Das Thema meiner Diplomarbeit ergab sich während meines Praktikums im Sozialpsychiatrischen Dienst der Stadt Stuttgart.
Zum einen fiel mir auf, dass Familien oft nicht im Blickfeld der Mitarbeiter standen. Natürlich ist der psychisch erkrankte Mensch der primäre Adressat der Arbeit in einem Sozialpsychiatrischen Dienst. Aber auch das System, das ihn umgibt, bietet viele Ressourcen. Einige der betreuten Klienten leben in familiären Strukturen, die manchmal die Situation entlasteten, manchmal jedoch zusätzlich belasteten. Dieses Zusammenspiel von Be- und Entlastung empfand ich als eine sehr spannende Interaktion.
In der Angehörigenarbeit ging es eher darum, Familienmitglieder zu entlasten und zu unterstützen, indem sie sich über die Symptome und die Ängste, die sie durch die Verhaltensweisen des Angehörigen hatten, aussprechen konnten und man gemeinsam überlegte, wie es ihnen besser ginge. Darüber hinaus gab es leider, hauptsächlich aus personellen Gründen, keine Angebote, die die ganze Familie miteinbezogen und sie als Ressource nutzen.
Wollten Mitarbeiter alle Familienmitglieder in die Betreuung miteinbeziehen, um die Gesamtsituation zu stützen, war oft nicht klar, welche Möglichkeiten es, außer Einzelgesprächen, gibt. Das Thema meiner Arbeit ist aus diesem Grund die Frage, wie ambulante Dienste das gesamte Familiensystem unterstützen und als Ressource nutzen können.
Dabei berücksichtige ich zwei Ebenen. Im ersten Schritt werde ich zeigen, welche Auswirkungen die psychische Erkrankung auf die Familie hat. Ich entschied mich dabei speziell auf die schizophrene und die manisch-depressive Symptombildung einzugehen.
Im zweiten Teil werde ich darauf aufbauend eine Auswahl an professionellen Unterstützungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Vorgehen bei der Arbeit
Diese Arbeit basiert überwiegend auf Literaturforschung. Die Theorie werde ich durch eigene Erfahrungen im Praxissemester und Diskussion bzw. Beratung mit Mitarbeitern des Sozialpsychiatrischen Dienstes ergänzen. Zusätzlich möchte ich noch Betroffene zu Wort kommen lassen, mit denen ich via Internet im Rahmen meines Diplomarbeitsthemas Kontakt hatte und die sich bereit erklärten, einen Fragebogen auszufüllen. Ich werde die vollständigen Interviews, die ich für aussagekräftig halte, als Anhang an die Arbeit anfügen.
Ich hoffe, dass diese Arbeit eine Anregung gibt, sich intensiver mit dem Thema der ganzen Familie zu beschäftigen.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Einführung
1. Begriffsdefinitionen
2. Grundaussagen des systemischen Theorieansatzes
3. Krankheit und das System
4. Familie als System
5. Kurzer historischer Überblick über die Systemtheorie
6. Pro-Contra einer Diagnose
III. Familie und psychische Erkrankungen
1. Familien mit schizophren erkranktem Elternteil
1.1 Der schizophren erkrankte Elternteil
1.1.1 Charakterisierung der Symptome
1.1.2 Erklärungsansätze
1.1.3 Folgen für die Beziehung des Betroffenen zur Familie
1.2 Auswirkungen auf die Familie
1.2.1 Emotionale Folgen
1.2.2 Gesundheitliche Folgen
1.2.3 Sozio-Ökonomische Folgen
1.2.4 Alltagspraktische Folgen
1.2.5 Partnerschaftliche Folgen
1.2.6 Bedeutung für die Kinder
2. Familien mit endogen depressiv erkranktem Elternteil
2.1 Der depressiv erkrankte Elternteil
2.1.1 Charakterisierung der Symptome
2.1.2 Erklärungsansätze
2.1.3 Folgen für die Beziehung des Betroffenen zur Familie
2.2 Auswirkungen auf die Familie
2.2.1 Emotionale Folgen
2.2.2 Alltagspraktische Folgen
2.2.3 Partnerschaftliche Folgen
2.2.4 Bedeutung für die Kinder
3. Zusammenfassende Bewertung
IV. Unterstützungsmöglichkeiten
1. Ressourcen innerhalb der Familie anhand eines Fallbeispieles
1. Die Familie
2. Der Betroffene
3. Der Partner
4. Das Kind
2. Professionelle Unterstützung
2.1 Einzelangebote
2.2 Gruppenangebote
2.3 Vernetzung
2.3.1 Vernetzung mit dem sozialen Netz der Familie
2.3.2 Vernetzung auf professioneller Ebene
2.3.3 Öffentlichkeitsarbeit
3. Weiterführende Ideen
V. Literaturverzeichnis
VI. Abbildungsverzeichnis
VII. Erklärung
VIII. Anhang
I. Einleitung
Die Entscheidung für das Thema meiner Diplomarbeit ergab sich während meines Praktikums im Sozialpsychiatrischen Dienst der Stadt Stuttgart.
Zum einen fiel mir auf, dass Familien oft nicht im Blickfeld der Mitarbeiter standen. Natürlich ist der psychisch erkrankte Mensch der primäre Adressat der Arbeit in einem Sozialpsychiatrischen Dienst. Aber auch das System, das ihn umgibt, bietet viele Ressourcen. Einige der betreuten Klienten leben in familiären Strukturen, die manchmal die Situation ent lasteten, manchmal jedoch zusätzlich be lasteten. Dieses Zusammenspiel von Be- und Entlastung empfand ich als eine sehr spannende Interaktion.
In der Angehörigenarbeit ging es eher darum, Familienmitglieder zu entlasten und zu unterstützen, indem sie sich über die Symptome und die Ängste, die sie durch die Verhaltensweisen des Angehörigen hatten, aussprechen konnten und man gemeinsam überlegte, wie es ihnen besser ginge. Darüber hinaus gab es leider, hauptsächlich aus personellen Gründen, keine Angebote, die die ganze Familie miteinbezogen und sie als Ressource nutzen.
Zum anderen konnte ich an einem Arbeitskreis zum Thema „Kinder von psychisch Kranken“ teilnehmen, den die Psychologin des Dienstes mit initiierte. Sie ist in diesem Bereich sehr engagiert, um das Augenmerk auf diese bisher vernachlässigte Zielgruppe zu richten. Dies inspirierte mich ebenfalls, mich mit der Gesamtsituation von Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil zu beschäftigen.
Fragestellung
Wollten Mitarbeiter alle Familienmitglieder in die Betreuung miteinbeziehen, um die Gesamtsituation zu stützen, war oft nicht klar, welche Möglichkeiten es, außer Einzelgesprächen, gibt. Das Thema meiner Arbeit ist aus diesem Grund die Frage, wie ambulante Dienste das gesamte Familiensystem unterstützen und als Ressource nutzen können.
Dabei berücksichtige ich zwei Ebenen. Im ersten Schritt werde ich zeigen, welche Auswirkungen die psychische Erkrankung auf die Familie hat. Ich entschied mich dabei speziell auf die schizophrene und die manisch-depressive Symptombildung einzugehen.
Im zweiten Teil werde ich darauf aufbauend eine Auswahl an professionellen Unterstützungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Diese Diplomarbeit richtet sich vorrangig an Sozialarbeiter, Sozialpädagogen und andere Fachkräfte, die ambulant mit psychisch erkrankten Menschen zusammen arbeiten.
Ebenso können interessierte Menschen, die selbst von der Problematik betroffen sind, die Arbeit nutzen, um sich einen Überblick über die Situation und über mögliche Hilfsangebote zu verschaffen.
Im Augenblick gibt es zwar viel Forschung und Literatur zum Thema „Kinder von psychisch Kranken“ und desgleichen über andere Angehörige von psychisch Kranken, hier aber vorrangig über Eltern von Kindern mit psychischen Symptomen. Dies mag daran liegen, dass zum Beispiel Kinder durch engagierte Personen immer mehr in den Blick der Öffentlichkeit kommen und auch Eltern durch aktives Handeln ihre Belastung äußern. Partner hingegen scheinen weniger in der Öffentlichkeit präsent zu sein.
