Hilfe für Katastrophenopfer und Flüchtlinge im Ausland stellt einen wesentlichen humanitären Beitrag dar. Dabei wird jedoch oft übersehen, dass diese Hilfe auch enorme Auswirkungen auf die Helfer selbst haben kann.
Seit Anfang der 90-er Jahre ist eine beträchtliche Anzahl von Untersuchungen verfügbar, die über die gesundheitlichen Veränderungen von Helfern nach Einsätzen berichten. Aus den Erkenntnissen dieser Untersuchungen sind spezifische Stressverarbeitungsmaßnahmen für Einsatzkräfte entwickelt worden (CISM - Critical incident stress management; Mitchell und Everly, 1998). Es liegen jedoch kaum Untersuchungen über Stressbelastungen und Bewältigungsstrategien von Einsatzkräften nach einem Auslandseinsatz vor. Ziel der geplanten Untersuchung ist es, die vorhandenen Belastungen und Bewältigungsstrategien anhand von narrativen Interviews zu erfassen um daraus adäquate Stressverarbeitungsmaßnahmen für Einsatzkräfte nach Auslandseinsätzen abzuleiten.
Inhaltsangabe
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. Einführung
1.1. Inhaltliche Kurzbeschreibung
1.2. Begriffsdefinition
Einsatz
Einsatzkraft
Auslandseinsatz
1.3. Entstehung meiner Arbeit
2. Belastungen und Bewältigungsstrategien
2.1. Stress
2.1.1. Stresstheorien
2.1.1.1. Selyes Theorie
2.1.1.2. Lazarus kognitives Modell
2.1.1.3. Stressoren
2.1.1.4. Bewertung von Stressoren
2.1.1.5. Stressursachen
2.1.1.6. Stressreaktionen
2.1.2. Arten von Stress
2.1.2.1. Normaler Stress
2.1.2.2. Kumulativer Stress
2.1.2.3. Burnout
2.1.2.4. Einsatzstress
2.1.2.5. Traumatischer Stress
2.1.3. Schutzmechanismen von Einsatzkräften
2.1.4. Traumaverarbeitung
2.1.4.1. Phasen der Traumaverarbeitung nach Horowitz (1997)
2.1.4.2. Kognitive Desorganisation durch Informationsüberlastung
2.1.4.3. Phasen der Traumaverarbeitung bei Einsatzkräften
2.2. Belastungen von Einsatzkräften
2.2.1. Belastungen im Einsatz
2.2.2. Belastungen im Auslandseinsatz
2.2.3. Belastungen im Flüchtlingslager
2.2.4. Sekundäre Traumatisierung bei Einsatzkräften
2.3. Bewältigungsstrategien (Copingstrategien)
2.3.1. Grundannahmen von Menschen
2.3.2. Grundannahmen von Einsatzkräften
2.3.3. Copingstrategien allgemein
2.3.4. Copingstrategien von Einsatzkräften
2.4. Akute Belastungsreaktion (ABR), akute Belastungsstörung (ABS) und Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
2.4.1. Definition von Trauma
2.4.2. Geschichte von PTBS
2.4.3. Historischer Rückblick auf die verschiedenen Klassifikationen der PTBS
2.4.4. Akute Belastungsreaktion
2.4.5. Akute Belastungsstörung
2.4.6. Posttraumatische Belastungsstörung
2.4.7. Prävalenz der PTBS
2.4.8. Prävention einer PTBS
2.4.8.1. Vor dem Einsatz
2.4.8.2. Während des Einsatzes
2.4.8.3. Nach dem Einsatz
3. SvE-Maßnahmen
3.1. Was ist SvE?
3.2. Ziele der SvE-Maßnahmen
3.3. Einzelgespräch (nach dem SAFE-R-Modell)
3.4. Einsatzbegleitendes Angebot (On Scene Support)
3.5. SvE-Einsatzabschluss (Demobilisation)
3.6. SvE-Kurzbesprechung (Defusing)
3.7. SvE-Nachbesprechung (Debriefing)
3.8. Nachfolge-Angebot
4. Fragestellung der vorliegenden Untersuchung
5. Untersuchungsmethodik
5.1. Interviewtechnik
5.1.1. Narratives Interview
5.1.2. Interviewleitfaden
5.2. Untersuchungsdurchführung
5.3. „Grounded Theory“
5.3.1. Ziel der Grouded Theory
5.3.2. Offenes Kodieren
5.3.3. Axiales Kodieren
5.3.4. Selektives Kodieren
6. Untersuchungsergebnisse
6.1. Ablauf des Auslandseinsatzes in Albanien
6.1.1. Einsatzablauf
6.1.2. Arbeitsbereiche
6.2. Beschreibung der Stichprobe
6.3. Ergebnisse der Interviews
6.3.1. Ergebnisse des offenen Kodierens (Kategorienliste)
6.3.1.1. Bedingungen
6.3.1.2. Kognitive Bewertung
6.3.1.3. Subjektives Erleben
6.3.1.4. Strategien
6.3.2. Ergebnisse des axialen Kodierens (Schlüsselkategorie)
6.3.2.1. Unterschiede zwischen Personen mit höherer bzw. geringerer Stressintensität
6.3.2.2. Gemeinsamkeiten aller interviewten Personen
Impfungen
6.3.2.3. Schlüsselkategorien
7. Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse (selektives Kodieren und bilden von Kernkategorien)
Literaturverzeichnis:
Anhang A: Begriffsdefinitionen
Anhang B: Offenes Kodieren (Beispiel)
Curriculum vitae
Eidesstattliche Erklärung
Geschlechtsspezifische Schreibweise
Sofern nicht ausdrücklich anders vermerkt, meinen geschlechtsspezifische Bezeichnungen von Personen in meiner Diplomarbeit das jeweils andere Geschlecht stets mit.
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Absperrung rund um das Flüchtlingslager bei Shkodra/Albanien 1999 (Schönherr, 1999)
Abb. 2: Schusswechsel im Nachbarcamp (Schönherr, 1999)
Abb. 3: Splitterschutzweste und Helm (Schönherr, 1999)
Abb. 4: Reiz-Reaktions-Mechanismus (Quelle: Mitchell und Everly, 1998, S. 33)
Abb. 5: Das allgemeine Adaptionssyndrom (AAS) (nach Selye 1956, Quelle: Zimbardo, 1995, S. 579)
Abb. 6: Eustress und Disstress (Mitchell und Everly, 1998, S 34)
Abb. 7: Phasen posttraumatischer Belastung (Horowitz, 1974, in: Maerker, 1997, S.147)
Abb. 8: Flug nach Tirana (Schönherr, 1999)
Abb. 9: Unterbringung der Einsatzkräfte (Schönherr, 1999)
Abb. 10: Flüchtlingslager bei Skhodra/Albanien (Schönherr, 1999)
Abb. 11: Verlaufsüberblick der Demobilisation (Quelle: Hötzendorfer et. al., 2002)
Abb. 12: Verlaufsüberblick des Defusings (Quelle: Hötzendorfer et. al., 2002)
Abb. 13: Mögliche Teamsitzordnung während eines Debriefings (Quelle: Mitchell und Everly, 1998)
Abb. 14: Verlaufsüberblick des Debriefings (Quelle: Hötzendorfer et. al., 2002)
Abb. 15: Flüchtlingslager bei Skhodra/Albanien (Schönherr, 1999)
Abb. 16: Ablaufmodell des narrativen Interviews (Quelle: Mayring, 1990)
Abb. 17: Lage des Österreichcamps bei Skhodra/Albanien
Abb. 18: Flüchtlingslager (Schönherr, 1999)
Abb. 19: Basecamp (Schönherr, 1999)
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Folgen von Burnout (Quelle: Bengel, 1997)
Tabelle 2: „Traumatische“ Situationen (Quelle: Fischer, Riedesser, 1999, S. 125)
Tabelle 3: Vergleich der internationalen und der amerikanischen Diagnostik der traumatologischen Belastungen, 1948 bis 1994 (Quelle: Brett, In: Kolk, McFarlane, Weisaeth, 2000, S. 133 f.)
