Als Papst Urban II. vor über 900 Jahren vor den Toren der französischen Stadt
Clermont die gesamte abendländische Christenheit zum bewaffneten Kampf gegen
die Ungläubigen und zur Befreiung des Heiligen Landes aufrief kann es nur reine
Spekulation bleiben, ob ihm die enorme Tragweite seiner Entscheidung und das
weitriechende Ausmaß seiner Vision, welche prägend für das
Kollektivbewusstsein 1 und das Schicksal von Generationen von Menschen aus
allen Bevölkerungsschichten und vielen Ländern sein sollte, bewusst war bzw.
überhaupt bewusst sein konnte2. Gewiss ist nur, dass die Idee, der von ihm ins
Leben gerufenen Bewegung, bis in die heutige Zeit hineinwirkt, den Verlauf der
Geschichte nachhaltig beeinflusst hat und eine der signifikantesten
Kontinuitätslinien des europäischen Mittelalters darstellt.3 Zehntausende folgten in
den Jahren nach Clermont den Aufrufen der Päpste und mussten mit ansehen, wie
das Heilige Land, nicht weniger als das religiöse Zentrum ihres Glaubens, nach
anfänglichen Siegen Stück für Stück und, mit dem Verlust des letzten
Kreuzfahrerstützpunktes Akkon 1291 4 an die Mameluken, so scheint es
zumindest5, sogar endgültig verloren ging. [...]
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1 Der Begriff des Kollektivbewusstseins wurde erstmals verwendet von dem französischen
Soziologen Émile Durkheim in seiner Schrift „Les Règles de la méthode sociologique“ (Paris 1895)
und meint die Summe der zentralen Werte, Normen und sozialen Vorstellungen einer Gesellschaft,
welchen sich das Individuum mehr oder weniger bewusst unterordnet und für sich übernimmt. Hier
allerdings zitiert nach: Émile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode. Herausgegeben
und eingeleitet von René König. 5. Aufl. Darmstadt und Neuwied 1976, S. 105-106.
2 Vgl. Adolf Waas: Geschichte der Kreuzzüge. Freiburg im Breisgau 2007, S. 70-71.
3Vgl. Christopher Tyerman: The Invention of the Crusades. Houndmills [u.a.] 1998, S.1.; Jonathan
Riley-Smith: Wozu heilige Kriege? Anlässe und Motive der Kreuzzüge. Aus dem Englischen von
Michael Müller. Berlin 2003 (zuerst: Basingstoke und New York 1977), S. 7-8.; Margret Spohn:
Alles getürkt. 500 Jahre (Vor)Urteile der Deutschen über die Türken (Studien zur Soziologie und
Politikwissenschaft). Oldenburg 1993, S. 11.
4 Da alle Jahresangaben „n. Chr.“ sind, wird dieser Zusatz weggelassen.
5 Vgl. Klaus-Peter Matschke: Das Kreuz und der Halbmond. Die Geschichte der Türkenkriege.
Düsseldorf [u.a.] 2004, S. 15-16 und S.42.
