„Fernsehserien wollen, nein, sie müssen den Massen gefallen. Dafür
sind sie gemacht. Manchen Serien gelingt das besonders gut.
In ihnen erkennt das Volk sich selber, seine Wünsche, seine Ängste.
Wenn wir uns diese Serien anschauen, dann schauen wir in
den Spiegel. Und weil wir uns selber ändern, ändern sich auch die
Serien, denen wir verfallen.“1 Schließt man sich dieser Aussage
von Harald Martenstein an, so „verfallen“ seit nunmehr über zehn
Jahren Teile des deutschen Volkes einer neuen Form von Fernsehserie:
der deutschen Daily Soap.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Genre ist hierzulande
noch nicht besonders ausgereift. Auch in den USA, wo die „Soap
Opera“ ihre Wurzeln hat, war die Seifenoper gerade wegen ihrer
Trivialität und Massen-Tauglichkeit im wissenschaftliche n Diskurs
lange Zeit wenig ge- und beachtet. Nach anfänglichen Studien zur
vermeintlich schädlichen Wirkung von Radio-Seifenopern in den
vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts begannen erst in den siebziger
Jahren wieder Untersuchungen zum Soap Opera-Text. Vor allem
die feministische Forschung interessierte sich für das Frauen-
Genre, und so setzte Mitte der achtziger Jahre wieder vermehrt die
Zuschauerforschung zu den Seifenopern ein. In Deutschland erschienen
zu dieser Zeit erste Studien zu wöchentlichen Soaps wie
Dallas oder Lindenstraße. In den neunziger Jahren schließlich
wurden auch die amerikanischen Daily Soaps im deutschen Fernsehen
zum Gegenstand des Interesses.
Die eigenproduzierten deutschen Daily Soaps hingegen spielen in
der Forschung bis dato eher eine untergeordnete Rolle. Neben einigen
Diplomarbeiten zu diesem Thema beschäftigt sich nur ein
langfristig angelegtes Projekt an der Universität Duisburg mit der
Produktion, den Inhalten, den Rezipienten und vor allem mit der
Vermarktung von deutschen „Dailies“. An diesem Punkt setzt die vorliegende Arbeit an. Sie beschäftigt
sich mit der besonderen Situation der öffentlich-rechtlichen Daily
Soaps Verbotene Liebe (kurz: VL) und Marienhof: Beide Seifenopern
werden direkt nacheinander im Vorabendprogramm der ARD
ausgestrahlt, und obwohl anzunehmen ist, dass damit einige Besonderheiten
verbunden sind, hat sich bisher noch keine Studie explizit
mit dem Vergleich dieser beiden Soaps beschäftigt. [...]
1 Martenstein 1996, S.11f.
Inhalt
I. Einleitung
II. Die Seifenoper
1. Begrifflichkeit
2. Definition
2.1. „Series“ und „Serials“
2.2. „Daytime Serials“ und „Prime-time Serials“
2.3. Abgrenzung gegenüber anderen Serienformaten
2.4. Die Inhalte
2.5. Genre Codes
2.6. Darstellungsprinzipien
2.7. Fazit
3. Entstehung und Geschichte
3.1. Die Soap Opera im Radio
3.2. Die Soap Opera im Fernsehen
4. Seifenopern in Deutschland
4.1. Die Tradition der Familienserie im deutschen Fernsehen
4.2. Die Entwicklung der Daily Soaps in Deutschland
4.3. Die deutschen Daily Soaps im Überblick
III. Analyse der ARD-Soaps
1. Verbotene Liebe
1.1. Vorgeschichte: australische Soaps / Sons and Daughters
1.2. Entstehungsphase
1.3. Produktion
1.4. Struktur und Aufbau
1.5. Charaktere und Handlungsschauplätze
1.6. Themen und Inhalte
2. Marienhof
2.1. Vorgeschichte: britische Soaps und Lindenstraße
2.2. Entstehungsphase
2.3. Produktion
2.4. Struktur und Aufbau
2.5. Charaktere und Handlungsschauplätze
2.6. Themen und Inhalte
3. Vergleich der Analysen
IV. Rezeption und Funktionen der ARD-Dailies
1. Allgemeine Befunde zur Rezeption von Soap Operas
1.1. Wer rezipiert Soaps?
1.2. Warum rezipiert jemand Soaps?
1.3. Welche Auswirkungen hat die Rezeption von Soaps?
1.4. Funktionen der Soap Operas
2. Quantitative Nutzungsdaten der ARD-Dailies
2.1. Das Publikum der ARD-Dailies
2.2. ARD-Soaps: Unterschiede im Publikum
2.3. ARD- und RTL-Soaps: Publikumsvergleich
3. Motivation der Verbotene Liebe- und Marienhof -Rezipienten
V. Schlussbetrachtung
VI. Literatur und Quellen
1. Literatur
2. Sonstige Quellen
Anhang A
Interview mit Peter Eidenberger, Line Producer Marienhof
Anhang B
Handlung und Erzählstränge der untersuchten Folgen
Verbotene Liebe
Marienhof
Anhang C
Szenenverlauf nach Handlungssträngen
Verbotene Liebe
Marienhof
Anhang D
Sinus-Milieus Verbotene Liebe und Marienhof
I. Einleitung
„Fernsehserien wollen, nein, sie müssen den Massen gefallen. Dafür sind sie gemacht. Manchen Serien gelingt das besonders gut. In ihnen erkennt das Volk sich selber, seine Wünsche, seine Ängste. Wenn wir uns diese Serien anschauen, dann schauen wir in den Spiegel. Und weil wir uns selber ändern, ändern sich auch die Serien, denen wir verfallen.“[1] Schließt man sich dieser Aussage von Harald Martenstein an, so „verfallen“ seit nunmehr über zehn Jahren Teile des deutschen Volkes einer neuen Form von Fernsehserie: der deutschen Daily Soap.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Genre ist hierzulande noch nicht besonders ausgereift. Auch in den USA, wo die „Soap Opera“ ihre Wurzeln hat, war die Seifenoper gerade wegen ihrer Trivialität und Massen-Tauglichkeit im wissenschaftlichen Diskurs lange Zeit wenig ge- und beachtet. Nach anfänglichen Studien zur vermeintlich schädlichen Wirkung von Radio-Seifenopern in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts begannen erst in den siebziger Jahren wieder Untersuchungen zum Soap Opera-Text. Vor allem die feministische Forschung interessierte sich für das Frauen-Genre, und so setzte Mitte der achtziger Jahre wieder vermehrt die Zuschauerforschung zu den Seifenopern ein. In Deutschland erschienen zu dieser Zeit erste Studien zu wöchentlichen Soaps wie Dallas oder Lindenstraße. In den neunziger Jahren schließlich wurden auch die amerikanischen Daily Soaps im deutschen Fernsehen zum Gegenstand des Interesses.
Die eigenproduzierten deutschen Daily Soaps hingegen spielen in der Forschung bis dato eher eine untergeordnete Rolle. Neben einigen Diplomarbeiten zu diesem Thema beschäftigt sich nur ein langfristig angelegtes Projekt an der Universität Duisburg mit der Produktion, den Inhalten, den Rezipienten und vor allem mit der Vermarktung von deutschen „Dailies“.
An diesem Punkt setzt die vorliegende Arbeit an. Sie beschäftigt sich mit der besonderen Situation der öffentlich-rechtlichen Daily Soaps Verbotene Liebe (kurz: VL) und Marienhof: Beide Seifenopern werden direkt nacheinander im Vorabendprogramm der ARD ausgestrahlt, und obwohl anzunehmen ist, dass damit einige Besonderheiten verbunden sind, hat sich bisher noch keine Studie explizit mit dem Vergleich dieser beiden Soaps beschäftigt. Mich interessiert vor allem die Frage, inwieweit sich die beiden Sendungen ähneln, sich aber auch voneinander abgrenzen müssen und ob sich diese Unterschiede in der Publikumsstruktur oder in der Rezeptions-Motivation der Zuschauer niederschlagen.
Da in der einschlägigen Literatur die Definitionen von Seifenopern weit auseinander gehen, soll in Kapitel II zunächst eine begriffliche Klärung geleistet werden. Dem schließt sich ein Überblick über die Entstehung und Geschichte der Soap Opera in den USA an, bevor der Blick auf die Tradition der Familienserie und die Entwicklung der Seifenopern in Deutschland gerichtet wird.
Kapitel III beinhaltet die Analyse der beiden Daily Soaps der ARD. In einer Einzelanalyse soll zunächst Verbotene Liebe, danach Marienhof in Hinblick auf die Geschichte, den Produktionsprozess, die Struktur und die Inhalte untersucht werden. Es erscheint sinnvoll, all diese Kategorien in die Analyse mit einzubeziehen, da dies ein vollständigeres Bild der jeweiligen Seifenoper vermittelt, als dies durch eine bloße Inhaltsanalyse möglich wäre. An Hand der gefundenen Ergebnisse sollen in der daran anschließenden vergleichenden Analyse die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen beiden Soap Operas herausgestellt und reflektiert werden.
