Historische Darstellung und musikwissenschaftliche Analyse der Bearbeitung Bach'scher Werke zwischen 1960 und 1992 in den Bereichen Swing/Jazz, Synthesizer, Rockmusik und Popmusik. 72 Seiten
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I. Allgemeiner Teil
Bearbeitung
Die besondere Eignung der Werke Bachs
Auswertung der Diskographie
Rezeption in Musikwissenschaft und -pädagogik
II. Historisch-analytischer Teil
A. Swing und Jazz
Swing
The Swingle Singers
Notenbeispiel
Jacques Loussier
Notenbeispiele 2-
B. Synthesizer-Bearbeitungen
Walter (Wendy) Carlos
Reinhard Lindner
Notenbeispiel
C. Rockmusik
Allgemeines
Ekseption
Andere Rock-Bearbeitungen
Notenbeispiele 8-
D. Föpmusik
Allgemeines
James Last
Andere Pop-Bearbeitungen
Notenbeispiele 13 -
III. Zusammenfassung und Bewertung
IV. Anhang
Verzeichnis der Hörbeispiele
Zeittafel
Diskographie
Literaturverzeichnis
Vorwort
”Switched-On Bach” - sinngemäß übersetzt etwa ’’Der (elektronisch) eingeschaltete Bach” - so hieß das 1968 veröffentlichte Debüt-Album des amerikanischen Synthesizerspezialisten Walter (inzwischen Wendy) Carlos. Gemeinsam mit den ’’Play Bach”-Einspielungen des französischen Pianisten Jacques Loussier seit 1960 und einer als ”Baroque-Rock” bezeichneten Bewegung in der Rockmusik wurde dieser Plattentitel zum Inbegriff eines Phänomens, das die sogenannte Unterhaltungsmusik bis in die späten 70er Jahre hinein entscheidend prägte: Die Aneignung und Bearbeitung von Werken der traditionellen Kunstmusik, mit besonderer Vorliebe der Werke Johann Sebastian Bachs. Danach beschäftigte sich vornehmlich die Musikpädagogik mit diesem Thema, und es wurden nur noch vereinzelt neue Bearbeitungen veröffentlicht.
Nachdem ich mich entschlossen hatte, dieser Zeitspanne von etwa 1960 bis 1978 meine Zulassungsarbeit zu widmen, erschien Ende 1992 auf dem deutschen Markt ”Switched-On Bach 2000”, eine JubiläumsNeuaufnahme der Synthesizer-Bearbeitungen von Wendy Carlos. Bereits 1985 hatte auch Jacques Loussier wieder Aufnahmen veröffentlicht, seine Tournee führte ihn 1992 auch in zahlreiche deutsche Städte. Unter dem Titel ’’Bach meets the future” brachte schließlich Reinhard Lindner eine CD mit Synthesizereinspielungen Bach'scher Werke heraus, und mein Thema gewann unverhoffte Aktualität.[1]
Zu Beginn meiner Beschäftigung mit den ’’Bachbearbeitungen” stand eine Materialsammlung, deren Ergebnisse in der dieser Arbeit beigefügten Diskographie dokumentiert sind. Hierbei zeigte sich bereits, welche Schwierigkeiten bei einer wissenschaftlichen Annäherung an ein popular- musikalisches Phänomen auftreten: Da es keine "Werkverzeichnisse” gibt, war ich in großem Maße auf meine eigene Hörerfahrung, bzw. auf die meiner Freunde und Bekannten angewiesen. Das gleiche galt für die Beschaffung von biographischem Material oder Hintergrundinformationen, da sich mit den von mir untersuchten Künstlern in der Hauptsache Fachzeitschriften aus dem Bereich der Unterhaltungsmusik beschäftigen, die in Nachschlagewerken wie RILM nicht aufgeführt sind.
Deshalb gilt mein Dank in besonderem Maße Andreas Bung, Martin Kneer, Johannes Petz, Uwe Reith und Uli Tomm für Hinweise und Material, Matthias Eschbach und Christian Raff für Hilfestellung im Bereich der Musiktheorie und vor allem Gotthart Hugle als fachkundigem Gesprächspartner.