Unter anderem aus diesem Grund gehen nur wenige Forschungen auf die spezielle Gesamtsituation von Familien mit psychisch erkranktem Elternteil ein. Dies tut am ehesten der systemische Theorieansatz, der die Familie als Ganzes im Blickwinkel hat. Infolgedessen habe ich mich entschieden, diesen Ansatz als Grundlage für meine Arbeit zu verwenden. Jedoch musste ich trotzdem Begriffe wie „der Erkrankte“ oder „der Betroffene“ verwenden, die trotz ihrer Defizitorientierung nicht damit in Einklang zu bringen sind. Auch denke ich, dass der Ansatz Grenzen hat. Ich möchte dies später am Beispiel der Diagnose verdeutlichen.
Aufbau der Arbeit
Zu Beginn der Arbeit werde ich neben den Erklärungen der Begriffe die Grundaussagen des systemischen Theorieansatzes erklären. Ich möchte dann diese Aussagen auf das Familiensystem übertragen. Zur Ergänzung werde ich einen kurzen Überblick über die historische Entwicklung des Theorieansatzes geben.
Ich werde in der Einführung im weiteren kurz auf die Problematik eingehen, ob man mit Diagnosen arbeiten sollte oder nicht.
Unter dem Punkt „Familie und psychische Erkrankungen“ werde ich zuerst auf die schizophrene Symptombildung erläutern. Hier werde ich die Probleme des Betroffenen benennen, um dann auf die Auswirkungen auf die Familie einzugehen.
Danach werde ich die depressive Symptombildung auf die gleiche Weise erläutern.
Die Unterstützungsmöglichkeiten von ambulanten Diensten werde ich im Folgenden benennen. Dabei beginne ich mit den Ressourcen innerhalb der Familie. Anhand eines Beispieles aus meinem Praktikum werde ich so die protektiven Faktoren der einzelnen Familienmitglieder ausführen.
Die professionellen Angebote, auf die ich danach eingehen werde, sollen die Ressourcen in den genannten Bereichen nutzen und etwaige Defizite ausgleichen.
Zum Ende möchte ich noch eine weiterführende Idee vorstellen, wie man die Familien besser im Blick haben könnte.
Vorgehen bei der Arbeit
Aus Gründen des Umfangs und der Vereinfachung habe ich mich entschlossen, stets den männlichen Terminus zu verwenden, wenngleich ich mich damit immer auf beide Geschlechter beziehe.
Des weiteren möchte ich in der Berufsbezeichnung nicht zwischen Sozialarbeiter und Sozialpädagoge unterscheiden. Da dies in der Praxis ebenso gehandhabt wird, werde ich deswegen den Begriff „Sozialarbeiter“ synonym für beide Berufsbezeichnungen verwenden.
Diese Arbeit basiert überwiegend auf Literaturforschung. Die Theorie werde ich durch eigene Erfahrungen im Praxissemester und Diskussion bzw. Beratung mit Mitarbeitern des Sozialpsychiatrischen Dienstes ergänzen. Zusätzlich möchte ich noch Betroffene zu Wort kommen lassen, mit denen ich via Internet im Rahmen meines Diplomarbeitsthemas Kontakt hatte und die sich bereit erklärten, einen Fragebogen auszufüllen. Ich werde die vollständigen Interviews, die ich für aussagekräftig halte, als Anhang an die Arbeit anfügen.
Viele Untersuchungen differenzieren nicht, in welchen Verwandtschaftsverhältnis der Angehörige zum Symptomträger steht. Ich denke, man kann viele der Probleme auf diese Weise behandeln, da etwa Partner von Erkrankten ähnliche Belastungen haben, wie Eltern. Lediglich im Bereich der Schuldgefühle gibt es Unterschiede. Ich beziehe mich daher immer auf den Partner, wenn ich von Angehörigen rede.
Mir ist natürlich klar, dass der Sozialpsychiatrische Dienst vorrangig ein Dienst für psychisch kranke Menschen ist und zu viele Angebote die personellen und finanziellen Kapazitäten erschöpfen würden. Trotzdem hoffe ich, dass diese Arbeit eine Anregung gibt, sich intensiver mit dem Thema der ganzen Familie zu beschäftigen.
II. Einführung
1. Begriffsdefinitionen
Zu Beginn möchte ich drei zentrale Begriffe definieren, um eine einheitliche Betrachtungsweise für diese Arbeit zu garantieren.
Wenn ich von Familie rede, meine ich ein normiertes System, das aus einem Elternpaar und mindestens einem Kind besteht. Dabei berücksichtige ich nicht, ob beide Erwachsene biologische Eltern des Kindes sind. Dagegen ist der Faktor, dass alle Mitglieder zusammen wohnen von Bedeutung.
Ein Partner ist demnach der Erwachsene, mit dem der Symptomträger in Gemeinschaft zusammenlebt. Ob das Paar verheiratet oder unverheiratet gemeinsam wohnt, ist dabei unerheblich.
Unter Kind verstehe ich nur Personen im Alter von 0-18 Jahren. In diesem leben Kinder in der Regel bei ihrer Ursprungsfamilie und sind noch direkt von Symptomen betroffen.
2. Grundaussagen des systemischen Theorieansatzes
Da die Grundlage dieser Arbeit der systemtheoretische Ansatz ist, möchte ich kurz die Aussagen der Theorie zusammenfassen.
Die Systemtheorie untersucht Zusammenhänge und versucht sie zu ergründen. Sie beschreibt, wie sich Systeme strukturell und prozessual organisieren und wie sie mit ihrer Umwelt interagieren.
Der Hintergrund der Theorie ist die Feststellung, dass Systeme, die vielschichtig und mehrteilig sind, nicht nur einen einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang haben, sondern auf einer komplexeren Ebene reagieren.
Die systemische Theorie beschreibt also nicht nur das Individuum, sondern auch die Umwelt, die es umgibt. Diese Umwelt beinhaltet alle Personen, die mit dem Individuum in Kontakt stehen. Dies können zum Beispiel Institutionen sein, die auf seine Wirklichkeit Einfluss haben, aber auch die sozioökonomischen Faktoren seines Lebens. Generell kann man sagen, dass alles, was in irgendeiner Form das Leben des Individuums beeinflusst, Teil seiner Umwelt ist, also auch Normen, Werte und Gesetze.
Diese unterschiedlichen Aspekte der Umwelt stehen untereinander und mit dem Individuum in ständiger Interaktion. Die komplexe Wechselwirkung zwischen Umwelt und Individuum ist deswegen in ständiger Bewegung, sie kann nicht starr werden. Das Ziel dieser Bewegung ist, ein inneres Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Diese Absicht kennzeichnet jedes System und wird von der Systemtheorie als Homöostase bezeichnet.
Um die Balance garantieren zu können, entwickelt das System feste Interaktionsmuster und –regeln. Jedes System organisiert sich selbst, um, unabhängig von internen oder externen Störungen und Veränderungen, dieses Gleichgewicht erhalten zu können. Verändert sich ein Aspekt innerhalb des Systems oder seiner Umwelt, so hat dies Auswirkungen auf die anderen Systemaspekte. Diese werden immer versuchen, das Gleichgewicht durch bestimmte Verhaltensweisen wieder herzustellen. Die beschriebene Selbstorganisation nennt der systemische Ansatz Autopoiese.
3. Krankheit und das System
Geht man vom systemtheoretischen Verständnis aus, wird Krankheit als eine spezifische Form der Interaktion zwischen einem Individuum und seiner Umwelt betrachtet. Diese Interaktion hat eine Abweichung von den durch kulturelle und soziale Kontexte geprägten Erwartungen an das Verhalten eines Individuums zur Folge. Das abweichende Verhalten bezeichnet man als „Symptom“.
