Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, ein didaktisch-methodisch funktionales Konzept für den Deutschunterricht der Jahrgangsstufe 7 zu entwickeln, das unter Anwendung grafischer Visualisierungsstrategien ein vertiefendes Verstehen literarischer Texte befördern soll.
Das Innovationspotential dieses Projektes liegt dabei zum einen in der konsequenten Verschaltung zeitgemäßer text- und bildtheoretischer Forschungsprämissen sowie deren Überführung in ein modulartig gestaffeltes Anwendungskonzept für die Schule, das sich punktuell und flexibel an unterschiedliche Unterrichtssituationen und Sequenzen in entsprechenden themenbezogenen Reihen adaptieren lässt.
Im Anschluss (Kap. 2) wird, ausgehend von der eigenen schulischen Erfahrungspraxis, der bereits im Titel grundgelegte Begriff des „Textverstehens“ expliziert und auf die für diese Arbeit relevanten Erkenntnisdimensionen zugeschnitten.
Das dritte Kapitel dient sodann dem Zweck, die spezifische Qualität bildhafter Darstellungsverfahren sowohl aus semiotischer als auch kognitionspsychologischer Forschungsperspektive zu beleuchten, um darauf aufbauend bestehende (fach-)didaktische Ansätze, die sich dieser Verfahren bedienen, zu skizzieren.
Vor dem Hintergrund einer kritischen Erörterung bisheriger Konzeptansätze wird daraufhin die eigene Konzeptidee ausgebreitet (Kap. 4) - spezifiziert für die gewählte Jahrgangstufe sowie den ausgesuchten Text - und in realisierbare Praxismodule überführt.
Unter Rückgriff auf die Ergebnisse einer eigenen Projektdurchführung (Anhang) soll weiterhin eine Evaluation der eingesetzten Visualisierungsstrategien erfolgen (Kap. 5), die abschließend einmündet in ein zusammenfassendes Resümee des vorgelegten Konzeptes und endet mit einem Ausblick auf weiterführende Forschungs- und Entwicklungsperspektiven in Hinblick auf die schulische bzw. fachunterrichtliche Implementierung grafischer Visualisierungsstrategien zur Förderung literarischen Textverstehens (Kap. 6).
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zur Revision des „Textverstehens“: Von der syntagmatischen Weltreprasentation zur paradigmatischen Weltmodellierung
3. Bildgestutzte TexterschlieBung
3.1. Semiotische Grundlagen: Text und Bild als unterschiedliche Zeichensysteme
3.2. Kognitionspsychologische Grundlagen: Propositionale und bildhaft analoge Reprasentationsformate
3.3. (Fach-)Didaktisch begrundete Visualisierungsverfahren
4. Die Konzeptentwicklung
4.1. Probleme und Grenzen bisheriger Konzeptansatze
4.2. Ein grafisches Visualisierungskonzept zur makrostrukturellen Modellierung literarischer „Welten“
4.3. Auswahl von Text und Jahrgangsstufe
4.4. Die Konzeptmodule
4.4.1. Modul I: Rekonstruktion - Explikation der sujetlosen Grundordnung
4.4.2. Modul II: Integration - Explikation von Konfliktpotentialen
4.4.3. Modul III: Neukonstruktion - Explikation von sujethaften Grenzuberschreitungen
5. Die Konzeptevaluation
6. Zusammenfassung und Ausblick
7. Literaturverzeichnis
ANHANG
1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, ein didaktisch-methodisch funktionales Konzept fur den Deutschunterricht der Jahrgangsstufe 7 zu entwickeln, das unter Anwendung gra- fischer Visualisierungsstrategien ein vertiefendes Verstehen literarischer Texte befordern soll.
Das Innovationspotential dieses Projektes liegt dabei zum einen in der konsequenten Ver- schaltung ßer text- und bildtheoretischer Forschungspramissen sowie deren Gberfuhrung in ein modulartig gestaffeltes Anwendungskonzept fur die Schule, das sich punktuell und flexibel an unterschiedliche Unterrichtssituationen und Sequenzen in ent- sprechenden themenbezogenen Reihen adaptieren lasst.
Im Anschluss (Kap. 2) wird, ausgehend von der eigenen schulischen Erfahrungspraxis, der bereits im Titel grundgelegte Begriff des „Textverstehens“ expliziert und auf die fur diese Arbeit relevanten Erkenntnisdimensionen zugeschnitten.
Das dritte Kapitel dient sodann dem Zweck, die spezifische Qualitat bildhafter Darstel- lungsverfahren sowohl aus semiotischer als auch kognitionspsychologischer Forschungs- perspektive zu beleuchten, um darauf aufbauend bestehende (fach-)didaktische Ansatze, die sich dieser Verfahren bedienen, zu skizzieren.
Vor dem Hintergrund einer kritischen Erorterung bisheriger Konzeptansatze wird daraufhin die eigene Konzeptidee ausgebreitet (Kap. 4) - spezifiziert fur die gewahlte Jahrgangstufe sowie den ausgesuchten Text - und in realisierbare Praxismodule uberfuhrt.
Unter Ruckgriff auf die Ergebnisse einer eigenen Projektdurchfuhrung (Anhang) soll wei- terhin eine Evaluation der eingesetzten Visualisierungsstrategien erfolgen (Kap. 5), die ßend einmundet in ein zusammenfassendes Resumee des vorgelegten Konzep- tes und endet mit einem Ausblick auf weiterfuhrende Forschungs- und Entwicklungsper- spektiven in Hinblick auf die schulische bzw. fachunterrichtliche Implementierung grafi- scher Visualisierungsstrategien zur Forderung literarischen Textverstehens (Kap. 6).
2. Zur Revision des „Textverstehens“: Von der syntagmatischen Weltreprasentati- on zur paradigmatischen Weltmodellierung
Nachhaltig sensibilisiert fur das gewahlte Examensthema wurde ich durch die Korrekturar- beiten an einer Klausur eines Deutsch-Grundkurses der 11. Jahrgangsstufe im Rahmen meines Ausbildungsunterrichtes. Der Kurs hatte die Kurzgeschichte „Happy End“ von Kurt Marti hinsichtlich des Kommunikations- und Interaktionsverhaltnisses der Figuren unter besonderer Berucksichtigung der dabei verwendeten erzahltechnischen Mittel zu analysie- ren. Trotz des begrenzten, mit einem Blick synoptisch zu erfassenden Textkorpus und des durch die Aufgabenstellung explizierten Untersuchungsfokus, wahlte das Gros der Schu- lerschaft fur die Strukturierung ihrer schriftlichen Deutung ein „lineares Verfahren“, d.h. es erfolgte vornehmlich eine wenn auch auf die ausgewiesenen Analyseaspekte gerichtete Orientierung am textuellen Syntagma, bzw. der chronologischen Sukzession des Textge- schehens. Fehlende analytische Pragnanz und interpretatorische Hierarchisierung von Textbefunden waren in diesen Fallen leider ebenso die Konsequenz, wie die Gefahr einer selektiven Textparaphrase. Obschon die Nachteile eines solchen „linearen Verfahrens“ in einschlagigen Deutschlehrwerken sehr wohl Erwahnung finden, wird es dort immer noch als eine legitime Strategie der literarischen Tßung ausgewiesen[1]. Hintergrund einer solchen Orientierungspraxis ist die Annahme einer ausgepragten Homologiebezie- hung zwischen der syntaktischen Distribution von Textelementen und der semantischen Distribution von „Textsinn“.