Inhalt
1. Einleitung
2. Die islamische Expansion
3. Der Kreuzzugsaufruf von Clermont und der erste Kreuzzug
4. Die osmanische Expansion und die Veränderung der Kreuzzugsidee
5. Der Fall Konstantinopels 1453 und die Rede „Constantinopolitana clades“
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Als Papst Urban II. vor über 900 Jahren vor den Toren der französischen Stadt Clermont die gesamte abendländische Christenheit zum bewaffneten Kampf gegen die Ungläubigen und zur Befreiung des Heiligen Landes aufrief kann es nur reine Spekulation bleiben, ob ihm die enorme Tragweite seiner Entscheidung und das weitriechende Ausmaß seiner Vision, welche prägend für das Kollektivbewusstsein1 und das Schicksal von Generationen von Menschen aus allen Bevölkerungsschichten und vielen Ländern sein sollte, bewusst war bzw. überhaupt bewusst sein konnte2. Gewiss ist nur, dass die Idee, der von ihm ins Leben gerufenen Bewegung, bis in die heutige Zeit hineinwirkt, den Verlauf der Geschichte nachhaltig beeinflusst hat und eine der signifikantesten Kontinuitätslinien des europäischen Mittelalters darstellt.3 Zehntausende folgten in den Jahren nach Clermont den Aufrufen der Päpste und mussten mit ansehen, wie das Heilige Land, nicht weniger als das religiöse Zentrum ihres Glaubens, nach anfänglichen Siegen Stück für Stück und, mit dem Verlust des letzten Kreuzfahrerstützpunktes Akkon 12914 an die Mameluken, so scheint es zumindest5, sogar endgültig verloren ging. Die Aufrufe zu Kreuzzügen und die
Kreuzzugsbestrebungen christlicher Herrscher ebbten jedoch auch in der Folgezeit nicht ab und die Essenz der Vision Papst Urbans II. blieb, im abendländischen Gedankengut weiterhin tief verwurzelt, erhalten. Mit der Machtergreifung und Ausbreitung der Osmanen im 13. und 14. Jahrhundert sah sich die Christenheit plötzlich mit einer völlig neuartigen Bedrohung konfrontiert. Diese gingen in ihren Expansionsbestrebungen weitaus aggressiver vor und waren besser organisiert als all ihre Vorgänger6. Der Krieg fand nun nicht mehr in einem weit entfernten Land statt, sondern wurde stetig weiter in das Herz Europas getragen. Man musste sich kontinuierlich verteidigen und es kam sogar so weit, dass nicht weniger als der Fall des Abendlandes selbst vor den Toren Wiens im Jahr 1529 mit Mühe und Not abgewendet werden musste.7 Wie sich auf Dauer eines so schier übermächtigen Gegners erwehren? Das einzig adäquate und probate Mittel im Kampf gegen die Türken sah man über viele Jahrhunderte hinweg im Kreuzzug.
Der Forschung mangelt es nicht an wissenschaftlichen Abhandlungen über die Geschichte der Kreuzzüge. Heraus zu heben sind die Arbeit von Carl Erdmann8, welche, obwohl in Einzelfragen kontrovers diskutiert, heute noch maßgeblichen Einfluss auf die Forschungsdebatte nimmt, die Arbeit von Jonathan Riley-Smith9 und das bereits seit langem etablierte Standardwerk Hans-Eberhard Mayers10, um hier nur einige zu nennen.11 Dieses gilt ebenso für die wissenschaftlichen Arbeiten, teilweise sogar schon in die Epoche der Frühen Neuzeit übergreifend, um den Themenkomplex der kritischen Auseinandersetzung mit den Türkenkriegen im ausgehenden Spätmittelalter.12 Dennoch (oder aber gerade deswegen) herrscht unter Historikern bisweilen immer noch Uneinigkeit darüber, wann die Geschichte der Kreuzzüge eigentlich aufhört13 und was sich somit überhaupt unter diesen Begriff subsumieren lässt.14 Die Auswirkungen dieser Tatsache auf das Verständnis der Geschichte der Türkenkriege europäischer Herrscher gegen die Osmanen im 14. und 15. Jahrhundert und die Frage, ob diese schlichtweg „historischer Etikettenschwindel“15 waren und nur unter dem Deckmantel der Kreuzzüge propagiert und geführt wurden oder, ob man auch sie tatsächlich diesem Begriff zurechnen muss und die daraus resultierende Problematik sind schwerwiegend und zweifelsohne nicht ad hoc aufzulösen. Ziel dieser Arbeit ist daher der Versuch, mittels einer Darstellung von zwei verschiedenen Kreuzzugsaufrufen, sowie der Einordnung in ihren jeweiligen historischen Kontext, aufzuzeigen, ob und inwiefern die Kreuzzugsidee sich seit ihren Anfängen einem steten Wandel unterzog und den aktuellen politischen Gegebenheiten angepasst, evtl. sogar pervertiert, wurde. Die Hauptquellen werden hierfür Überlieferungen der Rede Papst Urbans II. vor dem Konzil von Clermont16 1095 und die Rede „Constantinopolitana clades“17 Enea Silvio Piccolominis, des späteren Papst Pius II., auf dem Frankfurter Reichstag von 1454 bilden.