Der bisher kranke Mensch wäre also dann geheilt, wenn seine Interaktion zu der Umwelt nicht mehr mit Symptomen verbunden wäre. Dies könnte dann der Fall sein, wenn die Beziehung zwischen seiner Psyche und den ihn umgebenen Faktoren und Individuen verändert wäre.
Die Soziale Arbeit müsste zur Reintegration eines psychisch kranken Menschen eben an dieser Beziehung ansetzen. Jedoch können psychische Prozesse innerhalb des Menschen nicht von außen beeinflusst werden. Die Konsequenz dieser Aussage ist, dass nur über die Veränderung der Umwelt auf die psychische Situation einzugehen ist[1]. Man kann also über die Arbeit mit der Familie Einfluss nehmen oder durch eine Medikation die „biologische Umwelt“ verändern.
Die psychischen Symptome können auch als eine Bewältigungsmöglichkeit interpretiert werden. Mit ihnen möchte das betroffene Individuum aussagen, dass seine individuellen Ressourcen die vorhandenen Belastungen nicht mehr adäquat ausgleichen können. Die Symptome sind also als ein Problemlösungsversuch für eine offene oder verdeckte Belastung des Individuums zu interpretieren.
Sozialarbeiter sollten in der Arbeit mit psychisch kranken Menschen in meinen Augen deswegen nicht nur die Diagnose des Individuums sehen, sondern auch fragen, welche subjektive Bedeutung die Symptome für den Betroffenen und seine Umgebung erfüllen.
4. Familie als System
Wie bereits erwähnt ist das System der Familie ein in sich geschlossenes System. Es organisiert sich selbst um sein inneres Gleichgewicht zu erhalten. Dazu entwickelt es offene und verdeckte Regeln und Normen. Zusätzlich steht das System in Interaktion mit seiner Umwelt und muss sich neuen Kontexten und Lebensphasen stellen. Eine solche Situation kann die psychische Erkrankung eines Elternteils sein.
Die Familie differenziert sich nach innen in Untergruppen, sogenannte Subsysteme. Das kann zum Beispiel das Geschwister-Subsystem oder das Subsystem aller weiblichen Familienmitglieder sein. Subsysteme sind eine große Ressource für das Individuum, da hier etwa Hierarchien nicht so stark ausgeprägt sind. Zur Umwelt, mit der das Familiensystem in ständiger Interaktion steht, schafft es Grenzen.
Goldbrunner[2] vergleicht das System der Familie mit einem Mobile. So könnte man den Punkt, an dem das Mobile festgemacht wird, als das interpretieren, das die Familie zusammenhält. Dies könnte ein Familienmotto, aber auch ein religiöser Glaube sein.
Die Figuren des Mobiles sind miteinander verbunden, sie „hängen zusammen“. Verändert sich eine Figur, so hat dies Auswirkungen auf die Position aller anderen. Trotzdem besitzt das Mobile eine Art inneres Gleichgewicht. Wie die Familie reguliert es alle Veränderungen von selbst, bis sich wieder eine Balance eingestellt hat.
Die psychische Erkrankung eines Elternteils könnte innerhalb dieses Bildes Auswirkung auf eine Figur haben. Diese wird zum Beispiel durch auffällige Symptome belastet oder hat durch einen emotionalen Rückzug aus der Familie ein geringeres Gewicht. Nun passiert folgendes: Die Figur bewegt sich durch das neue Gewicht aus der vorherigen Position. Dadurch stört sie das Gleichgewicht, wodurch auch die anderen Figuren ihre Lage verändern müssen. Sie bewegen sich jedoch nicht gleich, die Bewegung wird durch die unterschiedliche Aufhängung zueinander verändert. Damit ist das ursprüngliche System-Ziel, die Balance, gestört, weswegen sich die anderen Figuren bemühen werden, es wieder zu erreichen. Sie müssen ihre familiäre Organisation ändern[3] und sie den individuellen Erfordernissen der Mitglieder anpassen, ohne die Forderungen der Umwelt dabei aus den Augen zu verlieren.
Wichtig ist auch die Umwelt, die die Familie umgibt. „Es muss [...] berücksichtigt werden, dass Familien nicht im gesellschaftsfreien Raum agieren, d.h. gesellschaftliche Werte, Normen und strukturelle Aspekte, wie ökonomische und soziale Ressourcen bestimmen nachhaltig das Zusammenleben von Familien.“[4]
Dies ist für die Soziale Arbeit von großer Bedeutung, da sich an diesem Punkt viele Einflussmöglichkeiten auf die subjektive Lebenssituation des Individuums ergeben.
5. Kurzer historischer Überblick über die Systemtheorie
Um das Verständnis über den systemtheoretischen Ansatz zu vervollständigen, möchte ich kurz erläutern, wo er seine Wurzeln hat.
Die Entwicklung dessen, was man heute mit der Systemtheorie in Verbindung bringt, hat seinen Ursprung bei dem österreichischen Biologen Ludwig von Bertalanffy. Er formulierte bereits Ende der Zwanziger Jahre die ersten Ansätze systemischen Denkens und entwickelte sie bis in die 1940er Jahre zu einer sogenannten Allgemeinen Systemtheorie weiter. Diese verstand sich als Rahmentheorie, die verschiedene Wissensgebiete in sich vereint und in diese unterschiedlichen Gebiete zu integrieren ist.
Aus diesem Grund existieren heute dementsprechend mehrere Wurzeln systemischen Denkens, die aus unterschiedlichen Fachbereichen, zum Beispiel der Soziologie aber auch den Sozialwissenschaften, stammen.
Die Grundaussage der Fünfziger Jahre, die Homöostase (s.o.), entsprach auch der Familientherapie der Sechziger und Siebziger Jahre. Zu nennen sind vor allem Minuchin, der strukturelle Ansätze weiterführte, und Haley bzw. Selvini Palazzoli, die strategische Anstöße lieferten. Diese Phase, von etwa 1950 bis 1980, sieht man heute als die Zeit der „Kybernetik 1. Ordnung“. Es ging um Aussagen über ein zu erforschendes System. Als „Kybernetik“ bezeichnet man ursprünglich die Wissenschaft, mit denen sich Steuer- und Regelungsmechanismen komplexer Systeme beschreiben lassen, also die interne Logik und das Muster eines Systems.
Parallel dazu machte der Fachbereich Chemie die Entdeckung, dass Systeme sich „unter bestimmten Randbedingungen durchaus aus sich heraus “[5] verändern können. Auch die physikalischen Theorien der Synergetik und die Chaostheorie kommt zu dieser Aussage. Diese Beobachtungen führten zur Überlegung über die Autopoiese von Systemen (s.o.).
Die Betrachtung von Systemen wurde jetzt mehr von der Erkenntnis bestimmt, dass sie eine interne, eigene Logik inne haben. Die Konsequenz daraus ist, dass die Interventionsmöglichkeiten der externen Umwelt stark eingeschränkt waren.
Die Aussage, dass die Wirklichkeit nie objektiv sein kann, sondern immer von der Einheit des Betrachters und dem Betrachteten bestimmt wird, ähnelt ebenso einem Modell aus der Fachrichtung der Philosophie, dem radikalen Konstruktivismus.
Die Zeitspanne ab dem Jahr 1980 wird als „Kybernetik 2. Ordnung“ bezeichnet. Nun wurden Theorien über „Beobachter, die ein System beobachten“[6] entwickelt. Die Möglichkeit, auf ein System von außen Einfluss zu nehmen, wurde jetzt folgendermaßen gesehen: Jeder Therapeut oder Sozialarbeiter, der durch eine Kontaktaufnahme in ein System kommt, bringt das Gleichgewicht des „Mobiles“ durcheinander. Allein seine Anwesenheit kann das System in Bewegung bringen. Aus diesem Grund ist etwa gleichfalls Angehörigenarbeit Arbeit mit dem ganzen System.
Es ist also deutlich, dass der systemtheoretische Ansatz aus vielen verschiedenen Fachrichtungen entspringt.