Kapitel IV beschäftigt sich abschließend mit den Zuschauern. Nach einem Überblick über die Forschung zur Soap Opera-Rezeption soll das Publikum der ARD-Soaps sowohl nach quantitativen als auch nach qualitativen Merkmalen (letztere an Hand von Fan-Aussagen) untersucht werden und, soweit möglich, die vorher aufgeführten wissenschaftlichen Ergebnisse zur Motivation von Seifenopern-Rezipienten überprüft werden. Dabei stellt sich die Frage, ob sich die Zuschauer von Verbotene Liebe in ihren demographischen Merkmalen (hier werden zum Vergleich auch die Zuschauer der RTL-Soaps herangezogen) und/oder in ihren Gründen, warum sie Seifenopern schauen, von den Marienhof -Zuschauern unterscheiden. Gleichzeitig soll reflektiert werden, inwiefern hier Beziehungen zu den Ergebnissen der vergleichenden Analyse der Serien hergestellt werden können.
Dieser Arbeit liegt ein persönliches Interesse nicht nur an medienwissenschaftlichen und soziologischen Fragestellungen, sondern auch an den untersuchten Soap Operas zu Grunde. Dieser Umstand hat vor allem in Hinblick auf die Analyse eine gewisse Relevanz, die auf Grund mangelnder Studien zu dem Thema auf diese Art und Weise nur vor dem Hintergrund einer gewissen Kenntnis beider Serien geleistet werden konnte. Da, so der Anthropologe Georges Devereux, jede Forschung „eine Form der Autobiographie“[2] ist, muss diese Untersuchung also auch als nicht gänzlich frei von Subjektivität gesehen und vor diesem Hintergrund verstanden werden.
II. Die Seifenoper
1. Begrifflichkeit
Der Begriff „Soap Opera“ tauchte schon 1939 in der amerikanischen Zeitschrift Newsweek auf. Er bezeichnete eine täglich laufende Radioserie, die in der Alltagssprache auch als „washboard weeper“[3] bekannt war. Die „Seife“ im Namen „Soap Opera“ erklärt sich aus der Geschichte des Genres, das von großen Waschmittelkonzernen erfunden und gesponsert wurde.[4] Über die Bedeutung der Bezeichnung „Oper“ gibt es hingegen unterschiedliche Auffassungen. So sehen Süß und Kosack Ähnlichkeiten zwischen der Soap Opera und ihrem Namensgeber, der Oper: „Nun, es muss in jedem Fall ähnlich hochdramatisch und emotional zugehen wie in einer Oper, wo die beiden Hauptdarsteller in der Regel unglücklich ineinander verliebt sind und sich erst ganz am Schluss [...] kriegen dürfen – oder auch nicht. [...] Die Zuschauer sind gerührt und schluchzen in ihre Taschentücher. Genau diesen Effekt wollten die Erfinder der Soap Opera auch. Und das am liebsten jeden Tag in neuen Variationen“[5]. Allen hingegen meint den Begriff „Soap Opera“ durch eine ironische Distanzierung zur Oper erklären zu können. „‘Opera‘ acquires meaning only through its ironic, double inappropriateness. Linked with the adjective ‚soap‘, opera, the most elite of all narrative artforms, becomes a vehicle for selling the most humble of commodities.“[6] Zusätzlich drücke der Begriff die Kluft zwischen dem elitären Publikum der Oper auf der einen Seite und den Hausfrauen, für die die „Soap Operas“ produziert wurden, auf der anderen Seite aus. Von dieser besonderen Namensgebung schließt Allen weiter auf eine Eigenheit in der bisherigen Beschäftigung mit dem Genre: „Since the 1930s the soap opera has been defined by what it pretends to be but is not, by what it lacks rather than what it is.“[7]
2. Definition
„What is soap opera? Ask a silly question and you get a lengthy answer. Everyone knows what a soap opera is. We watch it all the time, don´t we? Yes, but try defining it.“[8] In der Tat ist es nicht ganz einfach, in der wissenschaftlichen Literatur eine allgemeingültige Definition zu finden, was eine Seifenoper eigentlich sei. Die Meinungen über die Grenzen des Genres sind so unterschiedlich wie die Namen, die ihm gegeben werden: „Daily Soap“, „Soap Opera“, „Seifenoper“ und „Daytime serial“ sind dabei die häufigsten und werden weitgehend synonym verwendet. Dennoch bezeichnen diese Begriffe heute im Großen und Ganzen das Gleiche, nämlich eine ganz spezielle Art von Fernsehserie[9], die durch verschiedene Merkmale gekennzeichnet ist. Diese Merkmale sollen im Folgenden auch in Abgrenzung gegenüber anderen Serienformen dargestellt werden.
2.1. „Series“ und „Serials“
Eine wichtige Hilfe bei der begrifflichen Definition der Seifenoper stellt die im englischsprachigen Raum übliche Unterscheidung zwischen „Series“ und „Serials“ dar, für die es im Deutschen keine Entsprechung gibt. Es handelt sich dabei um eine Unterscheidung in der Erzählstruktur einer Serie.
Die meisten Serien fallen unter die Kategorie der „Series“. Sie haben einen festen Stab an Charakteren, die in jeder Folge an den selben Handlungsorten eine neue Geschichte erleben. Dabei wird am Ende jeder Episode die Erzähleinheit abgeschlossen, das heißt es gibt kein offenes Ende. Zu dieser Serienform zählen alle Krimiserien, z.B. Ein Fall für Zwei.[10]
Die Seifenoper gehört hingegen zu den „Serials“. „Serials“ zeichnen sich durch mehrere ineinander verschachtelte Handlungsstränge aus, die sich über mehrere Folgen fortsetzen und unabhängig voneinander begonnen und beendet werden. Der Produzent der Lindenstraße Geißendörfer erklärt diese Struktur folgendermaßen: „Am besten vergleicht man dieses ‚In-oder-Miteinander-Verwoben-Sein‘ der drei Stränge mit einem Zopf, der aus drei Haarsträngen oder aus drei unabhängig voneinander bereitliegenden Seilen geflochten wird. Am Ende des Zopfes wird eine Schleife gebunden, die alles zusammenhält. Diese Schleife ist der Cliff.“[11] Diese sehr offene Erzählstruktur zielt auf Fortsetzung und damit noch stärker als die „Series“ auf Publikumsbindung.
Neben diesen beiden Reinformen gibt es auch immer mehr Serien, die Elemente der „Series“ und der „Serials“ miteinander vermischen. So wird beispielsweise ein Handlungsstrang innerhalb einer Folge abgeschlossen, während ein anderer über mehrere Episoden hinweg fortgesetzt wird.[12]
2.2. „Daytime Serials“ und „Prime-time Serials“
Eine weitere Differenzierung der „Serials“ ergibt sich aus deren Platzierung im amerikanischen Fernsehprogramm. So wird unterschieden zwischen den „Daytime Serials“ auf der einen und den „Prime-time Serials“ auf der anderen Seite.[13] Die Daytime Serials laufen für gewöhnlich fünf mal die Woche, von Montag bis Freitag, am frühen Nachmittag. Laut der Definition von Cantor und Pingree handelt es sich nur bei den Daytime Serials um Seifenopern: „Soap operas are a form of serialized dramatic television broadcast daily over the three commercial television networks [...], usually during the afternoon.“[14] Sie grenzen die Seifenopern ganz deutlich gegenüber den Prime-time Serials wie z.B. Dallas ab, die einmal wöchentlich abends gesendet werden. Andere Autoren hingegen sehen die Prime-time Serial als Sub-Genre der Seifenoper und nennen sie deshalb auch „Weekly Soap“ oder „Prime-time Soap Opera“, „welche[ ] die etablierten Formen der ‚Daytime Soap Opera‘ in besonderer Form anwendet und eine Weiterentwicklung [der] Genrekonventionen darstellt.“[15]
2.3. Abgrenzung gegenüber anderen Serienformaten
Die Besonderheit der Seifenoper liegt in ihrer narrativen Unendlichkeit: Sie steigt irgendwo mitten in einer Geschichte ein und kann theoretisch endlos weitererzählt werden, sie hat also weder einen Anfang noch ein Ende. Hierin liegt der Unterschied zu den Episodenserien, bei denen meist nur eine von vornherein begrenzte Anzahl an Folgen in Staffeln gedreht und gesendet wird. In dem Kriterium der Unendlichkeit grenzt sich die Soap Opera auch gegenüber anderen „Serials“ ab. So zählen nach der Definition von Cantor und Pingree die südamerikanischen „Telenovelas“ nicht zu den Seifenopern, sondern zu den sogenannten „Miniserien“: „Such serials consist of a finite number of episodes which tell a story from the beginning to end. Some, such as Roots, last for just five to ten hours of programming. Others, such as South American telenovelas, last for eight or nine months.“[16] Die Grenze zu der Prime-time Serial hingegen ist nicht so leicht zu ziehen, da sie mit Ausnahme des Sendeplatzes und der einmal wöchentlichen Ausstrahlung viel mit der Soap Opera gemein hat. Dennoch unterscheidet sie sich von dieser laut Cantor und Pingree in drei wichtigen Punkten:
- der Produktion: Seifenopern sind billige Fließbandproduktionen, die von Werbeagenturen oder Sponsoren produziert werden, während Prime-time Serials ähnlich wie Spielfilme von den Sendern selber produziert werden und über einen bis zu fünfmal höheren Etat verfügen.[17]
- der Anzahl der produzierten Episoden: Jedes Jahr werden ungefähr 250 Folgen pro Seifenoper produziert, die Zahl für Prime-time Serials liegt hingegen bei gerade einmal 22.[18]
- dem Inhalt: in Seifenopern wird eine andere Moral vermittelt als in den Serien am Abend. Die Geschichten beinhalten weniger Actionelemente und Außenaufnahmen, werden langsamer erzählt und spielen eher im familiären Umfeld als in der Geschäftswelt und der High Society. Sie zielen mehr als die Prime-time Serials auf ein weibliches Publikum und behandeln deswegen mehr Frauen-spezifische Themen.[19]
Eine weitere Abgrenzung der Soap Opera muss gegenüber der seit den neunziger Jahren weit verbreiteten Doku-Soap erfolgen. Auch diese wird für gewöhnlich nicht täglich und nicht potenziell unendlich gesendet, bedient sich aber der selben Stilmittel wie die Seifenoper. Der größte Unterschied liegt jedoch darin, dass für Doku-Soaps dokumentarisches Material z.B. einer Kreuzfahrt oder einer Schwangerschaft verarbeitet wird, während die „klassische“ Seifenoper schon immer rein fiktiv war.