Die vorliegende Arbeit versteht sich in erster Linie als Versuch, die Bearbeitungsmuster einzelner Stilbereiche der Unterhaltungsmusik analytisch nachzuweisen, herzuleiten und zu vergleichen. Dies soll, in Abgrenzung zum überwiegenden Teil der bislang veröffentlichten Literatur, größtenteils musikimmanent und nicht primär im Hinblick auf eine musikpädagogische Verwendbarkeit der Beispiele geschehen. Zudem soll eine Bewertung erst am Ende der Analysen und unter Berücksichtigung der jeweiligen stileigenen Rahmenbedingungen vorgenommen werden.
Eine letzte Schwierigkeit, auf die ich zu Beginn meiner Arbeit hinweisen möchte, war, daß die von mir zu untersuchende Musik nicht im Notentext vorlag. Dies bedeutet, daß die gewonnenen Erkenntnisse und selbst angefertigten Notenbeispiele ausschließlich auf der Höranalyse begründet sind, was natürlich einen Unsicherheitsfaktor darstellt. Daher habe ich meiner Arbeit einige Tonbeispiele auf Kassette beigefügt, um dem Leser einen eigenen Höreindruck zu ermöglichen.
Trossingen, im März 1993
I. Allgemeiner Teil
Bearbeitung
Johann Sebastian Bachs Musik gab vom Tage ihrer Entstehung an bis heute immer wieder Anlaß zu zahlreichen und vielfältigsten Bearbeitungen. Wie Paul Mies annimmt, ist Bach der meist-”bearbeitete” Komponist der Musikgeschichte überhaupt.[2] Angefangen bei seinen eigenen Parodien und Umarbeitungen (wie z.B. die des Doppelviolinkonzerts BWV 1043 in d-moll in das Doppelcembalokonzert BWV 1062 in c-moll) über die Transkriptionen im 19. Jahrhundert von Schumann, Busoni, Reger und anderen bis hin zu Weberns Orchestrierung des Ricercar aus dem Musikalischen Opfer (BWV 1079) oder Stravinskys Arrangement der ChoralVariationen über ’Vom Himmel hoch da komm' ich her” (BWV 769) waren die Werke Bachs durch die Jahrhunderte hindurch Ausgangspunkt mehr oder weniger freier und kreativer Aneignungen.
Eine eingehende Beschäftigung mit dem vielschichtigen Phänomen der Bearbeitung im Bereich der traditionellen Kunstmusik kann diese Arbeit nicht leisten. Kurz erwähnt werden soll aber wenigstens, daß es ’’Parodien”, ’’Bearbeitungen”, ’’Transkriptionen” oder ’’Paraphrasen” in der abendländischen Musik von Anfang an gegeben hat.
’’Der Begriff ’’Bearb.” setzt ein zu bearbeitendes Werk, ein Thema, eine Melodie, einen Satz oder ein mehrsätziges Werk voraus. Bearb. kann entweder eine neue kompositorische Gestaltung oder Fassung eines musikalischen Gebildes (Thema, Melodie, Satz, Werk) darstellen oder ein musikalisches Werk für ein anderes Organ der Aufführung einrichten. In beiden Fällen kann sich die Bearb. auf eine bloße technische Ausarbeitung oder Einrichtung beschränken und somit die ursprüngliche kompositorische Arbeit erhalten oder sie kann das zu bearbeitende Gebilde weitgehend umgestalten, und zwar bis zur Selbständigkeit gegenüber dem zuerst bestehenden Werk.”[3]
Sind vor allem Arrangements, Klavierauszüge oder etwa die ’’Opernfantasien” von Franz Liszt in dieser Hinsicht bekannt, so können auch die Interpretation von Cembalowerken auf dem modernen Klavier oder
Aufführungen von Chor- und Orchesterwerken mit heutigen Instrumenten bzw. großer Besetzung diesem Begriff zugeordnet werden, wenn man ihn etwas weiter faßt. Dem Wesen nach ist auch jede Wiedergabe von Orgelmusik eine Bearbeitung, da sich der Spieler für eine bestimmte Registrierung entscheiden muß. Eine freie Interpretation, wie beispielsweise die Bach-Einspielungen Glenn Goulds, liegen an der Grenze zur Bearbeitung. Mies führt schließlich an, daß "schon größere Tempounterschiede eine Art »Bearbeitung« sind.”[4]
Die Beweggründe für die Umarbeitung waren einerseits ökonomischer Natur (bei Bach selbst), bzw. folgten der Notwendigkeit, die Musik für die jeweils vorhandenen Gegebenheiten einzurichten. Im 19. Jahrhundert verbarg sich hinter den Bearbeitungen Bach'scher Werke häufig die Absicht, zwischen dem zeitgenössischen Publikum und den Werken der Vergangenheit durch Anpassung an die klanglichen Gewohnheiten der Zeit zu vermitteln. Weitere Gründe können schlicht die Verehrung für Bach oder das Bemühen um Verdeutlichung der musikalischen Strukturen gewesen sein. Die Aufnahmen Glenn Goulds oder die Ricercar- Instrumentierung von Webern könnten so verstanden werden.