6. Pro-Contra einer Diagnose
Einige systemische Theoretiker lehnen die Begriffe „Schizophrenie“ und „manisch-depressive Psychose“ ab, da sie diese psychopathologischen Krankheitsbegriffe für zu stigmatisierend und defizitorientiert halten. Bekommt ein symptomatisches Verhalten, das von kulturellen und sozialen Normen abweicht, einen Begriff, so besteht die Gefahr einer Etikettierung. Das Individuum kann von der Gesellschaft als abweichend bezeichnet und stigmatisiert werden. Es wird nicht mehr als Individuum, sondern nur noch als Symptom wahrgenommen.
Diese Gefahr einer Diagnose sehe ich, trotzdem denke ich, dass es wichtig ist, bestimmte gezeigte Symptome unter einen Klassifizierungsbegriff zusammenzufassen. Nur so kann im Interesse von Klienten eine einheitliche Arbeitsweise gefunden werden. Ebenfalls sind Behandlungen leichter, weil man systematischer vorgehen kann. Nicht zu vergessen ist, dass zum Beispiel Krankenkassen eine Therapie nur mit einer Diagnose finanzieren.
Wie defizitorientiert gearbeitet wird, liegt meiner Meinung nach an Sozialarbeitern und Therapeuten selbst und nicht an einer Krankheitsdefinition. Wichtig ist, dass sich Berufsgruppen, die mit psychisch kranken Menschen arbeiten, bewusst sind, dass keines der genannten Krankheitsbilder heterogen ist.
Die Öffentlichkeitsarbeit sollte ebenfalls die Entstigmatisierung von Krankheitssymptomen zum Ziel haben. Die Einordnung von Symptomen unter eine Diagnose schafft die Möglichkeit, die Gesellschaft auf einer breiten Ebene zu informieren. So werden Vorurteile abgebaut und psychisch kranke Menschen von persönlicher Schuld für ihr Verhalten freigesprochen.
Eine genaue Definition kann dem Symptomträger das Gefühl nehmen, mit seiner Realität alleine zu sein. Er findet einen Begriff für sein zum Teil leidvolles Erleben. Das eigene Verhalten kann große Unsicherheit und Angst auslösen, da viele Betroffene es durchaus merken, dass sie „anders“ sind. Ich möchte an dieser Stelle aus einem Interview zitieren, dass ich mit einer Frau, Sabine (vg. Anhang), führte. Sabine leidet schon seid mehreren Jahren unter Depressionen, bekam jedoch erst vor 1 ½ Jahren diese Diagnose (siehe Anhang).
„Für mich war es lediglich erleichternd [Anmerkung: als ich die Diagnose bekam] , weil ich nun eine Erklärung dafür hatte, warum ich so war.“
Die Einsicht, dass es überhaupt eine Krankheit ist, kann eine große Erleichterung sein, da Schuldgefühle für das eigene Verhalten wegfallen können. Ohne diese Schuldzuweisung kann die Interaktion als gleichberechtigt interpretiert werden, also auch die Anteile der Partner am ganzen Geschehen an Bedeutung gewinnen, was wiederum deren Gefühl der Hilflosigkeit wegnehmen kann. Natürlich verschiebt sich so die Schuldzuweisung lediglich, aber die Entlastung für den Betroffenen ist für die Beziehung wesentlich.
Der Symptomträger und seine Umwelt kann sich so relativ leicht informieren. Unerlässlich ist die Diagnose auch, wenn eine Medikation notwendig wird.
Ich möchte an dieser Stelle nochmals Sabine (vgl. Anhang) zu Wort kommen lassen:
„Das war die eigentlich schwere Zeit, [Anmerkung: vor der Diagnose], unter den Symptomen zu leiden und nicht wissen, was es ist, somit konnte auch nicht die nötige medikamentöse Einstellung und eine evtl. psychotherapeutische Maßnahme eingeleitet werden.“
Jedoch denke ich , dass je länger die Behandlung geht, die Diagnose immer unwichtiger und die individuelle Ausprägung des Betroffenen immer wichtiger wird.
III. Familie und psychische Erkrankungen
1. Familien mit schizophren erkranktem Elternteil
1.1 Der schizophren erkrankte Elternteil
Etwa 800.000 Menschen in der Bundesrepublik Deutschland entwickeln mindestens einmal in ihrem Leben schizophrene Symptome, erstmals meist zwischen dem 18. und dem 35. Lebensjahr[7]. Die Wahrscheinlichkeit, jemals an einer Schizophrenie zu erkranken beträgt ca. 12 %[8] .
Schizophrenes Erleben ist durch viele Faktoren gekennzeichnet. Ich möchte bei dieser Beschreibung jedoch nur auf die meiner Meinung nach wichtigsten Punkte des Empfindens eingehen. Unterteilungen wie z.B. die hebephrene oder die katatone Schizophrenie möchte ich ebenfalls vernachlässigen.
1.1.1 Charakterisierung der Symptome
Kennzeichnend für eine psychotische Episode, die sich typischerweise bei der Schizophrenie darstellt, ist die vermeintlich ausweglose Situation des Erkrankten. Die Beziehungen zu seinen Bezugspersonen werden als unklar empfunden, die Kommunikation mit ihnen wird immer schwerer. Angeblich klare Bedeutungszusammenhänge, zum Beispiel „mein Partner erkundigt sich nach meinem Befinden, weil er mich liebt“, verlieren ihre Aussagekraft[9]. Die Störung der Wahrnehmung kann so weit gehen, dass der Erkrankte seinen eigenen Sinneseindrücken nicht mehr traut, sich also zum Beispiel nicht mehr bewusst ist, welche wahrgenommenen Stimmen real sind. Es entsteht eine Differenzierung zwischen der inneren Realität des Erkrankten und der äußeren Realität seines Umfeldes. In diesem Konfliktfeld des verschiedenen Realitäten muss er sich nun bewegen.
Generell kann man sagen, dass psychotische Symptome Verhaltensweisen sind, die innerhalb des kulturellen und sozialen Kontextes als abweichend von der Norm verstanden werden.
Plus- und Minussymptome
Psychotische Symptome unterscheidet man in Plus- und Minussymptome.
Unter Plussymptomen versteht man etwas Zusätzliches zum vorhergehenden Zustand. Dies kann den Bereich der Emotionen (z.B. Ängste, Überlegenheitsgefühle), der Motorik (z.B. gesteigerter Antrieb) und den vegetativen Bereich (z.B. Schlaflosigkeit, Schweißausbrüche) betreffen. Am häufigsten treten Wahn, Halluzinationen und Denkstörungen auf.
Halluzinationen kommen häufig in Verbindung mit einer Wahnentwicklung vor. Diese können vom Symptomträger als sehr positiv empfunden werden, z.B. kann er schon beinah göttliche Überlegenheitsgefühle entwickeln und sich als Sprachrohr höherer Mächte verstehen. Sie können aber auch sehr beängstigend für ihn sein, wenn er sich etwa von finsteren Mächten verfolgt fühlt oder Stimmen ihn ständig kritisieren. Systemisch gesehen, kann man Plussymptome als Verhaltenweisen interpretieren, mit denen der Betroffene gegen Verbote, aber auch zum Beispiel gegen Moral- und Wertvorstellungen rebelliert. Er zeigt Handlungen, die nicht von seiner Umwelt erwartet werden[10] und distanziert sich dadurch.
Im Gegensatz dazu versteht man Minussymptome als etwas Fehlendes im veränderten Erleben. Hier verstößt der Betroffene gleichfalls gegen Gebote der Umwelt und schafft auf diese Weise Distanz. Er weigert sich das Verhalten, das von ihm erwartet wird, zu zeigen.
Oft vermindert sich der Antrieb bis zu einer Art Apathie, jede Handlung erfordert eine ungeheure Kraft des Erkrankten. Im emotionalen Bereich sind die Fähigkeiten ebenfalls eingeschränkt und Gefühle werden weniger intensiv wahrgenommen.