2.4. Die Inhalte
Schon 1944 stellte Rudolf Arnheim fest: „The world of the serials is quite clearly a ‚private‘ world in which the interests of the community fade into insignificance.“[20] Diese Aussage ist auch noch knapp 60 Jahre später für die Seifenopern im Fernsehen zutreffend.
Seifenopern beschäftigen sich – grob gesagt – inhaltlich mit den privaten Problemen der Charaktere. Daraus resultiert, dass es in diesem Genre nur selten lustig zugeht: „Soap operas are serious, not satires, comedies or parodies.“[21] Verschiedene Studien, die sich mit den Inhalten der Soap Operas beschäftigen[22], kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Demnach sind die wichtigsten Kategorien, aus denen Soap-Autoren ihre Themen beziehen:
- soziale Beziehungen: annähernd jede Seifenoper behandelt ausführlich interpersonale Themen und Konflikte. Die größte Rolle spielen dabei Liebe und Romantik, eine Thematik, die für das weibliche Publikum besonders wichtig ist.[23] Gesellschaftliche Themen tauchen in den Soaps hingegen so gut wie gar nicht auf, außer sie berühren direkt das Privatleben der Charaktere. Auch die Arbeitswelt fungiert für gewöhnlich nur als Hintergrund oder als Anlass für die Krisen im Privatleben.
- Krankheiten: Verletzungen, Unfälle und Krankheiten sind ein fester Bestandteil der Seifenopern und werden in einigen Sendungen sehr häufig eingesetzt. Ein Anzeichen für die Wichtigkeit medizinischer Themen ist die Tatsache, dass in fast jeder Soap ein Arzt oder eine Krankenschwester mitspielt.[24] Krankheiten werden so dargestellt, dass sie für den Zuschauer nicht gefährlich erscheinen: „Many characters may develop serious illnesses, but few die from them. In all, 65 percent of the deaths on the soaps studied were due to accidents and violence, while disease caused 21 percent. In addition, Soares [...] notes that characters in soaps usually die of rare diseases that will probably never afflict audience members. In other words, disease and death are not presented in a threatening and/or realistic way.“[25]
- Abenteuer, Verbrechen und Intrigen: Seifenopern enthalten generell weniger Actionelemente und weniger Gewalt als andere Serienformen, zudem findet sich in ihnen eher verbale als physische Gewalt.[26] Spannung wird in den Soaps also anders erzeugt als in den Hauptabendserien: „Verfolgungsjagden oder Schießereien sind hier [in den Seifenopern] eher selten anzutreffen, dafür um so häufiger Entführungen, Racheakte, Enthüllungen von lange gehüteten Geheimnissen und Affären oder Täuschungsmanöver und Komplotte, die der Zuschauer in der Rolle des Mitwissers erlebt.“[27]
Im Großen und Ganzen trifft auf alle Daytime Soap Operas die Schlussfolgerung von Cantor und Pingree zu: „Overall, daytime serials create a world dominated by interpersonal relationships, where characters discuss romantic, marital, and family problems, and where health and work are major concerns within these contexts. There is little physical violence or crime. The serial world seems physically safe but emotionally hazardous, mainly because of the continual sorting and re-sorting of relationships.“[28]
2.5. Genre Codes
Seifenopern zeichnen sich neben ihren inhaltlichen Besonderheiten auch durch formale und audio-visuelle Codes aus. Die Genre Codes ermöglichen es dem Zuschauer, eine Sendung einem bestimmten Genre zuzuordnen und ihre Erwartungshaltung entsprechend zu definieren. Um eine Sendung als Seifenoper zu identifizieren, bedarf es folgender Genre Codes[29]:
- Der episodische Charakter: Seifenopern sind Serien, deren wichtigstes Strukturmerkmal der tägliche bzw. wöchentliche Ausstrahlungsrhythmus ist. Sie laufen immer zur selben Zeit auf dem selben Sender.
- Die narrative Unendlichkeit: Eine Seifenoper ist theoretisch unendlich fortsetzbar, in der Handlung gibt es weder einen Anfangs- noch einen Endpunkt, für gewöhnlich auch dann nicht, wenn sie irgendwann abgesetzt wird. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Dennis Porter beschrieb die Soap Opera in Abgrenzung gegenüber einer Jahrtausende langen Tradition des Dramas, der Logik Anfang – Mitte – Ende zu gehorchen, wie folgt: „[Soap opera] belongs to a seperate genus that is entirely composed of an indefinitely expandable middle.“[30]
- Der Cliffhanger: Um die „unendlich ausdehnbare Mitte“[31] spannend zu gestalten und den Zuschauer an die Serie zu binden, bedienen sich Soaps des Cliffhangers, d.h. die Folge endet am Höhepunkt der Spannung. Der Begriff wurde im Kino der zwanziger Jahre geprägt, als dort noch Stummfilm-Serien vom Charakter der „Serials“ gezeigt wurden, „bei denen das zugrunde liegende Bild wörtlich zu nehmen ist: Dort hängt dann tatsächlich ein Protagonist an einer Klippe und droht abzustürzen.“[32] Der Cliffhanger wird normalerweise gleich zu Anfang der nächsten Folge aufgelöst.
- Langsames Erzähltempo: Das langsame Erzähltempo erklärt sich aus der Geschichte des Genres. Als Nebenbei-Unterhaltung der Hausfrau gedacht, sollten die Rezipienten den Geschichten auch dann folgen können, wenn sie ihnen nicht die volle Aufmerksamkeit schenken konnten. „Viewers/listeners are able to keep up with the plots and still take part in other activities, such as housework, shopping, and part-time paid or unpaid work.“[33] Das langsame Erzähltempo resultiert vor allem aus vielen Rückblenden und Dialogen, die zurückliegende Ereignisse Revue passieren lassen. „These dramatic devices make it possible to miss weeks of episodes and still know enough of a story to resume viewing.“[34]
- Die Zeit: Seifenopern legen viel Wert auf eine Parallelität der fiktiven und realen Zeit. Vor allem in Deutschland scheint man diesem Aspekt viel Bedeutung zuzumessen. Während in den amerikanischen Daily Soaps innerhalb einer Woche nur ein bis drei fiktive Tage abgehandelt werden[35], sind es bei den deutschen Eigenproduktionen fünf; saisonale Feste wie z.B. Ostern oder Weihnachten werden in die Handlung mit eingebunden.
- Charaktere im großen sozialen Netz: In den Soaps gibt es – anders als bei anderen Serienformaten – mindestens 25 gleichberechtigte Haupt-Charaktere[36], die nach dem „Leuchtturmprinzip“[37] mal mehr im Vordergrund und dann wieder mehr im Hintergrund der Handlung stehen, aber alle irgendwie miteinander verbunden sind. „Die Verbundenheit entsteht oft durch einen gemeinsamen Handlungsschauplatz, z.B. eine Straße, ein Stadtviertel, in der/dem man wohnt, oder durch den gemeinsamen Arbeitsplatz.“[38] Dies führt zu immer neuen Verknüpfungen und Beziehungen innerhalb der Soap-Gemeinschaft und dient somit dem Fortlauf der Handlung.
- Sparsame Verwendung filmischer Mittel: Wie bereits in Kapitel II.2.1. dargelegt, finden sich in Seifenopern nur sehr wenige Außenaufnahmen oder Actionszenen, was auf das geringe Produktionsbudget der Soaps zurück zu führen ist. Der Dreh in jahrelang gleichbleibenden Studiokulissen senkt die Kosten und bewirkt außerdem nebenbei eine bessere Orientierung für den Zuschauer im Auf und Ab der Personen und Handlungen.[39]
- Die Dominanz des gesprochenen Wortes: Die bereits angesprochene Dialoglastigkeit des Genres brachte der Fernseh-Seifenoper bisweilen schon den Vorwurf ein, „Radio mit Bildern“ zu sein.[40] Tatsächlich wird eher über Ereignisse geredet, als dass sie gezeigt würden. „Die Soap Opera ist aus der Tradition seriellen Erzählens und den Produktionszwängen heraus vorrangig ein dialogisches Medium. Sowohl die Konflikte und die Probleme als auch die entsprechenden Lösungsstrategien werden überwiegend argumentativ aufgebaut und vorgetragen.“[41] Das heißt zwar nicht, dass auch alle Konflikte durch Reden gelöst werden können. Aber die Versprachlichung der Probleme ist ein probates Mittel, um die Affekte der handelnden Charaktere offenzulegen.[42]
- Die Handlungsschauplätze: Die meisten Szenen finden in privaten Handlungsräumen wie z.B. Wohnungen statt, daneben gibt es jedoch in jeder Daily Soap noch eine Vielzahl anderer, gemischt-privat-öffentlicher und öffentlicher Handlungsschauplätze.[43] Dazu zählen z.B. Treppenhäuser, Kneipen, Büros etc. Von den Städten, in denen die Seifenoper spielen, bekommt der Zuschauer so gut wie nie etwas zu sehen, was auf den Mangel an Außenaufnahmen zurück zu führen ist.
