepublik Deutschland (BRD) bildet bei dieser Entwicklung keine Ausnahme. Die Entwicklung stellt ein gravierendes Gesundheitsproblem dar, da Übergewicht (BMI > 25,0) und Adipositas (BMI > 30,0) die Entwicklung einer großen Anzahl von chronischen Erkrankungen in besonderem Maße begünstigen können. Adipositas ist als gesundheitlicher Risikofaktor wissenschaftlich allgemein anerkannt. Dabei spielen insbesondere die Ausprägung der Fettdepots und deren Manifestationsort eine entscheidende Rolle.
2.1 Häufigkeit von Übergewicht und Adipositas in Deutschland
Übergewicht und Adipositas gehören zu den zentralen globalen Gesundheitsproblemen. Auch in Deutschland betrifft es beide Geschlechter, alle sozialen Schichten - wenn auch mit unterschiedlicher Ausprägung - und jede Altersgruppe. Die Entwicklung der Häufigkeit von Übergewicht und Adipositas lässt sich nicht zweifelsfrei vorhersagen. Da aber bereits 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen laut Ernährungsbericht 2008 präadipös oder adipös sind, ist die Vorhersage, dass die Häufigkeit des Vorliegens eines erhöhten Körpergewichts bei Erwachsenen in Deutschland zukünftig ansteigt, verhältnismäßig leicht zu mutmaßen. Die Datengrundlage bezüglich der Entwicklung und dem Ausmaß von Übergewicht und Adipositas in der Bundesrepublik Deutschland ist unzureichend, da die grundsätzliche Erhebung von Körpergröße und Körpergewicht nicht erfolgt. Als verlässlich werden jedoch die Daten des vom Robert Koch-Institut seit 1984 in mehrjährigen Abständen bundesweit durchgeführten Gesundheitssurveys (1) angesehen. Die Ergebnisse des Bundes-Gesundheitssurveys aus dem Jahre 1998 zeigen, dass etwa die Hälfte der Männer und ein Drittel der Frauen im Alter von 18 bis 79 Jahren übergewichtig sind. Erschreckend ist, dass 10 Prozent der Männer und sogar 22 Prozent der Frauen adipös sind. Insgesamt sind nach dem Bundes- Gesundheitssurvey 52 Prozent der westdeutschen Frauen und 67 Prozent der westdeutschen Männer mit einem Body Mass Index von mehr als 25 übergewichtig oder sogar adipös. Lediglich ein Drittel der erwachsenen Männer in der Bundesrepublik Deutschland ist vor dem Hintergrund dieser Daten noch als normalgewichtig einzustufen (2). Außerdem nimmt die Zahl der Übergewichtigen und Adipösen in der BRD zu. Der Bundes-Gesundheitssurvey weist aus, dass die Verbreitung von Adipositas in den vergangenen zehn Jahren bei ostdeutschen Männern um 5,9 Prozent und bei westdeutschen Männern sogar um 11,5 Prozent zugenommen hat. Bei den westdeutschen Frauen ist sie um rund 6,4 Prozent angestiegen. Bei ostdeutschen Frauen ist die Adipositas-Verbreitung allerdings um 6,3 Prozent zurückgegangen.
2.2 Ursachen von Übergewicht und Adipositas
Übergewicht und Adipositas entstehen bei einem Ungleichgewicht in der Energiebilanz. Übergewicht und Adipositas können nur entstehen, wenn mehr Energie zugeführt als verbraucht wird. Zu den wichtigsten Ursachen für Übergewicht und Adipositas werden in der Fachliteratur insbesondere Fehl- und Überernährung, Bewegungsmangel sowie eine genetische Prädisposition angeführt. Die evidenzbasierte Leitlinie „Prävention und Therapie der Adipositas“ führt unter den Ursachen für Übergewicht und Adipositas den modernen Lebensstil an (Bewegungsmangel, Fehlernährung mit beispielsweise häufigem Snacking, übertriebener Konsum von energiedichten Lebensmitteln) (5).
2.3 Fehl- und Überernährung als Mitauslöser von Übergewicht und Adipositas sowie ernährungsbedingten und ernährungsabhängigen Krankheiten
Helmut Heseker erläutert im Ernährungsbericht 2008, dass die adipositasförderlichen Lebensumstände in Deutschland die Verbreitung und Rasanz der Zunahme von Übergewicht und Adipositas bedingen. Als adipogen bezeichnet er den Lebensmittelüberfluss und die Bewegungsarmut. Unter diesen Bedingungen entwickelt sich nahezu zwangsläufig Übergewicht in mehr oder minder ausgeprägter Form. Nur durch ein bewusstes Ernährungsverhalten und regelmäßige körperliche Aktivität lässt sich dieser Entwicklung gegensteuern. Die genetische Ausstattung des Menschen ist darauf programmiert, Fettdepots in Zeiten des Energieüberschusses anzulegen, um Hungerperioden oder Phasen hoher körperlicher Aktivität oder hohem Energieverbrauch kompensieren zu können. Unzweifelhaft begünstigt Adipositas verschiedene Erkrankungen - beispielsweise Diabetes mellitus Typ 2.