Beide Symptom-Gruppen sollten jedoch als voneinander unabhängige Prozesse betrachtet werden[11]. Sie treten individuell in unterschiedlicher Intensität auf. Es gibt zum Beispiel Erkrankte, bei denen eine Wahnidee im Vordergrund steht, während Minussymptome eher schwach ausgeprägt sind. Andererseits kann ein Erkrankter extrem zurückgezogen und apathisch sein und nicht über Halluzinationen berichten.
Dies deutet auf die Heterogenität der Erkrankung und ihrer Symptome hin. Pauschalaussagen sollten also nur sehr vorsichtig gemacht werden.
Plussymptome sind medikamentös relativ leicht zu beeinflussen[12]. Minussymptome sind gegenüber Psychopharmaka widerstandsfähiger. Es sollte deswegen zusätzlich durch psychosoziale Maßnahmen an ihnen gearbeitet werden.
Denkstörung
Ferner kann der Betroffene Denkstörungen entwickeln. Ich möchte die unterschiedlichen Denk- und Kommunikationsformen nach Simon[13] nennen, der sich nach Wynne und Singer richtet.
1. Amorphes Denken
Diese Denkweise besagt, dass es der Betroffene nicht mehr schafft, sich auf ein Thema zu konzentrieren, also einen Fokus zu finden. Auch die richtigen Worte fehlen ihm. Während meines Praktikums betreute ich einen Mann, der deutlich Schwierigkeiten hatte, seine Probleme, die er subjektiv wahrnahm, zu benennen. Er schien sich dadurch zu schützen, dass er immer sehr schnell die Themen wechselte und so eine Bearbeitung unmöglich machte. Ich würde ihm deswegen die amorphe Denkweise zuordnen.
2. Mischform
Diese Denkform ist dem amorphen Denken ähnlich, nur hat der Betroffene immer wieder klare Momente, in denen er zur Realität zurückfindet.
3. Fragmentiertes Denken
Der Betroffene kann seine Wahrnehmung und Aufmerksamkeit relativ klar fokussieren. Jedoch ist es ihm kaum möglich, bestimmte Ideen in sein Denkmuster mit ein zu beziehen, was zu einer Desorganisation der Denkstruktur führt.
4. Stabil eingeengtes Denken
Viele Teile der Wahrnehmung sind von dem Denken des Betroffenen abgespalten. Jedoch gelingt es ihm, diese Abspaltungen auszugleichen.
Jede Denkstörung ändert die logischen Zusammenhänge in der Kommunikation. Die Folge ist, dass die Ausdrucksweise des Betroffenen für seine Umgebung immer schwerer nachzuvollziehen wird. Soziale Kontakt sind so nur noch erschwert möglich.
Durch die gestörte Kontaktfähigkeit des Betroffenen ist ein Rückzug erdenklich und sogenannte „Ich-Störungen“ können vorkommen[14], d.h. die Differenz zwischen der eigenen inneren Welt und der äußeren, realen Welt verstärkt sich, da Wahrnehmungen, wie beschrieben, nicht mehr übereinstimmen.
Die Familie mit einem schizophren Erkrankten
Um die Rolle des schizophren Erkrankten in der Familie zu untersuchen, stellte Retzer[15] dieser sogenannte „Einigungsaufgaben“. Hier wurden alle Familienmitglieder zuerst getrennt zu bestimmten einfachen Aufgaben befragt. Diese Aufgaben hatten nicht direkt mit den Beziehungen der einzelnen Mitglieder zueinander zu tun. Zum Beispiel wurde gefragt:
„Angenommen, die Aussage: Wenn ich etwas versprochen habe, muss ich es einhalten. ist wahr, welche Schlussfolgerungen ergeben sich dann für Sie daraus?“
Im darauf folgenden Prozess musste die Familie gemeinsam eine Lösung aus den verschiedenen Individuallösungen für die ganze Familie finden. Retzers Hypothese war, dass die Familien, in denen schizophrene und depressive Symptome entwickelt wurden, sich im Grad der Organisation zu anderen Familien unterscheiden. Das Ausmaß der Organisation geht mit dem Ausmaß der Störung in der Familie einher. Die Flexibilität der wenig organisierten Familien würde demnach die Bildung von Symptomen verhindern.
Retzer kam für Familien, in denen schizophrene Symptome entwickelt wurden, zu folgenden Ergebnissen:
- Mit einer hohen Wahrscheinlichkeit wurde der Aufmerksamkeitsfokus von der Einigungsaufgabe weg verschoben. Besonders bei einem drohenden Konflikt wurde diese Verhaltensweise beobachtet.
- Der schizophrene Indexpatient, unabhängig davon, ob er ein Elternteil oder das Kind war, beteiligte sich im Unterschied zum Rest der Familie mit deutlich geringerer Wahrscheinlichkeit an der Aufrechterhaltung dieser Fokusverschiebung.
- In die Familienlösung gingen deutlich mehr individuelle Lösungen ein als in den anderen Familien mit Krankheitssymptomen. Dies könnte bedeuten, dass der Einigung vor der optimalen Lösung Vorrang gegeben wird. Diese Interpretation unterstützt die Beobachtung, dass fast alle Spontanübereinstimmungen als Familienlösung übernommen werden.
- Es zeigt sich jedoch weniger Übereinstimmung zwischen der individuellen Lösung des Indexpatienten und der anderer Familienmitglieder. Er scheint in der familiären Diskussion wenig präsent zu sein und sein Einfluss auf die familiären Entscheidungen ist geringer als z.B. bei manisch-depressiven Patienten.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Kommunikation in Familien mit schizophrener Symptomentwicklung eher durch Passivität in den aufeinanderbezogenen Handlungen gekennzeichnet ist. Simon[16] kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Die Angst, die eigene Selbstständigkeit aufgeben zu müssen, verhindert eine Einigung.
Die Familie ist ein konfliktloses soziales System, in dem Kommunikation nicht oder kaum stattfindet.
Diese letzte Aussage unterstützt desgleichen Wazlawik[17], der von einem Dilemma des Schizophrenen spricht. Dieser möchte mit seinem Verhalten zeigen, dass er nicht kommuniziert. Da jedoch jegliches menschliches Verhalten Kommunikation ist, steht er zusätzlich vor der Aufgabe, zu verneinen, dass seine Weigerung zu kommunizieren eine Form der Kommunikation ist. Umso schwerer ist es also, z.B. als Partner, dieses Vermeiden jeglicher Kommunikation zu verstehen. Missverständnisse sind die logische Konsequenz, da es dem Gesprächspartner überlassen ist, unter vielen möglichen Bedeutungen des Gesagten zu wählen. Diese sind nicht nur verschieden, sie können teilweise unvereinbar sein.
1.1.2 Erklärungsansätze
Schizophrene Episoden unterscheiden sich in ihrer Entwicklung voneinander, sie laufen nie linear ab. Strauss[18] unterscheidet zwischen drei Verlaufsmustern in der Schizophrenie, die besonders häufig auftreten.
1. Schneckenhaus
In diesem Muster scheint nach einer Verbesserung des Befindens (z.B. stärkere Aktivität, weniger Halluzinationen) dieser Prozess zu stagnieren. Es finden über einen längeren Zeitraum augenscheinlich keine weiteren Änderungen statt. Tatsächlich ist diese Phase des „Schneckenhauses“ von vielen kleinen Schritten geprägt, mit denen der Erkrankte sich wieder einem Leben in der Gesellschaft zuwendet. Strauss[19] vertritt die Hypothese, dass diese Ruhephase, in der die Negativsymptome betont ausgelebt werden, den Erkrankten vor dem erneuten Auftreten von Positivsymptomen schützen kann. Der Erkrankte hat so die Möglichkeit, sich seiner Bedürfniserfüllung in seinem eigenen Tempo autonom anzunähern.
2. Der tiefe Wendepunkt
Ein Verhaltensmuster wird auf ein bestimmtes Thema oder eine bestimmte Person in veränderter Art und Weise neu angewandt und dabei immer stärker fehlangepasst. Nach dieser Phase desorganisiert der Erkrankte sein Leben, entwickelt dabei scheinbar neue Krankheitsmerkmale und eröffnet sich durch diese Umstrukturierung eine neuen Bewältigungsmöglichkeit. Dies kann zum Beispiel eine immer stärkere Fixierung auf eine Wahnidee sein, die es möglich macht, ein Thema im Leben von einer neuen Seite her zu betrachten.