Als ursachlich fur einen solchen ungebuhrlichen Kurzschluss werden im Rahmen dieser Arbeit wesentlich zwei Grunde angesehen, die zugleich als Ankerpunkt fur die nachfol- gende Konzeptentwicklung dienen. Der erste Grund ist methodologischer Art und bezieht sich auf die formal- bzw. medienanaloge Struktur der Analyse. Ein (literarischer) Text mar- kiert den Ausgangspunkt fur einen anderen (Sekundar-)Text, im klassischen Fall einen Interpretationsaufsatz. Dabei korreliert die formale Abfassung der Texte nach Ansatzen der Kognitionspsychologie in beiden Fallen nur gering bis gar nicht mit der konstruktiv her- zustellenden mentalen Representation von Textwissen. Auf diese Problematik wird im Folgekapitel eingegangen. An dieser Stelle soll vornehmlich der zweite Grund ausgebreitet werden. Dieser ist grundlegender fachinhaltlicher Art und bezieht sich auf ein bereits fruh- zeitig nicht hinreichend differenziertes „Text(handlungs)“- Verstandnis. Sowohl in entspre- chenden Lehrwerken als auch in der fachdidaktischen Literatur wird etwa als eine zentral zu erwerbende „Tßungskompetenz“ das „[Aufspuren von] Handlungsablaufe[n] und Figurenkonstellationen“[2] genannt. Hier artikuliert sich unterschwellig oder bewusst ein Handlungsbegriff, der mehr oder weniger als Synonym mit dem unmittelbar evidenten syn- tagmatischen Textgeschehen gedacht wird, welche sich gewohnlich im temporal struktu- rierten Nacheinander entfaltet und dann bspw. auch im Kontext der unterrichtlichen Text- analyse zu einer Textsegmentierung in „Sinn- bzw. Handlungsabschnitte“ fuhrt. Schulern, die mit derartigen impliziten Texttheorien permanent konfrontiert werden, fallt es demzu- folge auch schwer(er), Textsinn auf andere Weise als sequentiell zu konstruieren. Damit sich solche einseitigen und reduzierten Texttheorien auf Schulerseite nicht zu allgemein- gultigen Skripts verfestigen, bedarf es eines revidierten Textverstandnisses, welches Schuler in Korrespondenz zu ihrem jeweiligen Lern- und Entwicklungsstand bereits fruh- zeitig ausbilden und im Sinne eines kumulativen Kompetenzaufbaus im Laufe ihrer Schul- karriere auch bspw. durch die Aneignung eines entsprechenden metasprachlichen Be- schreibungsinventars zu differenzieren lernen.
In diesem Zusammenhang sind jenseits ideologisch motivierter Konfliktlinien im Rahmen der Fachwissenschaft und Fachdidaktik[3] Texttheorien zu favorisieren, die sich fur die fa- chunterrichtliche Aufgabenkultur und Kompetenzvermittlung als gangbar und besonders erkenntnisforderlich erweisen. Ein fruchtbarer struktural-semiotischer Ansatz stammt dabei von dem estnischen Literaturwissenschaftler Jurji M. Lotman, der literarische Texte als „sekundar-modellbildende Systeme“ begreift[4]. Dies bedeutet, dass solche Texte auf der Grundlage des primaren Zeichensystems der naturlichen Sprache einen je eigenen abge- grenzten semiotischen Kosmos konstruieren, der jedoch zugleich einen generalisierenden Anspruch erhebt und insofern stets ein Modell von Welt darstellt, das soziokulturell gege- bene Wirklichkeiten kommentiert, interpretiert und transformiert, niemals aber mit diesen identisch ist. Die Produktivitat dieses Ansatzes ergibt dabei aus der holistischen, d.h. ganzheitlichen Textkonzeption. Ein literarischer Text wird nicht als Summe von Hand- lungsszenarien gedacht, sondern als Theorie uber eine Welt, die durch ihre stets alternati- ven und begrenzten paradigmatischen Wahlen eigene Wert- und Normvorstellungen etab- liert. Der Akt der Textanalyse entwickelt sich in Korrespondenz dazu insofern zu einem modell- bzw. systembildenden Verfahren, das vor dem Hintergrund einer heuristisch not- wendigen Koharenzannahme Organisationsprinzipien, Beziehungsnetzen und Leitkatego- rien des Textes nachspurt und um logische Integration von Einzelbefunden in ein Gesamt- bild bemuht ist. Konkrete Zugange zu einem derartigen Verfahren werden von Lotman (1993) selbst angedacht und in seiner Nachfolge von Titzmann (2003) und Krah (2006) modifiziert und systematisch erweitert. Ausgehend von einer psychologischen Begrundung der Raummetaphorik fur den Erkenntnisprozess entwickelt Lot]man ein zweistufiges topo- logisches Beschreibungsverfahren fur die Erfassung von Textrealitaten. Die erste Etappe im Modellierungsprozess besteht dabei in der Rekonstruktion der paradigmatischen Ord- nung, der sujetlosen Ebene des Textes. Gemeint ist dabei das Aufdecken von den Text durchziehenden Regularitaten und Klassifikationsprinzipien, die Lotman als „semantische Raume“ bezeichnet und die jeweils „ideologische Teilsysteme der dargstellten Welt“[5] mar- kieren. Entscheidend fur die Definition eines „semantischen Raumes“ ist die Wahrneh- mung einer (Teil-)Systemgrenze. Die erhobenen Normen, Werte und Verhaltenskodes gelten nur innerhalb einer bestimmten Sphare, die Existenz (mindestens) einer textinter- nen Grenze deutet auf die prinzipielle Moglichkeit alternativer bzw. in bestimmten Merkma- len oppositioneller Wertsysteme jenseits der Grenze hin. Das Spannungs- und Konfliktpo- tential der sujethaften Ebene besteht nun darin, dass sie einerseits eine Bindung von Textentitaten, z.B. Figuren, an bestimmte „semantische Raume“ postuliert und absichert, zugleich jedoch auch abweichende semantische Raumkonzepte indiziert, wodurch die Moglichkeit einer (figurlichen) Grenzuberschreitung im Sinne einer Oberwindung von ein- schrankenden Raumbindungen zumindest theoretisch angedacht wird. Die faktische Rea- lisierung eines solchen Falls definiert Lotman denn folgerichtig auch als narratives Ereignis Ein solches konstituiert zugleich die sujethafte Ebene und damit die Handlung bzw. den/die Handlungstrager des Textes. Handlung ist diesem Modell zufolge also keinesfalls gleichzusetzen mit dem an der Textoberflache beobachtbaren Figurenverhalten oder Ge- schehen[6], sondern uberhaupt nur vor dem Hintergrund einer paradigmatischen textuellen Grundordnung als Normabweichung modellierbar. Ereignishafte Handlungen bedingen demnach die Durchbrechung einer zuvor textuell aufgestellten und/oder qua kulturellem Wissen voraussetzbaren Regel, sie sind „ein revolutionares Element, das sich der gelten- den Klassifizierung widersetzt“[7]. Eine narrative Handlungsstruktur kann demnach aus einer Vielzahl von Ereignissen bzw. sujethaften Grenzubertritten bestehen, welche unterein- ander jeweils wieder nach ihrem Ereignisrang bzw. dem Grad des Nßes diffe- renziert und geordnet werden konnen.