Nachdem einerseits im 19. Jahrhundert der Begriff des ’’Kunstwerks” als einem originalen, unantastbarem Ausdruck von Kreativität enstand, und nachdem andererseits durch die Möglichkeit der Verbreitung von Musik mit Hilfe der Massenmedien für jedermann die Möglichkeit gegeben war, die Werke vergangener Zeiten (inzwischen auch mehr oder weniger im originalen Klang) kennenzulernen, kam die Praxis des Bearbeitens in der sogenannten ’’ernsten Musik” aus der Mode.
Im Grenzbereich zwischen E- und U-Musik gibt es aber nach wie vor Künstler, die beliebte Stücke für ihr jeweiliges Instrument arrangieren, um das Repertoire zu vergrößern. ’’German Brass”, das ’’Frankfurter Gitarrenduo”, der Organist Oskar Gottlieb Blarr oder der Trompeter Maurice André seien hier erwähnt.[5]
Die besondere Eignung der Werke Bachs
Zur Beantwortung der Frage, wieso gerade die Werke Bachs sich in solchem Maß zur Bearbeitung angeboten haben und anbieten, müssen zunächst zwei Faktoren berücksichtigt werden: Zum einen - so trivial es klingt - die Tatsache, daß Johann Sebastian Bach gemeinsam mit Beethoven und Mozart eben zu den bekanntesten Meistern der Musikgeschichte gehört (wer bearbeitet schon Werke von Pachelbel oder Kuhnau?). Zum anderen der Umstand, daß im Barock das Komponieren mehr Tagesgeschäft denn ’’Geniestreich” war und dem Interpreten noch eine entscheidendere Rolle zukam: Barockmusik ist zu weiten Teilen schon ursprünglich ”zu bearbeitende” Musik gewesen.
”So wird die Häufigkeit, ja Notwendigkeit von Bearbeitungen im weitesten Sinne für Bach deutlich. Manches muß schon im Vergleich zum Urtext eingesetzt oder improvisiert werden: die Generalbaßausfüllungen, die Ornamentik und Ausführung der Kadenzen...; die Dynamik, die nur selten angezeigt wurde; endlich die Wahl anderer Instrumente als die der Bachzeit.”[6]
Dem Verlust der Aufführungstradition zwischen Bachs Tod 1750 und Mendelssohns Aufführung der Matthäuspassion 1829, sowie dem starken Zugriff der Romantik auf die Interpretationsweise und (bis heute) die Hörgewohnheiten des Publikums ist es zuzuschreiben, daß sich erst jetzt - 240 Jahre später - der Begriff der ’’historischen Aufführungspraxis” in breiten Schichten der Musikhörer durchzusetzen beginnt - freilich auf Kosten einer Kommerzialisierung, die der Suche nach der Wahrheit nicht immer zuträglich ist...