- Die Kameraeinstellungen: Ein auffälliges Merkmal des Genres ist die Dominanz von Nah- und Großaufnahmen vor allem von Gesichtern, die Kamera befindet sich fast immer auf Augenhöhe: „Diese in den Seifenopern typische Kameraeinstellung läßt bei den Zuschauerinnen das Gefühl entstehen, mit den Charakteren vertraut zu sein, sie glauben, sie gut zu kennen, können sich in ihre Lage versetzen und empfinden sie daher oftmals wie Freunde.“[44]
- Musikalische Untermalung: Musik spielt in den Soaps eine große Rolle. Die verschiedenen Szenen werden mit Instrumentalmusik, der sogenannten „mood music“, unterlegt, die den Gefühlszustand der Charaktere ausdrücken soll[45] ; oft haben dabei die unterschiedlichen Handlungsstränge ihr jeweils eigenes Grundthema. Vermehrt werden mit einer Hinwendung zu einem eher jugendlichen Publikum auch aktuelle Hits aus den Charts in den Daily Soaps vorgestellt und vermarktet.
2.6. Darstellungsprinzipien
Seifenopern bedienen sich zum Zwecke der Alltagsdramatisierung bestimmter Darstellungsprinzipien. Einige dieser Prinzipien sind dabei in diesem Genre besonders augenfällig und werden mehr als in anderen Sendeformen angewendet. Es handelt sich dabei um die Präsentationsmittel Personalisierung, Privatisierung und Intimisierung.[46]
„Personalisierung als Darstellungsprinzip bedeutet vor allem, daß die Handlungen und Erzählungen mit stereotypen Charakteren, die entsprechende Rollenklischees erfüllen, verbunden sind.“[47] Damit wird die Planbarkeit des Erzählaufbaus verbessert und der Zuschauer kann die Handlungen der Figuren besser verstehen und durchschauen. Im Endeffekt führt dies zu einer stärkeren Bindung des Publikums an die Serie und ihre Stars.
„Privatisierung als Darstellungsprinzip bedeutet, daß für die dargestellten Probleme und Konflikte vorrangig eben eine ‚privatistische‘, oftmals im gegenseitigen Vertrauen bzw. Mißtrauen sich begründende Lösung gefunden wird, während gesellschaftliche Regelungs- und Ordnungsdistanzen kaum [...] herangezogen [...] werden.“[48] Aus diesem Grund kommen auch nur selten Konflikte gesellschaftlicher Art vor, denn sie könnten mit den privatistischen Mitteln nicht gelöst werden.
„Der Aspekt der Intimisierung besagt, daß bei der Problem- und Konfliktdarstellung zusammen mit der individualistischen bzw. privatistischen Sichtweise die Emotionalität im Mittelpunkt steht.“[49] Wie bereits erwähnt geht es in den Geschichten der Soaps meist um Gefühlsdinge in allen möglichen Variationen. Philosophische, politische oder spirituelle Reflexion findet in Seifenopern so gut wie gar nicht statt.
Diese drei Darstellungsprinzipien sind in Daily Soaps sehr dominant, lassen sich in abgeschwächter Form aber auch in anderen Genres finden. Die Seifenopern sind damit Ausdruck eines Trends, der im Fernsehen generell immer weiter voran schreitet.[50]
2.7. Fazit
Eine allgemein gültige und anerkannte Definition der Seifenoper gibt es in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Genre bisher nicht. Mehrere strukturelle und inhaltliche Merkmale, die in diesem Kapitel vorgestellt wurden, werden allerdings in der Literatur immer wieder in Bezug auf die Soap Opera behandelt und können somit zumindest einen Anhaltspunkt darstellen, auf dessen Basis eigene Grenzen des Genres gezogen werden müssen.
Die meisten Studien und Definitionsansätze beziehen sich auf US-amerikanische Seifenopern. Da sich die vorliegende Arbeit jedoch mit deutschen Daily Soaps beschäftigt, muss erwähnt werden, dass es sowohl in der Struktur als auch im Inhalt nationale Unterschiede gibt. Die sehr enge Definition der Soap Opera von Cantor und Pingree[51], die im Großen und Ganzen auf die deutschen Eigenproduktionen zutrifft und somit gut auf sie übertragen werden kann, soll den folgenden Kapiteln zu Grunde liegen, muss aber im nationalen und historischen Kontext verstanden und entsprechend variiert werden. Vor allem was die Soap Opera-Inhalte anbelangt, muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die deutschen Dailies eher der Tradition der australischen und nicht der amerikanischen Seifenopern folgen und sich somit nicht an ein Hausfrauen-, sondern an ein jugendliches Publikum wenden.[52]
3. Entstehung und Geschichte
Die Erzählung in Form einer offenen Serie ist keine Erfindung der elektronischen Massenmedien. Zu den Vorgängern der Seifenoper gibt es mehrere unterschiedliche Überlegungen, die bis zu den Reliefs der Römer und dem persischen Märchen von Tausendundeiner Nacht zurück führen.[53][54] Auch die sogenannten „domestic novels“, Frauenromane aus dem 19. Jahrhundert, Comicstreifen, Fortsetzungsgeschichten in Zeitungen und Stummfilmserien („chapter plays“) im Kino wiesen Elemente auf, die später zu typischen Merkmalen der Seifenoper wurden.[55] Die Soap Opera wie wir sie heute kennen wurde jedoch im Radio geboren und setzte ihren Siegeszug erst ab den fünfziger Jahren im Fernsehen fort.
3.1. Die Soap Opera im Radio
Ab Ende der zwanziger Jahre[56] war das Radio-Sendenetz in den USA so weit ausgebaut, dass landesweit ein einheitliches Programm ausgestrahlt und empfangen werden konnte. Von da an begann der Siegeszug des neuen Mediums: Verfügten 1930 erst etwa 40 Prozent aller amerikanischen Haushalte über mindestens ein Radiogerät, so stieg diese Zahl bis 1940 auf 98 Prozent.[57] Schon damals wurde die Sendezeit in die Prime-time, die Zeit zwischen 19 und 23 Uhr, und die Daytime, die Zeit zwischen 8 und 18 Uhr, unterteilt.[58] Da man noch nicht über die notwendigen Erhebungsmethoden verfügte, ging man grob davon aus, dass in der Prime-time ungefähr doppelt so viele Menschen Radio hörten als während des Tages, also bemühte man sich in der Programmgestaltung zunächst hauptsächlich um die Abendstunden - denn das amerikanische Radio wurde schon damals durch Werbung und Sponsoring finanziert und der Verkauf von Werbezeiten zur Prime-time brachte den Sendern doppelt so viel Geld ein als zu den übrigen Zeiten. Während in den Abendstunden Quiz-Shows, Komödien oder Varieté-Programme mit Star-Besetzung über den Äther gingen, füllte man das Tagesprogramm mit den sogenannten „domestic advice shows“[59] für die Hausfrau. „Diese produktbezogenen Shows, die häufig den Namen des Herstellers oder des Produkts im Titel trugen, erwiesen sich zunächst für viele Firmen als ein effektives Werbekonzept im Tagesprogramm.“[60] Bald jedoch merkte man, dass der erhobene Zeigefinger bei der Zielgruppe keinen Anklang mehr fand, und musste sich neue Konzepte überlegen, um die Werbung an die Frau zu bringen.
Schon Ende der zwanziger Jahre waren die ersten Serials im Abendprogramm des Radios aufgetaucht, eine davon, Amos `n` Andy, lief sogar täglich. Entgegen anderslautender Befürchtungen erwies sich die Fortsetzungsgeschichte über die Abenteuer zweier Afro-Amerikaner in Chicago als sehr erfolgreich, weniger wegen der teilweise ziemlich Vorurteil-beladenen Inhalte als vielmehr aufgrund des neuen formalen Konzepts, der hohen Anzahl von Zuhörern[61] und der hohen Gewinne, die sie ihrem Sponsor Pepsodent bescherte. Schnell beschlossen daher Firmen wie Colgate-Palmolive oder Procter & Gamble, das neue Format auf das Tagesprogramm zu übertragen und eigene Sendungen aufzubauen.
