Ob Rapmusik im Radio oder im Fernsehen, Techniken von HipHop-DJs in modernen Rock- und Popsongs, Breakdance in Jugendzentren und Einkaufspassagen, ’HipHop-Slang’ in der Werbung und in Kinderzimmern, Graffiti auf Zügen und an Häuserwänden, Raptexte in Schulbüchern und im Fremdsprachenunterricht, HipHop-Szenekleidung in Pausenhöfen und an Universitäten – HipHop ist heute in aller Munde und nahezu omnipräsent. Die HipHop-Kultur, bestehend aus den Elementen Rap, DJ-Techniken, Breakdance und Graffiti, die in den 1970er-Jahren als kleine Minderheitenkultur im New Yorker Ghetto ihren Anfang nahm, ist innerhalb weniger Jahrzehnte zu einer globalen, vielmehr glokalen Jugendkultur herangewachsen.
Im Zuge seiner Popularisierung wurde HipHop nicht nur zum Thema unzähliger journalistischer Artikel und Bücher, die zumeist von (ehemals) aktiven Vertretern der Szene (für die Szene) geschrieben wurden, sondern zog auch die Aufmerksamkeit der Wissenschaft auf sich, so dass sich HipHop zu einem akademischen Gegenstand entwickelte. Die HipHop-Forschung ist der Vielschichtigkeit des zu untersuchenden Phänomens und dessen sozialer, politischer, ökonomischer und medialer Reichweite Rechnung tragend interdisziplinär ausgerichtet. Neben der Kulturwissenschaft und Soziologie, der Medien- und Musikwissenschaft, der Kunstgeschichte und Pädagogik sowie der Politik- und Literaturwissenschaft beschäftigt sich auch die Linguistik mit HipHop, womit der zentralen Position von Sprache innerhalb der HipHop-Kultur Tribut gezollt wird. Insbesondere in der Soziolinguistik werden im Zuge der Öffnung gegenüber empirischer Forschung und der Hinwendung zu Populärkultur und neuen Medien HipHop und dessen vielfältige Möglichkeiten der Identitätsarbeit vor dem Hintergrund der kommunikativen Hervorbringung von Identität und deren sprachlich-stilistischer Realisierung ins Zentrum des Interesses gerückt. Während sich unter anderem Androutsopoulos (2005/ 2007a) und Bierbach/ Birken-Silverman (2002/ 2007) der Fan-Kommunikation von jugendlichen HipHoppern zuwenden, wobei das Internet bzw. eine Breakdance-Gruppe den Rahmen der Analysen darstellen, untersuchen Berns/ Schlobinski (2003) die diskursive Konstruktion von Identität innerhalb der am stärksten wahrgenommenen und kommerziell erfolgreichsten kulturellen Ausdrucksform des HipHop, dem diskursiven Phänomen des Rap bzw. des Raptexts.
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Inhaltsverzeichnis
I. Einführung
II. Kommunikative Verhandlung von Identität in der Gattung des HipHop
1. Theoretischer soziolinguistischer Rahmen
1.1. Identität(en)
1.1.1. Kollektive Identität
1.1.2. Soziale Identität in der Sozialpsychologie
1.1.3. Soziale Identität in der Soziolinguistik
1.1.3.1. Acts of Identity
1.1.3.2. Soziale Identität in der Interaktion
1.2. Kommunikative soziale Stile
1.2.1. Stil als holistisches Konzept
1.2.2. Stil als soziale Praxis
2. Einführung in die HipHop-Kultur und die Textsorte Rap
2.1. Kurze Geschichte des HipHop und seiner Genres
2.1.1. Ursprünge und Entwicklung des HipHop in den USA
2.1.2. Appropriation des HipHop in Deutschland
2.2. Gattungskonstituenten der Textsorte Rap
2.2.1. Thematische Ebene
2.2.2. Ebene der Sprechhandlungen
2.2.2.1. Aktionalität
2.22.2. Lokalisierung
2.2.3. Referentielle Ebene
2.2.3.1. Kulturelle Referenzen
2.2.3.2. Intertextualität
2.2.4. Sprachlich-stilistische Ebene
2.2.4.1. SprachlicheOrientierung
2.2.4.2. EnglischeElemente
2.2.5. Rhetorische Ebene
3. Analyse der HipHop-Grnppe Advanced Chemistry
3.1. Vorstellung der Gruppe
3.2. Doing „afrodeutsch“: Fremd im eigenen Land
3.2.1. Rap als Medium der Thematisierung sozialer Probleme: Die Situation von Migranten in Deutschland
3.2.2. Rap als Plattform der Auseinandersetzung mit kultureller Identität
3.2.3. Sprachliche Realisierung der doppelten kulturellen Identität
3.2.3.1. Sprachwahl
3.2.3.2. Code-Switching
3.2.3.3. Varietätswahl
3.2.3.4. Selbst- und Fremdkategorisierungen
3.3. Doing „Untergrund-Old School-HipHop“: HipHop lebt im Untergrund
3.3.1. Rap als Arena des Szenediskurses
3.3.1.1. Untergruppierungen innerhalb des HipHop
3.3.1.2. Szenespezifische Positionierung
3.3.2. Kommunikative Verhandlung einer szenespezifischen Identität
3.3.2.1. EnglischeElemente
3.3.2.2. Rhetorische Mittel
3.3.2.3. Sprechhandlungen
3.3.2.4. Kulturelle Verweise und Intertextualität
III. Schlussbetrachtung
IV. Bibliographie
I. Einführung
Ob Rapmusik im Radio oder im Fernsehen, Techniken von HipHop-DJs in modernen Rock- und Popsongs, Breakdance in Jugendzentren und Einkaufspassagen, ’HipHop-Slang’ in der Werbung und in Kinderzimmern, Graffiti auf Zügen und an Häuserwänden, Raptexte in Schulbüchern und im Fremdsprachenunterricht, HipHop-Szenekleidung in Pausenhöfen und an Universitäten - HipHop ist heute in aller Munde und nahezu omnipräsent. Die HipHopKultur, bestehend aus den Elementen Rap, DJ-Techniken, Breakdance und Graffiti,1 die in den 1970er-Jahren als kleine Minderheitenkultur im New Yorker Ghetto ihren Anfang nahm, ist innerhalb weniger Jahrzehnte zu einer globalen, vielmehr glokalen2 Jugendkultur herangewachsen.3
Im Zuge seiner Popularisierung wurde HipHop nicht nur zum Thema unzähliger journalistischer Artikel und Bücher, die zumeist von (ehemals) aktiven Vertretern der Szene (für die Szene) geschrieben wurden, sondern zog auch die Aufmerksamkeit der Wissenschaft auf sich, so dass sich HipHop zu einem akademischen Gegenstand entwickelte. Die HipHop- Forschung4 ist der Vielschichtigkeit des zu untersuchenden Phänomens und dessen sozialer, politischer, ökonomischer und medialer Reichweite Rechnung tragend interdisziplinär ausgerichtet. Neben der Kulturwissenschaft und Soziologie, der Medien- und Musikwissenschaft, der Kunstgeschichte und Pädagogik sowie der Politik- und Literaturwissenschaft beschäftigt sich auch die Linguistik mit HipHop, womit der zentralen Position von Sprache innerhalb der HipHop-Kultur Tribut gezollt wird. Insbesondere in der Soziolinguistik werden im Zuge der Öffnung gegenüber empirischer Forschung und der Hinwendung zu Populärkultur und neuen Medien HipHop und dessen vielfältige Möglichkeiten der Identitätsarbeit vor dem Hintergrund der kommunikativen Hervorbringung von Identität und deren sprachlich-stilistischer Realisierung ins Zentrum des Interesses gerückt. Während sich unter anderem Androutsopoulos (2005/ 2007a) und Bierbach/ Birken- Silverman (2002/ 2007) der Fan-Kommunikation von jugendlichen HipHoppern zuwenden, wobei das Internet bzw. eine Breakdance-Gruppe den Rahmen der Analysen darstellen, untersuchen Berns/ Schlobinski (2003) die diskursive Konstruktion von Identität innerhalb der am stärksten wahrgenommenen und kommerziell erfolgreichsten kulturellen Ausdrucksform des HipHop, dem diskursiven Phänomen des Rap bzw. des Raptexts. Die besondere Rolle, die der prozessorientierte, sprachlich-konstruktivistische Ansatz mit seinem flüssigen, wandelbaren Identitätsverständnis bei der Betrachtung von HipHop spielt, hebt unter anderem Menrath (2003: 218f.) hervor:5
In der künstlerischen Praxis kristallisiert die Persönlichkeit eines HipHoppers. Die Identität des einzelnen HipHoppers ist ein dynamischer Prozess, eine Abfolge von wiederholt dargebotenen künstlerischen Inszenierungen des persönlichen Styles. [...] Ohne Performance gibt es keinen HipHop.