Tabelle 4: Gründe einer Weitervermittlung (Quelle: Hötzendorfer et. al., 2002)
Tabelle 5: Gründe für ein Debriefing nach einem Defusing (Quelle: Hötzendorfer et. al., 2002)
Tabelle 6: Regeln eines Debriefings (Quelle: Mitchell und Everly, 1998)
Tabelle 7: Beschreibung der Stichprobe
Tabelle 8: Stressreduzierende Bedingungen vor, während und nach dem Auslandseinsatz
Tabelle 9: Stressauslösende Bedingungen vor, während und nach dem Auslandseinsatz
Tabelle 10: Stressreduzierende kognitive Bewertungen der Stressoren
Tabelle 11: Stressauslösende kognitive Bewertung der Stressoren
Tabelle 12: Positives subjektives Erleben des Stressors
Tabelle 13: Negatives subjektives Erleben des Stressors
Tabelle 14: Stresssymptome der Interviewpartner
Tabelle 15: Persönliche Strategien zur Stressminderung
Tabelle 16: Unterschiede im Stresserleben: stressreduzierende Bedingungen
Tabelle 17: Unterschiede im Stresserleben während der Schießereien
Tabelle 18: Persönliche Strategien im Umgang mit den Schießereien (stressintensivere Gruppe)
Tabelle 19: Gemeinsame stressreduzierenden Bedingungen
Tabelle 20: Gemeinsame stressauslösenden Bedingungen
Tabelle 21: Schlüsselkategorien
1. Einführung
1.1. Inhaltliche Kurzbeschreibung
Hilfe für Katastrophenopfer und Flüchtlinge im Ausland stellt einen wesentlichen humanitären Beitrag dar. Dabei wird jedoch oft übersehen, dass diese Hilfe auch enorme Auswirkungen auf die Helfer selbst haben kann.
Seit Anfang der 90-er Jahre ist eine beträchtliche Anzahl von Untersuchungen verfügbar, die über die gesundheitlichen Veränderungen von Helfern nach Einsätzen berichten. Aus den Erkenntnissen dieser Untersuchungen sind spezifische Stressverarbeitungsmaßnahmen für Einsatzkräfte entwickelt worden (CISM – Critical incident stress management; Mitchell und Everly, 1998). Es liegen jedoch kaum Untersuchungen über Stressbelastungen und Bewältigungsstrategien von Einsatzkräften nach einem Auslandseinsatz vor. Ziel der geplanten Untersuchung ist es, die vorhandenen Belastungen und Bewältigungsstrategien anhand von narrativen Interviews zu erfassen um daraus adäquate Stressverarbeitungsmaßnahmen für Einsatzkräfte nach Auslandseinsätzen abzuleiten.
1.2. Begriffsdefinition
Vorweg möchte ich an dieser Stelle ein paar Begriffe aus dem Rettungsdienst ansprechen, welche in der folgenden Arbeit immer wieder erwähnt werden, aber deren Bedeutung nicht immer klar ersichtlich ist. Um geeignete Definitionen zu finden blätterte ich in vielen Wörterbüchern, Fachbüchern und Fachzeitschriften, aber keine der Beschreibungen schien mir passend. Viel zu spezifisch waren diese Begriffe formuliert.
Um dennoch möglichst allgemein gültige Definitionen zu finden lud ich Freunde und Bekannte aus dem Rettungsdienst ein, mir ihre Vorstellungen zukommen zu lassen (einige davon sind Anhang A zu entnehmen). Für folgende Definitionen habe ich mich letztendlich entschieden:
Einsatz
Geordneter Ablauf einer Maßnahme zur Behebung und Reduzierung der Folgen eines plötzlich einsetzenden Unfalles, einer Erkrankung oder einer Katastrophe, bei welcher eine Einsatzkraft Tätigkeiten ausübt, für die sie ausgebildet ist und die in ihrem Tätigkeitsbereich liegt und dessen Ausführung keinerlei Aufschub duldet, da ansonsten Schäden für Gesundheit, Eigentum oder persönlicher Sicherheit von Dritten zu erwarten sind.
Einsatzkraft
Fachlich qualifiziertes Personal, welches sowohl beruflich als auch ehrenamtlich Tätigkeiten zur Bewältigung von spezifischen Aufgaben im Einsatz ausübt. Sie zeichnen sich vor allem durch Ausbildung sowie Erfahrung aus.
Auslandseinsatz
Einsatz im Rahmen der eigenen Organisation, über einen meist begrenzten Zeitraum, in einem Gebiet, welches durch politische, religiöse, klimatische, sprachliche, gesellschaftliche oder moralische Differenzen einer hohen Adaptionsfähigkeit der Einsatzkraft bedarf. Geprägt wird dieser Einsatz noch zusätzlich durch das Verlassen der vertrauten Umgebung und Infrastruktur.
Peers
Psychologisch ausgebildete Einsatzkräfte im SvE1 -Team (Stressverarbeitung nach belastenden Einsätzen). Sie kommen „aus dem eigenen Stall“ und sind daher bei Einsatzkräften als „psychologische Helfer“ akzeptiert.
SvE/KIT-Team (Stressverarbeitung nach belastenden Einsätzen und Kriseninterventionsteam)
Ist ein Team aus psychosozialen Fachkräften (Psychologen, Pädagogen, Theologen, Mediziner, Sozialarbeiter) und Peers. Ihr Aufgabengebiet liegt in der Intervention während und nach belastenden Einsätzen und Ereignissen.
SvE stellt hierbei die „Hilfe für die Helfer“ dar und KIT die Krisenintervention bei betroffenen Nicht-Einsatzkräften oder Angehörigen von Betroffenen und Opfern.
1.3. Entstehung meiner Arbeit
Ich bin seit 1993 ehrenamtliches Mitglied des Österreichischen Roten Kreuzes, Bezirksstelle Innsbruck-Stadt. Durch Zufall wurde ich vor einigen Jahren für die Ausbildung zum Trinkwasseraufbereitungstechniker zugelassen. Weitere Kurse für Auslandsdelegierte folgten.