2.4 Therapiestrategie bei Übergewicht und Adipositas sowie ernährungsbedingten und ernährungsabhängigen Erkrankungen
Adipositas wird international als chronische Erkrankung mit eingeschränkter Lebensqualität und Lebenserwartung sowie mit hohem Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko beschrieben, die eine langfristige Betreuung (Beratung und Schulung) erfordert. In vielen Ländern, so auch in Deutschland, existieren evidenzbasierte Behandlungsrichtlinien. Die Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG), die Deutsche Diabetes-Gesellschaft, die Deutsche Gesellschaft für Ernährung und die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin haben 2007 die evidenzbasierte Leitlinie „Prävention und Therapie der Adipositas“ herausgebracht. Als Indikationen der Therapie von Übergewicht und Adipositas führt diese Leitlinie
- einen BMI > 30 oder
- Übergewicht mit einem BMI zwischen 25 und 29,9 und gleichzeitiges Vorliegen
- übergewichtsbedingter Gesundheitsstörungen (beispielsweise Hypertonie, Typ 2 Diabetes mellitus) oder
- eines abdominalen Fettverteilungsmusters oder
- von Erkrankungen, die durch Übergewicht verschlimmert werden, oder
- eines hohen psychosozialen Leidensdrucks
an. (5). Das Therapieziel bei Übergewicht und Adipositas ist die langfristige, mäßige Gewichtssenkung und Gewichtsstabilisierung. Leider haben übergewichtige und adipöse Menschen eine hohe Rezidivneigung. Zur Erreichung des Therapieziels sind insbesondere eine Reduktion der Energiezufuhr und eine Steigerung des Energieverbrauchs durch Erhöhung der körperlichen Aktivität erforderlich. Die Leitlinie der DAG sieht therapeutisch ein Basisprogramm vor. Dieses ist Grundlage jedes Gewichtsmanagements und schließt die Komponenten Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie ein. Die Diät- und Ernährungsberatung sowie in bestimmten Fällen auch die Schulung ist ein probates Mittel in der Therapie von ernährungsbedingten und ernährungsabhängigen Erkrankungen.
2.5 Ernährungstherapie bei Übergewicht und Adipositas
Die Ernährungstherapie hat das Ziel, die Energiezufuhr im Vergleich zum Ist-Zustand des übergewichtigen oder adipösen Patienten (Klienten) einzuschränken, um eine Gewichtsreduktion zu erreichen. Das Ziel der Diät- und Ernährungsberatung liegt in der Modifikation des Ess- und Trinkverhaltens (11). In jedem Falle muss die Ernährungstherapie im Sinne einer Familientherapie gestaltet werden und eine umfassende Information des Klienten beinhalten, um eine Ernährungsumstellung zu gewährleisten und die Compliance zu verbessern. Empfehlenswert ist eine Reduktion der Energiezufuhr um mindestens 500 kcal pro Tag, um eine Gewichtsreduktion von mindestens 500 Gramm wöchentlich zu erreichen.
In der Diät- und Ernährungsberatung gibt es nach Weisbach vier Beratungsfunktionen: Auskunft erteilen, Rat erteilen, zur Reflexion anregen und zur Aktion anregen. In jedem Falle steht der Klient im Mittelpunkt des Beratungsgeschehens, und die Beratung selbst orientiert sich an den Wünschen des Klienten. Die Beratung läuft dialogorientiert ab und gibt dem Klienten die Möglichkeit, Maßnahmen der Therapie auszuwählen, die er umsetzen kann. Die Beratung erfolgt nicht rein faktenorientiert, sondern vielmehr emotional und zeigt dem Klienten Vorteile auf. Sie motiviert und fordert nicht zu viel vom Klienten.