Nach zahlreichen wissenschaftlichen Artikeln über US-amerikanischen Rap wurde der Programmatik von Mitchell (2001) folgend inzwischen auch europäischer Rap, insbesondere in der Romania (vgl. Scholz 2003) zum Gegenstand akademischer Betrachtung. Die vorliegende Arbeit will die Diskursstränge der linguistischen Betrachtung von Identität und des HipHop-Diskurses zusammenführen und einen soziolinguistischen Beitrag zur deutschen HipHop-Forschung leisten, indem sie die performative Inszenierung von Identität in der Anfangszeit des deutschen6 HipHop unter die Lupe nehmen wird.
Um das theoretische Fundament der Untersuchung zu legen (1.), werden zunächst die Konzepte der sozialen Identität (1.1.) und der kommunikativen sozialen Stile (1.2.) zu diskutieren sein. In einer Einführung in die HipHop-Kultur (2.) wird zum Einen in der gebotenen Kürze ein Überblick über die Geschichte des HipHop (2.1.) gegeben, um eine lebensweltliche Verortung des zu untersuchenden Gegenstands zu ermöglichen, und zum Anderen werden die vielschichtigen, linguistischen Gattungsmerkmale der Textsorte Rap (2.2.) einzuführen sein, die den diskursanalytischen Rahmen der anschließenden, exemplarischen Fallstudie der HipHop-Gruppe Advanced Chemistry darstellen werden (3.). Nach einer Vorstellung der Gruppe und ihrer Mitglieder (3.1.) wird das Phänomen der kommunikativen Verhandlung von Identität bei Advanced Chemistry einer gründlichen Analyse unterzogen (3.2. und 3.3.). Den Untersuchungsgegenstand stellen der gängigen wissenschaftlichen Annäherung aus sprachanalytischer Perspektive zufolge Raptexte dar (Texte siehe Web),7 die mit Androutsopoulos (2003b), der das Textuniversum der HipHopKultur in drei Sphären untergliedert, als Primärtexte bezeichnet werden können. Gelegentlich werden zum besseren Verständnis auch Interviews der einzelnen Mitglieder der Gruppe -nach Androutsopoulos (2003b) Sekundärtexte - miteinbezogen. Dabei wird einerseits inhaltlich herauszuarbeiten sein, welche Identitäten die Gruppe diskursiv konstruiert, und andererseits bei einer Betrachtung der sprachlichen Realisierung dieser Identitätsfacetten zu untersuchen sein, welche globalen Gattungskonventionen der Textsorte Rap, wie z.B. ’ritualisierte Sprechhandlungen’, ’kulturelle Verweise’ oder ’englische Elemente’, von der Gruppe zur Aushandlung von kultureller und szenespezifischer Identität lokalisiert werden. Insgesamt wird bei der Untersuchung dem Leitgedanken von Coupland (2007: 26f.), der interpretierende soziolinguistische Forschung nur in einem dem Untersuchenden „familiar ecosystem“ für möglich und sinnvoll hält, dadurch genüge getan, dass der Forschende aus langjähriger, peripher-teilnehmender Beobachtung (vgl. Scholz 1998: 234) über
Fachkenntnisse über das Untersuchungsgebiet, die deutsche HipHop-Szene und HipHop im Allgemeinen, verfügt, einem Gebiet, in dem junge Nachwuchswissenschaftler mit Forman (2007: 20f.) als Experten angesehen werden können. Der Einbezug der „CommunityPerspektive“ in die wissenschaftliche Untersuchung entspricht dem Versuch eines Brückenschlags zwischen den Diskurswelten ’HipHop’ und ’Akademie’, der in der HipHopForschung im Allgemeinen angestrebt wird (vgl. Androutsopoulos 2003a; Bock et al. 2007; Kimminich 2004), um der Gefahr von Fehlurteilen aus einer Out-Group-Perspektive entgegenzuwirken.
II. Kommunikative Verhandlung von Identität in der Gattung des HipHop
1. Theoretischer soziolinguistischer Rahmen
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Identität, linguistischer Heterogenität und der Beziehung zwischen außersprachlichen, sozialen Faktoren einerseits und der Wahl bestimmter sprachlicher Mittel andererseits hat im Laufe der Forschungsgeschichte einen nicht unerheblichen Wandel erfahren. Die Aufgabe des ersten Kapitels wird es sein, diesen Verlauf zu skizzieren, die methodischen Veränderungen herauszuarbeiten und insbesondere diejenigen Konzepte vorzustellen, die für das Feld des HipHop von Bedeutung sind und somit als Hintergrund für die spätere, exemplarische Fallstudie dienen werden. Der Aktualität des spätmodernen Phänomens musikalisch geprägter Jugendkulturen entsprechend handelt es sich dabei um bisher relativ wenig untersuchte Konstrukte der soziolinguistischen Forschung: De8 facto um die Konzepte der sozialen Identität und der kommunikativen sozialen Stile, die im Folgenden einzuführen sein werden.