Welche der nun folgenden Daytime Serials die erste „echte“ Seifenoper war, ist umstritten. Chronologisch gesehen gebührt der Titel der Serie Painted Dreams, die von Irna Phillips geschrieben wurde und am 20. Oktober 1930 Premiere hatte.[62] Sie wurde allerdings nach einem guten Jahr wieder abgesetzt, und so ist Luchting der Meinung, dass Oxydol´s Own Ma Perkins das erste echte Seifendrama sei. Die Geschichte rund um die Witwe Ma Perkins, die ein hartes Schicksal zu bewältigen hatte und trotzdem allen Mitmenschen mit Rat und Tat zur Seite stand, wurde von Procter & Gamble gesponsert und ging am 4. Dezember 1933 auf Sendung – und sie blieb 7.065 Folgen lang „on air“, bis zum Ende aller Radio-Soaps 1960.[63] Ihren verkaufssteigernden Zweck – der Produktname Oxydol wurde bis zu 25 mal pro Episode genannt - erfüllte sie währenddessen mehr als zufriedenstellend: „In diesen 27 Jahren [der Ausstrahlung] verkaufte die Firma Procter & Gamble über drei Milliarden Packungen Oxydol, das waren etwa 200 Stück Seife pro Amerikaner“[64].
Auf den Erfolg von Ma Perkins hin begann ein wahrer Seifenopern-Boom. Einige Serials wurden aus dem Abend- in das Tagesprogramm übernommen (z.B. Just Plain Bill), und Jahr für Jahr kamen neue Soap Operas auf den Markt.[65] Der Höhepunkt der Entwicklung war 1940 erreicht, als jeden Tag 64 verschiedene je 15-minütige Seifenopern über den Äther gingen – das entsprach einer täglichen Sendezeit von 16 Stunden.[66] Danach nahm die Anzahl der im Radio gesendeten Daytime Dramatic Serials (so die damals offizielle Bezeichnung der Soaps) wieder ab, bewegte sich in den vierziger Jahren um die 30 Seifenopern pro Tag und sank im Laufe der fünfziger Jahre auf acht.[67] Im November 1960 wurden die letzten Radio Soaps abgesetzt. „According to Willey [...] none closed with such finality that the plot could not be resumed on a moment´s notice, yet none ever returned.“[68]
3.2. Die Soap Opera im Fernsehen
Als nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen wurde, Fernsehapparate in Serie herzustellen, wurden erste Überlegungen laut, die Seifenoper auf das neue Medium zu übertragen. Zunächst entschieden sich die meisten Verantwortlichen dagegen, denn man ging davon aus, dass die beschäftigte Hausfrau nicht genügend Aufmerksamkeit für eine Fernsehserie neben ihrer Arbeit aufbringen konnte und das Radio für den Zweck der Nebenbei-Unterhaltung besser geeignet sei. Dennoch gab es schon Ende der vierziger Jahre die ersten Gehversuche der Seifenoper im Fernsehen, die jedoch zunächst scheiterten. Das erste TV-Serial, A Woman To Remember, lief schon 1947, wurde aber nach kurzer Zeit wieder abgesetzt, weil sich kein Sponsor fand.[69] Die erste „echte“ Fernseh-Seifenoper, die im Dezember 1950 an den Start ging und nachweislich nachmittags gesendet wurde, ereilte ein ähnliches Schicksal: The First Hundred Years wurde zwar von Procter & Gamble gesponsert, konnte sich aber auf Dauer nicht durchsetzen und wurde nach kurzer Zeit wieder aus dem Programm genommen. Deswegen ist diese Geschichte rund um das Schicksal frisch verheirateter Paare heute besser als The First Hundred Days bekannt.[70] Der Beginn der eigentlichen Seifenoper-Ära im Fernsehen lässt sich auf das Jahr 1951 datieren. In diesem Jahr wurden etliche TV-Seifenopern gestartet, die sich Jahrzehnte lang im Programm halten konnten, so zum Beispiel Search for Tomorrow, Love of Life oder The Edge of Night. Die einzige Seifenoper, die den Sprung vom Radio ins Fernsehen schaffte, war The Guiding Light. Sie lief von 1952 an vier Jahre lang parallel in beiden Medien, bis die Radio-Version 1956 abgesetzt wurde – die Fernseh-Version läuft noch heute. Die weitere Geschichte der TV-Seifenoper kann man in folgende Abschnitte gliedern:[71]
1. Die Anfänge der Fernseh-Soaps waren durch eine beschränkte Ausstattung und wenig attraktive Schauspieler gekennzeichnet; in den Geschichten ging es hauptsächlich um familiäre Belange. Die einzelnen Folgen hatten noch, wie zuvor im Radio, eine Länge von 15 Minuten.
2. As The World Turns läutete Ende der fünfziger Jahre die zweite Phase ein: Der Schwerpunkt wurde jetzt mehr auf die Charaktere und deren Innenleben gelegt, es wurde viel über Gefühle diskutiert und psychologisiert.
3. Die dritte Phase begann mit Days Of Our Lives im Jahr 1965 und wird oft auch als „era of relevance“[72] bezeichnet. Das inhaltliche Spektrum der Soaps weitete sich zunehmend aus, sie behandelten nun mehr konfliktreiche oder bislang tabuisierte Themen und setzten sich mit dem gesellschaftlichen Wandel auseinander. Das erste Mal waren in den Seifenopern afro-amerikanische Darsteller zu sehen, wenn auch nur in Nebenrollen.
4. In den siebziger Jahren mussten die Soap-Macher auf die veränderte demographische Zusammensetzung des Publikums reagieren. Das Hausfrauen-Publikum nahm mit der Frauen-Bewegung ab, dafür schauten sich immer mehr Männer, vor allem Schüler und Studenten, die Seifenopern an. Dies spiegelte sich sowohl in der Auswahl der Charaktere als auch in den Handlungen wider: Es wurde mehr Wert auf Jugendlichkeit gelegt, Musik und sexuelle Beziehungen wurden wichtige Bestandteile der Soap-Geschichten.
5. Ende der siebziger Jahre wurden die Geschichten immer reicher an Action und Spannung. Die Soap General Hospital, in der die jungen Protagonisten immer wieder in Kriminalfälle verstrickt wurden, entwickelte sich zum Trendsetter. Mittlerweile hatten alle Seifenopern eine Länge von einer halben oder einen ganzen Stunde.
6. In den achtziger Jahren nahm das Interesse an den glanzvolleren Welten der Prime-time Soaps wie Dallas oder Dynasty zu. Die Daily Soaps schwächelten derweil: „In 1960, soap operas were on the air 210 minutes each broadcast day [...]. In 1970, they were on 510 minutes, in 1982, 690 minutes, and in 1983, 600 minutes. The actual number of individual programs has also decreased: 17 in 1970-71, 14 in 1982, and 12 in 1983.“[73]
7. In den neunziger Jahren schließlich litten nicht mehr nur die Daily Soaps, sondern auch die Prime-time Soaps an Zuschauerrückgang. Während zunehmend Teen Soaps wie Beverly Hills, 90210 oder Melrose Place das Programm dominierten, „sank [...] die Zahl der täglich ausgestrahlten Seifendramen auf einen im Fernsehen noch nie dagewesenen Tiefststand“[74].
4. Seifenopern in Deutschland
Im Gegensatz zu der Situation in den USA ist die Seifenoper in Deutschland noch ein recht junges Phänomen. Sie muss daher hierzulande im Kontext der Familienserien gesehen werden, da diese laut Rogge „zum Synonym, zum Inbegriff für pflegeleichte Unterhaltung, zur deutschen Variante der Soap oder Primetime Opera“[75] wurde. Der Begriff „Familienserie“ muss dabei in zweierlei Hinsicht gedeutet werden: „zum einen dreht sich der Inhalt um eine, in letzter Zeit meistens mehrere Familien. Und zum anderen ist als Zielgruppe des Programms ebenfalls die Familie angesprochen, was sich unter anderem auch in den Sendeplätzen der Serien niederschlägt.“[76]
4.1. Die Tradition der Familienserie im deutschen Fernsehen
Familienserien sind im deutschen Fernsehprogramm fast so alt wie das Medium selber. Rogge unterscheidet in der Geschichte des Formats mehrere Entwicklungsstufen:[77]
Die erste Phase wird durch die Serie Unsere Nachbarn heute Abend: Die Schölermanns gekennzeichnet, die 111 Folgen lang von 1954 bis 1960 im Programm der ARD zu sehen war.[78] In den damaligen Serien stand die heile Familie im Vordergrund, die der traditionellen Rollenverteilung folgt. Die behandelten Probleme entstammten dem privaten Bereich oder der Arbeitswelt, politische oder soziale Themen spielten kaum eine Rolle: „[G]leichwohl leben die Fernsehfamilien à la Hesselbach und Forellenhof in einer Gesellschaftsferne, kommen politische und soziale Rahmenbedingungen nur am Rande und äußerst diffus vor, werden die Familienprobleme als private verortet.“[79]
Dies änderte sich mit Beginn der zweiten Phase Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre, als einige Serien auch gesellschaftliche Themen problematisierten, so z.B. Die Unverbesserlichen, Faßbinders Acht Stunden sind kein Tag (1972/73) oder Ein Herz und eine Seele (1973), die aus Ekel Alfred, dem Inbegriff des spießigen Kleinbürgers, eine Kultfigur machte. Konflikte in diesen Serien dauerten länger und ließen sich nicht mehr immer am Ende einer jeden Folge lösen. Die Familie wurde zunehmend als Funktionsgemeinschaft dargestellt, nicht mehr wie in den fünfziger Jahren als Rückzugsort.