3. Bildgestutzte TexterschlieBung
3.1. Semiotische Grundlagen: Text und Bild als unterschiedliche Zeichensysteme
Bevor im Folgenden die Funktionalitat von Visualisierungsstrategien fur das literarische Textverstehen erortert werden kann, bedarf es vorab einer kurzen grundsatzlichen Klarung der Differenzen sprachlicher und bildhafter Kodierungsverfahren. Erst vor diesem Hinter- grund lasst sich uberhaupt der vielfach postulierte „Mehrwert“ bildlicher Reprasentations- systeme ermessen.
Der hier zugrunde gelegte zeichentheoretische Definitionsansatz unterstellt dabei „Bildern“ und „Texten“ jeweils einen kommunikativen Verwendungszweck. Bilder werden an dieser Stelle insofern als Aßerungen begriffen, die „etwas im logisch-mathematischen Sinne ,abbilden’ und/oder [...] im semiotischen Sinne zu ,bedeuten’ scheinen“[8]. Bildhafte Aße- rungen bestehen dabei aus einer durch einen Rahmen begrenzten Menge visuell- wahrnehmbarer Elemente, die in ihrer raumlichen Anordnung invariant und simultan gege- ben sind. Demgegenuber konstituiert sich jede Tßerung aus einer begrenzten Menge (naturlich-)sprachlicher Zeichen, deren „Reihenfolge korrekter Wahrnehmung“[9] festgelegt ist und die sich daher unabhangig vom Medienkontext stets linear sukzessiv entfalten. Weitere strukturbedingte Unterschiede ergeben sich durch die „Zeichensysteme“, derer sich Bilder und Texte jeweils bedienen. Im Gegensatz zum System der (naturlichen) Spra- che, welches aus diskreten Einheiten (Signifikanten) besteht, die lexikalisierbar sind und denen somit qua kodifizierter Vereinbarung eine begrenzte Menge moglicher Signifikate (Denotate, Konnotate) zugeordnet werden konnen, fehlen in Abbildungen gemeinhin diese a priori gegebenen primaren Signifikanten[10]. Mit Bezug auf einen semiotischen Theorie- rahmen lassen sich in Bildern zunachst einmal nicht-diskrete visuelle Einheiten ausma- chen, d.h. eine bestimmte Distribution von Farben, Linien, Formen und Helligkeitsunter- schieden, die lediglich potentielle Zeichenparameter darstellen und „erst durch Projektion hypothetisch angenommener Signifikate auf das Bild als eine Menge diskreter Signifikan- ten strukturiert [werden]“[11]. Dieser Projektionsakt (einer Betrachterinstanz) ist dabei zum einen abhangig von wahrnehmungspsychologischen und neurologischen Strukturen (z.B. Gestaltgesetzen) und zum anderen von kulturspezifischen Wahrnehmungsmustern, Abbil- dungskonventionen und Wissensmengen, ohne dass jedoch eine klare Unterscheidung zwischen anthropologischen Universalien und kulturell variablen Eßen im Einzel- fall moglich ist[12]. Unabhangig davon erweist sich jedoch, folgt man Sachs-Hombach, fur die Interpretation primarer bildlicher Zeichen das Moment der „Wahrnehmungsnahe“ als konstitutiv, also der Umstand, dass die Zuweisung der Signifikate stets unter Rekurs auf internalisierte Wahrnehmungskompetenzen stattfindet und insofern motiviert ist durch die Struktur des Bildtragers selbst[13]. Wie stark die Bedeutungszuweisung allerdings nun motiviert wird durch die gegebenen Bildstrukturen, hangt jeweils vom spezifischen Bildtypus ab. Sachs-Hombach etwa nimmt eine grundlegende Unterscheidung von darstellenden Bildern und Strukturbildern vor. Wahrend erstere in gradueller Abstufung vom illusionisti- schen Bild zum Ideogramm eine perzeptuelle Ahnlichkeit mit dem abgebildeten Objekt aufweisen und damit Eigenschaftsdimensionen eines Gegenstandes analog zum bildex- ternen Perzeptionsakt darstellen wurden, zeichneten sich letztere vielmehr durch eine Strukturisomorphie mit dem abzubildenden Objekt aus[14]. Derartige Bilder, zu denen u.a. Landkarten, Plane aber auch Diagramme zahlen, erfassen vorrangig spezifische Eigen- schaftsrelationen eines Gegenstandsbereiches, entweder nach ßeren (konkrete Iso- morphie) oder inneren, d.h. logischen (abstrakte Isomorphie) Zusammenhangen[15].