1.1. Identität(en)
1.1.1. Kollektive Identität
Die linguistische Betrachtung von Identität befasste sich in ihren Anfängen nicht mit dem Phänomen der sozialen Identität, sondern beschäftigte sich vielmehr mit kollektiver Identität, welche im Rahmen des Diskurses über Sprachen als natürlicher Widerschein von nationalen Identitäten im 19. Jahrhundert ins Zentrum des Interesses rückte. Ein Kollektiv wurde dabei quasi wie ein einzelnes menschliches Lebewesen betrachtet, das seine Identität über bestimmte einzigartige, charakteristische Merkmale ausdrückt, wobei der nationalen (Standard)Sprache eine besondere Rolle zukommt. Das sich dahinter verbergende Konzept einer speech community (Duszak 2002: 3), der Vorstellung eines essentialistischen Zusammenhangs zwischen Nation und Sprache, die zu einem Schlüsselkonzept der europäischen Moderne wurde und tief in unseren Sprachideologien verwurzelt ist, beschreibt Auer (2007: 2) wie folgt:
[E]ach collectivity (particularly a nation, or a Volk) expresses its own individual character through and in its language. The term ’essantialist’ is justified here since it is assumed that there is a ’natural’ link between a nation and ’its’ language.
Diese Auffassung spielt bis heute im nicht-wissenschaftlichen Diskurs eine wichtige Rolle. So werden z.B. häufig bei bilingualen Minderheiten spezifische Varietäten der Mehrheits- und/ oder Minderheitssprache sowie verschiedene Formen des Code-Switchings und Mixings als natürlicher Ausdruck ihrer zweisprachigen Identität betrachtet, womit ein ikonischer Zusammenhang zwischen hybriden Identitäten und Sprachmischungen unterstellt wird (vgl. Auer 2007: 2). Auch hier wird Sprache, wie im nationalistischen Diskurs des 19.Jahrhunderts, als eine Variable angesehen, die durch das Wesen des Kollektivs, zu dem sie gehört, determiniert wird, eine Auffassung, die Duszak (2002: 5) als „traditional equation: one language - one community - one world-view“ bezeichnet.
Auch die variationslinguistische Forschung, die maßgeblich durch die bahnbrechenden Studien William Labovs in den 1970er und 1980er Jahren geprägt wurde, basiert auf der Vorstellung eines naturgegebenen Zusammenhangs zwischen Gruppen und ’ihrer’ Sprache. Labovs korrelative Betrachtung von außersprachlichen Daten und linguistischen Variablen (Labov 1972), bei der soziale Faktoren wie Schichtzugehörigkeit oder Ethnie den Ausgangspunkt der Analyse bilden und daraufhin phonetische, lexikalische und syntaktische Charakteristika der Sprecher der verschiedenen Gruppen untersucht werden, stellt eine Vorgehensweise dar, die Identität als eine sehr statische und kollektiv bestimmte, sozial vorgegebene Größe auffasst. Entgegen dieser Betrachtungsweise von Identität ist das dominierende Paradigma in den heutigen Sozialwissenschaften, nicht zuletzt aufgrund der postmodernen fragmentarisierten Lebenswirklichkeit, mehr oder weniger radikal konstruktivistisch. Kollektive werden nicht mehr als ’von Natur aus’, z.B. auf Grundlage von genetischer Abstammung oder sozialer Herkunft, existierende Gruppen, sondern vielmehr als aktiv hergestellte Größen, als soziale Konstrukte (Hörning/ Reuter 2004) aufgefasst, die neben anderen Mitteln des persönlichen Ausdrucks (z.B. Kleidung, Haarschnitt etc.) insbesondere durch Sprache hergestellt werden.9 Man spricht in diesem Zusammenhang vom Konzept der sozialen Identität, das im Folgenden zunächst kurz aus sozialpsychologischer und anschließend eingehend aus soziolinguistischer Sicht betrachtet werden soll.
1.1.2. Soziale Identität in der Sozialpsychologie
Das Konzept der sozialen Identität stammt ursprünglich aus der Sozialpsychologie und basiert auf der Zweiteilung des Selbsts, die auf das Hauptwerk des Sozialpsychologen George Herbert Mead Mind, Self and Society (1934) zurückgeht. Nach Meads Untergliederung besteht Identität aus einer persönlichen Komponente, dem so genannten „I“ und einer sozialen Komponente, dem so genannten „Me“. Während sich das „I“ auf die Einzigartigkeit des Individuums in Bezug auf seine unverwechselbare Lebensgeschichte bezieht, beschreibt das „Me“ den Teil des Selbsts, der durch das Hineinwachsen in die eigene soziokulturelle Umgebung und die Identifikation mit verschiedenen sozialen Gruppen (z.B. Familie, PeerGruppe, Sportverein) ausgebildet wird. Obwohl Mead selbst noch nicht den Terminus ’soziale Identität’ benutzte, ebnete er doch den Weg für dieses Konzept, das Henri Tajfel (1982: 2) später wie folgt definieren sollte:
Social Identity will be understood as that part of the individuals’ self-concept which derives from their knowledge of their membership of a social group (or groups) together with the value and emotional significance attached to that membership. [Hervorhebung Tajfels]
Da Individuen im alltäglichen Leben viele unterschiedliche Rollen (Vater, Ehemann, Mitglied eines Musikvereins etc.) einnehmen und sich mit vielen verschiedenen Gruppen identifizieren, kann von sozialen Identitäten nur im Plural gesprochen werden. Die Einzigartigkeit einer Person liegt in ihrer individuellen Mischung der diversen sozialen Identitäten, die auf der Basis von verschiedenen sozial und kulturell relevanten Parametern (Nationalität, Gender, Alter, Beruf, Lebensstil etc.; vgl. Duszak 2002: 2) konstruiert werden. Mit Spreckels/ Kotthoff (2007: 416) ist festzuhalten: „The concept of social identity must therefore be understood as multi-sided and very dynamic.“
Während in der älteren Literatur bisweilen statische Identitätskonzepte auftauchen, die Identität als etwas stabiles, dauerhaftes und unveränderliches (vgl. Keupp et al. 1999: 77) betrachten, hat sich in der heutigen Sozialpsychologie die Auffassung von Identität als Prozess, als niemals endende Aufgabe jedes Individuums durchgesetzt. Schon Mead (1934) betonte, dass Identität nie ein für allemal gesetzt wird, sondern vielmehr ständig in der Interaktion ausgehandelt wird. Den Aspekt des konstruktivistischen und verhandelbaren Charakters von Identität, der seitdem von vielen Wissenschaftlern akzentuiert wurde, hebt auch Duszak (2002: 2) hervor: „[Sjocial identities tend to be indeterminate, situational rather than permanent, dynamic and interactively constructed.“ Da Identität erst hergestellt werden muss, besteht allerdings auch die Gefahr eines inkonsistenten Selbsts - Marcia (1966) spricht von einer diffusen Identität. Insbesondere in unserer postmodernen Welt, die durch beschleunigte Wandlungsprozesse, größere räumliche und soziale Mobilität, Pluralisierung der Lebensformen und Weltbilder sowie fortschreitende Individualisierung geprägt ist (vgl. Spreckels/ Kotthoff 2007: 417), verlieren traditionelle Identitätsbereiche, wie z.B. soziale Schicht, Nation, Beruf, Religion oder Gender, an Stabilität. Keupp et al. (1999: 87) führen dies bekräftigend aus: „Selbst die Kernbestände unserer Identitätskonstruktionen - nationale und ethnische Identität, Geschlechts- und Körperidentität - haben ihre quasi ’natürliche’ Qualität als Identitätsgaranten verloren.“ Moderne Individuen stehen vor der Aufgabe, die verschiedenen Identitätsbausteine aus den unterschiedlichen Lebensfeldern zu dem Patchwork einer passförmigen Identitätskonstruktion zu verknüpfen. Identitätsbildung erfordert folglich eine „aktive Leistung der Subjekte, die zwar risikoreich ist, aber auch die Chance zu einer selbstbestimmten Konstruktion enthält.“ (Keupp et al. 1999: 7).