Bereits 1997 konnte ich in Uganda meinen ersten Auslandseinsatz in einem Flüchtlingslager absolvieren, es folgte im selben Jahr ein Hochwassereinsatz in Polen.
Als Forschungsgrundlage für diese Arbeit werde ich meinen dritten Auslandseinsatz in Albanien 1999 heranziehen. Das Österreichische Rote Kreuz unterhielt gemeinsam mit dem Österreichischen Bundesheer ein Lager für die Unterbringung von Kosovo-Flüchtlingen, in welchem eine große Anzahl an Hilfskräften tätig waren. Gerade diese hohe Anzahl an Einsatzkräften unterschiedlicher Herkunft, welche zur selben Zeit, unter den gleichen Bedingungen ihren Tätigkeiten nachkamen, ermöglicht einen fundierten Vergleich der Belastungen und Bewältigungsstrategien der Einsatzkräfte.
Im Zentrum der Arbeit stehen daher die auftretenden Belastungen, deren physische und psychische Wirkungen bei den Einsatzkräften sowie die möglichen Bewältigungsstrategien, welche eine Milderung der Reaktionen bewirken können.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Absperrung rund um das Flüchtlingslager bei Shkodra/Albanien 1999 (Schönherr, 1999)
2. Belastungen und Bewältigungsstrategien
2.1. Stress
5. Juli 1999, früher Nachmittag. Nach einem arbeitsreichen, harten und hektischen Vormittag sind zwei Kollegen und ich von unserem Arbeitsplatz unterwegs zum Mittagessen. Ca. 70 Meter vor dem Speisezelt angekommen, sind plötzlich Schüsse aus unmittelbarer Nähe zu hören. Nicht zuordenbare Schreie begleiten den Schusswechsel. Aus allen Richtungen hören wir Zurufe: „Auf den Boden, schmeißt euch auf den Boden!“. Wir suchen nicht lange nach Deckung, werfen uns auf den Boden. Eine angespannte Stimmung ist zu vernehmen. Bundesheersoldaten laufen kreuz und quer, im Umkreis von 25 Metern hören wir laufend Munition in den Boden einschlagen. Bundesheersoldaten reichen uns Schutzwesten und Helme, welche wir sofort anziehen.
Wenige Minuten später ist wieder alles ruhig. Immer noch laufen Soldaten von einem Unterstand zum nächsten. Noch Stunden später tragen viele unserer Mitarbeiter ihre Schutzwesten und Helme – einige davon versuchen sogar mit dieser Schutzkleidung zu schlafen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Schusswechsel im Nachbarcamp (Schönherr, 1999)
Eine nicht ganz alltägliche Situation! Solche lebensgefährlichen Situationen können in diesem speziellen Fall sowohl für Soldaten als auch bei den Mitarbeitern der Nonprofit-Organisationen intensivere Gedanken, Gefühle, Körperreaktionen oder Verhaltensweisen auslösen. Diese speziellen Reaktionen auf belastende Situationen werden als Stressreaktionen bezeichnet.
Stress ist ein universelles Phänomen, ein unvermeidlicher Aspekt des alltäglichen Lebens. Der Ausdruck „Stress“ wird im alltagssprachlichen Gebrauch sehr vielfältig verwendet – für jegliche Art von Stressoren (Stressverursacher), für die Stressreaktionen oder für die Belastungsfaktoren. Stressoren lösen in uns bestimmte Reaktionen aus, wobei die „ akuten physischen und psychischen Reaktionen auf Belastungssituationen als Stressreaktionen bezeichnet werden “ (Bengel, 1997, S. 230).
Im Folgenden werde ich einen Überblick darüber geben, wie Stress wirkt und welche Auswirkungen dies haben kann.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Splitterschutzweste und Helm (Schönherr, 1999)
2.1.1. Stresstheorien
Verschiedene Theorien beschreiben, wie Stress entsteht und sich auf unseren physiologischen und psychologischen Zustand auswirkt. Im Folgenden werden zwei Theorien genauer erläutert, welche die Stressforschung maßgeblich beeinflusst haben. Dies ist zum einen das physiologische Modell von Hans Selye und zum anderen die kognitive Theorie von Richard S. Lazarus.
2.1.1.1. Selyes Theorie
Der österreichische Endokrinologe Hans Selye entdeckte bereits 1926, dass durch sehr verschiedene äußere Ereignisse dieselben Reaktionen beim Menschen ausgelöst werden. Er sah darin ein identes Muster der Geist-Körper-Reaktion. Stress ist für ihn eine „ unspezifische Reaktion des Körpers auf jegliche Anforderung “ (Selye, 1974, zitiert in Mitchell und Everly, 1998, S. 33). Trotz der verschiedenen Situationen und der verschiedenen Arten von Belastungen oder Anforderungen kommt es zu ähnlichen Reaktionsmustern bei den Betroffenen. D.h., obwohl es die unterschiedlichsten Arten von Stressoren (Bezeichnung für jegliche Auslöser von Stress, siehe Kap. 2.1.1.3.) gibt, reagiert der menschliche Organismus in der Regel mit der gleichen allgemeinen Reaktion. Selye war es auch, welcher „Stress“ seinen Namen verlieh. Er entnahm den Begriff aus der Physik, genauer gesagt aus dem Hook’schen Gesetz, welches besagt, dass eine „Last“ oder physischer „Stress“ eine physische Belastung auf anderes Material ausübt. Dieser Reiz-Reaktions-Mechanismus wird in Abb. 4. dargestellt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 4: Reiz-Reaktions-Mechanismus (Quelle: Mitchell und Everly, 1998, S. 33)
Das Augenmerk der Stressforschung richtete sich bei Selye auf die Beziehung zwischen beobachtbaren Stressoren und den dadurch hervorgerufenen Reaktionen im Organismus. Allerdings wurden nicht-beobachtbare Reize (z.B. psychische Prozesse) zu diesem Zeitpunkt nicht berücksichtigt.
Hans Selye unterscheidet zwischen „Eustress“ und „Disstress“. Mit Eustress wird jener positive Stress bezeichnet, welcher die Situation als Herausforderung erleben lässt. Wird im Gegensatz dazu die Situation als Belastung eingestuft, so spricht Selye vom negativen Disstress. Unter Punkt 2.1.2.1. wird Eu- und Disstress genauer erläutert.