3. Professionelle Diät- und Ernährungsberatung
Die professionelle Beratung muss auch im Bereich der Diät- und Ernährungsberatung sowie der Schulung in diesen Bereichen durch helfende Berufe mit qualifizierender Ausbildung strukturiert stattfinden (1). Paraprofessionelle Berater sind insbesondere in diesem Bereich kontraproduktiv, da sie ihr Klientel beratungsresistent machen oder zumindest potenziell inadäquat aufklären (5). Grundlage jeder professionellen Beratung ist die Empathie. C. Rogers definiert einfühlendes Verstehen (Empathie) als das genaue Wahrnehmen des inneren Beziehungssystems eines anderen samt der emotionalen Komponenten und Bedeutungen, so als wäre man (Berater) der andere (Klient), ohne aber dabei jemals diese „Als-ob“-Bedingung aus den Augen zu verlieren (36).
3.1 Ziele der Diät- und Ernährungsberatung
Durch die Diät- und Ernährungsberatung erreicht der Klient eine Linderung oder sogar Heilung seiner Erkrankung, beziehungsweise er vermindert das Voranschreiten. Bei vielen Erkrankungen ist die Diättherapie ein Teil des therapeutischen Konzepts. Für jeden Klienten erstellt der Berater einen strategischen Ablaufplan, der im Verlauf des Beratungsprozesses gegebenenfalls modifiziert wird. Bei jedem Patienten steht die Anamnese im Mittelpunkt des ersten Gesprächs.
4. Was Schulung von der Diät- und Ernährungsberatung unterscheidet
Bei der Schulung findet - im Unterschied zur Beratung - keine Anamnese statt, und es erfolgt eine grundsätzliche Information, aber keine patientenzentrierte Problemlösung. Während die Schulung pauschal Informationen vermittelt, gibt die Beratung die Möglichkeit, individuelle Verhaltensmodifikationen zu ergründen und Verhaltensmodifikationen dialogorientiert herbeizuführen, so sie dem Berater und Klienten sinnvoll und umsetzbar erscheinen. Im Vergleich zur Schulung kann die Beratung individuell auf den Klienten eingehen. Eine Beratung findet dialogisch statt, und der größere Redeanteil liegt beim Klienten. Auch wenn im Rahmen der Schulung Rückfragen seitens des Teilnehmers möglich sind, steht der Redeanteil des Lehrenden vor dem des Teilnehmers.
Die Beratung erfordert eine fachspezifische Ausbildung der Beratungskraft. Die Beratung erfolgt nach einem konkreten Arbeitsauftrag, der auch die Problemstellung enthält. Im Gegensatz zur Schulung stellt der Klient sein individuelles Problem (seine Fragestellung) in den Mittelpunkt der Beratung. Er ist damit der direkte Auftraggeber; der Arzt ist im Falle der Diät- und Ernährungsberatung der Initiator (Überweisender). Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen Beratung und Schulung ist, dass bei der Beratung die Inhalte den Klienten unmittelbar betreffen und bei der Schulung sich diese - also die Lerninhalte - an einem Curriculum orientieren. Das Ziel einer Beratung ist das Verstehen und Bewältigen der Probleme des Klienten, während die Schulung ein klar definiertes Lernziel hat, das nicht auf die individuellen Bedürfnisse und Situationen des Teilnehmers eingehen kann. Bei der Beratung entsteht eine persönliche zwischenmenschliche Beziehung zwischen Klient und Berater. Die Inhaltsvermittlung der Beratung ist weniger durch Überprüfung als durch erfolgreiche Integration in den Alltag des Klienten messbar. Die Schulung erfolgt nach einem Lehrauftrag von Institutionen wie einer Krankenkasse. Das klar vom Organisator definierte Lernziel ist, dass der Wissensstand der Lernenden zu einem bestimmten Zeitpunkt (beispielsweise am Ende eines Kurses, einer Informationsveranstaltung oder eines Seminars) erkennbar, also nachprüfbar, verändert sein muss. Bei der Schulung sind Berater und Klient nicht in einem unmittelbaren Verhältnis (40, 41,42, 43 und 44).