Diese Theorie interpretiert das scheinbar fehlangepasste Verhalten als einen Versuch, neue Formen der Bewältigung zu finden. Die Folgerung wäre, dass der Weg aus der zunehmend innerpsychischen Spannungssituation in der Schizophrenie nur über eine Desorganisation der Lebenssituation möglich wäre.
3. Oszillierende Funktionsniveaus
Dieses Verlaufsmuster wird durch ein ständiges Schwanken der Befindlichkeit des Symptomträgers charakterisiert. Auf eine Dekompensation folgt eine Besserung, darauf wieder eine erneute Dekompensation, etc.
Beide Seiten, die Dekompensation und die Verbesserung scheinen sich in diesem Muster nicht zu widersprechen, sondern miteinander vereinbar zu sein.
Die Ambivalenz in der Oszillation beschreibt Strauss aus psychologischer Sicht exemplarisch folgendermaßen : „Angst vor dem Erfolg solange es gut geht und `ich muss mich zusammenreißen´ wenn es schlecht geht“[20]. Der Erkrankte scheint den Mechanismus verloren zu haben, einen Zustand konsequent aufrechtzuerhalten, so dass das System durch andere Mechanismen reguliert und stabilisiert werden muss.
Zur Ergänzung möchte ich noch erwähnen, dass die Praxis zwischen folgenden Verlaufsformen von schizophrenen Episoden unterscheidet:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1 Verlaufstypen schizophrener Psychosen
Es fällt auf, dass die Mehrzahl der schizophrenen Episoden sich in drei Verlaufsformen verteilen. Circa 22 % aller Betroffenen durchleben lediglich eine einmalige schizophrene Symptomentwicklung, während 78 % mehrere Episoden erleben.
Zu 35 % sind Erkrankte frei von sozialen Beeinträchtigungen zwischen den Episoden, zum Beispiel können sie Freundschaften, eventuell sogar ihren Arbeitsplatz, erhalten. Die gleiche Anzahl von Menschen, die schizophrene Symptome entwickeln, zeigen dagegen Beeinträchtigungen auf der sozialen Ebene. Diese Minderung nimmt nach jeder Episode zu.
Das Vulnerabilität-Stress-Modell
Über die Bedingungen, die zur Entwicklung schizophrener Symptome führen, gibt es viele Theorien, z.B. eine Störung des Dopaminhaushaltes. Worauf sich mittlerweile alle Theorieansätze, ob rein analytische, medizinisch-biologische oder systemisch-theoretische, einigen können, ist ein Zusammenspiel zwischen biologischen und umweltbedingten, psychosozialen Bedingungen. Ich möchte deswegen andere Erklärungsansätze vernachlässigen und nur auf das Vulnerabilitäts-Stress-Modell eingehen:
Die Grundaussage dieses Modells ist, dass nicht die Krankheit „Schizophrenie“ selbst weitervererbt wird, sondern nur bestimmte Vulnerabilitätsmerkmale. Jeder Mensch ist mit einer gewissen Verletzlichkeit (lat. „vulnus“) ausgestattet, am besten vergleichbar mit dem menschlichen Immunsystem. Erst in extremen Belastungssituationen zeigt sich, ob ein Mensch gefährdet ist, schizophrene Symptome zu entwickeln, ähnlich wie sich die Stärke des individuellen Immunsystems erst dann zeigt, wenn es Krankheitserregern ausgesetzt wird.
Schizophrene Episoden werden also nur dann ausgelöst, wenn ungünstige Umweltbedingungen, sogenannte Stressoren, mit Vulnerabilitätsfaktoren in Interaktion treten. Diese Stressoren können etwa ein emotional belastetes Familienklima (siehe 1.2.1) , eine überfordernde soziale Umgebung[21] oder „Life Events“, wie die Adoleszenz-Phase, sein.
Einer oder mehrere der genannten Stressoren erzeugt Stress, mit dem auf Grund unzureichender Bewältigungsstrategien („Coping-Strategien“) nicht adäquat umgegangen werden kann. Dadurch wird die bisher latente Vulnerabilität verstärkt und kognitive Defizite intensiviert, es kann zur Bildung von Symptomen kommen. Das Schaubild verdeutlicht diesen Prozess.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2 Vulnerabilitätsmodell von Zubin und Spring
Ohne eigene Bewältigungsversuche oder eine Intervention von der äußeren Umwelt, z.B. durch einen Sozialarbeiter, setzt sich dieser Ablauf immer weiter fort, bis der letzte Lösungsversuch die Entwicklung schizophrener Symptome ist. Beeinflusst wird der Prozess durch protektive Faktoren des Symptomträgers und seiner sozialen Umgebung (siehe IV. 1.).
Exkurs: Das Expressed – Emotions – Konzept
Die Aussage des „Expressed – Emotions – Konzeptes“ (EE) ist, dass ein zu stark emotionalisiertes Familienklima ein spezieller Belastungsfaktor ist, der psychotische Rückfälle begünstigen kann[22]. Als negativ emotionalisiert zählen insbesondere die Eigenschaften „Überfürsorglichkeit“, „Feindseligkeit“ und „negative Kritikhäufigkeit“.
Wenn ein Patient mit seinem Partner und mehr als einem Kind zusammen lebt, ist seine Belastung am höchsten. Hier wurden die höchsten Rückfallraten gefunden. Sechs von sieben Partnern haben einen hohen EE – Wert[23].
Die Frage, ob das Verhalten Ursache oder Folge der Erkrankung ist, würde hier aber zu weit gehen.
Unterschiede zwischen High – EE – Angehörigen und Low – EE – Angehörigen:
Angehörige mit einem hohen EE – Wert reagieren auf die Erkrankung ihres Familienangehörigen mit Ärger, Verzweiflung oder beidem. Sie begegnen den Symptomen leicht depressiv[24] und haben ein größeres Ausmaß an belastenden Symptomen im somatischen Bereich, wie etwa Verdauungsstörungen oder Herzprobleme.
High – EE – Angehörige bauen durch ihr Verhalten eine negative Spannung als Schutzmechanismus auf[25] . Sie scheinen keinen anderen Weg zu finden, sich mit der Symptomentwicklung in der Familie auseinander zusetzen.
Im Gegensatz dazu reagieren Angehörige mit einem niedrigen EE – Wert kühl, kontrolliert und nicht überängstlich, wenn sie mit der Entwicklung von psychotischen Symptomen konfrontiert werden. Sie üben dadurch einen beruhigenden Einfluss auf den Erkrankten aus und wirken einer weiteren Anspannung der Situation entgegen. Auf diese Weise zeigen sie, dass sie akzeptieren, dass der Partner keine Schuld an der Erkrankung hat, sondern die Symptome im Augenblick für etwas notwendig sind.
Dadurch, dass Low – EE – Angehörige jede Art zudringlichen Verhaltens vermeiden, respektieren sie das Bedürfnis des Symptomträgers nach sozialer Distanz.
Ferner wird Toleranz gegenüber anderem Verhalten und sozialen Defiziten sowie einer positiven non – verbalen Kommunikation ein niedriger EE – Wert zugeordnet.
Dieser Umgang mit der Krankheit macht es Low – EE – Angehörigen leichter, sich aus destruktiven Kreisen zu lösen[26] . Sie unterstützen die Ausbildung weiterer Symptome weniger als es etwa High – EE – Angehörige tun und unterbrechen so das Muster.
Das Ziel in der Arbeit mit High – EE – Angehörigen kann also sein, die kritisierende Einstellung gegenüber dem Familienmitglied zu verändern. Dies könnte etwa durch eine klare Vermittlung der eigenen Gefühle und Gedanken in der Kommunikation geschehen. Die Erkenntnisse der EE-Forschung sind für mich deswegen im Hinblick auf Unterstützungsmöglichkeiten (IV. 2.) relevant.