Die zahlreichen Parodien von Bachs eigener Hand zeugen davon, daß seine Kompositionsweise die Möglichkeit zur Bearbeitung schon von sich aus einschloß. Die Musik ist weitgehend noch nicht instrumentenspezifisch, bei einigen Werken ist sogar überhaupt keine Besetzung angegeben. Auch konnte die Musik in einen anderen inhaltlichen Zusammenhang gebracht werden, ohne dabei wesentlichen Schaden zu erleiden. Allein im Bereich der Kantaten gibt es nach W. Neumann ”über 60 Parodien und Entsprechungen von Kantate zu Kantate, 48 von Großchorwerk zu Kantate, 22 von Instrumentalwerken zu Kantaten”.[7]
Für die Bearbeitungen im Bereich von Jazz, Pop und Rockmusik sind vermutlich vor allem drei Eigenschaften von Bachs Musik ausschlaggebend: erstens die ausgeprägte ’’motorische Komponente”, die einer Rhythmusunterlegung und der Swing-Artikulation dienlich war; zweitens die dem
Jazz verwandte Denkart des harmonisierten Generalbaß', bzw. überhaupt die tragende Funktion des Basses an sich; drittens die Polyphonie selbstständig geführter Stimmen, die sowohl im Jazz als auch im Rock dem Bedürfnis entgegenkam, jedem Musiker einen gleichbedeutenden Anteil am Musizieren zu geben.
Auswertung der Diskographie
Die Diskographie ist gedacht als Bestandsaufnahme und Ausgangspunkt einer repräsentativen Auswahl für die Analyse. Nebenbei habe ich die Hoffnung, daß durch die Auflistung nach den Nummern des BWV ein Überblick möglich wird, der für musikpädagogische oder -wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema, bzw. für den Musikunterricht selbst, eine abwechslungsreichere Auswahl gestattet als bisher.
Die Diskographie kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Das liegt zum einen daran, daß im Bereich der Unterhaltungsmusik eine unüberschaubare Flut von Veröffentlichungen vorliegt (die zum Teil nach kurzer Zeit schon nicht mehr erhältlich sind), zum anderen daran, daß die Angabe des bearbeiteten Originals vor allem im Bereich der Rockmusik häufig fehlt, fehlerhaft oder unzureichend ist. Dort findet sich z.B. die Titelangabe ’’Brandenburger” oder ’’Choral” für eine Bearbeitung des ersten Satzes des 3. Brandenburgischen Konzerts, bzw. des Choralvorspiels zu ”Wachet auf, ruft uns die Stimme”. Aus diesem Grund sind auch die angeführten Aufnahmen nicht mit endgültiger Sicherheit richtig zugeordnet, obwohl ich etwa 80% aller verzeichneten Titel durch Anhören kontrolliert habe. Bernward Halbscheffel nennt wenige weitere Beispiele aus dem Rockbereich, die ich nicht mehr in den Katalog aufgenommen habe.[8]
Dennoch glaube ich, daß die Diskographie einen repräsentativen Überblick über den aktuellen Stand der Jazz-, Rock-und Pop-Versionen der Werke Bachs darstellt, der die mir bekannten Auflistungen an Vollständigkeit bei weitem übertrifft.
Bei der folgenden Übersicht über die Verteilung der 182 katalogisierten Bearbeitungen auf Stile und Werkgruppen des BWV habe ich eine Einteilung in die Sparten "Jazz”, "Rock” und wPbpw vorgenommen. Vor allem die Zuordnung zwischen ’’Rock” und ”Pop” ist Bernward Halbscheffel: Living In The Past, in: Tibor Kneif (Hg.), Hock in den 70ern, Rowohtt - Verlag, Reinbek 1980
schwierig, da die Grenzen fließend sind. Unter "Rock” verstehe ich aber in diesem Zusammenhang die eher von Gitarre und Hammondorgel geprägte Musik der 60er und 70er Jahre, die sich am Rock'n'Roll oder Rhythm'n'Blues orientiert, wohingegen ”Pop” die etwas ’’weichere” Variante der Unterhaltungsmusik meint, die eher zum Schlager hin tendiert und - vor allem heute - von Synthesizer und Computer geprägt ist.