5. Die Anamnese als Start des Beratungsprozesses
Die Anamnese stellt grundsätzlich den Ausgangspunkt des therapeutisch-beratenden Prozesses dar. Das gilt grundsätzlich auch für die Diät- und Ernährungsberatung, da Veränderungen des Ess- und Trinkverhaltens sinnvoll nicht herbeigeführt werden können, ohne dass eine Kenntnis über das vergangene Verhalten vorliegt. Ganz viel Beratungsenergie würde andernfalls vergeudet, die Beratungseinheiten würden an den tatsächlichen Notwendigkeiten maximal zufällig etwas ändern. Die Diät- und Ernährungsberatung soll individuelle Alltagsstrategien zum Umgang mit der notwendigen Ernährungsweise schaffen. Den Erfolg der Diät- und Ernährungsberatung vorzuprogrammieren, heißt, der Anamnese im ersten Gespräch ausreichend Raum zu geben. Viele Berater unterschätzen die Bedeutung der Anamnese und beginnen sofort im ersten Gespräch mit der Problemlösung. Diese ist ihnen durch die nicht stattgefundene Anamnese aber überhaupt nicht bekannt. Die Berater handeln aus ihrer Erfahrung und gehen damit nicht auf die Situation des zu beratenden Klienten ein. Andererseits fordern viele Klienten dieses Verhalten geradezu ein. Sie möchten im ersten Beratungsgespräch einen Diätplan. Dieser Wunsch ist vor dem Hintergrund der Leidensgeschichte des Klienten zu sehen. Er hat ein Problem, und die Problemlösung ist in der Diät- und Ernährungsberatung vorhanden. Der Klient möchte sofort Hilfe. Die Hilfesuche seitens der Klienten ist in vielen Fällen Grund für die sofortige Austeilung von Diätplänen und Informationsschriften. Damit erfüllt die Diät- und Ernährungsberatung ihre Aufgabe jedoch nicht und verkommt zur Farce. Die Ernährungsanamnese dient der Erfassung von Problemen. Daraus ergeben sich Ziele und Strategien zu deren Lösung. In der Diät- und Ernährungsberatung steht wie bei allen therapeutischen Prozessen zwar ein übergeordnetes Ziel fest, die Strategien dahin können aber nur durch die Ernährungsanamnese und Verlaufsprotokolle ermittelt werden. Der Berater muss auf die Welt des Klienten eingehen und seine eigene Rolle verstehen. Aber auch dafür ist eine anamnestische Vorgehensweise notwendig.
6. Verhaltenstherapie bei Übergewicht und Adipositas
Die ernährungstherapeutischen Ansätze werden durch eine Verhaltenstherapie unterstützt. Um einen dauerhaften Erfolg zu erzielen, sind aus pädagogischem Verständnis heraus lernfreundliche Settings und verhaltenstherapeutische Maßnahmen Grundlage einer langfristigen Gewichtsreduktion und darauf folgender Gewichtsstabilisierung (6). Die Selbstbeobachtung des Ess- und Trinkverhaltens ist eine Grundlage der Effektivitätssteigerung der Ernährungstherapie. Zudem sind Ernährungstagebücher für die Verlaufskontrolle im Rahmen einer Gewichtsreduktion effizient. Auch bei ernährungsbedingten und ernährungsabhängigen Krankheiten haben sich grundsätzlich Ernährungstagebücher zur Verlaufskontrolle des Ess- und Trinkverhaltens bewährt. Zu Beginn einer Ernährungstherapie ist es erforderlich, das Ess- und Trinkverhalten zu analysieren und im Dialog mit dem Klienten Möglichkeiten zu finden, die zur Einschränkung der Energiezufuhr beziehungsweise Veränderung des Essverhaltens in Richtung der diätetischen Notwendigkeiten führen können. Nach Wirth ist die Verhaltenstherapie eine etablierte und effektive Methode der Gewichtsreduktion (37).
7. Methoden zur Erfassung des Ernährungsverhaltens
Eine umfassende Anamnese führt zu optimalen Therapieergebnissen - diese Aussage ist das Credo aller medizinischen Therapien. In vielen Therapieformen - beispielsweise der verhaltenstherapeutischen Psychotherapie - macht die Anamnese ein Gros der Gesamttherapie-Maßnahme aus. Natürlich geht auch der Diät- und Ernährungstherapie generell eine Ernährungsanamnese voraus. Je exakter die Ernährungsanamnese ist, desto individueller und zielführender kann die Diät- und Ernährungstherapie ablaufen. Nach Hauner stellt die Anamnese des bisherigen Essverhaltens von Übergewichtigen und Adipösen einen wichtigen Aspekt der Therapie dar (38). Nachfolgend steht eine Übersicht der Methoden zur Erfassung des Ess- und Trinkverhaltens beziehungsweise der Gesamt-Lebensmittelaufnahme (7):
Indirekte Methoden: Dabei werden keine eigenen Erhebungen durchgeführt.
Vielmehr werden vorhandene Daten ausgewertet, die aber zu anderen Zwecken erfasst worden sind. Diese Methoden im Rahmen der Diät- und Ernährungstherapie von einzelnen Übergewichtigen oder Adipösen anzuwenden, erscheint kaum sinnvoll. Die indirekten Methoden eignen sich vielmehr für die Auswertung von großen Bevölkerungsgruppen.