1.1.3 Folgen für die Beziehung des Betroffenen zur Familie
Die Auswirkungen der schizophrenen Symptombildung erlebt der Betroffene auf vielen Ebenen.
Ich möchte hier nur Folgen ansprechen, die für die Beziehung zur Familie von Bedeutung sind. Andere Aspekte wie sozio-ökonomische Folgen, die durch Symptome entstehen und natürlich ebenfalls Auswirkungen auf den Betroffenen haben, möchte ich vernachlässigen bzw. bei den Auswirkungen auf die Familie erwähnen.
Das Zeiterleben
Das Zeiterleben schizophren Erkrankter erforschte Retzer[27] und stellte fest, dass diese Zeitorganisation durch eine extreme „Gleichzeitigkeit“ geprägt ist. Erlebnisse stellen sich nebeneinander dar, es ist dem Symptomträger nicht möglich, eine Verknüpfung zwischen ihnen herzustellen. Unterschiede und Ambivalenzen verwischen, da mehrere zeitliche Ebenen ineinander übergreifen[28]. Retzer sagt, dass so die Gegenwart und die Zeit generell verschwimmt. Es entsteht eine Art Ewigkeitsgefühl, das übermenschliche Überlegenheitsempfindungen und damit verbundene Wahnideen noch mehr betont.
Die Beziehungswirklichkeit
Bei dem schizophrenen Erleben spricht man von einer „weichen Beziehungswirklichkeit“[29]. Es existieren nur wenige Regeln und Festschreibungen, die Freiheit erscheint grenzenlos. Die Kehrseite dieser auf den ersten Blick durchaus positiv erscheinenden Medaille ist ein Mangel an Sicherheit. Es existieren nur wenig Orientierungsmöglichkeiten, an denen etwa die Familienmitglieder ihr Verhalten ausrichten könnten. Auch die Beziehungen der einzelnen Familienmitglieder zueinander sind unklar definiert. Dadurch wirkt das Verhalten der Menschen in der Umgebung und die Beziehung zu ihnen unberechenbar.
Die Bildung von schizophrenen Symptomen kann in diesem Kontext ein Versuch sein, durch „verrücktes Verhalten“ eine Stabilisierung zu erzwingen. Simon spricht von einem „Versuch, die Kontrolle über Beziehungen auszuüben, deren Element man ist“.[30]
1.2 Auswirkungen auf die Familie
Von einem schizophrenen Symptom ist nicht nur der Symptomträger selbst betroffen. Sieht man die Familie als System (siehe II.), so wird klar, dass alle Familienmitglieder einerseits die Folgen spüren und andererseits die Symptome beeinflussen.
Die Auswirkungen der psychischen Erkrankung unterteilte Schulte-Wintrop für Angehörige von Patienten mit einer endogenen Psychose[31] in vier Problemebenen:
1) Konflikte im Zusammenhang mit der Krankheitsentwicklung:
Durch die Entwicklung von schizophrenen Symptomen wird das Alltagsleben einer Familie immer beeinflusst. Da diese Auswirkung für die Familie gravierend ist, möchte ich sie unter 1.2.4 genauer betrachten.
2) Probleme im Rahmen der Bemühungen um Hilfe
Insbesondere organisatorische Probleme ordnet Schulte-Wintrop unter diesen Punkt ein. Die Versorgungslandschaft im psychosozialen Bereich kann für einen mit dieser Thematik unerfahrenen Partner sehr unübersichtlich sein. Oft ist unklar, welcher Experte zuständig ist. Vor allem in ländlichen Gebieten kommt es zusätzlich zu einem längeren Anfahrtsweg.
Ferner kann das erkrankte Familienmitglied auf Grund seiner wechselnden oder fehlenden Krankheitseinsicht die Organisation einer Hilfeleistung erschweren.
Auch ist es leider immer noch oft der Fall, dass sich professionelle Helfer auf das Datenschutzgesetz bzw. die berufliche Schweigepflicht berufen und Gespräche mit den Angehörigen verweigern[32].
3) Belastungen für den Zeitraum der stationären Einweisung und Behandlung
Der Zeitraum einer Einweisung ist für den Partner und das Kind oft sehr belastend. Auf die Schuldgefühle, die bei diesem Prozess entstehen können, komme ich unter 1.2.1 noch zurück.
Die Tatsache, dass sich ein Familienmitglied in einer stationären Behandlung befindet, kann für die Familie gleichfalls mit einem Gefühl von Scham oder Schande verknüpft sein. Das System der Familie wird um die Institution „Psychiatrie“ erweitert, womit sich Familien auseinandersetzen müssen. Diesem Gefühl folgt eine zunehmende Isolierung von der Außenwelt. Den Nachbarn werden zum Beispiel Lügen über den Aufenthalt des Partners erzählt, Verwandte werden nur teilweise mit ins Vertrauen gezogen.
4) Probleme im Anschluss an eine stationäre Behandlung
Leider ist es nach wie vor häufig der Fall, dass die Angehörigen sehr wenig mit in die Behandlung eingebunden werden. Konkret kann dies heißen, dass sie über den Zeitpunkt der Entlassung ihres Familienmitgliedes erst sehr spät informiert werden. So ist ein Übergang von der stationären in eine ambulante Betreuung weder für den Symptomträger noch für seinen Partner oder ein Kind einfach zu meistern. Über den Umgang mit dem erkranktem Familienmitglied herrscht in der Familie eine große Unsicherheit. Sie benötigt dann zum Beispiel Informationen, wie man am besten mit möglicherweise weiterhin bestehenden Minussymptomen (siehe 1.1.1) umgeht und muss sich mit ihren Gefühlen und Einstellungen hinsichtlich Toleranz und Scham auseinandersetzen.
Weitere geplante Behandlungsmaßnahmen werden oft nicht mitgeteilt, so dass die Familie alleine vor der Frage steht, wie es jetzt weiter gehen soll.
In meinen Augen vernachlässigt Schulte-Wintrop in dieser Aufzählung noch die Probleme nach einer erneuten Dekompensation. Konnten die Angehörigen bisher noch die Augen vor der Bedeutung der Erkrankung verschließen, müssen sie nun erkennen, dass sie die gezeigten schizophrenen Symptome des Familienmitgliedes phasenweise durch eine lange Zeit in ihrem Leben begleiten können. Ferner verstärken sich Schuldgefühle. Die Begründung, man habe nichts über die Krankheit gewusst, wiegt in den eigenen Augen nach einer erneuten Symptomentwicklung wesentlich weniger für die Verminderung der eigenen Schuldgefühle.
Für die Intensität der erlebten Belastung ist entscheidend, in welchem Verwandtschaftsverhältnis der Angehörige und der Symptomträger stehen. So sind Eltern in der Regel stärker von Schuldgefühlen belastet als Partner. Außerdem hat die Wohnsituation – gemeinsam oder getrennt – einen Einfluss auf die Beziehung und die Möglichkeit für den Symptomträger, seine Situation zu stabilisieren. Es ist schwieriger, sich in einen klar abgegrenzten, privaten Bereich zurückzuziehen, wenn man zusammen wohnt.
Zusätzlich beeinflusst die Intensität und die Dauer der Erkrankung das Erleben der Angehörigen, zum Beispiel die Ausprägung der Plussymptome[33].
1.2.1 Emotionale Folgen
Die Ebene, die die Erkrankung am meisten beeinflusst, ist in meinen Augen die der Emotionen. Krankheitssymptome werden von den Mitgliedern einer Familie oft auf der zwischenmenschlichen Ebene gedeutet, sofern sie keine anderen Interpretationsmöglichkeiten, zum Beispiel von professioneller Seite, zur Verfügung haben. So kann es passieren, dass aggressives Verhalten als eine persönliche Verletzung verstanden wird, obwohl der Symptomträger vielleicht etwas anderes mit seinem Verhalten aussagen wollte.
