Doortje Kal arbeitete Anfang der Neunzigerjahre in einem Amsterdamer
Tagesaktivitätenzentrum. Dieses wurde täglich von vierzig bis sechzig Menschen mit psychiatrischem Hintergrund besucht. „Das Tagesaktivitätenzentrum wollte ein sicherer Heimathafen für die meist verletzliche Gruppe der Gesellschaft sein, aber auch ein Ort, den man – wenn es wieder besser ging – gestärkt verlassen konnte.“ (DELAHAIJ/FRAGNER 2010, 5).
Doch das gelang nur selten.
Ausgehend von ihren praktischen Erfahrungen entwickelte Kal das Projekt „Kwartiermaken“. Denn ihre praktischen Erfahrungen hatten ihr gezeigt: „Individuelle Hilfe zur anerkennenden Teilhabe müssen mit der Gestaltung der nahen sozialen Räume gekoppelt werden“ (FRAGNER 2010, 1).
In der Heilpädagogik ist bislang nur wenig konkret aufgezeigt worden, wie Inklusion praktisch verwirklicht werden kann. In meinem Beitrag zeige ich auf, dass für das Gelingen von Inklusion neben individuellen Hilfen eine Gestaltung des sozialen Raumes durch Netzwerken und bürgerschaftliches bzw. ehrenamtliches Engagement erforderlich ist.
Nur durch einen Blick über den eigenen Fachbereich der Heilpädagogik hinaus auf die soziale Arbeit mit ihrem Ansatz der Sozialraumorientierung kann das große Ziel der Inklusion mit Leben gefüllt und Schritt für Schritt umgesetzt werden.
Dabei ist angesichts der demografischen Entwicklung auch der Einbezug des bürgerschaftlichen bzw. ehrenamtlichen Engagements notwendig. Dessen Chancen sind aber nur voll zu nutzen, wenn man auch um seine Risiken und deren Eindämmung weiß.
Chancen und Risiken heilpädagogischen Handelns im sozialen Raum
- eine Standortbestimmung -
1. Fallbeispiel
Doortje Kal arbeitete Anfang der Neunzigerjahre in einem Amsterdamer Tagesaktivitätenzentrum. Dieses wurde täglich von vierzig bis sechzig Menschen mit psychiatrischem Hintergrund besucht. „Das Tagesaktivitätenzentrum wollte ein sicherer Heimathafen für die meist verletzliche Gruppe der Gesellschaft sein, aber auch ein Ort, den man – wenn es wieder besser ging – gestärkt verlassen konnte.“ (DELAHAIJ/FRAGNER 2010, 5).
Doch das gelang nur selten.
Ausgehend von ihren praktischen Erfahrungen entwickelte Kal das Projekt „Kwartiermaken“. Denn ihre praktischen Erfahrungen hatten ihr gezeigt: „Individuelle Hilfe zur anerkennenden Teilhabe müssen mit der Gestaltung der nahen sozialen Räume gekoppelt werden“ (FRAGNER 2010, 1).
In der Heilpädagogik ist bislang nur wenig konkret aufgezeigt worden, wie Inklusion praktisch verwirklicht werden kann. In meinem Beitrag zeige ich auf, dass für das Gelingen von Inklusion neben individuellen Hilfen eine Gestaltung des sozialen Raumes durch Netzwerken und bürgerschaftliches bzw. ehrenamtliches Engagement erforderlich ist.
Nur durch einen Blick über den eigenen Fachbereich der Heilpädagogik hinaus auf die soziale Arbeit mit ihrem Ansatz der Sozialraumorientierung kann das große Ziel der Inklusion mit Leben gefüllt und Schritt für Schritt umgesetzt werden.
Dabei ist angesichts der demografischen Entwicklung auch der Einbezug des bürgerschaftlichen bzw. ehrenamtlichen Engagements notwendig. Dessen Chancen sind aber nur voll zu nutzen, wenn man auch um seine Risiken und deren Eindämmung weiß.
2. Was bedeutet Behinderung?
These 1
Behinderung bedeutet reduzierte und nicht gleichberechtigte Teilhabechancen an sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Handlungsfeldern.
In den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde ausgehend von Skandinavien Normalisierung heilpädagogischer Angebote gefordert. Ab den 80er Jahren gibt es im Schulbereich vermehrt Bestrebungen nach Integration.
Aber auch 30 Jahre später besuchen im Bundesdurchschnitt nur etwa 16 % aller Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung die allgemeine Schule (vgl. RITTMEYER 2009, 2).
Das zeugt nicht gerade davon, dass Integration ein bildungspolitisches Ziel mit hoher Priorität ist.