Die unmittelbaren körperlichen Reaktionen auf Stressoren folgen einem typischen Muster unspezifischer adaptiver physiologischer Mechanismen. Selye bezeichnete dieses Muster als „ allgemeines Adaptionssyndrom “ (AAS) und fand eine charakteristische Abfolge von drei Phasen (Alarmreaktion, Widerstandsphase und Erschöpfungsphase):
a) In der Alarmreaktion werden durch beinahe jeden ernstzunehmenden Stressor, welcher als Bedrohung interpretiert wird Stresshormone im Körper freigesetzt. Durch diese physiologischen Veränderungen versucht der bedrohte Organismus sein normales Funktionieren aufrechtzuerhalten. Diese „normale“ Phase führt auf Grund der Aktivierung des Sympathikus zu einer Veränderung des inneren physiologischen Gleichgewichts im Körper. Gleichzeitig werden Noradrenalin, Adrenalin und Cortisone ausgeschüttet, alles zusammen hat eine positive Auswirkung auf unseren Körper und unsere Psyche. Innere Ressourcen werden entfaltet, d.h. die körpereigene Abwehr zur Wiederherstellung des inneren Gleichgewichts wird mobilisiert.
b) Dauert die stressauslösende Situation weiterhin an ohne beseitigt zu werden, kommt es zur Widerstandsphase (oder Resistenzphase). Um die massiven Belastungen zu kompensieren, kommt es zur Gegenregulation durch den Parasympathikus, d.h. der Körper gewöhnt sich nun an den Stress und die körperliche Reaktion wird normalisiert. Der Organismus entwickelt einen Widerstand gegen den Stressor und die ersten Symptome verschwinden, d.h. die physiologischen Prozesse folgen wieder ihren normalen Abläufen. In dieser zweiten Phase ist die Resistenz gegenüber weiteren Stressoren reduziert und beim auftretenden von zusätzlichen Stressoren ist nun das Immunsystem überfordert. Bereits hier können negative körperliche Folgen, wie z.B. entzündliche Prozesse, auftreten.
c) Wird der Organismus weiterhin den Stressoren ausgesetzt, tritt Phase drei in Kraft. In dieser sogenannten Erschöpfungsphase kommt es auf Grund der Unfähigkeit des Organismus die Resistenz aufrechtzuerhalten schließlich zu Energiebereitstellungsproblemen. Die körperlichen Ressourcen sind nun erschöpft und der Widerstand kann nicht mehr aufrecht erhalten bleiben. Vor allem die Immunabwehr verliert an Kraft und es treten wieder viele der Symptome aus der Phase der Alarmreaktion auf. Wirkt der Stressor weiter auf den Organismus ein, so können Krankheiten in den schwächsten Organen des Körpers auftreten, d.h. massive dysfunktionelle körperliche Beeinträchtigungen, und im Extremfall sogar der Tod können die Folge sein.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 5: Das allgemeine Adaptionssyndrom (AAS) (nach Selye 1956, Quelle: Zimbardo, 1995, S. 579)
2.1.1.2. Lazarus kognitives Modell
Im Gegensatz zu Hans Selye, für den ein Stressor ein rein äußeres oder physiologisches Ereignis darstellt, rückt Richard S. Lazarus die kognitive Bewertung der Stressoren in den Vordergrund. Für Lazarus gibt es große individuelle Unterschiede bezüglich der Stressreaktionen. „ Manche Menschen erleben ein stressreiches Ereignis nach dem anderen, ohne zusammenzubrechen, während andere sogar bei weniger Stress in Aufregung geraten. Dies ist so, weil sich die meisten Stressoren nicht direkt auswirken “ (Zimbardo, 1995, S. 576). Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung der betroffenen Person mit ihren Fähigkeiten, den Stressor als Bedrohung oder als Herausforderung zu sehen, d.h. ihrer kognitiven Bewertung der Situation, sowie um ihre Ressourcen, welche dann zur Stressbewältigung zur Verfügung stehen. Diese kognitive Bewertung einer „stressigen“ Situation geschieht in zwei wesentlichen Stufen:
In der Primärbewertung (primary appraisal) wird die momentane Situation hinsichtlich des eigenen Wohlbefindens bewertet. Hier lauten die Fragen: „ Was passiert da? Was steht für mich auf dem Spiel? “. Die Situation wird dabei entweder als positiv, irrelevant oder stressreich bewertet.
Für die Bewertung „stressreich“ lassen sich im Weiteren drei Subtypen unterscheiden, nämlich: „ Die Situation bedeutet für mich eine Schädigung/Verlust, sie ist eine Bedrohung oder sie stellt eine Herausforderung dar “.
Schädigung/Verlust bezieht sich auf eine bereits stattgefundene Situation, z.B. den Verlust körperlicher Funktionstüchtigkeit während eines Einsatzes oder gar den Tod einer Einsatzkraft oder eines Kollegen.
Bedrohung kann sich auf ein noch nicht eingetretenes Ereignis beziehen, z.B. die Gefährdung des eigenen Lebens während eines Einsatzes oder wenn die betroffene Einsatzkraft möglicherweise mit der Situation überfordert ist.
Ein Stressor kann als Herausforderung betrachtet werden, wenn eine Situation zwar als schwierig, aber dennoch erfüllbar oder gar als Chance zur Meisterung gesehen wird.
Die Primärbewertung bestimmt somit die Intensität und Qualität der emotionalen Reaktionen und schließt auch die Rückmeldung über Veränderungen in der Person-Umwelt-Beziehung mit ein. „ Die Person bewertet die persönlichen und sozialen Ressourcen, die ihr zur Bewältigung der stressauslösenden Bedingungen zur Verfügung stehen und die Handlungen, die erforderlich sind “ (Lazarus, 1966, in: Zimbardo, 1995, S. 577).
Im Anschluss an diese erste kognitive Bewertung folgt die Sekundärbewertung (secondary appraisal). Nun werden die erforderlichen Handlungen sowie die persönlichen und sozialen Ressourcen zur Bewältigung der stressauslösenden Bedingungen geprüft: „W elche Bewältigungsmöglichkeiten stehen mir zur Verfügung? “. Es beginnt ein zentraler Prozess, nämlich jener der Bewältigung. Sowohl Bewältigungsfähigkeiten als auch Bewältigungsmöglichkeiten werden überprüft und es werden Bewältigungsstrategien (Coping-Strategien) entwickelt, welche auf verschiedene Stressreaktionen folgen. Solche Coping-Strategien können z.B. die Vermeidung sein, welche hier das absichtliche Distanzieren vom Stressor bedeutet.
Immer wieder folgt auf die Reaktion zur Stressbewältigung eine Neu-Bewertung der Situation. Solange die Reaktionen unwirksam sind und solange der Stress weiterhin andauert, werden neue Reaktionen in Gang gesetzt. „ Man fühlt sich z.B. nicht länger bedroht, wenn man einen potentiellen Schaden als relativ einfach abzuwenden erkannt hat “ (Lazarus, 1978, in: Filipp, 1981, S. 215).
Der Begriff „Bewältigungsstrategie“ und deren Funktion werden im Kap. 2.4. genauer erläutert.
2.1.1.3. Stressoren
Als diese werden jegliche Auslöser von Stress bezeichnet. Hierbei ist, wie schon oben erwähnt, die persönliche Bewertung von großer Bedeutung. Es können drei verschiedene Auslöser unterschieden werden, und zwar physische, psychische und soziale (Zimbardo, S. 576).
Physische Stressoren sind zum Beispiel Feuer oder extreme Temperaturen, Lärm, jegliche Verletzungen und Erkrankungen, ungünstige Ernährung, schlechte Unterbringung, Unfälle, Schmerz, usw.
Psychische Stressoren können beispielsweise Angst vor Fehlern, Zeitdruck, wahrgenommener Tod oder drohender Tod bei Erwachsenen oder Kindern, Ermüdung, Leistungsunterforderung oder –überforderung, Versagen, Bedrohung, usw. sein.