Schuldgefühle
Schuldgefühle sind etwas, womit sich alle Angehörige von psychisch erkrankten Menschen auseinandersetzen müssen. Deswegen möchte ich sie an dieser Stelle eher unabhängig von der Krankheits-Diagnose formulieren.
Eltern neigen dazu, dem aktuellen Partner ihres Kindes die Schuld für die Krankheit zu geben und Partner sehen die Ursache in der Regel bei den Eltern[34]. Trotzdem steht auch innerhalb einer Beziehung die Angst, einen Fehler begangen zu haben, in einer Situation falsch reagiert zu haben oder zu wenig für den Partner da gewesen zu sein genauso wie für die Eltern immer im Raum. Der Bereich der Schuldgefühle ist aber der einzige, in denen eine unterschiedliche Belastung zwischen den Eltern und dem Partner wahrgenommen wird[35].
Diese Schuldgefühle verhindern eine effektive Begegnung auf gleicher Ebene, wie sie in einer Partnerschaft stattfinden sollte. Deswegen sollte sich der Partner mit diesen Gefühlen auseinandersetzen, wenn er die Beziehung langfristig weiterführen möchte.
Eine weitere Auswirkung, die diese Schuldgefühle haben können ist, dass Angehörige dazu neigen, Wiedergutmachungsgefühle zu entwickeln. Durch ein schlechtes Gewissen kann es zu einer Aufopferung der Angehörigen kommen, die oft weit über die eigenen Belastungsgrenzen geht. Diese überengagierte Selbstaufgabe verhindert zusätzlich die notwendige und wichtige Abgrenzung gegenüber dem Kranken. Durch dieses Verhalten neigt der Angehörige dazu, Verhalten zu zeigen, dass als High-EE eingestuft wird.
Kinder tendieren ebenfalls dazu, Schuld für die veränderte Situation bei sich selbst zu suchen, sollten ihnen kein anderes Erklärungsmuster zur Verfügung stehen. Es entspricht der Logik von Kindern Fragen wie „War ich nicht brav genug?“ zu stellen.
Wenn Kinder Zusammenhänge zwischen ihrem eigenen Verhalten und der elterlichen Krankheit sehen, erhalten sie sich ein Gefühl der Kontrolle. Da sie die Ursache für die Verschlimmerung der Situation sind, haben sie es durch eine Änderung des eigenen Verhaltens in der Hand, die Gesamtsituation zu ändern. Es ergibt sich das Gefühl, nur ein besseres Kinder werden zu müssen, um das alte Glück wiederherzustellen.
In der holländische Dokumentation „..und wie geht es eigentlich den Kindern?“[36] beschreibt der Sohn einer psychisch kranken Mutter dieses Gefühl:
„Ich will gerne aufräumen, damit Mama nicht so traurig ist“
Einerseits bekommt das Kind so das Gefühl, aktiv etwas an der Situation ändern zu können, auf der anderen Seite übt diese Verantwortung einen großen Druck auf es aus[37]. Diese Bedeutung von Schuldgefühlen lässt sich natürlich ebenso auf die anderen Angehörigen des Betroffenen übertragen.
Man unterschiedet drei Bereiche der Schuldgefühle[38]:
a) Schuldgefühle, die sich aus dem Umgang mit dem Patienten ergeben:
Dabei korrelieren oft die Vorstellungen der Angehörigen vom „angemessenen“ Umgang mit Kranken und den bisher gegenüber dem Symptomträger gezeigten Verhaltensweisen. Sie begegneten zum Beispiel dem Erkrankten bei den ersten Symptomen nicht mit dem Ausmaß von Toleranz, wie sie es im Nachhinein für angebracht halten würden. Die Kinder betrifft diese Ebene ebenfalls, vor allem wenn sie einen kausalen Zusammenhang zwischen ihrem Verhalten und den Symptomen sehen.
b) Schuldgefühle im Zusammenhang mit einer Einweisung des Patienten:
Partner oder Kinder waren oft maßgeblich an einer zwanghaften Einweisung ihres Familienangehörigen beteiligt und haben so einen massiven Eingriff in sein Leben vorgenommen. Da sie eng mit dem Betroffenen zusammenleben, haben oft ihre Beobachtungen und Ängste zu einer stationären Behandlung geführt. Dies geschah, weil sie ihn vor sich selbst oder weil sie seine Umgebung schützen wollten. Wenn sie ihn jedoch im Alltag der Institution erleben, wirken diese Motive nur noch abgeschwächt.
Der Weg in eine stationäre Behandlung kann von dramatischen Erlebnissen geprägt sein, z.B. wenn der Erkrankte mit polizeilicher Gewalt in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht werden muss.
c) Frage nach der Entstehung der Störung:
Für den Partner des Symptomträgers tragen Modelle wie das Vererbungs- oder das Erziehungsmodell eher dazu bei, seine Schuldgefühle zu mindern als zu vergrößern. Immerhin wird hier die Hauptursache für die Symptomentwicklung nicht bei ihm gesehen. Jedoch wird auch er irgendwann auf die Ursachenerklärung für psychische Krankheiten durch familiäre Konflikte stoßen. Dies kann seine Schuldgefühle vergrößern.
Ebenso kann „Schuld durch Unterlassen“ als Ursache für Schuldgefühle betrachtet werden. Der Partner kann das Gefühl bekommen, zum Beispiel emotional zu wenig für den Erkrankten da gewesen zu sein. Dieses Defizit erklärt ihm nun, warum dieser Symptome entwickelt hat.
Wie bereits erwähnt, sehen Kinder oft ihr Verhalten als Grund für die Erkrankung des Elternteils. Wird auf diese Vermutung nicht von der Umwelt eingegangen, quält sich das Kind mit Hypothesen über die Krankheitsentstehung. Gut beschreibt dies Melanie (vgl. Anhang), deren Vater psychisch krank ist:
[...]
[1] Retzer, Arnold (2002), S. 439
[2] Goldbrunner, Hans (1992), S. 18
[3] Mattejat, Fritz (1993), S. 19
[4] Institut für Soziale Arbeit e.V. (Hrsg.) (2000), S. 21
[5] Schlippe, A.v.; Schweitzer, J.(2000), S. 51
[6] ebd., S. 53
[7] Kompetenznetz Schizophrenie (2002), S.
[8] Hahlweg, K.; Dürr, H.; Müller, U. (1995), S. 12
[9] Cecchin, G.; Kruckenberg, P. (1996), S.24
[10] Retzer, A. (2002), S. 441
[11] Ludewig, Kurt (1996), S.39
[12] Hahlweg, K.; Dose, M.; Feinstein, E.; Müller, U. (1989), S.243
[13] Simon, F. B. (1989), S. 239 f
[14] Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (1997), S. 795
[15] Retzer, A. (1996), S. 71ff
[16] Simon, F. B. (1991), S. 238
[17] Watzlawick, P.; Beavin, J. H.; Jackson, D. D. (2000), S. 72
[18] Strauss, J. S.(1989), S. 41
[19] ebd., S.43
[20] ebd., S.46
[21] Hahlweg, K.; Dürr, H.; Müller, U. (1995), S. 14
[22] Schulte-Wintrop, P. (1994), S. 44
[23] ebd., S. 114
[24] ebd., S. 85
[25] Weber, G.; Retzer, A. (1991), S. 232
[26] Scherrmann, T. (1995), S.47
[27] Retzer, A.; Weber, G. (1991), S. 108
[28] Retzer, A. (1996), S. 34
[29] Simon, F. B. (1991), S. 228
[30] ebd., S. 228
[31] Schulte-Wintrop, P. (1994), S. 13 ff
[32] Hubschmid, T. (1991), S.25
[33] Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker e.V. (1998), S. 7
[34] Schulte-Wintrop, P. (1994), S. 80
[35] Scherrmann, T. (1995), S. 86
[36] Lamboo, M. (2000)
[37] Knuf, A. (2000), S. 36
[38] Schulte-Wintrop, P. (1994), S. 76 f
- Arbeit zitieren
- Kirsten Kölmel (Autor:in), 2003, Unterstützungsmöglichkeiten für Familien mit psychischen Erkrankungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/15285
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