Dennoch hat die Bundesregierung im März 2007 die UN-Konvention zum Schutze der Rechte von Menschen mit Behinderung unterzeichnet. Seit dem 24.03.2009 ist die deutsche Rechtsordnung verpflichtet, den Inhalt der UN-Konvention zu befolgen und in deutsches Recht zu übertragen (vgl. JACOBS 2009, 6).
Mit Forderung nach Barrierefreiheit und Inklusion (vgl. SCHULZE 2009, 2) geht die Konvention inhaltlich weit über das Vorhandene hinaus.
Denn Inklusion ist keine optimierte Integration, sondern qualitativ von Integration unterschieden. So überwindet sie zum einen die „Zwei-Gruppen-Theorie“ und die „paradoxe Grundbedingung der Integrationspädagogik“ (Anerkennung des Ausschlusses, um ihn dann wieder aufzuheben). Zum anderen geht Inklusion über Pädagogik hinaus. Sie ist auf die gesamte Gesellschaft ausgerichtet und schließt von Anfang an Minderheiten in ihre Überlegungen ein (vgl. STRASSER 2006, 7). Inklusion lässt die Verschiedenheit im Gemeinsamen bestehen und zielt auf Mitbestimmung an der komplexen und differenzierten Gesellschaft aller Menschen. Hierfür sind – wie Vertreter der Inklusion betonen – institutionelle und strukturelle Veränderungen unverzichtbar (vgl. LINDMEIER 2003, 303).
In der Vergangenheit wurden Menschen mit Behinderung lange Zeit nur über ihre Behinderung wahrgenommen, über das, was ihnen fehlt.
In dieser Sicht war die Behinderung das hervorstechende Merkmal. Sie wurde, um den Fachterminus zu verwenden, „ontologisiert“: Frau X/Herr Y ist behindert (vgl. RITTMEYER 2005, 16).
Seit ungefähr fünfzehn Jahren hat sich hier ein grundlegender Wandel vollzogen.
Zunächst begann man, sich von der Defizitsicht abzuwenden. Diese Veränderung der Sichtweise hat sich nicht nur in der wissenschaftlichen Diskussion durchgesetzt, sondern bis in den Alltag hinein fortgesetzt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Aktion Mensch, die früher Aktion Sorgenkind hieß. Die veränderte Sicht rückte die Stärken der Person in den Vordergrund. Im Rahmen individueller Hilfeplanung wurden „Hilfen nach Maß“ entwickelt (vgl. BRADL 2007, 11). Sie waren z. B. Themenschwerpunkt der Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Heilpädagogik 1999 in Bonn. In den Jahren danach wurde die Erschwerung der sozialen Teilhabe als zentrales Merkmal von Behinderung zu der an Stärken und Ressourcen orientierten Sicht hinzugefügt. FRANZ und BECK haben diese Sichtweise wie folgt auf den Punkt gebracht: „Der Kern dessen, was mit Behinderung gemeint ist, sind … reduzierte und nicht gleichberechtigte Teilhabechancen an sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Handlungsfeldern (FRANZ/BECK 2007, 284).
Wir sind damit auf dem aktuellen Stand der Diskussion in der Heilpädagogik angekommen.
Es muss j e t z t aufgezeigt werden, w i e Inklusion in der Praxis k o n k r e t möglich gemacht werden kann.
3. Inklusion trägt zur Prävention und zum Abbau von Behinderung bei
These 2
Inklusion will Bedingungen schaffen, die Teilhabe ermöglichen und Ausgrenzung vermeiden. Mit dieser Zielsetzung trägt Inklusion zur Prävention und zum Abbau von Behinderung bei.
In der neuen Sichtweise von Behinderung geht es jetzt schwerpunktmäßig darum, wie ein Mensch durch seine Mitwelt und institutionelle Strukturen behindert wird.
Und, was mindestens ebenso entscheidend ist: Der Mensch mit Behinderung wird jetzt als Träger von Rechten begriffen: des Rechtes auf m a x i m a l e s o z i a l e T e i l h a b e und Selbstbestimmung (vgl. RITTMEYER 2009a). Dieses Recht umzusetzen, ist die gegenwärtige Aufgabe der Heilpädagogik (vgl. FRANZ/BECK 2007a, 284).
Inklusives Denken und Arbeiten hat zum Ziel, den Anspruch auf Teilhabe und Selbstbestimmung in der höchstmöglichen Form umzusetzen. Behindernde Bedingungen sollen am besten gar nicht erst entstehen oder zumindest abgebaut werden. Damit trägt Inklusion wesentlich zur Prävention und zum Abbau von Behinderung bei.
Während bei der Integration „die individuelle Unterstützung des Einzelnen zur Teilhabe am allgemeinen Leben im Vordergrund stand, geht es bei der Zielperspektive Inklusion darum, Bedingungen in der Gemeinde zu schaffen, die Teilhabe ermöglichen und Ausgrenzung vermeiden. Auf eine kurze Formel gebracht: Integration setzt Aussonderung voraus, Inklusion will Aussonderung vermeiden!“ (SEIFERT 2008, 1).