Doch unabhangig vom jeweils vorliegenden Bildtypus gilt fur eine jede bildhafte Aßerung nach Titzmann, dass die aus ihren Strukturen zu rekonstruierende „Bedeutung“ trotz viel- fach ßerter Vorbehalte gegenuber einer linguistischen Vereinnahmung der Bildsemio- tik prinzipiell bewusstseinsfahig und (meta-)sprachlich[16] paraphrasierbar sein muss. „Bild- bedeutung“ definiert er dabei als „Menge aus dem Bild ableitbarer Propositionen“[17]. Auf- grund der fehlenden bzw. maximal schwachen Kodiertheit von Abbildungen konnen diese „legitimen“ Propositionen allerdings in der Praxis hochst unterschiedlich ausfallen, je nachdem, welche visuellen Daten uberhaupt zu einfachen primaren Einzelzeichen synthe- tisiert werden und wie bzw. unter welchen Aspekten/ Kategorien diese wiederum zu kom- plexen Zeichengebilden - (soziokulturellen) Episoden, Szenerien etc. - kombiniert werden. Der Multiinterpretabilitat von Bildern ist es zu schulden, dass die umfassende Bedeu- tung/ Funktion derselben gewohnlich erst durch kontextuelle bzw. kotextuelle Semantisie- rung prazise zu erfassen und relativ eindeutig aufzulosen ist. Sind diese Voraussetzungen erfullt, liegt der kommunikationsokonomische Vorteil bildhafter Aßerungen darin begrun- det, moglichst effizient eine Vielzahl von Eigenschaftsdimensionen und Eigenschaftsrelati- onen eines Gegenstandsbereiches quasi auf einen Schlag in einer strukturierten Synopse darstellen zu konnen. Illusionistische Abbildungen sind aufgrund ihrer Wahrnehmungsna- he in ihrer primaren Semantik sehr leicht und intuitiv zu ßen, sie konnen allerdings dabei lediglich konkrete, singulare Gßen (Personen, Situationen, Objekte) zur Darstel- lung bringen. Piktogramme oder Strukturbilder hingegen sind konventionalisierte Bilder, deren Funktion erst mit Hilfe eines zu erlernenden Kodes ersichtlich wird. Dafur sind derar- tige Bilder auch im begrenzten Umfang fahig, abstrakte Klassen oder generalisierbare Re- geln abzubilden und damit uber einen spezifischen Situationskontext hinauszuweisen.
3.2. Kognitionspsychologische Grundlagen: Propositionale und bildhaft analoge Reprasentationsformate
Aus der Perspektive der Semiotik werden Bilder und Texte als externalisierte Aßerungen begriffen. Die Kognitions- und Lernpsychologie interessiert sich demgegenuber fur die in- ternalisierte Verarbeitung und Representation sprachlich und bildhaft kodierter Informatio- nen.
Als unstrittig gilt dabei die Existenz eines propositionalen Reprasentationsformats[18], wo- nach Wissen bzw. selbststandig verarbeitete Bedeutungsinhalte in Form von Begriffsnet- zen mental im Gedachtnis abgespeichert werden. Solche semantischen Netzwerke beste- hen aus diskreten begrifflichen Elementen (Propositionen) und Relationen bzw. syntakti- schen Regeln fur ihre Verknupfung. Die einzelnen Elemente lassen sich dabei in der Ab- rufsituation flexibel kombinieren und in sprachlich formulierbare Aßerungssequenzen umwandeln. Damit ist zugleich ausgesagt, dass zu einem externalisierten Text im hier ver- standenen Sinne kein mentales Korrelat angenommen werden kann. Erst im Aßerungs- akt selbst konnen die netzartig reprasentierten und nach ihrer Bedeutsamkeit hierarchisch geordneten Propositionen zu einem textlich zusammenhangenden Sachverhalt syntheti- siert werden[19].
Daruber hinaus hat sich innerhalb der Kognitionswissenschaft mittlerweile die Lehrmei- nung durchgesetzt, dass neben den propositionalen ebenfalls analoge Reprasentations- formate existieren, unten denen die bildhaften Verarbeitungs- und Kodierungsprozesse am besten erforscht sind[20]. Angenommen werden in diesem Zusammenhang kognitive Funk- tionen, die Informationen aufgrund ihrer Gestalteigenschaften verarbeiten[21]. Dies setzt ein mentales System voraus, dass bestimmte Inhaltselemente eben nicht sequenziert und symbolhaft rekodiert, sondern ganzheitlich unter Beibehaltung spezifischer Eigenschafts- dimensionen (Farbe, Gße, Form etc.) sowie raumlicher Positionen und Relationen ab- speichert. Im Ergebnis entstehen dabei sogenannte Vorstellungsbilder oder mentale Bil- der, die selbst wiederum in variabler Weise kognitiv inspiziert und transformiert (z.B. ro- tiert) werden konnen[22].
Nach Kosslyn, einem exponierten Vertreter dieser piktoralistischen Position, nutzt das Ge- hirn bei dem Aufbau von Vorstellungsbildern dieselben Areale, die auch fur visuelle Wahr- nehmungsaufgaben aktiviert werden. Mentale Bilder wurden demnach im Kurzzeitge- dachtnis innerhalb des primaren visuellen Kortex als quasi-bildhafte Oberflachenreprasen- tation entstehen[23]. Da der Puffer des Kurzzeitgedachtnisses begrenzt ist, kann immer nur eine kleine Menge visueller Informationen in Form eines mentalen Vorstellungsbildes er- zeugt werden. Vorstellungsbilder verblassen schnell, sodass es erhohter kognitiver An- strengung bedarf, diese uber einen langeren Zeitraum aufrecht zu erhalten. Anders als bei der Verarbeitung visueller Umweltreize entstammen die Informationen uber visuell- raumliche Merkmale von Objekten und Szenen, welche zur Generierung eines Vorstellungsbildes benotigt werden, aus dem visuellen Langzeitgedachtnis. Im Sinne eines Top- down-Prozesses[24] werden von dort einzelne bildrelevante Informationen aktiviert und durch deren Positionierung im visuellen Puffer zu einem „Bild“ zusammengefugt[25].
Die aus Sicht der Lernpsychologie nun bedeutsame Erkenntnis ist dabei, dass ein zu ler- nender Sachverhalt umso besser verstanden, behalten und abgerufen werden kann, wenn er sowohl im propositionalen als auch im bildhaften Reprasentationsformat abgespeichert wird. Paivio hat dies bereits in den 1970er Jahren in seiner Dualcodierungs-Theorie postu- liert[26]. Wenngleich einige seiner Theorieansatze, etwa die Hemispharen-Theorie[27], heute als uberholt gelten oder in seiner Nachfolge differenziert und erweitert wurden[28], wird der Vorteil multimodaler mentaler Modellbildungsprozesse nicht in Zweifel gezogen. Dieser Vorteil begrundet sich zum einen aus der moglichen Parallelitat und damit gesteigerte Effi- zienz der strukturell wie funktional verschiedenen Kodierungssysteme, die gleichwohl refe- rentielle Verbindungen unterhalten. Zum anderen bedeutet jede Umkodierung bspw. von sprachlich reprasentierten Informationsinhalten in ein bildhaftes Format zugleich eine akti- ve Umwalzung von Wissen, die nach Bruner Voraussetzung fur ein tatsachliches Verste- hen und somit eine erhohte Verarbeitungstiefe der wahrgenommenen Informationen ist[29].