Direkte Methoden: Die Methoden werden am oder mit dem zu beratenden Individuum zum Zwecke der jeweiligen Maßnahme erhoben. Es können retrospektive Methoden oder prospektive Methoden angewendet werden. Der 24-Stunden-Recall und die Diet History gehören zu den retrospektiven Methoden. Sogenannte Food- Frequency-Methoden erlauben die computergestützte Bewertung. Auch FragebogenErhebungen lassen sich durch die Nutzung von vorgefertigten Formularen und die computergestützte Eingabe und Auswertung sinnvoll einsetzen. Solche Methoden eignen sich insgesamt bestens für die Ermittlung des bisherigen Ess- und Trinkverhaltens bei Übergewichtigen und Adipösen. Auf Basis der erhobenen Daten lassen sich Modifikationsschritte der Lebensmittelaufnahme mit dem Klienten besprechen und innerhalb eines Prozesses das Essverhalten in Richtung einer diättherapeutisch sinnvollen Ernährungsweise verändern. Durch diesen Prozess erlernt der Klient auch ein neues Ernährungsverhalten, das Rezidive vermeiden hilft. Der gegenwärtige Verzehr von Lebensmitteln lässt sich mit Wiegemethoden sowie einem Ernährungsprotokoll festhalten. Retrospektive und prospektive Methoden zur Erfassung des Ernährungsverhaltens ergänzen sich also kongenial und sind für Klient und Berater ein wichtiges Medium für eine zielführende Zusammenarbeit.
Die Ernährungsanamnese zeigt die Anzahl der Mahlzeiten auf und erhebt die Menge sowie die Zusammensetzung der Lebensmittel und Mahlzeiten. Zudem macht sie Aussagen über die Getränkeaufnahme (Menge und Art) sowie das Snackingverhalten (9). Anhand der Ernährungsanamnese kann der Berater eine Kalorien- und Nährstoffanalyse durchführen. Dafür stehen Tabellenwerke und Softwareprogramme zur Verfügung. Nach exakter Analyse des Ernährungsmusters kann der Berater dem Klienten Möglichkeiten der Verbesserung des Ernährungsverhaltens aufzeigen und eine schrittweise Modifikation desselben besprechen. In der Verlaufskontrolle bietet das sogenannte Ernährungstagebuch die Möglichkeit, die Einhaltung von Modifikationsschritten einzuschätzen und das Ernährungsregime an die Wünsche und Möglichkeiten des Klienten anzupassen.
7.1 Vor- und Nachteile der retrospektiven Ernährungsanamnese
Eines der in der Diät- und Ernährungsberatung am häufigsten verwendeten Ernährungsprotokolle ist das 24-Stunden-Protokoll (8). Die als schriftliches oder mündliches Interview durchgeführte Methode hat Vor- und Nachteile. Die 24- Stunden-Befragung ist zwar rasch und individuell durchführbar, scheitert jedoch in relativ vielen Fällen schlicht und ergreifend am Erinnerungsvermögen der Klienten. Zudem verschätzen sich die Klienten bewusst oder unbewusst, und es sind absichtlich falsche Aussagen möglich. Die Verlässlichkeit der Befragungsmethoden ist aber auch sehr von der Gesprächsführung, der Situation, in der sich Berater und Klient befinden, sowie vom Verständnis (Akzeptanz) für die Notwendigkeit dieser Maßnahme beim Klienten abhängig. In der Regel ist der protokollierte Tag auch nicht repräsentativ für das Ess- und Trinkverhalten des Klienten. Die Ernährungsgeschichte (Diet History) erbringt Daten über das Ernährungsmuster und die Gewohnheiten über einen langen Zeitraum - in der Regel von drei Monaten. Für die normale Diät- und Ernährungsberatung von Übergewichtigen und Adipösen bietet sich diese Methode in der Regel aus Mangel von zeitlichen Ressourcen nicht an. Da inzwischen auch Computerprogramme für die Erfassung und Auswertung der Diet History vorliegen, muss diese Aussage aber relativiert werden. Die Diet History macht entscheidende Aussagen über die zurückliegenden Ernährungsgewohnheiten. Die Methode erfordert gut ausgebildete Interviewer und ist überhaupt nur bei Klienten mit hervorragendem Erinnerungsvermögen möglich. In einem klinischen Umfeld, das von Zeitmangel und Stress geprägt ist, lässt sich diese Methode nicht umsetzen. Es steht die These im Raum, dass ein unzutreffendes Reporting auch auf Nichtwahrnehmung von Sättigungssignalen zurückzuführen ist (12).