Die islamische Expansion
Mit der Entstehung und Ausbreitung der islamischen Religion im 7. und 8. Jahrhundert trat, wie aus dem Nichts, ein neuer Akteur auf die Bühne des politischen Geschehens, welcher die abendländische Welt in der Folgezeit mehrfach in Angst und Schrecken versetzen und das alte Machtgefüge in seinen Grundfesten erschüttern sollte. Es gelang den Muslimen, nachdem der Prophet Mohammed die Arabische Halbinsel geeinigt hatte18, sich „vor allem durch kriegerische Expansion […] innerhalb von 90 Jahren vom Indus über die Pyrenäen“19 stetig auszubreiten. Während dieser Zeit brachten sie in westlicher Ausdehnung Nordafrika und große Teile Spaniens unter ihre Kontrolle, drangen sogar weit in das Zentrum Frankreichs vor wo sie erst 732, in der Schlacht von Tours und Poitiers, durch die Franken zurückgedrängt werden konnten, genauso wie große Teile der südöstlichen Mittelmeerküste, unter anderem Syrien, Palästina, 638 sogar die Stadt Jerusalem selbst und weite Teile der heutigen Türkei. Ihr Vordringen führte sie somit auch in den Machtbereich des oströmischen Kaiserreiches Byzanz, deren Hauptstadt Konstantinopel sie mehrfach belagerten, ohne sie jedoch einnehmen zu können.20 Das Christentum sah sich also gleich an mehreren Grenzen und auf verschiedenen Ebenen einer enorm gefährlichen Bedrohung ausgesetzt, da die Muslime einen völlig neuartigen Krieg, dessen Ziele nicht nur Ressourcen, Territorien, politische Vormachtstellung, etc. war, sondern einen religiös legitimierten heiligen Angriffskrieg, den Djihad (auch Gihad), dem nichts weniger inhärent war als die „Pflicht zur Unterwerfung der Ungläubigen“21, führten.22 Europäische Herrscher, geistliche und weltliche gleichermaßen, suchten lange Zeit nach einer effizienten Lösung und einer, dieser schwerwiegenden Krise, gerecht werdenden Reaktion, weil die islamische Expansion, Sarazenen fielen um 1100 sogar mehrmals in Italien ein, zumindest mit altbekannten Mitteln, scheinbar nicht aufzuhalten war.
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1 Der Begriff des Kollektivbewusstseins wurde erstmals verwendet von dem französischen Soziologen Émile Durkheim in seiner Schrift „Les Règles de la méthode sociologique“ (Paris 1895) und meint die Summe der zentralen Werte, Normen und sozialen Vorstellungen einer Gesellschaft, welchen sich das Individuum mehr oder weniger bewusst unterordnet und für sich übernimmt. Hier allerdings zitiert nach: Émile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode. Herausgegeben und eingeleitet von René König. 5. Aufl. Darmstadt und Neuwied 1976, S. 105-106.
2 Vgl. Adolf Waas: Geschichte der Kreuzzüge. Freiburg im Breisgau 2007, S. 70-71.
3 Vgl. Christopher Tyerman: The Invention of the Crusades. Houndmills [u.a.] 1998, S.1.; Jonathan Riley-Smith: Wozu heilige Kriege? Anlässe und Motive der Kreuzzüge. Aus dem Englischen von Michael Müller. Berlin 2003 (zuerst: Basingstoke und New York 1977), S. 7-8.; Margret Spohn: Alles getürkt. 500 Jahre (Vor)Urteile der Deutschen über die Türken (Studien zur Soziologie und Politikwissenschaft). Oldenburg 1993, S. 11.
4 Da alle Jahresangaben „n. Chr.“ sind, wird dieser Zusatz weggelassen.
5 Vgl. Klaus-Peter Matschke: Das Kreuz und der Halbmond. Die Geschichte der Türkenkriege. Düsseldorf [u.a.] 2004, S. 15-16 und S.42.
6 Eine grundlegende Darstellung zu Herkunft, Aufstieg und Ausbreitung der Osmanen findet sich bei Ernst Werner: Die Geburt einer Großmacht - Die Osmanen (1300 - 1481). Ein Beitrag zur Genesis des türkischen Feudalismus (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, Band 32). 4. verb. und wesentlich erw. Aufl. Weimar 1985, S. 359 ff.; Matschke: Kreuz, S. 38 ff.