3.3. (Fach-)Didaktisch begrundete Visualisierungsverfahren
Mit mehr oder weniger direktem Bezug auf die oben skizzierten Forschungsbefunde haben sich in der (fach-)didaktischen Literatur und der schulischen Unterrichtspraxis mittlerweile eine Reihe visueller Methoden zur (literarischen) Tßung etabliert, die sich unter Ruckgriff auf die bereits eingefuhrte Bildtypologie sinnvoll nach darstellenden und eher strukturierenden Visualisierungsverfahren unterscheiden lassen.
Die erste Kategorie hat innerhalb der Fachwissenschaft und Fachdidaktik insbesondere im Zuge der poststrukturalistischen und rezeptionsasthetischen Literaturtheorie eine Aufwer- tung erfahren. Der Leser bzw. Rezipient wird hierbei dezidiert als aktiver (Mit- )Konstrukteur eines literarischen Werkes gedacht, der notwendig systembedingte „Leer- stellen“ eines Textes zu fullen hat und dabei gleichsam subjektive Vorstellungsbilder pro- duziert, die ihrerseits gespeist sind durch die bisherige literarische (und ßerliterarische) Sozialisation[30]. Die aus diesen Theorien erwachsenen produktionsorientierten Ansatze bemuhen sich denn auch dezidiert um eine Externalisierung dieser „inneren Bilder“[31], die gezielt mit der je spezifischen Textrealitat zu konfrontieren sind und im Idealfall zu einer Modifikation und Erweiterung der subjektiven Textwahrnehmung beitragen. Koster etwa weist derartige Methoden insbesondere fur diejenigen literarischen Texte als produktiv aus, in denen die Problematik von Wahrnehmung und Erkenntnis selbst thematisch wird[32]. Visualisierungen konnen aus ihrer Perspektive u.a. dazu verhelfen, intra- oder extradiege- tisch formulierte „Ansichten“ (bspw. einer Textentitat) zu prazisieren, signifikante Merkmale (bspw. bestimmte metaphorisch aufgeladene Requisiten) zu isolieren oder auch bedeu- tungstragende Konstellationen von Textentitaten zu profilieren[33]. Gleichwohl pladiert Koster auch fur eine stets zu leistende Metareflexion der Methode im Unterricht, die auch die spezifischen Grenzen der Visualisierbarkeit auszuloten versucht und dadurch fur die genuine Leistungsfahigkeit von Sprache, z.B. die mogliche Alternation von Wahrneh- mungs- und Reflexionsebene, sensibilisieren mochte. Entscheidend ist fur sie in jedem Fall das Bild als Erkenntnisinstrument, nicht als kunstlerisches Produkt[34].
Eine ahnliche Intention verfolgt auch die von Ingo Scheller entwickelte Visualisierungsstra- tegie[35] der szenischen Interpretation, die ebenfalls primar um eine analytische Durchdrin- gung eines literarischen Textes mit szenischen Mitteln bemuht ist[36]. Scheller entwickelt in diesem Zusammenhang neben Impulsen fur die konkrete szenische Realisation bzw. Adaption einzelner Handlungspassagen eine Reihe methodischer Varianten, wie den Standbild- oder Statuenbau, welche die Schuler dazu befahigen sollen, innere und ßere Haltungen sowie eigene subjektive Konstruktionen bestimmter Figuren zu visualisieren. Einen hohen Stellenwert misst Scheller dabei ebenfalls den Reflexionsphasen zu, fur wel- che er in Anlehnung an das epische Theater Brechts bspw. uber die Alter-Ego-Technik[37] auch szenische Artikulationsformen gefunden hat. Durch das stetige bewusste Changieren zwischen Rollenempathie und Rollendistanz sollen die Schuler performativ und multisen- sual mit ihren eigenen Vorstellungsbildern konfrontiert werden, die sukzessiv zu uberpru- fen und ggf. auch zu modifizieren sind mit den textinduzierten, z.T. auch fremd und wider- standig erscheinenden Handlungs- und Weltmodellen literarischer Werke.
Neben diesen dezidiert aus der Literaturdidaktik stammenden Ansatzen hat die empirisch gestutzte Leseforschung zudem eine Reihe fachubergreifender Konzepte entwickelt, die den Anspruch erheben, systematisch zu einer schulischen Forderung des Verstehens und Behaltens von Texten unter gezielter Anwendung und Aktivierung des bildhaften Vorstel- lens beizutragen. Ausgehend von der Annahme, dass die interindividuell variierende Pra- ferenz fur entweder propositionale oder bildhaft-analoge Reprasentationsformate kein konstantes Personlichkeitsmerkmal (bestimmter Denktypen) darstellt und sich die Fahig- keit der bildhaften Vorstellung insofern in Hinblick auf ein kompetenteres Textverstehen gezielt entwickeln lasst[38], sind vor allem im angloamerikanischen Raum eine Reihe von Strategieforderprogrammen konzipiert und erfolgreich erprobt worden. Stellvertretend sei hier etwa die lEPC-Strategie von Wood (2002) zu nennen. Vor der Textbegegnung ani- miert dieses Unterrichtsverfahren die Schuler zu einem Aufbau themenbezogener Vorstel- lungsbilder (Imagine), die in der Folge durch entsprechende Instruktionen und Impulse zu differenzieren und zu erweitern sind (Elaborate) und ßlich in eine Antizipation des Textinhalts munden sollen (Predict) [39]. Wahrend der eigentlichen Lesephase und im Anschluss daran sollen diese Vorstellungsbilder sodann mit den expliziten Textinformationen verglichen und durch diese bestatigt (Confirm) oder ggf. abgewandelt werden. Fur Evalua- tionszwecke und die Unterstutzung des Textverarbeitungsprozesses wird dabei gewohn- lich auch jeweils ein zeichnerischer Transfer der Vorstellungsbilder in den unterschiedli- chen Konzeptphasen angestrebt[40]. Eine Besonderheit der lEPC-Strategie und vergleich- barer Ansatze besteht darin, quasi metakognitiv bereits zu Beginn der Lektion die Schuler uber die konkreten Lernziele und die damit verbundene Funktionalitat dieser Methode fur die Entwicklung der Textverstehenskompetenz zu informieren[41]. Dazu soll der intern ab- laufende Vorgang der Vorstellungsbildung durch die Lehrperson explizit modelliert und angeleitet werden, z.B. durch lautes Denken wahrend des mentalen Konstruktionsprozes- ses. Angestrebt wird in der Folge eine sukzessive Obertragung der Verantwortung dieses Verfahrens an die Schuler selbst, verbunden mit einer zunehmenden Automatisierung des Strategiegebrauchs[42].