7.2 Die prospektive Ernährungsanamnese (Ernährungstagebuch) als Verlaufskontrolle
Bei allen Diät- und Ernährungstherapien ist es für den Klienten, aber auch für den Therapeuten wichtig, einen Überblick über den gegenwärtigen Verzehr zu gewinnen. Dem Klienten dient es als persönliche Überprüfung und dem Therapeuten als Möglichkeit, weitere Modifikationen vorzuschlagen und besonders auch, den Klienten zu loben und zu bestärken, um die Therapieergebnisse zu verbessern. Während die retrospektiven Methoden der Ernährungsanamnese eine Diät- und Ernährungstherapie einleiten, dienen die prospektiven Methoden der Verlaufsdarstellung und -kontrolle. In der Wissenschaft werden oftmals Wiegemethoden angewendet. Dagegen sind in der praktischen Diät- und Ernährungstherapie im Rahmen eines Ernährungstagebuches, welches das Ess- und Trinkverhalten erfasst, Portionsgrößen anzugeben. Das Ernährungstagebuch ist ein ,Schätzprotokoll’. Ernährungstagebücher sind in der praktischen Anwendung bei geschulten Klienten bestens geeignet, zumindest in der Theorie, denn nur wenn der Klient das Tagebuch exakt führt, kann es überhaupt sinnvoll sein. Ein Over- oder Underreporting verfälscht nicht nur die Ergebnisse, sondern macht auch eine zielgerichtete Modifikation des Ess- und Trinkverhaltens praktisch unmöglich. In der Praxis kommt es häufig vor, dass die Klienten ,vergessen’, ihr Ernährungstagebuch zum Beratungsgespräch mitzubringen. In jedem Falle beeinflusst das Ernährungstagebuch das Ess- und Trinkverhalten des Klienten (massiv). Die Protokollierung kann auch zur Feststellung des Ernährungsverhaltens vor Beginn der Diät- und Ernährungstherapie eingesetzt werden. Die Klienten werden dazu angehalten, das Protokoll direkt nach den Mahlzeiten zu führen und Schätzwerte anzugeben. Im Rahmen der Beratungsgespräche lassen sich die Mengen durch den Berater weiter verifizieren, die Zubereitung näher einschätzen und Mengen genauer ermitteln. In meiner Masterarbeit befrage ich Patienten und Berater bezüglich der Ernährungsanamnese und des Ernährungstagebuches zur Verlaufskontrolle.
7.3 Darstellung der Probleme der Ernährungsanamnese in der Standardliteratur
Die diätetischen und ernährungsmedizinischen Standardwerke greifen in der Darstellung der diätetischen Therapie von Übergewicht und Adipositas sowie der ernährungsbedingten und ernährungsabhängigen Krankheiten die retrospektive Erfassung des Ernährungsverhaltens und die Selbstkontrolle des Klienten durch Ess- und Trinktagebücher in der Regel auf, beschreiben aber üblicherweise nicht ausführlich genug die dabei entstehenden Probleme des Over- oder Underreportings. Zudem widmet sich die Standardliteratur der Lösung dieser Problematik nicht oder nur unzureichend. Außerdem ist der Bereich der Verhaltenstherapie - aber auch der Ernährungspsychologie sowie der Ernährungsdidaktik und -pädagogik - in der Standardliteratur in den Bereichen Ernährungsmedizin und Diätetik unterrepräsentiert. Hierdurch zeigt sich, dass ein Grundverständnis für das Ess- und Trinkverhalten sowie die Bedeutung der Verhaltenstherapie scheinbar in der Fachwelt nicht gegeben ist. Solange die verhaltensorientierte Diät- und Ernährungsberatung weder dargestellt noch durchgeführt wird, können die Probleme der Menschen, die unter Übergewicht und Adipositas sowie ernährungsbedingten und ernährungsabhängigen Krankheiten leiden, nicht gelöst werden.