In den achtziger Jahren wurde mit der Vermarktung von Serien und ihren Stars begonnen. Gleichzeitig war mit der Schwarzwaldklinik, die als Antwort auf eine vorausgegangene lange Phase der Kaufproduktionen im deutschen Fernsehen am 22. Oktober 1985 auf Sendung ging, wieder ein Rückgriff auf traditionelle Familienkonstellationen zu beobachten. Ähnlich wie in den fünfziger Jahren war in dieser Serie wieder ein „vaterzentrierter Blickwinkel“[80] zu erkennen. Auch in den US-Importen Dallas und Denver Clan blieb die Familie bei allen Intrigen, Verbrechen und emotionalen Verwirrungen der Fels in der Brandung. Nur die Lindenstraße (Starttermin 8. Dezember 1985) setzte sich von diesem konservativen Trend in der Fernsehunterhaltung ab, indem sie an die sozialrealistische Tradition der englischen Seifenopern anknüpfte. Dennoch ist Rogge der Meinung, dass die Gesellschaftskritik in dieser Serie zu sehr an der Oberfläche blieb: „Die Lindenstraße hat [...] eine Chance vertan, das Genre der Familienserie inhaltlich neu zu füllen, der Schwarzwaldklinik Paroli zu bieten.“[81]
Eine etwas andere Unterteilung der Seriengeschichte unter Berücksichtigung der amerikanischen Serien im deutschen Fernsehen liefert Hickethier. Er strukturiert sie an Hand der einzelnen Jahrzehnte und unterscheidet zwischen dem „Jahrzehnt der ‚Schölermanns‘“ (fünfziger Jahre), dem „‘Bonanza‘-Jahrzehnt“ (sechziger Jahre), dem „Jahrzehnt der sozialkritischen Serien“ (siebziger Jahre) und dem „‘Dallas‘-Jahrzehnt“ (achtziger Jahre).[82] In der wissenschaftlichen Literatur der neunziger Jahre wurde vorgeschlagen, diese Einteilung um das „Jahrzehnt der Daily Soaps“[83] zu erweitern, da sich diese Dekade durch den Erfolg der eigenproduzierten deutschen Seifenopern auszeichnete.
4.2. Die Entwicklung der Daily Soaps in Deutschland
Die Geschichte der täglich ausgestrahlten Seifenopern in Deutschland lässt sich in folgende vier Phasen gliedern:[84]
Die Versuchsphase 1986-1989: Als in den achtziger Jahren in Deutschland das duale Rundfunksystem eingeführt wurde, suchten die privaten Anbieter nach einer günstigen Möglichkeit, ihr Nachmittagsprogramm zu füllen. Da sie die amerikanischen Daily Soaps zum Nulltarif einkaufen konnten[85], tauchte bei den kommerziellen Sendern plötzlich eine Flut des dem deutschen Fernsehzuschauer bisher unbekannten Genres auf. RTL übernahm dabei die Vorreiterrolle mit der Springfield Story, die am 27. Mai 1986 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde[86]. Für die neuen Anbieter auf dem Fernsehmarkt bestand die Funktion der Daily Soaps nicht nur darin, möglichst kostengünstig das Programm zu füllen, sondern auch darin, die Zuschauer an den Sender zu binden.
Die Etablierungsphase 1990-1992: Anfang der neunziger Jahre hatte sich bereits eine Fankultur rund um die amerikanischen Daily Soaps gebildet. Gleichzeitig passte sich die Platzierung der Seifenopern im Programm immer mehr dem amerikanischen Vorbild an. Sie liefen jetzt nicht mehr über den ganzen Tag verteilt, sondern hauptsächlich am Vormittag, und wurden mit anderen Seifenopern oder ähnlichen Formaten wie Gameshows und Talkshows blockprogrammiert. Damit wollte man den „audience flow“[87] so hoch wie möglich halten. Auf Grund des Erfolgs der amerikanischen Seifenopern wurden Überlegungen nach eigenproduzierten Daily Soaps laut. Und so startete am 11. Mai 1992 auf RTL die erste im engeren Sinne „echte“ deutsche Seifenoper Gute Zeiten, Schlechte Zeiten.[88]
Die Expansionsphase 1992-1995: In dieser Zeit nahm nicht nur die Zahl der amerikanischen Soaps im deutschen Fernsehen weiter zu, sondern auch die deutsche Seifenoper erlebte einen wahren Boom. RTL nahm Ende 1994 seine zweite eigenproduzierte Daily Soap Unter Uns[89] in das Programm auf, die ARD zog mit Marienhof und Verbotene Liebe[90] zu Beginn des Jahres 1995 nach.
Die Sättigungsphase ab 1996: Ende der neunziger Jahre trennte sich die Spreu vom Weizen: Immer mehr Sender wollten auf den erfolgreichen Zug der deutschen Daily Soaps aufspringen, doch das Publikum hatte sich bereits unter den zwei RTL- und den zwei ARD-Seifenopern aufgeteilt. Auch ehrgeizigere Projekte, wie die Soap Mallorca, die mit einem sehr viel höheren Budget ausgestattet und die einzige Seifenoper der Welt war, die außerhalb ihres Ausstrahlungslandes produziert und gedreht wurde, scheiterten.
4.3. Die deutschen Daily Soaps im Überblick
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die wichtigsten deutschen Seifenopern:
Tabelle 1: Deutsche Daily Soaps[91]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wie an Hand der Tabelle deutlich wird, konnten sich bis heute nur vier deutsche täglich ausgestrahlte Seifenopern durchsetzen: Gute Zeiten, Schlechte Zeiten und Unter Uns auf RTL, sowie Marienhof und Verbotene Liebe auf ARD. Da sich Kapitel III ausführlich mit den letzteren beschäftigen wird, sollen hier kurz die beiden RTL-Soaps vorgestellt werden.
Gute Zeiten, Schlechte Zeiten (GZSZ):
Die Vorlage der ersten deutschen Daily Soap stammt aus Australien. Die Firma Grundy International brachte die Serie The Restless Years rund um eine Gruppe von Schulabgängern nach Europa, wo sie zunächst auf dem holländischen Sender RTL4 zu sehen war – nicht als Synchronfassung, wie andere australische Soaps zuvor, sondern als niederländische Adaption: Die Drehbücher wurden übersetzt, an holländische Verhältnisse angepasst, anschließend verfilmt und unter dem Titel Goede tijden, slechte tijden ausgestrahlt.[92] Da dieses Konzept sehr erfolgreich war, zeigte RTL bald Interesse an einer deutschen Adaption von The Restless Years. Grundy schloss sich daraufhin mit der UFA Film- und Fernsehproduktion als lokalem Partner zusammen und man verfuhr ähnlich wie in Holland – der erwünschte Erfolg von Gute Zeiten, Schlechte Zeiten blieb allerdings trotz des guten Sendeplatzes[93] zunächst aus. RTL hielt jedoch an seiner Seifenoper fest, und nachdem man mit Folge 230 dazu übergegangen war, sich von den australischen Drehbüchern zu lösen und eigene Storylines zu entwickeln, stiegen die Zuschauranteile für GZSZ stetig an. Sie erreichten 1998 ihren Höhepunkt bei Folge 1.500 mit einer Quote von 6,73 Millionen Zuschauern (das entsprach einem Marktanteil von 34,4% bei den 14-49-jährigen Zuschauern), dann sanken die Zuschauerzahlen wieder, die sich mittlerweile bei durchschnittlich fünf Millionen eingependelt haben.[94] GZSZ ist damit die erfolgreichste aller deutschen Daily Soaps und ist aus dem RTL-Programm nicht mehr weg zu denken. „Am 13. Juni 2000 wurde die 2.000. Episode erreicht, eine Anzahl an Folgen, die kein anderes Fiction-Programm Deutschlands aufweisen kann. Und ein Ende ist noch lange nicht abzusehen. Sollten die Quoten nicht dramatisch in den Keller fallen, wird GZSZ wohl auch in 50 Jahren noch ausgestrahlt werden.“[95]
Inhaltlich dreht es sich in GZSZ wie für deutsche Soaps üblich hauptsächlich um junge Leute, auch wenn man sich vom Ursprungskonzept rund um die Schulabgänger inzwischen entfernt hat. Zum den Inhalten der Soap, die sich als Trendsetter versteht und als einzige in Berlin produziert wird und auch in der Hauptstadt spielt, gehören „Liebe und Beziehungen, Klamotten, Lifestyle, Musik und zahlreiche Lösungsmöglichkeiten für ernste Lebenskrisen“[96].