Soziale Stressoren sind zum Beispiel Streitigkeiten, Gruppenzwänge, jegliche Probleme am Arbeitsplatz wie auch in der Familie, ständige Kritik, Konflikte, soziale Ablehnung, usw.
Meist wird hierbei von „psychophysischer Belastung“ (Ungerer, 1999, S. 13) gesprochen.
Stressoren können aber auch einsatzspezifisch nach ihrer Belastungsherkunft unterschieden werden: Als aufgabenbelastend gelten z.B. alle Tätigkeiten, Arbeiten oder Handgriffe der Einsatzkraft. Die äußeren Einwirkungen können dann im weiteren als umgebungsbelastend bezeichnet werden. Dabei sind Belastungsfaktoren bei Einsatzkräften z.B. extreme Anforderungen, Schlafmangel, Hunger, Durst, außergewöhnliche Ereignisse, usw.
Insgesamt können Stressoren sehr individuell erfahren und beurteilt werden.
2.1.1.4. Bewertung von Stressoren
Stress wird vom Menschen unterschiedlich wahrgenommen, so kann ein und dieselbe „stressige“ Situation von der einen Person positiv, hingegen für den Anderen negativ aufgenommen oder bewertet werden. Dies gilt auch für Einsatzkräfte. Der Mensch hat tief in sich die Tendenz Situationen dahingehend zu bewerten, ob sie bedeutsam, herausfordernd oder doch bedrohlich/schädlich sind (siehe z.B. Mitchell und Everly, 1998). Aus dieser Bewertung heraus ergibt sich die mögliche Entstehung von Stress. „ So gibt es Einsatzkräfte auf allen Ebenen, die nach einem Einsatz von extremem Stress sprechen. Die Belastungen waren nach ihrer Meinung kaum auszuhalten. „Das war wie im Krieg“. Andere wiederum haben von Stress im Einsatz kaum oder nichts bemerkt “ (Ungerer, 1999, S. 16). In der Regel lernt die Einsatzkraft während ihrer Ausbildung und durch ihre Erfahrung den Umgang mit Belastungen. Für einen Unbeteiligten wird meist ein falsches Bild aufrechterhalten: eine stets routinierte, durch nichts zu erschütternde, gelassen agierende Einsatzkraft, bei welcher sogar schlimmste Einsatzerfahrungen spurlos vorübergehen.
Bei besonderen Einsatzvorkommnissen, bei welchen Einsatzkräfte z.B. mit Tod, Gewalt oder gar der eigenen Gefährdung konfrontiert werden, also fernab vom Routineeinsatz, reagieren diese anders als sonst. Sie erfahren unter Umständen Hilflosigkeit, erleben eigenes Versagen, und sie erkennen, dass auch ihnen Fehler unterlaufen können.
Von großer Bedeutung ist, dass Einsatzkräfte wissen, dass auch sie oder ihre Kollegen unter akuten Stressreaktionen leiden können.
2.1.1.5. Stressursachen
Nach Ungerer (1999) gibt es drei Hauptursachen von Stress, ein Informationsübermaß oder ein Informationsentzug sowie die subjektive Bewertung dieser Zustände (Ungerer, 1999, S. 19).
Beim Informationsübermaß kann die Einsatzkraft die Informationen nicht mehr verarbeiten und somit die Lage nicht mehr bewältigen.
Beim Informationsentzug hingegen fehlen wichtige, dem Einsatz dienliche Informationen.
Beides löst bei der Einsatzkraft den Disstress aus, die Informationsverarbeitung wird vermindert. Um dem entgegenzuwirken, aktiviert der Körper das vegetative Nervensystem, den Kreislauf und verändert seinen biochemischen Haushalt.
Die subjektive Bewertung der Gefahrensituation durch Einsatzkräfte ist ein Produkt aus Ausbildungs- und Einsatzphilosophie sowie der inneren Einstellung. Diese können natürlich positiv aber auch negativ auf die Entstehung von Stress wirken. So wirken Bewertungen wie z.B. „das schaffe ich nicht“ oder „ich kann nicht mehr“, bei denen sich die Einsatzkraft mögliche „Niederlagen“ eingesteht, förderlich für die Entstehung von Stress und somit sind Fehler vorprogrammiert. Unger schreibt dazu: „ Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsfehler entstehen in den Köpfen der Einsatzkräfte “ (Ungerer, 1999, S. 26).
2.1.1.6. Stressreaktionen
„ Stressreaktionen werden nicht immer sofort wahrgenommen. Dies gilt besonders für Situationen, in denen die Konzentration voll auf den Einsatz gerichtet ist “ (Bengel, 1997, S. 230).
Psychische Stressreaktionen sind von unseren Wahrnehmungen und Interpretationen abhängig. Sie umfassen Verhaltensweisen, Emotionen und Kognitionen, so können auch auf diesen Ebenen Reaktionen auftreten.
Um mögliche Stressreaktionen zu regulieren und für zukünftige belastende Einsätze gewappnet zu sein, werden von den Einsatzkräften Strategien zur Stressminderung oder –bewältigung entwickelt.
Auf physiologischer Seite können bei anhaltender Belastung Krankheitssymptome an den Zielorganen auftreten. Man nimmt an, dass Stress an der Entstehung zu mehr als der Hälfte aller Krankheiten beteiligt ist (vgl. Pelletier & Pepper, 1997, in: Zimbardo, 1995, S. 580). Die unmittelbaren körperlichen Reaktionen auf Stressoren hat Selye mit dem Begriff „allgemeines Adaptionssyndrom“ zusammengefasst, welches unter Punkt 2.1.1.1. beschrieben wurde.
2.1.2. Arten von Stress
Im Folgenden möchte ich eine für Einsatzkräfte wesentliche Unterscheidung vornehmen, und zwar jene zwischen normalem Stress, kumulativem Stress (inkl. Burnout), traumatischem Stress und dem Einsatzstress:
2.1.2.1. Normaler Stress
Stress ist eine normale Reaktion auf Veränderungen, Probleme, Enttäuschungen, Sorgen, Kummer, auf Herausforderungen oder Belastungen, mit denen Menschen umgehen müssen. Wir kennen ihn aus Beruf, aus unseren sozialen Beziehungen, aus dem Studium - er ist ein normaler Bestandteil jeglichen Lebens. Stress ist derart alltäglich in unserem Leben, dass unser Körper normalerweise auf nützliche und vorhersehbare Weise darauf reagiert. Eine bestimmte „Dosis“ an Stress macht unser Leben sogar interessant und attraktiv. Bei diesem „Alltagsstress“ müssen wir zwischen dem Eu- und dem Disstress unterscheiden:
Der leistungssteigernde „positive“ Stress, bei dem die Situation als Herausforderung gesehen wird, wird als Eustress (Eu: gut, schön; Eustress: anregender, leistungs- und lebensnotwendiger Stress. Duden, 2000, S. 419) bezeichnet. Dabei werden die Informationsaufnahme, -verarbeitung und –abgabe, d.h. alle kognitiven Aktivitäten sogar mit gesteigertem Energieeinsatz von der Einsatzkraft erledigt.