Die bisher skizzierten Ansatze haben gemein, dass sie allesamt von einem darstellenden Bildbegriff und entsprechender mentaler Korrelate ausgehen. Gleichwohl wird in der Praxis sehr wohl auch auf eine Reihe standardisierter Visualisierungsverfahren zuruckgegrif- fen, die Bilder primar als abstrakt-topologische Struktuierungshilfe zur Wissensorganisati- on zumeist sprachlich kodierter (textbasierter) Informationen verstehen und gebrauchen. Bruning/ Saum etwa stellen auf systematische und anwendungsorientierte Weise solche Visualisierungsformen abhangig von ihrer Einsatzbestimmung vor[43] : Eignet sich die Erstel- lung einer Mind Map vor allem zur Kategorisierung eines textinduzierten Themenfeldes, vermag ein Venn-Diagramm etwa Oppositionen und Schnittmengen zweier Vergleichsgro- Ren veranschaulichen. Soll das Eintreten eines bestimmten Textereignisses auf multiple Ursachen zuruckgefuhrt werden, erweist sich demgegenuber das Fischgratendiagramm als adaquate Visualisierungsform. Zur Darstellung komplexer Handlungszusammenhange und Beziehungsverhaltnisse stellt daruber hinaus die Concept Map ein hilfreiches grafi- sches Strukturierungsverfahren dar. Durch raumliche Anordnung, unterschiedliche grafi- sche Rahmungen und entsprechende Pfeilverlaufe lassen sich dabei sehr vielschichtige begriffliche Strukturnetze zu einem ubergreifenden thematischen Sachverhalt entwickeln. Wenn zur Legitimation eines solchen methodischen Werkzeugs immer wieder eine Kor- respondenz zur mentalen Informationsverarbeitung hergestellt wird und externalisierte Darstellungen als „Spiegelbild der kognitiven Landkarten oder Netze im Gehirn“[44] tituliert werden, so trifft das allerdings vor dem Hintergrund der oben angefuhrten Theorien nur bedingt zu. Denn mentale Begriffsnetze in einem propositionalen Reprasentationsformat liegen keinesfalls simultan in analog bildhafter Weise vor. Erst durch die zusatzliche ana- loge Umkodierung im visuellen Kortex ist eine quasi-raumliche Gesamtreprasentation von Wissenselementen moglich (vgl. Kap. 3.2.). Das grafische Modell des „Netzes“ ware dem- nach aus lernpsychologischer Sicht nicht per se lernwirksamer als bspw. ein Sequenzdia- gramm. Weiterhin befordert die Methode der Concept Map maximal eine Dualkodierung logischer Relationen zwischen bestimmten Objekten/ Informationselementen, nicht eine Dualkodierung der Objekte/ Informationselemente selbst, welche zumeist ßlich sprachlich ßert werden[45].
Mit den letzten Ausfuhrungen ist bereits eine erste kritische Bewertung der vorliegenden Visualisierungskonzepte ßen worden, die im folgenden Kapitel an konkreten Pra- xisbeispielen aufgenommen und erweitert werden soll. Die Erorterung uber Grenzen und etwaige Fallstricke bisheriger Ansatze soll zugleich die Genese des eigenen Konzeptes erklaren und begrunden helfen.
4. Die Konzeptentwicklung
4.1. Probleme und Grenzen bisheriger Konzeptansatze
Wahrend einer Hospitationsphase in einer funften Jahrgangsstufe im Fach Deutsch wurde ich erstmalig mit einer Problematik szenischer und allgemein darstellender Visualisierungskonzepte konfrontiert, die sich auf der Grundlage der oben ausgebreiteten Beschrei- bungsinventare nun auch theoretisch erklaren lasst. Die SuS waren angehalten, sich mit der Beziehungsstruktur der drei Protagonisten in Steinar Sorlles Jugendroman „Die Nacht, als keiner schlief“[46] auseinanderzusetzen. Dazu sollten sie in einem Standbild das Gefuhl des Ausgegrenztseins der jungsten Figur Knut gegenuber dessen Schwester Tine und ihrem Freund Leif, die verloren auf einer Eisscholle auf das offene Meer hinaustrieben, erkennen und szenisch umsetzen. Die SuS positionierten im Standbild jedoch alle Figuren Rucken an Rucken in unmittelbarer Nahe zueinander. Die hier offenkundig gewordene Problematik lasst sich auf die Divergenz zwischen der konkret-topografischen Szenografie und dem abstrakt-topologischen Figurenverhaltnis zuruckfuhren. Die SuS haben sich bei der Losung der Aufgabe ganz auf die ßere Handlung bezogen, denn die Protagonisten sitzen des Nachts in der Mitte der Eisscholle, um das Gleichgewicht zu wahren und ihre Korper gegenseitig zu warmen. Die davon abweichende innere Distanz der Figuren war mit Hilfe der gewahlten Methodik fur die SuS nur sehr schwer realisierbar, da sie ein ho- hes Abstraktionsvermogen voraussetzt, welches mit der Eigentumlichkeit der Bildwahr- nehmung zusammenhangt. Indem der eigene Korper namlich bei der Standbilderstellung selbst zu einem integralen Bestandteil avanciert, wird ein illusionistischer Darstellungsmo- dus aktiviert, der nach einer koharenten szenischen „Leerstellenauffullung“ auf derselben Darstellungsebene verlangt. Auch wenn es nun das Ziel ist, einen abstrakten Interpretati- onszusammenhang, wie ein Beziehungsverhaltnis, jenseits dieser Ebene zur Anschauung zu bringen, so bleibt der Darsteller mit all seinen konkreten ßeren Merkmalen als „pri- mares figurliches Signifikat“ dennoch erhalten. Soll dieser daruber hinaus (allegorisch) eine spezifische Eigenschaft oder Einstellung verkorpern, so kann dies maximal in einem sekundaren Signifikationsprozess erfolgen[47]. Es wird somit deutlich, dass sich die sinnlich- konkrete Beschaffenheit wahrnehmungsnaher bzw. illusionistischer „Bilder“ fur bestimmte Fragestellungen und Erarbeitungsprozesse als unfunktional erweisen kann und eine Auf- ladung dieser konkret raumlichen Darstellungen mit abstrakt-ideellen Zusatzbedeutungen vom Rezipienten einen erhohten Dekodierungsaufwand verlangt, der scheinbar gerade von jungern SuS noch nicht zu leisten ist.
Bezogen auf das in dieser Arbeit exemplarisch grundgelegte Jugendbuch „Huter der Erin- nerung“ haben Dieterle/ laconis zuletzt Grenzen und Chancen der szenischen Interpretati- onsmethode herauszustellen versucht[48]. Interessanterweise kaprizieren sich ihre Vor- schlage zur szenisch-visuellen Umsetzung des Romans ßlich auf die Darstellung der Alltagsroutinen der fiktiven „Gemeinschaft“, in welcher der Protagonist Jonas zu Be- ginn angepasst lebt.