Unter Uns (UU):
Zweieinhalb Jahre nach GZSZ wagte RTL den Versuch, eine weitere Daily Soap in sein Programm zu nehmen. Auch hier war wieder eine australische Seifenoper Vorlage: Neighbours, die in ihrem Ursprungsland sehr erfolgreich ist und mehrere große Musikstars hervorgebracht hat.[97] Diesmal wurde allerdings nur noch das Konzept rund um benachbarte Familien in einem großen Wohnhaus übernommen. Margot Weigel ist der „Hausdrachen“ in der fiktiven Schillerallee 10, sie „kümmert sich persönlich um ihre Mieter und schnüffelt schon mal in fremden Wohnungen, sollte es erforderlich sein.“[98] Die Geschichten ranken sich rund um die wechselnden Bewohner des Hauses: Neben den Weigels, denen auch die Konditorei im Haus gehört, sind das die Professorenfamilie Albrecht, die Hoffmeisters, Familie Sandmann, die Familie Kramer, die Dach-WG, in der ein ständiges Kommen und Gehen herrscht, eine kleine Frauen-WG und die Familie Falkenberg. „Von ihren Liebhabern wird UU als realistischste aller Soaps angesehen. Die Storys sind bodenständig, nachvollziehbar und behandeln dennoch Alltagsprobleme, die jeden treffen können. Die Kritiker der Serie bemängeln, dass UU die hölzernste und langweiligste aller Soaps sei.“[99] Um ihre Story aufzupeppen, greifen die Macher von Unter Uns auch ab und zu zu ungewöhnlichen Mitteln: So ist UU die einzige Soap, in der schon einmal Außerirdische vorkamen.
Unter Uns ist die insgesamt Quoten-schwächste der deutschen Daily Soaps, was auch mit dem frühen Sendetermin[100] zusammenhängen könnte. Sie kommt nur selten über drei Millionen Zuschauer, im August 2000 waren es sogar nur 1,5 Millionen.[101] Vom Publikum her ist sie allerdings die jüngste deutsche Seifenoper und konnte daher bei den 14-29-jährigen schon bis zu 27% Marktanteil erreichen.[102]
III. Analyse der ARD-Soaps
„Mittwochabend, und unter deutschen Dächern tobt der Alltag: [...] Ab 17.55 Uhr weint die Strass-behängte Clarissa, weil Peter ihr Bestechung und Einbruch vorwirft. Jule ärgert sich, weil sie beim Pizza-Service Scampis bestellt und Champignons bekommen hat, tröstet sich dann aber mit Nina. Und das obligatorische Schwulenpaar Ulli/Tom pflegt den eigenen Beziehungsstress mit traurigen Kulleraugen im noch traurigeren Möbelhaus-Ambiente.
Um 18.25 Uhr wird Lennard dann als Sonnenstudio-Spanner geoutet. Elena schwitzt nach verheerendem Kurzgastspiel in einem Porno ebenfalls eine mittelschwere Depri aus, während Lucy ihrem Lehrer Dominik aus Blutwurz einen ‚Liebestrank‘ zaubern will, worauf der in Tiefschlaf verfällt.“[103] So ironisch-distanziert beschreibt der SPIEGEL in aller Kürze die beiden Daily Soaps in der ARD, Verbotene Liebe (produziert von Grundy UFA) und Marienhof (produziert von der Bavaria Film GmbH). Im Grunde wären beide Serien dieser Beschreibung nach austauschbar. Seifenopern, so viele Kritiker des Genres, sind sowieso alle gleich und erzählen die immer gleichen Geschichten. Was in den Grundzügen sicherlich nicht ganz falsch gedacht ist, muss in den Details allerdings korrigiert werden. In der Tat weisen die Daily Soaps untereinander durchaus Unterschiede auf, und gerade Verbotene Liebe und Marienhof müssen auf Grund ihrer besonderen Programmierung direkt hintereinander auf dem selben Sender Wege und Mittel finden, sich gegeneinander abzugrenzen. Wie sie das tun und worin sich dies ausdrückt, kann nur an Hand einer eingehenden Einzelanalyse beider Soap Operas untersucht werden, die in diesem Kapitel geleistet werden soll. Worin die Unterschiede, aber auch die Ähnlichkeiten der beiden Serien liegen, soll im daran anschließenden Vergleich reflektiert werden.
Bevor mit der Analyse begonnen werden soll, sei noch darauf hingewiesen, dass es bezüglich der Inhalte der deutschen Daily Soaps schon eine Studie gibt. Seit mehreren Jahren beschäftigt sich ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Projekt am Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung in Duisburg mit der Produktion, den Inhalten und der Rezeption der eigenproduzierten deutschen Daily Soaps. Die inhaltsanalytischen Befunde, die hauptsächlich von Udo Göttlich veröffentlicht wurden, sind Ergebnisse einer quantitativen Studie, die an Hand von Samples der vier Daily Soaps aus mehreren Jahren gewonnen wurden[104] und sollen hier zunächst in Teilen kurz wiedergegeben werden.
Auf der Ebene der Themen unterschieden die Forscher zwischen interpersonalen (romantische Beziehung, Freundschaft, Familie, Ehe, interpersonale Beziehung, berufliche/geschäftliche/schulische Fragen) und nichtzwischenmenschlichen Themenarten (berufliche/geschäftliche/schulische Fragen, Persönlichkeit, Small Talk, Gesundheit, häusliche Angelegenheiten, deviantes Verhalten, Sonstiges). Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist interessant, dass die augenfälligsten Unterschiede zwischen den ARD-Soaps auf der einen und den RTL-Soaps auf der anderen Seite zu verzeichnen sind, die Unterschiede zwischen Verbotene Liebe und Marienhof hingegen nicht so immens groß sind.[105] So behandeln beide mit 62% bzw. 69% der interpersonalen Themenarten das Thema „romantische Beziehung“, während der Anteil bei den RTL-Seifenopern nur bei 32% (Gute Zeiten, schlechte Zeiten) bzw. 33% (Unter uns) liegt. Bei den nichtzwischenmenschlichen Themenarten ist bei GZSZ und Unter uns der Anteil an beruflichen/geschäftlichen/schulischen Fragen besonders hoch (62% bzw. 44%), während Verbotene Liebe und Marienhof mehr auf die Themen „Persönlichkeit“ (30% bzw. 31%) und „Gesundheit“ (14% bzw. 20%) fokussieren.
Vergleicht man die beiden ARD-Soaps, fällt der prozentual höhere Anteil an Liebesthemen bei Marienhof gegenüber Verbotene Liebe (69% gegenüber 62%) auf, und auch bezüglich der Bereiche „Ehe“ und „deviantes Verhalten“ liegt die Bavaria-Soap mit 14% bzw. 15% (gegenüber 1% bzw. 3% bei VL) deutlich vorne. Der Anteil des Themas „Familie“ liegt bei Verbotene Liebe bei 26% der interpersonalen Themenarten, wohingegen der Anteil bei Marienhof nur auf 4% beziffert wird. Anders herum ist das Verhältnis beim Thema „Freundschaft“: 10% Anteil bei Marienhof stehen 8% Anteil bei Verbotene Liebe gegenüber. Auch der relativ hohe Anteil an Gesundheits-Themen bei der Bavaria-Soap (20% der nichtzwischenmenschlichen Themenarten, gegenüber 14% bei VL) ist auffällig und sollte im Verlauf der späteren Analyse im Auge behalten werden. Ein besonders deutliches Bild ergibt sich bezüglich der Konfliktebenen: Mit 12% politischen/gesellschaftlichen/sozialen Fragen hebt sich Marienhof nicht nur gegenüber Verbotene Liebe (2%), sondern auch gegenüber den beiden RTL-Soaps (je 1%) ab.[106]
Die Zahlen dieser quantitativen Untersuchung, die an Hand von statistischen Verfahren Kategorien gebildet, Zuordnungen geschaffen und die sich daraus ergebenden Verteilungen ausgezählt hat, sagen jedoch noch nichts darüber aus, wie die einzelnen Themen in den beiden Seifenopern dargestellt, behandelt und evtl. auch bewertet werden. Hier soll die folgende qualitative Inhaltsanalyse ansetzen, die versucht, eigene Kategorien zu bilden, an Hand derer beispielhaft ausgesuchte Folgen von Verbotene Liebe und Marienhof untersucht werden. Da aber „die Untersuchung des Verschiedenem im Gleichen bzw. Ähnlichen“[107], wie Hickethier die Suche nach Unterschieden innerhalb eines Genres nennt, nicht nur auf die vermittelten Inhalte der beiden ARD-Dailies beschränkt sein sollte, werden die zwei Seifenopern im größeren Zusammenhang gesehen: Bevor die Inhalte untersucht werden, sollen also zunächst der geschichtliche Hintergrund der beiden Soap Operas, ihre Herstellungsweise, der formale Aufbau bzw. die Struktur einer Folge und die in den Serien vorkommenden Handlungsschauplätze und Figuren analysiert werden. Nur so ist es möglich, daran anschließend einen umfassenden Vergleich von Verbotene Liebe und Marienhof leisten und eventuell zu Tage tretende Differenzen erklären bzw. interpretieren zu können.
[...]
[1] Martenstein 1996, S.11f.
[2] vgl. Ang 1986, S.21
[3] zu deutsch: „Waschbrettschnulze“, vgl. Allen 1985, S.8
[4] zur Geschichte der Seifenoper vgl. Kap. II.3.
[5] Süß/Kosack 2000, S.49
[6] Allen 1985, S.8-9
[7] ebd., S.9
[8] Kingsley 1989, S.1
[9] Die folgenden Ausführungen beziehen sich nur auf Seifenopern im Fernsehen, da es heute keine Radio-Soaps mehr gibt. Zu diesen vgl. Kapitel II.3.
[10] vgl. Wiegard 1999, S.10
[11] Geißendörfer 1995, S.14; zum Begriff des Cliffhangers vgl. Kap.II.2.5.