Wird die Situation als unangenehm oder belastend erlebt, und steigt die Stressbelastung über einen bestimmten Level an, so kann sich dies schädlich auf unsere Gesundheit und unsere Leistung auswirken. Dieser „negative“ Stress wird als Disstress (Dis: schlecht, krankhaft; Disstress: lang andauernder, starker Stress. Duden, 2000, S. 773) bezeichnet. Der Disstress reduziert die Einsatzleistung, es häufen sich die Fehler der Einsatzkräfte. Dies kann bei chronischer Überbelastung bis zur dauerhaften Verminderung der Arbeitsleistung bedeuten, das Einsatzrisiko erhöht sich beachtlich und auch Anspannung bis hin zu Krankheiten sind die Folge.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 6: Eustress und Disstress (Mitchell und Everly, 1998, S 34)
So kann Stress sowohl eine Herausforderung für unser gesamtes Leben, als auch eine Bedrohung für unsere Gesundheit sein.
2.1.2.2. Kumulativer Stress
Sammelt sich Stress über längere Zeit an, z.B. durch fortwährende Wiederholungen der Stresssituation oder es treffen mehrere verschiedene solcher Situation aufeinander, so wird dies als kumulativer (lat.: anhäufend, steigernd. Duden, 2000, S. 773) Stress bezeichnet. Dies können alltägliche Belastungen im beruflichen, wie auch im privaten Bereich sein. Dabei kann der Stress nicht adäquat verarbeitet werden, die Belastung des Körpers hat seine Grenzen erreicht und weitere Belastung führt nun zu psychosomatischen Beschwerden. Bei Einsatzkräften kann dies bis hin zum Burnout führen (siehe nächster Punkt). Eingeschränkte Arbeitsfähigkeit, Probleme in sozialen Beziehungen bis hin zu körperlichen Reaktionen können die Folge sein. Der kumulative Stress könnte auch als „aufgestauter“ normaler Stress bezeichnet werden.
2.1.2.3. Burnout
Diese besondere Form des kumulativen Stresses beschreibt das „Ausgebrannt-Sein“ von insbesonders in sozialen Berufen tätigen Personen nach einem längerandauernden Umgang mit emotional stark fordernden Menschen (vgl. Bengel, 1997). Burnout kann als eine anhaltende Stressreaktion auf arbeitsbezogene (Dauer-) Belastung bezeichnet werden, kann somit und wird auch in der Literatur von Stress nicht klar abgegrenzt. Fortwährende psychische und/oder physische Belastung im Dienst, ständiger Zeitdruck und das dauernde Gefühl des Überfordertseins, können für Einsatzkräfte einen kumulativen Effekt haben. Bei weiterer massiver Belastung oder z.B. einer plötzlichen Verschlechterung der Lage kann sich unter Umständen der Organismus nicht mehr anpassen, da er seine Grenzen erreicht hat. Die Phasen der Erholung werden immer kürzer und der Organismus hat keine Möglichkeit mehr sich zu regenerieren. Die Einsatzkraft ist ausgebrannt – sie leidet unter Burnout, welches „ eine kontinuierlich oder phasenhaft verlaufende Erschöpfung “ (Hecht, Balzer, 1999, in: Hecht, Balzer, 2000) darstellt.
Als Hauptsymptome werden psychische und physische Ermüdung genannt, die sowohl vorübergehend als auch langfristig bestehen kann. Die Folgen von Burnout lassen sich auf mehreren Ebenen beschreiben und können Tabelle 1 entnommen werden:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Folgen von Burnout (Quelle: Bengel, 1997)
2.1.2.4. Einsatzstress
Einsätze sind nicht nur „Siegesgeschichten“. Viele Faktoren führen dabei zu Stress, und dies sind nicht nur die Anlässe der Einsatzfahrt selbst. Der eigene biographische Bezug (z.B. der Familienvater beim Kindernotfall), die momentane physische und psychische Verfassung, die Einsatzfahrt im speziellen, mit all ihren unterschiedlichst reagierenden Verkehrsteilnehmern, unklare und lückenhafte Notfallmeldungen (z.B. „Verkehrsunfall, A12, Person eingeklemmt, sonst keine genaueren Angaben bekannt“), die Konfrontation mit Tod, schwere Erkrankung/Verletzung, usw., all dies führt zu Stress bei Einsatzkräften, welcher als Einsatzstress bezeichnet wird. Die Helfer sind dabei in kürzester Zeit einem Höchstmaß an physischem und besonders psychischem Stress ausgesetzt. Da ein bestimmtes Maß an Stress leistungssteigernd wirkt, kann dieser durchaus sinnvoll sein. Allerdings kann auch hier ein Übermaß zur Beeinträchtigung der Einsatzfähigkeit der Einsatzkraft führen.
Für „normale“ Menschen können die meisten dieser Ereignisse traumatisierend sein, aber auf Grund ihrer Ausbildung und Erfahrung haben Einsatzkräfte Schutzmechanismen (s.u. Kap. 2.1.3.) erworben, welche sie vor einer allzu großen Belastung schützen.
2.1.2.5. Traumatischer Stress
Im Weiteren gibt es nun aber Einsätze, bei denen die Schutzmechanismen der Einsatzkräfte, zumindest zum Teil außer Kraft gesetzt werden, so zum Beispiel bei einer Bedrohung des eigenen Lebens während eines Einsatzes oder die Konfrontation mit einem reglosen Kind, welches z.B. den Familienvater an sein eigenes Kind erinnert.
Nach der American Psychiatric Association (APA, 1994) ist ein Trauma eine Erfahrung außerhalb der Norm, bei welcher die eigene physische und/oder psychische Integrität bedroht ist oder bei welcher man Zeuge von Bedrohung anderer Menschen wird. Die Auswirkungen solcher gravierenden und außergewöhnlichen Einsätze reichen von vorübergehenden Beschwerden bis zur Entstehung einer Posttraumatischen Belastungsstörung (siehe Kap. 2.4.) mit dauerhaften Beschwerden. Vorübergehende Beschwerden können physischer, psychischer, sozialer oder kognitiver Natur sein. Ein wichtiger Faktor in Bezug auf ein Trauma ist unter anderem die zeitliche Nähe zum Ereignis und ob das zugefügte Leid von anderen Menschen absichtlich verursacht wurde (vgl. Brauchle, Hötzendorfer, 2000).
In Fischer, Riedesser (1999) werden Situationsfaktoren genannt, welche „traumatische“ Wirkung haben:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2: „Traumatische“ Situationen (Quelle: Fischer, Riedesser, 1999, S. 125)
2.1.3. Schutzmechanismen von Einsatzkräften
Um der unmittelbaren Konfrontation mit einer belastenden Situation, wie sie z.B. im Rettungsdienst einer Einsatzkraft ständig widerfährt, gewachsen zu sein, bauen diese vor allem im Zuge ihrer Erfahrung und durch ihre Ausbildung sog. Schutzmechanismen auf. Durch diese Schutzmechanismen wird ein Einsatz primär nicht als belastend, sondern als Herausforderung gesehen. Solche Schutzmechanismen sind z.B. Routinehandlungen und Automatismen. Dabei werden Handlungen, auf welche sich die Einsatzkraft konzentriert, unbewusst durchgeführt und wiederholt. Dieser „automatische“ Ablauf gibt ihr das Gefühl der Sicherheit. Vor allem auf Grund einer fundierten Ausbildung und laufender Fortbildungen sowie ständigem Üben werden Handgriffe und Handlungsabläufe perfektioniert und automatisiert. Auch schon allein durch das gedankliche Durchspielen von „Mega-Einsätzen“ können in Worst-case-Szenarien die Belastungen vorweggenommen werden.