Die beiden Versionen von Wendy Carlos' Bearbeitungen (1968 und 1992) wurden als je eigenständig gewertet, ebenso bei Jacques Loussier die Einspielungen der ersten (bis 1978) und zweiten Periode (ab 1985).
Die Einteilung der Werkgruppen vereinfacht die des BWV wie folgt:
A BWV 1 - 524: Vokalmusik
В BWV 525 - 994: Tasteninstrumente
C BWV 995 - 1040: Lautenwerke und Kammermusik
D BWV 1041 - 1071: Konzerte und Orchesterwerke
E BWV 1072 -A189: Kanons, Musikalisches Opfer,
Kunst der Fuge, Anhang
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Auffällig ist zunächst, daß eine Reihe von ’’Spezialisten” - in der Tabelle namentlich genannt - von den insgesamt 182 Bearbeitungen zusammen 129 angefertigt haben. Wie aus folgender Auflistung der am häufigsten bearbeiteten Werke zu ersehen ist, beziehen sich von den 53 Bearbeitungen der oben unter "sonstige” aufgeführten "Nichtspezialisten” (NSp.) allein 36 auf die ’’Hits” (68%), was die Vermutung nahelegt, daß auch mir unbekannte Bearbeitungen bevorzugt von diesen Vorlagen ausgehen:
’’Hithste”
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Weiterhin wird deutlich, welches Übergewicht die Bearbeitungen aus dem Bereich der Tastenmusik (B) etwa im Verhältnis zu denen aus der gleich großen Werkgruppe der Vokalmusik (A) haben. Die Präferenz von Orgel- oder Klavierwerken ist durch alle Stile hindurch zu beobachten. Ist sie bei dem Pianisten Jacques Loussier (65% seiner Bearbeitungen sind aus Gruppe B) oder dem Organisten Lindner (89%) noch beinahe selbstverständlich, so bestätigt der ebenso hohe Anteil der Tastenmusik bei der Gesangsgruppe ’’The Swingle Singers” (67%) die Vermutung, daß diese Werkgruppe sich allgemein besonders zur Bearbeitung eignet, bzw. besonders populär ist.
Berücksichtigt man, daß die Gruppe der Konzerte und Orchesterwerke (D) im BWV insgesamt nur 31 Werke umfaßt, so ist der Anteil der daraus bearbeiteten Kompositionen mit 12 relativ hoch. Diese Gruppe beinhaltet allerdings auch mit den Brandenburgischen Konzerten und den Orchesterouvertüren BWV 1067 (Badinerie) und BWV 1068 (Air) überaus bekannte Stücke. "Badinerie” und ’’Air” gemeinsam sind denn auch Vorlage für 24 der insgesamt 39 Bearbeitungen dieser Gruppe.
Zusammenfassend kann man feststellen, daß die Swingle Singers, Jacques Loussier, Wendy Carlos, Bernhard Lindner, Ekseption und James Last den Großteil der von mir erfaßten Bearbeitungen angefertigt haben und sich dabei hauptsächlich auf Orgel- oder Klavierwerke, bzw. Konzerte und Orchesterwerke beziehen. Dementsprechend behandle ich auch im analytischen Teil vor allem Bearbeitungen dieser Interpreten. Im Gegensatz zu den meisten mir bekannten Veröffentlichungen im musikpädagogischen und musikwissenschaftlichen Bereich, werde ich die sogenannten ’’Hits” von der Analyse weitgehend ausschließen, da ich versuchen will, die jeweils wesentlichen Bearbeitungsmuster auch außerhalb dieser populären Stücke nachzuweisen.