1.1.3. Soziale Identität in der Soziolinguistik
Anders als in der Sozialpsychologie wurde die Beschäftigung mit sozialer Identität und deren sprachlich-kommunikativer Herstellung in der Soziolinguistik erst im letzten Jahrzehnt zu einer Hauptlinie der Forschung. Die Wurzeln dieses Interesses lassen sich jedoch bis in die 1980er-Jahre zurückverfolgen, in denen Gumperz/ Cook-Gumperz (1982: 1) programmatisch Folgendes festhalten:
We costumarily take gender, ethnicity, and class as given parameters and boundaries within which we create our own social identities. The study of language as interactional discourse demonstrates that these parameters are not constants that can be taken for granted, but are communicatively produced. Therefore to understand issues of identity and how they affect and are affected by social, political and ethnic divisions we need to gain insights into the communicative processes by which they arise. [meine Hervorhebungen]
Seitdem haben sich innerhalb der Soziolinguistik zwei Hauptrichtungen der Untersuchung von Sprache und deren Rolle bei der Konstruktion von sozialen Identitäten herausgebildet, die mit Duszak (2002: 5) folgendermaßen zusammengefasst werden können:
First, we have studies into the availability of resources for cueing particular identities. Thus, ethnic identities are established through analysis of features and patterns on different levels of language structure. Labels such as bilingualism, code-switching or language variation accomodate much of this kind of research. Then we get critical interpretations of texts with the purpose of exposing the writer’s position of an ingroup or outgroup member. A major part of the work here is done within the framework of critical dicourse analysis. [Hervorhebungen Duszaks]
Im letztgenannten Bereich soziolinguistischer Forschung sind soziale Identitäten als ein Produkt von Kategorisierungsprozessen aufzufassen. Individuen positionieren sich in jeder Interaktion dem menschlichen (Grund)Bedürfnis nach kognitiver Ordnung von Erfahrungen folgend bewusst oder unbewusst im Verhältnis zu Anderen, so dass Identität und Alterität untrennbar miteinander verbunden sind. Aufgrund der Tatsache, dass Zugehörigkeitszuschreibungen bzw. Abgrenzungen (In-Group vs. Out-Group) hauptsächlich durch sprachliche Mittel realisiert werden, hat sich ein großer Anteil soziolinguistischer Forschung der Frage gewidmet, wie soziale Kategorisierungsbegriffe (z.B. Mann, Türkin oder Jude) in der Konversation verwendet werden und wie ihre Verbindung zu kategoriengebundenen Merkmalen als eine Ressource genutzt wird, um soziale Bedeutung herzustellen.
Zu den so genannten Basiskategorien, die für jeden Menschen maßgeblich sind, zählen nach Sacks (1992) unter anderem Gender, Beruf, Nation und Alter bzw. Generation. Im alltäglichen Leben sind darüber hinaus viele spezifische Kategorien anzutreffen, die auf Lebensstilpräferenzen zurückgeführt werden können (z.B. HipHop-Aktivist, Umweltschützer, Skateboarder, Homosexueller). Während einige Kategorien bei Unwissen um den Kontext neutral sind oder zumindest sein können (z.B. Engländer, Schüler, Bäcker), gibt es andere Kategorien, die per definitionem eine Bewertung beinhalten (z.B. Idiot, Schlampe oder Weichei). Häufig macht es einen Unterschied, ob es sich um eine Selbst- oder Fremdkategorisierung handelt. Während z.B. das politisch inkorrekte Wort Nigger, wenn es von einem Weißen gebraucht wird, als ein rassistischer Ausdruck anzusehen ist, stellt das gleiche Wort, wenn es von einem Schwarzen verwendet wird, eine Umdeutung des rassistischen Begriffes und eine bewusste Bekenntnis zum eigenen ethnischen Ursprung dar (vgl. Spreckels/ Kotthoff 2007: 421). Kategorien können dementsprechend diskriminierend, aber auch in spielerischer (teilweise humorvoller) Weise eingesetzt werden.
Die zweite Hauptlinie der soziolinguistischen Erforschung der Rolle von Sprache bei der Konstruktion von sozialen Identitäten konzentriert sich auf die Fragestellung, auf welche Ressourcen ihres sprachlich-heterogenen Repertoires - phonologisch, lexikalisch, syntaktisch - soziale Akteure zurückgreifen, um ihrer sozialen Identität in symbolischer Weise Ausdruck zu verleihen. Diese linguistische Betrachtungsweise, in der es nicht darum geht, wie soziale Identitäten durch explizite Kategorisierungsprozesse, sondern vielmehr durch den Vorzug einer bestimmten sprachlichen Variablen vor einer anderen realisiert werden (vgl. Auer 2007: 3), rückt im Folgenden ins Zentrum des Interesses.
1.1.З.1. Acts of Identity
Während Labov (1972) Individuen auf ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Gruppen (z.B. soziale Schicht, Gender und Alter) reduziert bzw. diese „Mitgliedschaft“ als die linguistisches Handeln determinierende Größe auffasst, rücken Le Page/ Tabouret-Keller (1985) Individuen als handelnde Akteure in den Vordergrund, die ihre Zugehörigkeit(en) selbst aktiv auswählen und diese symbolisch durch Sprache zum Ausdruck bringen. Nach Le Page/ Tabouret-Keller werden sozio-stilistische Entscheidungen von einem Individuum mit der Absicht getroffen, sich dem sprachlichen Handeln derjenigen sozialen Gruppen anzupassen, mit denen es sich selbst identifizieren möchte bzw. mit denen es von anderen identifiziert werden möchte. Die beiden französischen Soziolinguisten lösen die Einheit des Individuums als sozialer Akteur auf und setzen ihr eine Reihe von Identifikationsakten entgegen, für deren Beschreibung sie das Konzept der Acts of Identity einführen. Sie betrachten sprachliches Verhalten als ,,a series of acts of identity in which people reveal both their personal identity and their search for social roles“ (Le Page/ Tabouret-Keller 1985: 14 [Hervorhebung der Autoren]). Dabei betonen sie die Bedeutung, die der jeweiligen Situation bei diesen Identitätsakten zukommt, und lösen die transsituative Konsistenz (kontextuelle Beständigkeit) - eine traditionell zentrale Eigenschaft von Identität - auf, wodurch mehrere Identitäten möglich werden. Soziolinguistische Variablen werden im Rahmen des Konzepts von Le Page/ Tabouret-Keller nicht mehr als Symptome, sondern als Symbole sozialer Zugehörigkeit angesehen (vgl. Ebd.: 182). Identität ist kein gegebenes Phänomen, das in der Sprache der Sprecher seinen natürlichen Ausdruck findet, sondern wird vielmehr in der
Interaktion mit Hilfe von Sprache konstruiert, indem Akteure sich selbst und anderen identitätsmarkierende Eigenschaften zuschreiben. Die projizierten Selbstzuweisungen zu (realen oder imaginierten) sozialen Referenzgruppen müssen darüber hinaus durch andere Akteure bestätigt werden, um zu tatsächlich handlungsleitenden Mustern heranwachsen zu können.