Einen weiteren Schutzmechanismus stellt die Fokussierung auf einen Teilbereich dar. Somit kann man sich z.B. im Großschadensereignis auf einen kleinen Ausschnitt des Gesamtereignisses konzentrieren, welcher für die Einsatzkraft in diesem Moment zu tätigen ist. Da somit die Aufgabe besser abgearbeitet werden kann, schützt dieses „Ausblenden“ des restlichen (überwältigenden) Szenarios die Einsatzkraft vor einer möglichen Hilflosigkeit.
Ein weiterer Schutzmechanismus kann die Verwendung von schwarzem Humor sein. Damit kann man sich (über die Sprache) vom erlebten Szenario distanzieren.
Auch Rationalisierungen schützen vor der belastenden Situation. Als Rationalisierung wird ein „ Abwehrmechanismus, durch den eine gefühlsmäßige Handlung im Nachhinein vom Verstand her gerechtfertigt wird “ (Bünting, 1996, S. 921) bezeichnet. Ein Beispiel könnte sein: „Wer so ein risikoreiches Leben führt, muss früher oder später an einer Überdosis sterben und ist für seinen Tod selber verantwortlich“ (Hötzendorfer et. al., 2002).
Das Abwehren der Gefühle oder der „Geschichte“ einer Person durch das Verwenden eines Berufsjargons begünstigt die Aufrechterhaltung der Distanz zum Opfer. So ist die Verwendung von Begriffen wie z.B. „Leiche“ für die Angehörigen2 zwar erschreckend, hingegen für die Einsatzkraft eine Möglichkeit, sich zu distanzieren und somit unberührt von der belastenden Situation zu bleiben.
Jede Einsatzkraft verfügt über ihre eigenen Schutzmechanismen, und hat ihre eigenen Möglichkeiten sich vom belastenden Ereignis zu distanzieren. Sie muss lediglich wissen, welche dieser Mechanismen gerade für sie persönlich und somit auch gerade in dieser Situation geeignet sind „anzuwenden“, und dass es im weiteren Vorkommnisse geben kann, durch welche sie außer Kraft gesetzt werden können (z.B. bei besonders belastenden Einsätzen). Aber auch dann gibt es Möglichkeiten für die Einsatzkraft, das „Gefühl der Sicherheit“ wieder zu erlangen. Das Zusammensein mit Teamkollegen, das Sprechen über den Einsatz, über die belastende Situation oder die Stressreaktionen kann helfen, die Schutzmechanismen wieder zu aktivieren.
2.1.4. Traumaverarbeitung
2.1.4.1. Phasen der Traumaverarbeitung nach Horowitz (1997)
Bereits Freud und Breuer (1895/1970) machten zentrale Beobachtungen in Zusammenhang mit traumatischen Erinnerungen. Dies war einerseits die zwanghafte kognitive Wiederholung des Traumas und andererseits die gedankliche Verleugnung und emotionale Erstarrung. Letztere kann als eine primäre Schutzreaktion betrachtet werden.
Horowitz (1974) beschreibt die Reaktionen einer Person auf ein traumatisches Ereignis in ihrem zeitlichen Verlauf. Er unterscheidet einen normalen von einem pathologischen Verlauf der Traumaverarbeitung.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 7: Phasen posttraumatischer Belastung (Horowitz, 1974, in: Maerker, 1997, S.147)
Personen, welche eine belastende Situation erleben, durchlaufen demzufolge verschiedene (normale) Phasen der „Traumaverarbeitung“, deren Reihenfolge und Intensität nicht immer gleich verlaufen. Vor allem plötzliche und unvorhersehbare Extrembelastungen erzeugen heftige emotionale und körperliche Gefühlsreaktionen (z.B. „Aufschrei“: Angst, Trauer, Wut, usw.). Nach dieser peri-traumatischen Expositionsphase durchleben die Personen unterschiedliche Verläufe:
a) Abwehr: Die Person ist überwältigt und das Ereignis wird verleugnet, die betroffene Person ist „gefühllos“ und vermeidet es, sich den Erinnerungen an das belastende Ereignis zu stellen.
b) Intrusionen: Des Weiteren folgt eine Phase sich aufdrängender und wiederkehrender Bilder, ungebetener Gedanken, Gerüche, usw., welche die belastende Person stets an das Ereignis erinnern.
c) Durcharbeiten: Das Erlebnis wird verarbeitet in Form von intensiven Gefühlen oder zwanghaften Verhaltensweisen. Diese Phase ist gekennzeichnet durch Gefühlsstabilität und stärkere kognitive Verarbeitung und führt zur Anerkennung und Strukturierung der neuen Realität.
d) Abschluss: Das Erlebte ist vollständig akzeptiert und die betroffene Person setzt ihren Lebensweg mit der neuen Situation fort, das Ereignis wurde in die eigene Biographie integriert.
Wie oben schon erwähnt, können intrusive Wiederholung, Verleugnung und emotionale Erstarrung gleichzeitig oder in Phasen nacheinander auftreten. So können z.B. die Intrusionen oder ein ständiges Erzählen der Geschichte im Vordergrund stehen.
Sowohl Intrusionen als auch Vermeidung können positiv sein, Intrusionen ermöglichen eine Integration der Erinnerungen, Vermeidung eine Dosierung des Durcharbeitens. Wenn sie allerdings extrem auftreten, können sie die Integration verhindern (Horowitz, 1974).
2.1.4.2. Kognitive Desorganisation durch Informationsüberlastung
Horowitz (1974) postuliert, dass auf die traumatische Erfahrung eine Phase des „Aufschreis" oder eine „Erstarrungsreaktion" folgt; daran schließt eine Periode der Informationsüberlastung an, welche nach Horowitz der Kern der Störung (akute- oder posttraumatische Belastungsstörung – ABS oder PTBS) ist.
Die Intrusionen durch das Trauma können nicht in die bestehenden Bedeutungsstrukturen integriert werden, somit verbleiben die Personen in einem Zustand ständiger Belastung oder sind Störungsbildern gegenüber anfällig. Die Informationen konnten noch nicht verarbeitet werden, daher werden eine Anzahl von Abwehrmechanismen dazu eingesetzt, die traumatische Erfahrung im Unbewussten zu halten, wodurch das Individuum eine Phase der Erstarrung und Verleugnung erfährt. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Verarbeitung im Großen und Ganzen abgeschlossen ist, werden die Informationen sowohl abgewehrt als auch zwanghaft wiederholt.