Mittels szenischer „Skulpturen“ oder „Fotografien“ zu einem idealtypischen Tagesablauf der Familienmitglieder sollen etwa die Reglementierungen und Verhaltenskodes in der „Gemeinschaft“ nachvollzogen und erortert werden. Auch Spielszenen ritueller Prozedu- ren, wie die Abschiedsfeier und ßende „Freigabe“ der im Text genannten Figuren aus dem Altenzentrum, konnen fur die proklamierten Gleichheitsprinzipien ebenso sensibi- lisieren, wie fur die latente Bruchigkeit derselben, welche sich bspw. in einer Hierarchisie- rung der Einwohner nach sozialem Prestige veräußert[49]. Die hier von den Autoren vorge- schlagenen Zugange erweisen sich als sehr sinnvoll, den Mikrokosmos der dystopischen Welt zu ßen und den SuS „’hautnahe’ [Differenz-]Erfahrungen“[50] zu ermoglichen, die zugleich eine kritische Reflexion der in der Gemeinschaft propagierten Werte ßen konnen. Allerdings bleibt den SuS uber diese Verfahren die logisch-semantische Gesamt- architektur der dargestellten Welt auch weiterhin verschlossen, wird doch die zentrale phantastische Figur des Romans, der „Huter der Erinnerungen“, in dem skizzierten Unter- richtsvorschlag uberhaupt nicht berucksichtigt. Dabei ist es gerade der Huter, welcher die Unnaturlichkeit und gleichzeitige Fragilitat des Systems offenbart, da er mit seinem Opfer quasi als kulturelles Gedachtnis der Menschlichkeit fungiert, das er einerseits personal absorbieren und von der Außenwelt verschließen muss, das jedoch andererseits auch durch sein mogliches Ableben und/ oder ein Verlassen der Gemeinschaft freigesetzt und an jedes bis dahin affektregulierte Individuum zuruckgefuhrt werden kann. Die Wahrung des status quo dieses fiktiven Sicherheitsstaates ist damit abhangig von genau einer Fi- gur. Neben den innerfigurlichen Konfliktebenen und dem sukzessiven Emanzipationspro- zess des Protagonisten Jonas, sollte ein fachgerechter Literaturunterricht immer auch ver- suchen, die Interdependenz zwischen einzelnen Figurenhandlungen oder Schicksalen und dem textuellen Gesamtsystem herauszustellen (vgl. Kap. 2). Durch die medienbedingte Einschrankung illusionistisch-darstellender Bilder, zumeist nur singulare, konkrete Augen- blicke oder Ausschnitte der Textwelt abbilden zu konnen (vgl. Kap. 3.1.), scheinen sich Strukturbilder insofern eher dafur zu qualifizieren, diese textuelle Makroebene fur SuS er- schließbar und anschaulich zu machen. Jedoch lasst sich auch auf diesem Sektor eine Gewichtung in Hinblick auf die Funktionalitat von Strukturgrafiken vornehmen. In der unter- richtsbezogenen Sekundarliteratur zu dem ausgewahlten Roman[51] wird bspw. versucht, die sparlichen Lokalitatsbeschreibungen zu einer topografischen Karte der dargstellten Welt zu synthetisieren (vgl. Abb. 1). Zwar mag die Anwendung eines solchen Vorhabens im Unterricht das detailgenaue, textnahe Lesen schulen, der Erkenntniswert des dabei entstehenden grafischen Produktes ist jedoch uberschaubar. Dieser Umstand hat seine Ursache darin, dass die topografische Struktur der Gemeinschaft nicht die topologische Ordnung bzw. Hierarchie dieser abgeschlossenen Enklave abbildet. Im Sinne Lotmanns handelt es sich bei diesem Teilraum der dargestellten Welt denn auch folgerichtig um ei- nen abstrakt semantischen Raum (vgl. Kap. 2). Durch die Ausblendung des Figureninven- tars und den Verzicht auf die Rollensegmentierung innerhalb der Gemeinschaft verkommt die Erstellung eines Raumplans somit zu einem ßen Selbstzweck.
[...]
[1] Vgl. Texte, Themen und Strukturen. Deutschbuch fur die Oberstufe. Berlin: Comelsen 1999, S. 466. Kontrastiert wird das „lineare Verfahren“ obligatorisch mit dem als elaborierter geltenden „aspektorientierten Verfahren“, das eigenstan- dige Selektionen, Gewichtungen und Systematisierungen von Textdaten nach Mabgabe einer spezifischen Leitfrage erfordert.
[2] Schubert-Felmy: Umgang mit Texten in der Sekundarstufe I, S. 100.
[3] Vgl. Kamper-van den Boogaart: Fachdidaktik und Wissenschaft, S. 92.
[4] Vgl. Krah: Einfuhrung in die Literaturwissenschaft, S. 36f.
[5] Vgl. Titzmann: Literatursemiotik, S. 3077.
[6] Vgl. hierzu Krah: Einfuhrung in die Literaturwissenschaft, S. 326: „Wichtig ist [...] sich zu vergegenwartigen, dass nicht jedes Geschehen Handlung ist und dass nicht immer das gleiche Geschehen in unterschiedlichen Texten Handlung sein muss. [...] Denn der Text modelliert eine eigene Ordnung; und dazu kann auch bestimmtes Geschehen dienen; dessen Funktion ist es gerade , die Ordnung zu illustrieren, zu demonstrieren, paradigmatisch zu inszenieren.“
[7] Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 333.
[8] Titzmann: Interaktion und Kooperation von Texten und Bildern, S. 216.
[9] Vgl. Ebd.
[10] Vgl. Ebd., S. 217.
[11] Vgl. Titzmann: Theoretisch-methodologische Probleme einer Semiotik der Text-Bild-Relationen, S. 378.
[12] Vgl. Sottong/ Muller: Zwischen Sender u. Empfanger, S. 68 u. Titzmann: Interaktion und Kooperation von Texten und Bildern, S. 218.
[13] Im Kontrast zu arbitraren Zeichen (der naturlichen Sprache), bei denen die Relationierung zwischen Signifikant und Signifikat auf einer prinzipiell willkurlichen Setzung beruht. Vgl. Sachs-Hombach: Das Bild als kommunikatives Medium, S. 88; Sottong/ Muller: Zwischen Sender u. Empfanger, S. 52-53.
[14] Vgl. Sachs-Hombach: Das Bild als kommunikatives Medium, S. 207.
[15] Vgl. Ebd., S. 202.
[16] Dabei gilt basal, dass die naturliche Sprache „generell die letzte Metasprache fur alle Zeichensysteme bzw. zeichen- haften Aufierungen [darstellt und somit] jedes nicht-sprachliche [z.B. ikonische] Zeichensystem [...] letztlich nur mit Hilfe von Sprache eingefuhrt werden [kann]“ (Titzmann: Interaktion und Kooperation von Texten und Bildern, S. 221).