Ein von Le Page/ Tabouret-Keller nicht berücksichtigter Aspekt besteht darin, dass manche Entscheidungen für eine bestimmte linguistische Variable von Sprechern zu dem Zweck getroffen werden, gerade nicht mit einer bestimmten Kategorie assoziiert zu werden. Diese sprachlichen Akte werden in der aktuellen soziolinguistischen Forschung unter dem Gesichtspunkt von Phänomenen wie Crossing, Mocking, Styling/ Stylising, Parodying (vgl. Auer 2007: 6) diskutiert (z.B. Deppermann 2007). Die Unterscheidung zwischen zugehörigkeitsmarkierenden auf der einen und abgrenzenden stilistischen Entscheidungen auf der anderen Seite ist als durchaus komplex anzusehen, da die Wahl einer bestimmten linguistischen Variablen zuweilen sowohl als identifizierender als auch als distanzierender Sprechakt interpretiert werden kann. Dadurch wird der zuvor festgesetzte Zusammenhang zwischen linguistischen Varianten und sozialen Referenzgruppen in Frage gestellt. Sprecher sind in der Lage, ihre eigene soziale Identität neu herzustellen, indem sie auf die linguistischen Ressourcen von verschiedensten sozialen Gruppen zurückgreifen und diese zu einem neuen Stil verknüpfen, worauf in 1.2. einzugehen sein wird.
Auer (2007: 6) berücksichtigt die Möglichkeit der abgrenzenden Funktion des Einsatzes bestimmter sprachlicher Varianten und fasst Acts of Identity wie folgt zusammen:
It is necessary to differentiate between the social Group A from whose (stereotyped) linguistic behaviour a linguistic act of identity draws its semiotic ressources, and a social group B with whom the speaker wishes to identify. A (linguistic) act of identity can then be defined as the selection of a linguistic element which indexes some social group A and which is chosen on a particular occasion (in a particular context) in order to affiliate oneself with or disaffiliate oneself from a social group B. A and B often but do not necessarily coincide.
Darüber hinaus ist darauf aufmerksam zu machen, dass, auch wenn einige linguistische Varianten in direkter Weise mit einer bestimmten sozialen oder ethnischen Kategorie verbunden sind (bzw. zu sein scheinen), die Bedeutungen dieser Varianten gegenüber situativen Neubearbeitungen, Transformationen und Verfeinerungen offen sind. Aus diesem Grund besteht oftmals keine Möglichkeit, den indexikalischen Wert einer linguistischen Variablen - d.h. seine Verweiskraft auf eine bestimmte soziale Kategorie - zu bestimmen, ohne den situativen und interaktionalen Kontext, in den die Variable eingebettet ist, zu berücksichtigen.
1.1.З.2. Soziale Identität in der Interaktion
Auf einer solchen, den Kontext der Konversation in die Untersuchung einbeziehenden Betrachtungsweise basiert die bereits von Gumperz/ Cook-Gumperz (1982; vgl. obiges Zitat und S. 1: „communication cannot be studied in isolation“) eingebrachte soziolinguistische Forschungsrichtung, die sich sozialen Identitäten im Rahmen von Interaktionen annähert. Die Grundprinzipien dieses Ansatzes der Identities-in-Interaction (vgl. Auer 2007: 8) fassen Antaki/ Widdicombe (1998: 3) wie folgt zusammen:
1. for a person to ’have an identity’ - whether he or she ist the person speaking, being spoken to, or being spoken about - is to be cast into a category with associated characteristics or features;
2. such casting is indexical and occasioned;
3. it makes relevant the identity to the interactional business going on;
4. the force of ‘having an identity’ is in its consequentiality in the interaction; and
5. all this is visible in people’s exploitation of the structures of conversation. [Hervorhebungen Antakis/ Widdicombes]
Selbstverständlich darf die occasioned nature von Identitätsfacetten, d.h. ihr durch die Interaktion hervorgebrachter Charakter, nicht so interpretiert werden, dass diese identitätsrelevanten Kategorien außerhalb der Interaktion nicht existieren Vielmehr sind sie innerhalb der Interaktion von mehr oder weniger geteiltem sozialen Wissen abhängig. So weisen z.B. viele Kategorisierungseinheiten eine zweiteilige Struktur auf, in der die Einführung einer sozialen Kategorie beim Rezipienten auch deren gegenteilige Kategorie hervorruft (Sacks 1992). Häufig wird Identitätsarbeit durch den Bezug auf Alteritäten geleistet, wobei durch die Konstruktion eines Alter Ego die eigene Identität auf indirekte Weise hervorgehoben wird. Duszak (2002: 2 [Hervorhebung Duszaks]) spricht gar von einer „impossibility of non-otheringu. Identitätsarbeit in der Interaktion ist insgesamt als Bemühung der Gesprächsteilnehmer anzusehen, Zugehörigkeiten zu verschiedenen sozialen Kategorien zuzuweisen und für sich selbst zu beanspruchen.
Der Soziologe Don H. Zimmerman (1998: 90f.) schlägt vor, im Rahmen von Interaktionen zwischen verschiedenen Identitäten zu differenzieren, die er mit den Termini discourse, situational und transportable identities beschreibt. Diese Identitäten zeichnen sich durch unterschiedliche zeitliche Reichweiten und transsituative Konsistenz aus. Während sich discourse identities auf die aktuelle Sprechhandlung im Rahmen des Gesprächs beziehen (z.B. gegenwärtiger Sprecher, Erzähler einer Geschichte, Initiator einer Selbstreparatur), sind situational identities an bestimmte, zumeist institutionelle Vorstellungen gebunden (z.B. Befragender vor Gericht) und werden durch die dazugehörigen Frames und Skripts beeinflusst, die den Orientierungsrahmen für das Handeln im jeweiligen institutionellen
Rahmen bilden. Am bedeutendsten für die soziolinguistische Auseinandersetzung mit Identität sind jedoch die transportable identities, die Zimmerman (1998: 90) als „latent identities that ,’tag along’ with individuals as they move through their daily routines“ beschreibt. Diese Identitäten können auf der Grundlage von „physical or culturally based insignia“ (Ebd.: 91) eingefordert werden und sind im Rahmen des soziolinguistischen Paradigmas als soziale Identitäten aufzufassen.