4. Sozialraumorientierung unterstützt Umsetzung von Inklusion
These 3
Für die Umsetzung von Inklusion ist die Heilpädagogik auf die ergänzende Perspektive S o z i a l r a u m o r i e n t i e r u n g angewiesen. Diese Perspektive stammt aus der Sozialen Arbeit und ist in der Heilpädagogik noch wenig verbreitet.
Es ist mehrfach nachgewiesen worden, dass die Netzwerke von Menschen mit Behinderung kleiner und weitmaschiger sind als die von Menschen ohne Behinderung.
HECKMANN (2004) fasst die Untersuchungen zu Netzwerken von Menschen mit Behinderungen wie folgt zusammen:
- Menschen mit Behinderungen verfügen über kleinere soziale Netzwerke als Menschen ohne Behinderung.
- Personen mit Behinderungen haben weniger Freunde und Vertrauenspersonen als Personen, die keine Behinderung haben. Die Vertrauenspersonen der behinderten Menschen kommen dabei überproportional häufig aus dem eigenen Haushalt...
- Etwa die Hälfte der Behinderten hat mindestens eine Person in ihrem sozialen Netzwerk, die ebenfalls behindert ist. Die Anzahl der ebenfalls behinderten Personen im sozialen Netzwerk steigt mit hohem Behinderungsgrad und niedrigem Bildungsniveau...
- Die hohe Anzahl haushaltsinterner und verwandtschaftlicher Kontakte … weist … ebenfalls auf eine mangelnde soziale Integration bei Menschen mit Behinderungen hin...
- Behinderte Menschen verfügen insgesamt, aber auch bedarfsspezifisch... über weniger unterstützende Personen als nicht behinderte Personen“ (HECKMANN 2004, 68 f.).
Umsetzung von Inklusion erfordert angesichts dieser Forschungsergebnisse und praktischer Erfahrungen eine Sozialraumorientierung, die den sozialen Raum gestaltet und Netzwerke knüpft und verdichtet (vgl. SEIFERT 2008, 3).
Reduzierte soziale Netzwerke sind in erheblichem Maße durch Barrieren bedingt, die die Mobilität und Kommunikation von Menschen mit Behinderung einschränken. Eine Grundvoraussetzung für Inklusion ist deshalb auch der von der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung geforderte Abbau von Barrieren räumlicher, technologischer und medialer Art.
These 4
Der Begriff „Sozialer Raum“ muss klar definiert werden, um fruchtbringend für die Praxis zu sein.
Der Begriff „Sozialraumorientierung“ ist derzeit in Mode. Damit ist die Gefahr verbunden, dass Sozialraumorientierung zum Schlagwort verkommt, inhaltsleer und ohne große und nachhaltige Wirkung bleibt (gl. FRANZ 2008, 23).
Auch nach zehn Jahren sozialraumorientierter Arbeit herrscht in der Fachwelt noch kein Einvernehmen darüber, was Sozialraumorientierung ist (FRÜCHTEL/CYPRIAN/BUDDE 2010, 11).
Dies wird verständlich, wenn man sich vor Augen hält, welche breiten theoretischen Konzepte und Prinzipien unter „Sozialraumorientierung“ zusammengefasst werden:
- Das Konzept der Lebensweltorientierung
Es begreift Betroffene immer als erfahren und prinzipiell kompetent in ihrem Alltag. „Ziel der Lebensweltorientierung ist der gelingendere Alltag, durch Emanzipation aus bislang praktizierter Routine oder durch höhere Verfügbarkeit bislang strukturell vorenthaltener Ressourcen.“ (vgl. a. a. O., 22).
- das Arbeitsprinzip der Gemeinwesenarbeit
Es versteht Menschen nicht als einzelne Bedarfsträger, sondern favorisiert grundsätzlich eine Mensch-in-Umwelt-Perspektive
- das Konzept der Organisationsentwicklung
Das Wesen der Organisation besteht nicht nur in einer normierten Qualität, sondern ist auch eine Anpassungsleistung an sich permanent verändernde Umwelten und Innenwelten der Organisation
das Konzept des Sozialen Kapitals
Dieses Konzept stellt die lange vernachlässigte Dimension der ressourcenschweren sozialen Wechselbeziehungen in den Mittelpunkt
- Empowerment
Dieses Konzept bestärkt Menschen darin, ihre eigenen Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Ein bekannter Vertreter des Empowerment-Ansatzes aus dem Bereich der Sozialarbeit ist Herriger (vgl. a. a. O., 22f.)
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- Quote paper
- apl. Professor Dr. Christel Rittmeyer (Author), 2010, Chancen und Risiken heilpädagogischen Handelns im sozialen Raum, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/154150
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