Rezeption in Musikwissenschaft und Musikpädagogik
Was Manfred Schüler 1978 in seinem Aufsatz ’’Rockmusik und Kunstmusik der Vergangenheit” bemerkte, gilt ohne größere Einschränkung auch noch heute:
"Während an biographischen, textinterpretierenden und musiksoziologischen Arbeiten einiges vorliegt - wenngleich meist ohne wissenschaftlichen Anspruch - fehlt es an musikimmanenten Untersuchungen." [9]
Zunächst reagierte die Wissenschaft mit Artikeln, die ’’Gedanken zur gewaltsamen Zerstörung von Kunstwerken[10] ”, ”Im Sonderangebot:
»Classics«”[11] oder ’’Bach - gespickt, gegrillt und aufgespießt”betitelt waren. Hier wurde polemische Kritik an der Respektlosigkeit und Kommerzialität der behandelten Bearbeitungen geübt, eine weitere Annäherung an das Thema fand aber nicht statt.
"Aus dem Traum, der Sphäre der Kunst anzugehören, und dem Gefühl der eigenen Kümmerlichkeit resultiert vor allem der Wunsch, Kunst ihres Anspruchs, der als "Establishment” denunziert wird, 9 Manfred Schuler, Rockmusik und Kunstmusik der Vergangenheit, in: Archiv für Musikwissenschaft XXXV/2, Steiner Verlag, Wiesbaden 1978 zu entkleiden, sie von ihrem Sockel zu reißen, das Erhabene ins Gemeine zu verkehrend’[13]
In einer zweiten Phase befaßte sich vorwiegend die Musikpädagogik mit dem Phänomen der Pop-Bearbeitungen, der wertende Vergleich zwischen ’’Original und Bearbeitung” hielt Einzug in den Musikunterricht der Schulen. Jedoch ging es hierbei eher um außermusikalische Aspekte, da die traditionellen Analysemethoden vor der Unterhaltungsmusik versagten oder ungeeignete Ergebnisse hervorbrachten.
Zwar schreibt Norbert Rzyski im Vorwort zu seiner Dissertation ’’Zur Popularisierung von »Klassik« in der Unterhaltungsmusik”:
’’Das Ziel der vorliegenden musikpädagogischen Arbeit ist es, oft wiederkehrende Manipulationsverfahren bzw. Bearbeitungstechniken aufzuzeigen und diese für die pädagogische Arbeit zu systemati- * ff 14 sieren.
Die Erkenntnisse liegen jedoch vor allem im Bereich der Musikalischen Verhaltensweisen von U-Musik-Hörem”, bzw. bestehen aus Tabellen und Diagrammen zu musikpsychologischen Prozessen während der Wahrnehmung der jeweiligen Beispiele. Auch die Auswahl der Bearbeiter (James Last, Richard Claydermann und Ricky King) muß als nicht repräsentativ und einer bestimmten Erwartungshaltung Vorschub leistend gewertet werden.
Eine ausgewogenere Darstellung findet man in dem musikdidaktischen Lehrbuch ’’Original und Arrangement” von Manfred Sievritts[12] vor. Bearbeitungen Bach'scher Werke werden hier aber nur am Rande erwähnt.
Die anfänglich heftige Kritik an den Rockmusikversionen scheint inzwischen einem etwas ratlosen Pluralismus gewichen zu sein. Dies liegt wohl einerseits darin, daß die Hauptphase des ”Baroque-Rock” wie erwähnt zu Beginn der 80er Jahre endete. Andererseits scheint es, daß der häufig dominierende Vorwurf der Kommerzialität mittlerweile auch in Bereichen der sogenannten E-Musik erkannt wird.
13 Helga de la Motte-Haber, Im Sonderangebot..., a.a.O., S. 203
14 Norbert Rzyski, Zur Popularisierung von "Klassik” in der Unterhaltungsmusik, Diss., Duisburg 1986, Vorwort S. X
Die nun folgenden Untersuchungen sind - entsprechend der Übersicht auf S. 10 - nach den Bereichen ’’Jazz”, ’’Synthesizer”, ’’Rock” und ”Pop” geordnet. Einerseits, weil die in diesen Sparten zusammengefaßten Bearbeitungen so besser verglichen werden können. Andererseits, weil diese Reihenfolge auch der chronologischen Ordnung in etwa entspricht. Eine Systematisierung nach den jeweils variablen musikalischen Parametern, wie sie z.B. von Hartwich-Wiechell vorgeschlagen wird[16], soll im dritten, zusammenfassenden Teil der Arbeit erfolgen.