[12] vgl. Wiegard 1999., S.10-11
[13] vgl. Kampfmann 1999, S.72
[14] Cantor/Pingree 1983, S.19
[15] Wiegard 1999, S.14-15
[16] Cantor/Pingree 1983, S.25
[17] vgl. ebd., S.26 und Wiegard 1999, S.15
[18] Cantor/Pingree 1983, S.26
[19] vgl. ebd., S.26-27 und Wiegard 1999, S.15-16
[20] Arnheim, Rudolf: „The world of the daytime serial.“ In: Lazarsfeld, P. / Stanton, F. (Hrsg.): Radio Research, 1942-1943. New York, 1944, S.47. Zitiert nach: Cantor/Pingree 1983, S.82
[21] Cantor/Pingree 1983, S.27
[22] vgl. die zusammenfassende Analyse unterschiedlicher Studien bezüglich des Inhalts bei Cantor/Pingree 1983 und die Studie von Luchting 1995
[23] vgl. Cantor/Pingree 1983, S.80 und Luchting 1995, S.157
[24] Cantor/Pingree 1983, S.83
[25] ebd., S.84
[26] ebd., S.83
[27] Luchting 1995, S.156
[28] Cantor/Pingree 1983, S.84
[29] die Bezeichnungen der Genre Codes wurden von Kampfmann 1999 (S.89 ff.) übernommen. Die Kategorisierung vor allem der audio-visuellen Codes stammt jedoch von Luchting 1995 und wurden von Kampfmann lediglich aufgegriffen.
[30] Dennis Porter: Soap Time: Thoughts on a Commodity Art Form. In: Horace Newcomb (Hrsg.): Television: The Critical View. New York, 1982, S.89. Zitiert nach: Allen 1985, S.13
[31] ebd.
[32] Moritz, Peter: Seife fürs Gehirn. Fernsehen im Serienalltag. Münster 1996, S.105. Zit. nach Kampfmann 1999, S.91.
[33] Cantor/Pingree 1983, S.23
[34] ebd., S.23
[35] vgl. ebd., S.142-143
[36] vgl. ebd., S.55
[37] diese Bezeichnung stammt vom stellvertretenden Marienhof -Produzenten Martin Bach. Vgl. Schwanebek 2001, S.19
[38] Kampfmann 1999, S.95
[39] Simon-Zülch 2001, S.23
[40] vgl. z.B. Kingsley 1989, S.4
[41] Göttlich/Nieland 1997, S.195
[42] ebd., S.195
[43] vgl. Kampfmann 1999, S.96
[44] Luchting 1995, S.150
[45] vgl. Luchting 1995, S.153
[46] vgl. Göttlich/Nieland 1997, S.193f.
[47] ebd., S.193
[48] ebd., S.194
[49] ebd., S.194
[50] Göttlich und Nieland untersuchen in dem oben angegebenen Text beispielsweise diese Darstellungsprinzipien in der politischen Berichterstattung. Aber auch in Formaten wie dem Reality-TV oder den Talkshows lässt sich der Trend zu Personalisierung, Privatisierung und vor allem Intimisierung ablesen.
[51] vgl. Kapitel II.2.2. und II.2.3.
[52] vgl. dazu genauer Kapitel II.4.
[53] an dieser Stelle soll beispielhaft nur die Entwicklung im Ursprungsland der Seifenoper, den USA, dargestellt werden. Zu einer kurzen Einführung in die Geschichte der australischen bzw. britischen Soap Operas vgl. Kap. III.1.1. und Kap. III.2.1.
[54] vgl. Hagedorn 1995, S.29
[55] vgl. Luchting 1995, S.52-53
[56] Die National Broadcasting Company (NBC) wurde 1926 gegründet, Columbia Broadcasting System (CBS) 1927. Vgl. Hagedorn 1995, S.34 und Cantor/Pingree 1983, S.34
[57] vgl. Allen 1985, S.103 und Kampfmann 1999, S.72
[58] vgl. Luchting 1995, S.54
[59] ebd., S.55. Beispiele für solche Shows sind Palmolive Hour, Wrigley Revue, Ivory´s Beauty School oder die Crisco Cooking Show
[60] ebd., S.57
[61] Zu der genauen Anzahl herrscht in der einschlägigen Literatur ziemliche Verwirrung. Spricht Allen 1985 noch von 40 Mio. Zuhörern pro Woche (S.104), so gibt Luchting die Zahl von 40 Millionen pro Tag an (S.56).
[62] vgl. Allen 1985, S.111. Irna Philipps wurde zu einer der wichtigsten Personen in der Geschichte der Soap Operas. Als Autorin war sie verantwortlich für etliche Seifenopern, manchmal schrieb sie sogar an mehreren gleichzeitig, und prägte somit inhaltlich das ganze Genre. Neben Philipps sollte auch das Ehepaar Hummert erwähnt werden, die maßgeblichen Einfluss auf die Produktionsweise und die Struktur der Soaps hatten. Vgl. dazu Cantor/Pingree 1983, S.40-44
[63] Luchting 1995, S.57
[64] ebd., S.57
[65] so z.B. The Guiding Light 1937, die langlebigste Seifenoper aller Zeiten, die, mittlerweile unter dem Namen Guiding Light (in Deutschland: Springfield Story), heute noch im Fernsehen läuft,.
[66] Cantor/Pingree 1983, S.39; Luchting 1995, S.59
[67] vgl. Cantor/Pingree 1983, S.38-39
[68] ebd., S.40
[69] Cantor/Pingree 1983, S.48. A Woman To Remember wird oftmals nicht als erste TV-Seifenoper bezeichnet, weil nicht bekannt ist, ob sie abends oder tagsüber lief.
[70] Luchting 1995, S.61
[71] vgl. ebd., S.62ff. und Kampfmann 1999, S.74-76; die Einteilung der Phasen eins bis fünf stammt von dem Fernsehhistoriker Alan L. Gansberg.
[72] vgl. Luchting 1995, S.62
[73] Cantor/Pingree 1983, S.48-49
[74] Luchting 1995, S.64
[75] Rogge 1987, S.148
[76] Rössler 1988, S.53
[77] vgl. Rogge 1987, S.149-156
[78] vgl. Hickethier 1991, S.21. Eine andere Serie aus dieser Phase ist die HR-Produktion Die Familie Hesselbach bzw. Die Firma Hesselbach, die 1949-1956 im Radio lief, als Verfilmung in vier Teilen im Kino zu sehen war und in den sechziger Jahren ins Fernsehen kam; vgl. Kampfmann 1999, S.77
[79] Rogge 1987, S.150
[80] Rössler 1988, S.53
[81] Rogge 1987, S.154-155
[82] vgl. Hickethier 1991, S.21-26
[83] vgl. Jurga 1997, S.163
[84] die Einteilung folgt Luchting 1995, S.95ff.
[85] Es handelte sich um sog. Bartergeschäfte, d.h. die Sender zahlten den Produktionsfirmen (meist Tochterfirmen von großen Waschmittelkonzernen wie Procter & Gamble, die in den USA nach wie vor ihre Seifenopern selber produzieren) kein Geld, sondern stellten ihnen im Umfeld der Sendung Werbezeiten zur Verfügung.
[86] vgl. Luchting 1995, S.95-96
[87] „audience flow“ (Programmfluss) bedeutet, dass das Publikum nach einer Sendung zur darauf folgenden „mitgenommen“ wird. Vgl. Kampfmann 1999, S.98f.
[88] Näheres zu Gute Zeiten, Schlechte Zeiten vgl. nächstes Kapitel.
[89] Näheres zu Unter Uns vgl. nächstes Kapitel.
[90] Näheres zu Marienhof und Verbotene Liebe Kap.III.
[91] Quelle: Kampfmann 1999, S.86, Luchting 1995, S.112 und Evermann 2000, S.6ff.
[92] Nach etwa 300 Folgen ging man in Holland aus produktionstechnischen Gründen dazu über, eigene Storylines und Drehbücher zu entwickeln. Vgl. Sánchez Lansch 2001, S.33f.
[93] Mo.-Fr. 19:40 bis 20:15 Uhr
[94] Quelle: Evermann 2000, S.12
[95] Evermann 2000, S.14
[96] ebd., S.13
[97] z.B. Kylie Minogue, Jason Donovan und Natalie Imbruglia. Vgl. Lukaszewski/Nieland 1998, S.14
[98] Evermann 2000, S.21
[99] ebd., S.23
[100] Mo.-Fr., 17:30 bis 18 Uhr
[101] Quelle: Evermann 2000, S.22 und Gehrs/Tuma 2000, S.3 von 4
[102] Quelle: Evermann 2000, S.22
[103] Gehrs/Tuma 2000, S.1 von 4
[104] zu den Ergebnissen vgl. ausführlich Göttlich/Krotz/Paus-Haase 2001 und Göttlich 2000
[105] Quelle der folgenden Angaben: Göttlich 2000, S.41
[106] Quelle: Göttlich 2000, S.43
[107] Hickethier 1994, S.20
- Citation du texte
- M. A. Nikola Weiß (Auteur), 2003, Deutsche Daily Soaps - Eine vergleichende Analyse der ARD-Serien Verbotene Liebe und Marienhof, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/15270
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