Ein generelles methodisches Problem der soziolinguistischen Untersuchung von Acts of Identity liegt in der Frage nach der Brauchbarkeit von Analysen, die sich (nur) mit einzelnen sprachlichen Variablen beschäftigen. Während variationslinguistische Studien gewöhnlich genau dies tun, indem sie sich auf eine bestimmte Variable konzentrieren, versuchen interaktional ausgerichtete Analysen ein ganzheitlicheres Bild eines Netzes von zusammenhängenden linguistischen Merkmalen zu beschreiben, die von einem bestimmten Sprecher in einer bestimmten Situation verwendet werden. Die interaktionale Methode, die in der jüngsten soziolinguistischen Forschung mit wachsendem Interesse rezipiert und angewandt wird, leitet über zum Konzept der soziolinguistischen bzw. kommunikativen sozialen Stile.
1.2. Kommunikative soziale Stile
1.2.1. Stil als holistisches Konzept
Es war Labov (1972), der mit seiner Studie in New York nicht nur quantitative variationslinguistische Untersuchungen in Gang brachte, sondern auch soziolinguistischen Stilen zentrale theoretische und methodische Bedeutung verlieh. Rickford/ Eckert (2001: 2) führen repräsentativ für die Würdigung von Labovs initialzündender Arbeit Folgendes aus: „This study [the New York City study] established that stylistic variation constitutes a crucial nexus between the individual and the community - between the linguistic, the cognitive and the social.” Im Gegensatz zu Labovs eindimensionaler Stilauffassung10 wird Stil in modernen soziolinguistischen Untersuchungen jedoch als ein Konzept angesehen, das linguistische Variation in eine umfangreiche Theorie integriert, in der sprachliche Entscheidungen auf allen Ebenen der semantischen Organisation mit der Praxis der Herstellung von sozialer Bedeutung, der Kategorisierung und der Identitätsarbeit in Beziehung gebracht werden (vgl. Rickford/ Eckert 2001: 1). Die traditionelle Stilauffassung, in der Stile noch als (stabile)
Objekte galten, entwickelte sich insbesondere seit den Anfängen der 1990er-Jahre mehr und mehr zu einer soziolinguistischen Stil- und Stilisierungstheorie, in deren Rahmen Stil als ein dynamischer Prozess betrachtet wird.
Kommunikativer sozialer Stil ist nach der gegenwärtig dominierenden soziolinguistischen Betrachtungsweise, die die traditionelle Annäherung an Stil über einzelne Variablen in Frage stellt, als ein „holistic and multilevel phenomenon“ (Auer 2007: 11) anzusehen. Das „California Style Collective“ (1993: 14) hält in einem einflussreichen Artikel Folgendes programmatisch fest:
We are defining style as a clustering of linguistic ressources, and an association of that clustering with an identifiable aspect of social practice. [...] Rarely can an individual variable be extracted from this style and recognized as meaningful; variables carry such meaning only by virtue of their participation in identifiable personal or group styles.
Wie breit Stile in diesem Sinne zu definieren sind, um relevante linguistische und soziale Praktiken zu erfassen, wird innerhalb der Stilforschung kontrovers diskutiert. Generell wird angenommen, dass soziale kommunikative Stile zusätzlich zu sprachlichen Entscheidungen (darunter neben phonetischen, lexikalischen und syntaktischen Elementen auch prosodische Muster) verbale Praktiken der Kategorisierung und pragmatische Muster einschließen, wie z.B. Formen der Höflichkeit, rhetorische Praktiken oder Präferenzen für bestimmte kommunikative Gattungen. Häufig umfassen Stilkonzepte auch „embodied features of verbal and non verbal actions“ (Auer 2007: 12), wie z.B. Mimik, Gestik oder Stimmqualität, sowie ästhetische Entscheidungen (Kleidung, Haarschnitt etc.), die zumeist unter dem Terminus taste gefasst werden. Im weitesten Sinne wird Stil zu einem Synonym für Lebensstil im übergeordneten Sinne, in den alle Formen des symbolischen Kapitals (z.B. Handlungsroutinen, musikalische, sportliche Präferenzen etc.) hineinfließen.
„Stil ist ein holistisches bzw. ein Gestalt-Konzept. Konstitutiv für einen Stil ist, dass unterschiedliche Ausdrucksformen zu einem Bild, einer Figur bzw. einem Hyperzeichen zusammengenommen werden“ (Keim/ Schütte 2002: 11). Stile werden um Kern- bzw. Leitphänomene herum aufgebaut, die zumeist als auffälligste (stereotypische) Merkmale hervorstechen. Sie weisen außerdem unscharfe Grenzen auf, da sie in einem ständigen Prozess sozialer und kultureller Arbeit der sozialen Akteure herausgebildet werden. Zusammenfassend kann Stil mit Auer (2007: 13) folgendermaßen beschrieben werden:
[S]tyle in modern sociolinguistic theory is a concept which mediates between linguistic variability and practices of social categorization of self or other: linguistic variability is seen as a ressource for constructing socially interpretable and interpreted styles [...] In doing so, style filters out certain variables and attributes special status to others.
Aber Stil ist nicht nur als ein holistisches und vielschichtiges Phänomen, sondern auch als Gegenstand sozialer Interpretation aufzufassen. Da kommunikative soziale Stile in Kommunikationszusammenhängen im Rahmen bestimmter sozialer Strukturen entwickelt werden,11 welche die neuere Stilforschung mit ethnografischen und gesprächsanalytischen Methoden zu erfassen sucht, können diese Stile als ein Ergebnis der Anpassung von Sprechern an ihr ökologisches und sozial-politisches Umfeld betrachtet werden. Stilformen werden dementsprechend zur sozialen Positionierung von Sprechern entwickelt und eingesetzt. Sie sind, indem sie Identitätssymbole zur Verortung der eigenen sozialen Gruppe im übergreifenden gesellschaftlichen Rahmen schaffen, Mittel zur Abgrenzung zwischen „us and them“ (vgl. Duszak 2002). Stilistische Ausprägungen sind mit Irvine (2001: 22 [Hervorhebung Irvines]) als „part of a system of distinction12 zu begreifen, in denen „style contrasts with other possible styles, and the social meaning signified by the style contrasts with other social meanings.“ Die interpretative Untersuchung von sozialer Bedeutung ist dabei sowohl als eine Stärke als auch als eine Schwäche soziolinguistischer Forschung anzusehen, was Coupland (2007: 19) mit dem tiefen Vordringen in soziale Konstrukte begründet: ,,A social constructionist approach to social meaning cannot avoid reaching into complex territories of cultural, personal, historical and sequential meanings.“ Dabei argumentiert er, dass sich die soziolinguistische Forschung der Aufgabe der Entschlüsselung des komplexen Systems sozialer Bedeutungen annehmen sollte, da diese Komplexität in der Natur von sozialen Interaktionen selbst liege.