D. Hartwich-Wiechell, Pop-Musik, Köln 1974, S. 282 ff
II. Historisch-analytischer Teil A. Swing und Jazz
Swing[13]
Der ’’swing” (englisch: Schwingen, Baumeln, Pendeln) bildet die wesentliche Grundlage für den Jazz; die Begriffe ’’Jazz” und ’’Swing” werden sogar häufig synonym verwandt. Aber auch die Rock- und Popmusik übernimmt die entscheidenen Elemente in zum Teil variierter Form und ist ohne swing nicht denkbar.
Zunächst muß der weitverbreiteten Ansicht entgegengetreten werden, ’’swing” oder ’’Jazz-feeling” entstünde durch das triolische (ternäre) Ausführen von Achteln, bzw. durch eine Schlagzeugbegleitung, die auf triolischen Rhythmen basiert. Dies ist zwar häufig zu beobachten, bildet aber nicht eigentlich die Grundlage des ’’swing”. Ob eine Musik ’’swingt” ist einzig und allein eine Frage der Artikulation: Ein Kontrabassist kann eine einfache Reihe von Viertelnoten ohne Zugabe von Schlagzeug oder anderen Rhythmusinstrumenten allein durch die Spielweise zum ’’swingen” bringen, wenn er das tension-release- (engl.: SpannungEntspannung) und das Multibeat-Gefiihl berücksichtigt.
Die Wurzeln des ’’swing” liegen im Ragtime begründet. Beim Ragtime wird gegen eine gleichmäßig rhythmische Begleitung in der linken Hand (meistens in Vierteln) eine synkopierte Melodielinie der rechten Hand gesetzt. Die Begleitung folgt zusätzlich dem Muster: Basston auf den Zählzeiten eins und drei, Harmonie auf den Zählzeiten zwei und vier. Das dadurch entstehende rhythmische Gerüst bezeichnet man als tension-release oder off-beat. Tension-release bedeutet eine dynamische Betonung der ’’leichten” Zählzeiten (”off-beat”) unter Beibehaltung der natürlichen Schwerpunkte auf den ’’schweren” Zählzeiten, bzw. - im Falle des Ragtime - Markieren der Hauptzählzeit durch den Baßton.
Während die Führung der rechten Hand im Ragtime meist in synkopierten Achtelwerten erfolgt, werden diese Achtel im Jazz häufig in Triolen aufgelöst. Das ist eine Möglichkeit, nicht aber eine Notwendigkeit. Die Praxis hat ihren Ursprung im sogenannten Multi-beat-Gefühl:
”.Dieses Gefühl - der die Grundlage bildende Bestandteil des swing-feeling - läßt bei jeder Zählzeit unbewußt mehrere Unterteilungen erleben...”[14]
Eine in Vierteln geführte Baß-Figur beginnt demnach bereits zu swingen, wenn der Bassist sich in jedes Viertel eine Achteltriole hinein- denkt. Das Multibeat-Gefühl beeinflußt die innere Struktur der Töne und gibt ihnen eine rhythmische Qualität. Hörbar wird dieses Verfahren dann, wenn der Baß auf jedem dritten (gedachten) Triolenachtel abstoppt, bzw. wenn - wie bei den Swingle Singers - ein auf ’’dumm” gesungenes Viertel nur auf dem ersten Triolenachtel mit dem Vokal ”du” klingt, die beiden übrigen Achtel auf "mm” ausgehalten werden. Hinzukommt, daß der Beginn der ”Walking-Bass”-Viertel in der Jazz-Artikulation häufig etwas vor der Zählzeit liegt, keinesfalls jedoch danach.