8. Theoretische Überlegungen zur qualitativen Sozialforschung
Um den Stellenwert der Ernährungsanamnese in der Diät- und Ernährungsberatung zu untersuchen, stehen die quantitative und die qualitative Sozialforschung zur Verfügung. Die qualitative Sozialforschung bietet durch ihr Interviewverfahren Vorteile. Im Hinblick auf das zu untersuchende Problem erscheinen Untersuchungsmethoden der qualitativen Sozialforschung als geeignete empirische Erhebungsverfahren, denn qualitative Methoden sind besonders gut dafür geeignet, Einsicht in das Denken, Fühlen und Handeln von Individuen gewinnen zu können (13). Qualitative Sozialforschung versucht, soziale Phänomene aus Sicht der Subjekte und deren Sinnzuweisungen zu erfassen. Sie will am Einmaligen, an den Sichtweisen der zu untersuchenden Personen anknüpfen: „Gegenstand humanwissenschaftlicher Forschung sind immer Menschen. Die von der Forschungsfrage betroffenen Menschen müssen Ausgangspunkt und Ziel der Untersuchung sein“ (14). Die qualitative Wissenschaft möchte soziale Phänomene, in diesem Fall das Essverhalten und die Notierung desselbigen in Protokollen oder Tagebüchern, nicht nur in ihrer Individualität erfassen, sondern auch den Kontext und die Komplexität ihrer Erscheinung berücksichtigen. Um dies zu ermöglichen, sollte das von der Forschungsfrage betroffene Subjekt in seiner alltäglichen, natürlichen Umgebung mittels natürlicher Kommunikationsprozesse untersucht werden (15).
8.1 Unterschiede der quantitativen und der qualitativen Sozialforschung
Die quantitative Sozialforschung versucht im Unterschied zur qualitativen Sozialforschung, den Menschen und seine Umwelt mit standardisierten, an die Naturwissenschaften und deren Gütekriterien angelehnten Methoden zu erforschen. Sie setzt an bereits bestehenden allgemeinen Prinzipien, Gesetzen oder gesetzähnlichen Aussagen an (16). Eine quantitative Untersuchung dient demnach der Überprüfung vorformulierter Hypothesen und benötigt in der Regel - um eine qualitativ hochwertige wissenschaftliche Aussage machen zu können - eine große Gruppe der zu Befragenden. Wenn bei der quantitativen Untersuchung eines sozialen Phänomens - wie der Fehl- und/oder energetischen Überernährung bei Übergewicht und Adipositas sowie den ernährungstherapeutischen Notwendigkeiten bei Menschen, die unter ernährungsbedingten oder ernährungsabhängigen Krankheiten leiden - die Ausprägung eines Merkmals im Vordergrund steht, so ist aus qualitativer Sichtweise die Art und Weise dieses Merkmals von Interesse. Qualitative Forschung darf jedoch nicht als Alternative zu quantitativem Denken verstanden werden. In der Regel sind qualitatives und quantitatives Denken Bestandteile eines jeden Forschungs- und Erkenntnisprozesses. Qualitative und quantitative Forschungsstrategien schließen sich also nicht aus, sondern können sich gegenseitig ergänzen (14/17). Auch qualitativ erhobenes Material kann beziehungsweise sollte vielmehr unter unterschiedlichen Gesichtspunkten quantifiziert werden. Entscheidend ist dabei aber, „dass diese Quantifizierung im Nachhinein erfolgt, auf der Basis einer umfangreichen Auseinandersetzung mit dem qualitativ erhobenen Material“ (18).
9. Methodenauswahl
Die Untersuchungsmethoden, die in meiner Masterarbeit zum Thema ,Erhebung des Ernährungsverhaltens aus Sicht des Patienten (Klienten) und der Ernährungsfachkraft' angewendet werden, beruhen nach Abwägung der Vor- und Nachteile sowie der tatsächlich gegebenen Möglichkeiten der praktischen Umsetzung auf einem qualitativen Forschungsparadigma. Daher erscheint es angebracht, kurz einige wichtige Aspekte qualitativer Sozialforschung darzustellen, um aufzuzeigen, warum gerade diese für die Masterarbeit angewendet werden soll und wo die Vorteile gegenüber der quantitativen Sozialforschung liegen.
Qualitative Sozialforschung plädiert für das Prinzip der Offenheit, das sich auf den Forschungsgegenstand bezieht, aber auch in verschiedene Bereiche des Forschungsprozesses hineinreicht: Die Grundhaltung der Offenheit richtet sich sowohl auf die Untersuchungspersonen und die Untersuchungssituation als auch auf die anzuwendenden Methoden (19). Gerade für in die Intimsphäre der Menschen eingreifende Fragestellungen bietet sich die qualitative Sozialforschung an. Das trifft sicher für Fragen nach dem Ernährungsverhalten zu.