Soziolinguistische Stile sind als ein Hauptausdrucksmittel von sozialer Identität - in gewisser Weise als die Ausdrucksseite von Identitätsarbeit (vgl. Androutsopoulos 2005: 162) - anzusehen, wodurch das Konzept der kommunikativen sozialen Stile in unmittelbare Nähe zum Konzept der sozialen Identität gerückt wird: ,,If identity is communicated through acts of speaking then we can think of speaking styles as representations of such identities.“ (Gumperz/ Cook-Gumperz 2007: 477).
1.2.2. Stil als soziale Praxis
Soziolinguistische Stile bilden sich im Rahmen der kommunikativen sozialen Praxis einzelner Gruppen heraus, in der folgende von Keim/ Schütte (2002: 14f.) zusammengefasste, hier
gekürzt dargestellte, Aspekte des Kommunikationsverhaltens eine Rolle spielen:
- die Ausprägung von bestimmten pragmatischen Regeln des Sprechens [...];
- die Verwendung unterschiedlicher sprachlicher Ressourcen (verschiedener Sprachen oder Sprachvarietäten) zur Äußerungsstrukturierung und Interaktionsorganisation, vor allem aber zur Symbolisierung sozialer Eigenschaften;
- die Ausprägung eines Systems sozialer Kategorien, das für die Selbst- und Fremddefinition wesentlich ist [...];
- die Bevorzugung bestimmter Kommunikationsformen und Genres sowie bestimmter Darstellungsformen und Interaktionsmodalitäten für Sachverhaltsdarstellungen [...] und Konfliktbearbeitung;
- die Bevorzugung bestimmter rhetorischer Verfahren und einer Art bestimmten formelhaften Sprechens für die Lösung praktischer Interaktionsaufgaben;
- die Bevorzugung einer bestimmten Sprachästhetik, bestimmter Lexik, Metaphorik und prosodischer Merkmale [...];
- die Bevorzugung bestimmter Kleidung [...], die äußere Aufmachung [...] und die Ausprägung bestimmter gestischer und proxemischer Besonderheiten [.. .]13 14
In Konversationen wird durch explizite soziale Kategorisierungen gemeinsames Wissen darüber aufgebaut, wie bestimmte Konstellationen von verbalen und nonverbalen Merkmalen sozial interpretiert werden können oder sollen (vgl. Auer 2007: 14). Das gemeinsame Auftreten von offener Kategorisierung und (häufig stilisierter) Zur-Schau-Stellung eines bestimmten Verhaltens kann Identitäten und Stile miteinander verbinden und einen indexikalischen Zusammenhang zwischen beiden Einheiten etablieren. Explizite Selbst- und Fremdkategorisierungen ohne gleichzeitige stilistische Hinweise sind im Allgemeinen nur schwer vorstellbar. Vielmehr müssen Zugehörigkeitsansprüche zu einer sozialen Kategorie durch Elemente aus dem jeweiligen sozialen kommunikativen Stil belegt werden. In kleineren lebensweltlichen Einheiten, so genannten Communities of Practice (Eckert 1996), deren Mitglieder bereits gemeinsames Wissen darüber verfügen, wie bestimmte soziale Akteure typischerweise Handlungen durchführen, können soziale Identitäten durch sprachliche Merkmale allein indexikalisiert werden. In solchen Communities of Practice beinhaltet die Ausbildung von soziolinguistischen Stilen den Aufbau von Opposition zu anderen Gruppen, wobei die Abgrenzung („Wir“ vs. „Sie“) häufig durch Übertreibungen realisiert wird (vgl. z.B. Deppermann 2007).
Eckert (1996) argumentiert, dass es sich bei Stilbildungen immer um Prozesse der Bricolage handelt, da in ihnen Ressourcen aus verschiedenen Ebenen des Ausdrucksverhaltens (vgl. obiges Zitat von Keim/ Schütte 2002), die wiederum aus unterschiedlichen sozialen kommunikativen Stilen stammen, zu einem einheitlichen Bild verknüpft werden. Dabei ist zu beachten, dass die Elemente aus den anderen soziolinguistischen Stilen nicht einfach die soziale Bedeutung aus ihrem Ursprungskontext in den neuen Stil transportieren, sondern von den Akteuren verändert, angepasst oder manchmal sogar in einem Akt der Stilisierung umfunktioniert werden (vgl. Auer 2007: 14). So besteht z.B. ein heute weit verbreitetes Phänomen darin, dass deutsche Jugendliche eine türkisch gefärbte Varietät des Deutschen, einen türkischen Ethnolekt, in ihr stilistisches Repertoire aufnehmen,15 diesen jedoch (zumeist) nicht zu dem Zweck einsetzen, sich mit der ethnischen Gruppe der Türken zu identifizieren, sondern vielmehr um sich in einem Akt der Umdeutung gerade von dieser Gruppe zu distanzieren.
Insgesamt muss festgehalten werden, dass in der Wahl der verschiedenen semiotischen Merkmale eine gewisse Beständigkeit vorhanden sein muss, damit von einem kommunikativen sozialen Stil einer bestimmten Sprechergruppe gesprochen werden kann. „The construction of a style within and for a community of practice requires continuity of semiotic practices across situations” (Auer 2007: 15 [Hervorhebung Auers]). Wie viel von dieser Kontinuität genau erforderlich ist und wie viel Variabilität über verschiedene Situationen hinweg hingenommen werden kann, ohne dass ein Stil seine Kenntlichkeit verliert und nicht mehr als solcher erkennbar ist, stellt eine offene Frage der soziolinguistischen Forschung dar.
2. Einführung in die HipHop-Kultur und die Textsorte Rap
Im folgenden Abschnitt wird in der gebotenen Kürze ein Einblick in die Geschichte des HipHop - von den Ursprüngen in New York bis zur Appropriation in Deutschland - gegeben,16 um den sozialweltlichen Zusammenhang des später zu untersuchenden Gegenstands, des soziolinguistischen Stils von Raptexten, zu skizzieren. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Stil mit Keim/ Schütte (2002: 13) (unter anderem) als das Ergebnis der Auseinandersetzung mit spezifischen ökologischen, sozialstrukturellen, sprachlichen und ästhetischen Voraussetzungen und Bedingungen der umgebenden
Lebenswelt/en
zu betrachten ist, d.h. nicht isoliert vom gesellschaftlichen Hintergrund untersucht werden kann17. Womöglich ist die HipHop-Community mit dem Konzept der sozialen Welt zu fassen, das auf einen flexiblen Zusammenschluss von Akteuren zielt, die sich in ihren Sozialbeziehungen (sprachliche) Ressourcen verschaffen und Arenen für die Austragung von Streitfragen entstehen lassen (vgl. Keim 2007: 23).