In der Aufnahme des ersten Satzes des Doppelviolinkonzerts von Bach (BWV 1043) mit Django Reinhardt (Gitarre), Stephane Grappelly (Violine) und einem weiteren Geiger, kann man sowohl die "Ragtime”- Begleitung in der Gitarre als auch die Triolisierung und das jazz-typische "Vorziehen” von Noten in den off-beat bei den Violinen feststellen (HB 1). Es handelt sich bei dieser Einspielung vom 23.12.1937 um die früheste mir bekannte Bearbeitung eines Werkes von Bach im Bereich der Unterhaltungsmusik.
The Swingle Singers
Der gebürtige Amerikaner[15] Ward Swingle war ursprünglich ein klassisch ausgebildeter Pianist, der nach Paris kam, um dort in der Meisterklasse von Walter Gieseking zu studieren. Nachdem er unter anderem Leiter des ’’Ballet Orchestre de Roland Petit” gewesen war, gründete er 1962 die ’’Swingle Singers”, ein Doppelquartett von ausgebildeten, französischen Sängerinnen und Sängern für das er zunächst Werke von Johann Sebastian Bach arrangierte.
Nachdem die erste Schallplatte ’’Jazz Sebastien Bach” (1963) großen Erfolg hatte, versuchte Swingle sich auch im Bearbeiten von Werken anderer Meister: "The Swingle Singers going Baroque” (Händel, Vivaldi, Bach), ’’Anyone for Mozart” (1965), "The Swingle Singers getting romantic” - 17 - (Beethoven!, Mendelssohn, Chopin, u.a.) hießen die entsprechenden Veröffentlichungen. Am erfolgreichsten aber blieben bis heute die BachEinspielungen.
Die Sängerinnen und Sänger wurden verschiedentlich ausgetauscht. Bei der ’’Swingle II” genannten Besetzung, die unter anderem eine LP mit Bearbeitungen von Madrigalen veröffentlichte, sind es hauptsächlich an- glo-amerikanische Musiker. Im Tenor sang - neben Ward Swingle selbst - zeitweise auch John Potter, der als Vokalist des ’’Hillard Ensembles” oder "Red Byrd” bekannt ist.
Ihre Kunst des intonationsstarken, virtuosen und vibratolosen Gesangs zeigten ’’Swingle II” auch in Interpretationen zeitgenössischer Werke, wie bei einer Aufnahme des Werkes ”A-Ronne” von Luciano Berio.[16]
Von der aktuelle Besetzung, die wieder den Namen ’’The Swingle Singers” trägt, wurde 1991 mit ”La compilation” eine Sammlung von Bearbeitungen veröffentlicht, die sowohl Folk-Songs als auch Werke von Mozart, Bach und anderen enthält.
In Swingles Bearbeitungen der Werke Bachs werden Notentext und Ablauf weitestgehend beibehalten. Veränderungen sind lediglich artikulationsbedingte Triolisierungen oder die bekannte Synkopenbildung durch ,TVorziehen”. In einigen - nicht allen - Fällen werden ein Kontrabaß und Schlagzeug hinzugefügt. Im Gegensatz zu den Bach-Versionen Jacques Loussiers gibt es keine Improvisationsteile. Eine Ausnahme sind die gemeinsam mit dem Modern Jazz Quartet eingespielten Stücke, in denen aber der Improvisationspart den Instrumentalisten Vorbehalten bleibt.
Die polyphonen Stimmen des Originals werden auf die einzelnen Sänger verteilt und mit einer Textierung ("daba”, ”dubu”) versehen. Dieses Verfahren des jazz-mäßigen Gesangs auf Silben ist schon von Louis Armstrong oder Ella Fitzgerald her bekannt und wird als Scat-singing bezeichnet.
Die Untersuchung der einzelnen Bearbeitungen der Swingle Singers ergab hinsichtlich des Scat-singing, daß als Vokale ausschließlich ”a” und ”u” verwendet werden, wobei ”u” in mittleren und langsamen Stücken, ”a” vor allem in den schnellen Stücken vorherrschend ist. Im Anlaut werden fast ausschließlich ”d” und ”b” verwendet, seltener - in langsamen Stücken - auch ”1”.
[...]
- Citation du texte
- Tobias Bücklein (Auteur), 1993, Switched-On-Bach, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/155807
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