7 Vgl. Matschke: Kreuz, S. 244-49.
8 Carl Erdmann: Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte, Band 6). Sonderausg. unveränd. reprograf. Nachdr. der Ausg. Stuttgart 1935. Darmstadt 1965.
9 Jonathan Riley-Smith: Die Kreuzzüge. Kriege im Namen Gottes (Herder-Spektrum, Band 4755). Aus dem Engl. Von Michaela Diers. Freiburg [u.a.] 1999.
10 Hans Eberhard Mayer: Geschichte der Kreuzzüge (Urban-Taschenbücher, Band 86). 10., überarb. und erw. Aufl. Stuttgart 2005.
11 Weiterhin Adolf Waas, Andrew Jotischky, Christopher Tyerman, John France, Ernst-Dieter Hehl, Steven Runicman, uvm. Eine kommentierte Auswahlbibliographie zu diesem Thema findet sich bei Riley-Smith: Kriege, S. 158-166.
12 Vgl. Norman Housley: The later Crusades. From Lyons to Alcazar. New York 1992.; John France: The Crusades and the Expansion of the catholic Christendom 1000 -1714. London 2005.; Jonathan Riley-Smith: The Crusades. A short history. New Haven, Conn. [u.a.] 1987. Bodo Guthmüller, Wilhelm Kühlmann (Hrsg.): Europa und die Türken in der Renaissance (Frühe Neuzeit, Band 54). Tübingen 2000.; Norman Housley (Hrsg.): Crusading in the fifteenth century. Message and impact. Basingstoke 2004.; Matschke: Kreuz. Besonders heraus zu heben sind außerdem die Arbeiten und Aufsätze von Johannes Helmrath und Dieter Mertens auf diesem Gebiet, auf welche im weiteren Verlauf noch genauer eingegangen wird.
13 Vgl. Matschke: Kreuz, S. 15.; Riley-Smith: Kreuzzüge, S. 5ff.
14 Vgl. Housley: Crusades, S. 118.; France: Crusades, S. 328. Beide vertreten, im Gegensatz zu bspw. Mayer und Runciman, die Ansicht, dass die Kreuzzüge eine Bewegung waren, welche auch noch über die Grenzen der Epoche des Mittelalters hinaus von der Kirche weitergeführt wurden.
15 Matschke: Kreuz, S. 15.
16 Der Aufruf ist bei mehreren Chronisten in unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Fassungen überliefert. Da diese jedoch bei den Augenzeugen, wie z.B. Balderich von Dol und
Guibert von Nogent, auf eigenen Erinnerungen, bei den Anderen auf Überlieferungen der Rede durch Zeitgenossen beruhen und sich in wichtigen Punkten decken ist ihr Wahrheitsgehalt, trotz des unterschiedlich starken Grades an Ausschmückung, ausreichend genug gesichert um einer Untersuchung der Motivationen und Ziele des 1. Kreuzzuges unterzogen werden zu können. Vgl. dazu Waas: Geschichte, S. 71-72.
17 Im Folgenden verkürzt „clades“ genannt.
18 Vgl. Jörg-Dieter Brandes: Die Mameluken. Aufstieg und Fall einer Sklavendespotie. Sigmaringen 1996, S.11-12. Auf die verschieden Auseinandersetzungen und Machtverschiebungen innerhalb der einzelnen Herrscherdynastien kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Wichtig ist, dass der Islam sich zu einem erbitterten Gegner des Christentums herauskristallisierte.
19 Egon Flaig: „Heiliger Krieg“. Auf der Suche nach einer Typologie. In: HZ 285, 2007, S. 283.
20 Vgl. Brandes: Mameluken, S. 12-13.
21 Flaig: Krieg, S. 285.
22 Vgl. ebd., S. 287. Über die Ursprünge der islamischen Expansion und des Djihad informiert W. Montgomery Watt: Der Einfluß des Islam auf das europäische Mittelalter. 4.-5. Tsd. Berlin 1993, S. 18-22. Das Thema wird allerdings, ob seiner Komplexität, im Folgenden nicht weiter ausgeführt.
- Citation du texte
- Tim Schenk (Auteur), 2010, Die Türkenkriege des 14. und 15. Jahrhunderts – wirkliche Kreuzzüge oder Etikettenschwindel?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/152193
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