Im Anschluss werden die sprachlichen Mittel, die vielschichtigen, linguistischen Gattungsmerkmale der Textsorte Rap, die den diskursanalytischen Rahmen der nachfolgenden, exemplarischen Fallstudie der HipHop-Gruppe Advanced Chemistry darstellen, ausführlich vorzustellen sein.
2.1. Kurze Geschichte des HipHop und seiner Genres
2.1.1. Ursprünge und Entwicklung des HipHop in den USA
Den Ausführungen zur Geschichte des HipHop sollen als eine Art Vorwort die oft zitierten Worte der US-amerikanischen Soziologin und Amerikawissenschaftlerin Tricia Rose (1997: 142) vorangestellt sein, die HipHop in der afroamerikanischen Kultur verortet:
HipHop ist an der Schnittstelle von Entbehrung und Verlangen entstanden. Er spiegelt oft den schmerzhaften Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Entfremdung und utopischen Phantasien wider. Er ist eine Kulturform afrikanischen Ursprungs, die innerhalb der kulturellen Vorgaben afro-amerikanischer und karibischer Geschichte, Identität und Gemeinschaft die Erfahrungen der Marginalisierung, brutal beschnittener Lebenschancen und realer Unterdrückung auf einen Nenner zu bringen versucht. Er ist geprägt durch die Spannung zwischen der Gebrochenheit, die das Ergebnis der Unterdrückung in der postindustriellen Gesellschaft ist, und der Ausdrucksstärke schwarzer Kultur, die ein Gefühl der Zusammengehörigkeit schafft. Diese Spannung bildet den kritischen Rahmen, in dem die Entwicklungsgeschichte des HipHop betrachtet werden muss.
Die Entstehung des HipHop, die insgesamt wie eine mythische Ursprungserzählung anmutet (vgl. Klein/ Friedrich 2003: 61f.), lässt sich nicht an einer Jahreszahl festmachen, aber es war Anfang der 1970er-Jahre, als die Ostküste der USA, ein New Yorker Stadtteil zur Wiege des HipHop wurde. Es war dies die südliche Bronx, die ab den 1960er-Jahren durch städtebauliche Maßnahmen (z.B. den Cross-Bronx-Highway) und den damit verbundenen, einschneidenden Umsiedlungsaktionen extremen sozialen Spannungen ausgesetzt war, wodurch sich das Viertel zu einem sozialen Brennpunkt entwickelte. Armut, Kriminalität und Gewalt wuchsen bald zu großen Problemen heran, so dass die South Bronx zum nationalen Symbol des Zerfalls und der Isolation wurde (vgl. Rose 1997: 146-148).
[...]
1 Dies sind die im wissenschaftlichen HipHop-Diskurs gängigen Begriffe. In der Szene spricht man üblicherweise von Rapping, DJing, B-Boying und Writing bzw. Painting (vgl. Klein/ Friedrich 2003: 30).
2 Die Kontamination Glokalisierung („glocalisation”) wurde durch den Soziologen Roland Robertson geprägt, um die unabdingbaren Wechselwirkungen zwischen Globalem und Lokalem zu beschreiben. Die Kultur des Lokalen ist demnach abhängig vom Globalen, wie umgekehrt lokale Kulturpraxis einen Einfluss darauf hat, wie sich kulturelle Globalisierung inhaltlich gestaltet (Robertson 1995).
3 Diese Hybridität beschreibt auch Potter (1995: 10 [Hervorhebung Potters]): „[...] its [hiphop’s] locus is simultaneously local and global“.
4 Für einen Forschungsüberblick sei auf Kimminich (2004: 9-11) verwiesen.
5 Für die zentrale Bedeutung der performativen Herstellung von Wirklichkeit im HipHop siehe auch Klein/ Friedrich (2003) und Grimm (1998).
6 Präziser müsste man von deutschsprachigem HipHop sprechen, da in Deutschland bereits vor dem Beginn des Untersuchungszeitraums in anderen Sprachen gerappt, allerdings noch nicht veröffentlicht wurde.
7 Die untersuchten Songs können im Internet recherchiert werden.
8 Während die oben angesprochenen Untersuchungen von Androutsopoulos (2005/ 2007a) und Bierbach/ Birken-Silverman (2002/ 2007) sich Tertiärtexten widmen, ähnelt die vorliegende Untersuchung in ihrer Analyse von Primärtexten der von Berns/ Schlobinski (2003).
Bei den berücksichtigten Sekundärtexten handelt es sich um Interviews bei Menrath (2003), Zeise (2006), Güngör/ Loh (2002) und www.intro.de.
9 Diese konstruktivistische Sicht wird unter Konzepten des Doings gefasst, die eine aktive Herstellung von Identitätsfacetten beschreiben. Dazu zählen neben den Konstrukten des Doing Gender und des Doing Age die Ansätze des Doing Identity wenn Aspekte der sozialen Identität im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, und des Doing Culture, wenn die kulturelle Zugehörigkeit bearbeitet wird (vgl. Birkner 2002: 242).
10 Gemeint ist an dieser Stelle die Untersuchung von sprachlicher Variation auf einer eindimensionalen Achse zwischen Standard- und Nonstandardsprache, die im Rahmen eines deterministischen Zusammenhanges zwischen der sozialen Position des Individuums und seinem stilistischen Repertoire durchgeführt wird (vgl. auch 1.1.1.).
11 Vgl. Androutsopoulos (2005: 162): „Sozialer Stil ist eine fur soziale Gruppen und ihre Mitglieder typische Art des kommunikativen Handelns, die in aktiver Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld herausgebildet wird.“
12 Zu diesem System zählt z.B. auch der Kleidungsstil, der wie ein kommunikativer sozialer Stil mit der Zeit eine gewisse Festigkeit annimmt und somit zu einem Identitätsmarker, zu einem integralen Bestandteil der individuellen Selbstdarstellung heranwächst (vgl. Gumperz/ Cook-Gumperz 2007: 479).
13 Die Breite des Stilkonzepts von Keim/ Schütte (2002) kann im Rahmen des in 1.2.1. ausgeführten Kontinuums als mittel beschrieben werden, da zwar einerseits auch ästhetische Besonderheiten (siehe letzten Punkt der Auflistung), aber andererseits nicht sämtliche Formen des symbolischen Kapitals berücksichtigt werden.
14 Keim/ Schütte (2002: 15) sehen alle diese Aspekte generell als stilistisch relevant an, merken jedoch an, dass sie in ihrer Gewichtung (stark) variieren können.
15 Vgl. Dirim/ Auer (2004), insbesondere Kapitel sechs.
16 Der Schwerpunkt liegt dabei jeweils auf den Anfängen innerhalb des US-amerikanischen bzw. des deutschen HipHop.
17 Vgl. Keim (2007: 23): „Kommunikative Stile sind auf soziale Welten bezogen“.
- Citation du texte
- Bastian Heger (Auteur), 2010, Kommunikative Verhandlung von Identität in der Gattung des HipHop, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/155524
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