9.1 Die qualitative Sozialforschung erschließt auch das Ernährungsverhalten
Bei den Gegenständen’ sozialwissenschaftlicher Forschung handelt es sich um Menschen oder um menschliches Handeln, Denken oder Fühlen. Dazu gehört natürlich auch das Ess- und Trinkverhalten. Um jedoch menschliche Phänomene und die Komplexität ihrer Erscheinungen erfassen, begreifen und verstehen zu können, ist Flexibilität im Umgang mit den Methoden nötig. Diese sollen dem Gegenstand der Untersuchung angemessen sein und auf ihn abgestimmt werden (20). Eine vom Gegenstand abgehobene, starre und immer den gleichen Anwendungsprinzipien folgende Methodik würde diesen nicht erschließen können. Um den Untersuchungsgegenstand ,Ess- und Trinkverhalten' beziehungsweise die Selbstbeobachtung über Ernährungstagebücher oder Formen der Erhebung des Ernährungsverhaltens darzustellen, ist eine ständige Anpassung des Interviews, des Interviewers sowie der Verhaltensweise notwendig.
Eine für qualitative Forschung entscheidende Konsequenz aus dem Prinzip der Offenheit zeigt sich auf dem Gebiet der Theoriebildung. Qualitative Sozialforschung ist kein hypothesenprüfendes, sondern ein hypothesengenerierendes Verfahren. Entsprechend fordert Kleining, das Verständnis des Forschungsgegenstandes bis zum Abschluss der Forschung als vorläufig zu betrachten, denn der Gegenstand „wird (...) erst zu Ende seine wahre Gestalt zeigen“. Eine Aufgabe empirischer Erhebungen besteht unter anderem darin, vorab erstellte Hypothesen zu erweitern, beziehungsweise sie umzuformulieren. Auch in der qualitativen Sozialforschung können theoretische Vorüberlegungen gemacht werden zwecks Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes. Diese Vorformulierung von Hypothesen gilt jedoch nur für bestimmte qualitative Erhebungsverfahren, insbesondere beim problemzentrierten Interview (21). Wichtig ist, dass diese Vorformulierungen jedoch stets vorläufigen Charakters sind!
Im Sinne einer ordentlichen Verfahrensdokumentation des qualitativen Forschungsprozesses fordert Mayring eine Offenlegung des theoretischen Vorverständnisses des Forschers und dass dieses schrittweise am Gegenstand weiterentwickelt wird (22, 23). In diesem Sinne ist meine Masterarbeit durchgeführt.
Der empirische Teil meiner Masterarbeit soll die Weiterentwicklung meiner Kenntnisse über den Untersuchungsgegenstand ausführlich darstellen. Neben einer Explikation der Vorannahmen fordert Mayring die genaue Dokumentation der einzelnen Verfahrensschritte des Forschungsprozesses, um diesen für andere nachvollziehbar werden zu lassen. Die Dokumentation bedient sich folgender Verfahrensschritte: „Explikation des Vorverständnisses, Zusammenstellung des Analyseinstrumentariums, Durchführung und Auswertung der Datenerhebung“ (23).
9.2 Das qualitative Interview als Methode der Datenerhebung
Bei dem qualitativen Interview handelt es sich, wie auch bei der teilnehmenden Beobachtung oder der Gruppendiskussion, um eine wichtige Datenerhebungsmethode der qualitativen Sozialforschung. Ich entscheide mich für das Interview als Datenerhebungsmethode, da hier die Erfassung der Perspektive des einzelnen Subjekts konsequent gewährleistet ist. Der subjektnahe Einblick in Welterleben und Wirklichkeit der Befragten kann zu neuartigen und überraschenden Erkenntnissen des Forschers führen (26).
Die Bezeichnung qualitatives Interview' stellt den Oberbegriff für verschiedene, in der Sozialforschung angewandte Befragungsmethoden dar, die sich beispielsweise im Grad ihrer Strukturierung unterscheiden. Allen qualitativen Interviewformen gemeinsam ist die Offenheit und weitgehende Nicht-Standardisierung der Befragungssituation. Das Interview ist weder in seinen Fragen noch seinem Ablauf festgelegt, obgleich es sich natürlich um ein bestimmtes, zu erforschendes Thema dreht (27).
9.3 Das problemzentrierte Interview
Unter den verschiedenen Formen qualitativer Interviews entscheide ich mich für eine Orientierung an Witzels problemzentriertem Interview: „Bei diesem Verfahren handelt es sich um eine Methodenkombination bzw. -integration von qualitativem Interview, Fallanalyse, biographischer Methode, Gruppendiskussion und Inhaltsanalyse (...)“ (28). Das qualitative Interview als Bestandteil des problemzentrierten Interviews ist von drei zentralen Merkmalen gekennzeichnet: Die Problemzentrierung, die Gegenstandsorientierung und die Prozessorientierung (29).
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- Sven-David Müller (Author), 2010, Die Ernährungsanamnese in der Diät- und Ernährungsberatung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/155879
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