[17] Titzmann: Interaktion und Kooperation von Texten und Bildern, S. 221. „Zu sagen, eine Auberung habe eine Bedeu- tung, doch wussten wir nicht beziehungsweise konnten nicht ausdrucken, welche, ist offenbar widersinnig“ (ders.: Theoretisch-methodologische Probleme einer Semiotik der Text-Bild-Relationen, S. 371-372).
[18] Vgl. Hartmann: In Bildern denken - Texte besser verstehen, S. 21.
[19] Vgl. Bruning/ Saum: Erfolgreich unterrichten durch Visualisieren, S. 51.
[20] Vgl. Berendt: Kognitionswissenschaft, S. 22. Die kontroverse Auseinandersetzung uber die Existenz eines eigenstan- digen bildhaften Reprasentationssystems innerhalb der Kognitionswissenschaft ist als Imagery Debatte bekannt gewor- den. Eine konzise Darstellung dieses Konfliktes und der jeweils vorgetragenen Argumente findet sich bei Sachs- Hombach: Das Bild als kommunikatives Medium, S. 244-261.
[21] Vgl. Sachs-Hombach: Das Bild als kommunikatives Medium, S. 250.
[22] Vgl. Hartmann: In Bildern denken - Texte besser verstehen, S. 33.
[23] Vgl. Ebd., S. 27.
[24] Vgl. Ebd., S. 28.
[25] Einschrankend muss jedoch konstatiert werden, dass ein solches mentales „Gesamtbild“ keinesfalls dieselben Eigen- schaften aufweist wie ein externalisiertes Bild. So fehlen ersterem etwa die in Kap. 4.1. angefuhrten Bedingungen der Invarianz und Rahmung. Vorstellungsbilder sind randunscharf und das variable kognitive Produkt eines permanenten Konstruktions- und Umgruppierungsprozesses. Kosslyn spricht in diesem Kontext denn auch dezidiert von funktionalen
Bildern, die mit bildhaften AuBerungen in erster Linie die analoge Organisation von Informationen teilen. Vgl. Sachs- Hombach: Das Bild als kommunikatives Medium, S. 253f.
[26] Vgl. Reinmann: Blended Learning, S. 84.
[27] Die Hemispharen-Theorie geht von einer grundlegenden Asymmetrie der Gehirnhalften aus. So sei die linke primar spezialisiert auf die Verarbeitung von Sprache, Zahlen oder Schlussfolgerungen, die rechte hingegen auf die Verarbei- tung von Bildern, generell non-verbalen Kodes, Gefuhlen und ganzheitlichen Umwelteindrucken. Beide Halften waren jedoch uber einen breiten Nervenstrang miteinander verbunden und konnten somit interagieren.
[28] Vgl. Reinmann: Blended Learning, S. 85f.
[29] Vgl. Bruning/ Saum: Erfolgreich unterrichten durch Visualisieren, S. 51.
[30] Vgl. Schubert-Felmy: Umgang mit Texten in der Sekundarstufe I., S. 108.
[31] Vgl. Spinner: Literarisches Lernen, S. 8: „Die imaginative Vergegenwartig sinnlicher Wahrnehmung ist ein grundle- gender Aspekt (literar-)asthetischer Erfahrung.“
[32] Koster entwickelt ihre Ausfuhrungen an dem Roman „Homo faber“ von Max Frisch. Dies.: Fabers Auge, S. 51-55.
[33] Vgl. Ebd., S. 51.
[34] Vgl. Ebd., S. 55.
[35] Im Sinne eines erweiterten Bildbegriffs ist die Dreidimensionalitat kein Ausschlusskriterium fur Bildlichkeit: Vgl. Sottong/ Muller: Zwischen Sender u. Empfanger, S. 66: „Bilder sind visuell [...] wahrnehmbare artefaktische Struk- tur[en] an einer von der jeweiligen Kultur festgelegten Stelle, einem Wahrnehmungsrahmen, fur ,Bilder’“.
[36] Vgl. Scheller: Szenische Interpretation. In: Praxis Deutsch 136 (1996), S. 22.
[37] Vgl. Ebd., S. 27: Bei der Alter-Ego-Technik stellt sich z.B. der Standbildbauer oder ein Beobachter hinter eine einge- frorene Figur und formuliert auf Grundlage von Gestik, Mimik und Haltung deren Gedanken. Neben dieser Deutung von auBen, sollen jedoch die Darsteller selbst aus ihrer Rolle heraustreten konnen, um ihre Erlebnisse und moglichen Probleme mit der eingenommenen Rolle kommunizieren zu konnen. Entscheidend ist dabei die begriffliche Reflexion sinnlicher Erfahrungen aber auch der interpretatorisch fundierte Abgleich ggf. kontrarer subjektiver Figurenwahrneh- mungen am Text.
[38] Vgl. Hartmann: In Bildern denken - Texte besser verstehen, S. 36.
[39] Vgl. Ebd., S. 112.
[40] Vgl. Ebd., S. 97.
[41] Wood hat hierzu ein eigenes Formular mit allen relevanten Konzeptphasen entwickelt, Hartmann favorisiert demge- genuber den Einsatz eines Strategieposters, das nicht nur die logische Schrittfolge des Verfahrens abbildet sondern zugleich metareflexiv unter Ruckgriff auf bildhafte Kodes die Strategie selbst zur Anwendung bringt. Vgl. Hartmann: In Bildern denken - Texte besser verstehen, S. 96 u. 113.
[42] Vgl. Ebd., S. 61-64.
[43] Vgl. Bruning/ Saum: Erfolgreich unterrichten durch Visualisieren, S. 26-27.
[44] Ebd., S. 77.
[45] Hier liegen sicherlich Vorteile der Mind Map, bei deren Anwendung bewusst der bildhafte Transfer aufgefiihrter Begriffe angeregt werden soll (vgl. Ebd., S. 48-49). Nachteile ergeben sich hier primar aus der Statik der Struktur, die lediglich kategoriale Ober- und Unterordnungsverhaltnisse abzubilden vermag.
[46] Sorlle, Steinar: Die Nacht, als keiner schlief. Munchen: dtv-junior 1993.
[47] Vgl. Titzmann: Interaktion und Kooperation von Texten und Bildern, S. 224.
[48] Vgl. Dieterle/ Iaconis: Huter der Erinnerung, S. 45-49.
[49] Vgl. Ebd., S. 47-48.
[50] Ebd., S. 45.
[51] Die Materialien beziehen sich hier allerdings auf das englischsprachige Original The Giver, welches erstmalig 1993 bei Houghton Mifflin Company, Boston erschienen ist.
- Citar trabajo
- Lars Zumbansen (Autor), 2009, Bildgestützte Textanalyse - Grafische Visualisierungsstrategien als Instrumente zur Erschließung literarischer Texte, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/154237
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