Aufgrund der „Vervollständigungstendenz" wird die traumabezogene Information im „aktiven Gedächtnis" gehalten, was dazu führt, dass die Abwehrmechanismen derart überfordert werden, dass sie schließlich zusammenbrechen können, woraus dann das Bild einer PTBS resultieren kann, bei dem die Information in Form von „Flashbacks", Alpträumen und ungewollten Gedanken intrusiv dem Bewusstsein zugänglich wird. Die auftretenden Emotionen können als Antworten auf kognitive Konflikte und als Motive für Abwehr und Bewältigungsverhalten angesehen werden. Es wird versucht, die Information in die vorhandenen inneren Modelle zu integrieren.
Allerdings bleiben nun die gespeicherten Informationen über das belastende Ereignis aktiv, weil die neuen Informationen dem alten Selbstbild (Unverwundbarkeit, Vertrauenswürdigkeit, Gerechtigkeit etc.) widersprechen. Die eigene Lebensbedrohung, die Möglichkeit Schaden angerichtet zu haben, die Angst vor Tod und Verletzung etc. stehen im Widerspruch zu den eigenen Grundannahmen (siehe Kap. 2.3.), zu den Vorstellungen der eigenen Unverwundbarkeit, dem bisherigen Selbst- und Rollenbild.
2.1.4.3. Phasen der Traumaverarbeitung bei Einsatzkräften
Auch bei Einsatzkräften erfolgt die Verarbeitung eines belastenden Ereignisses in verschiedenen Phasen (vgl. Brauchle, Hötzendorfer, 2000):
a) Zeitweise Überwältigung, Fokussierung, Verlust des Zeitgefühls
In Situationen, in denen eine Einsatzkraft überfordert oder überwältigt ist, in denen sie hilflos und in einer Form des Kontrollverlustes der Situation gegenübersteht, konzentriert sie sich meist auf eine einzige für sie bewältigbare Situation. Es wird die Tätigkeit in der angelernten Form erledigt, welche sie gelernt hat. Die Einsatzkraft blendet die Umwelt aus und verliert dabei häufig das Zeitgefühl. Wie oben schon angesprochen, stellt dies eine Art von Schutzmechanismus dar, welcher der Einsatzkraft hilft, die eigene Belastung zu verdrängen.
b) Intrusive Gedanken, Bilder und Übererregtheit
Nicht selten drängen sich nach belastenden Einsätzen den Einsatzkräften Intrusionen auf. Die meisten Einsatzkräfte können mit diesen „negativen“ Bildern, wiederkehrenden Gedanken oder Gerüchen, welche sie an das Ereignis erinnert, gut umgehen und wissen damit zu leben. Trotzdem entziehen sie sich der eigenen Kontrolle und drängen sich ungewollt in deren Bewusstsein, was für sie sehr belastend sein kann. Intrusionen stellen aber auch eine Art der Informationsverarbeitung dar. Im Einsatz ausgeblendete Details können wiedererinnert werden und man kann sich so vor etwaigen Schuldgefühlen entlasten.
Der Zustand der Übererregtheit („Adrenalinschub“) während des Einsatzes hält auf Grund der sich langsam wieder ausgleichenden Körperfunktionen noch einige Zeit an.
c) Aktivierung der Schutzmechanismen
Wie unter Kap. 2.1.3. genauer beschrieben, werden bei Einsatzkräften ihre Schutzmechanismen aktiviert, um so der Belastung stand zu halten.
d) Wiederherstellen von Bewältigungsstrategien sowie der Lebens- und Leistungsfähigkeit
Auch nach massiven belastenden Einsätzen erlangen Einsatzkräfte auf Grund ihrer Erfahrung meist sehr schnell wieder ihre Lebens- und Leistungsfähigkeit. Sie haben gelernt Bewältigungsstrategien einzusetzen, auch dann, wenn sie bereits Belastungsreaktionen zeigen.
Natürlich können die Reaktionen auch in extremer Form auftreten. Dies kann vor allem dann vorkommen, wenn die Bewältigung des belastenden Ereignisses erschwert ist. Sollte dies der Fall sein, dann erfolgt die Verarbeitung in folgenden zeitlich aufeinanderfolgenden Phasen:
1.) Gefühl des vollkommenen Kontrollverlustes
Direkt im Einsatz, in welcher die Einsatzkraft z.B. tatenlos zusehen muss, wie jemand vor seinen Augen innerlich verblutet oder in seinem Fahrzeug verbrennt, in welcher er hilflos einer solchen oder einer ähnlichen Situation gegenübersteht, gibt es für sie keine Möglichkeit, das Gefühl der Kontrolle wieder zu erlangen.
2.) Überflutung mit traumabezogenen Gedanken und Bildern
Nach einem Einsatz kann es vorkommen, dass Intrusionen die Einsatzkraft ständig an das traumatische Erlebnis erinnern. Für die Einsatzkraft präsentiert sich dieser Umstand als extrem bedrohlich, da sie diese Bilder im täglichen Leben begleiten, und ihn somit hindern, einem geregelten Alltag nachzukommen.
3.) Extremes Vermeidungsverhalten, Unterlassungshandlungen
Wenn die Erinnerungen an das belastende Ereignis ständig für extrem negative Gefühle sorgen, kann es passieren, dass die Einsatzkraft versucht, jegliche Konfrontation mit einer Situation, die sie an das Ereignis erinnert, zu vermeiden. Dies kann soweit führen, dass bestimmte Tätigkeiten nicht mehr ausgeführt werden oder gar die Einsatzorganisation verlassen wird.
4.) Verlust der Fähigkeit Schutzmechanismen wieder aufzubauen
Auch kann es nach extrem belastenden Einsätzen vorkommen, dass die Einsatzkraft keine Möglichkeit findet, Schutzmechanismen wieder aufzubauen. Einseitige Bewältigungsstrategien, wie z.B. der exzessive Konsum von Alkohol, oder wenn sich die Einsatzkraft zurückzieht, können mögliche Symptome darstellen.
2.2. Belastungen von Einsatzkräften
Noch vor wenigen Jahren wurden Mitarbeiter der Einsatzorganisationen psychisch als unverwundbar deklariert. Sogar die betroffenen Berufsgruppen selbst haben die Belastungen als „ unvermeidbaren Aspekt der täglichen Arbeit hingenommen („Berufsrisiko“) “ (Bengel, 1997, S. 256). Die extremen Belastungen, welche z.B. bei Großschadensereignissen oder Naturkatastrophen auf sie zukommen, gehören schlichtweg zu ihrer Arbeit dazu. Erst in den letzten 15 Jahren kam es allmählich zu einem Umdenken.
2.2.1. Belastungen im Einsatz
Mitarbeiter von Einsatzorganisationen sind ständig den verschiedensten Stressoren ausgesetzt. Diese können mit dem jeweiligen Einsatz, mit der täglichen Arbeit selbst oder auch mit der Organisation zusammenhängen.
Solche Stressoren können starke emotionale Belastungen darstellen, welche auch zu körperlichen Beeinträchtigungen führen können. Traumatische Eindrücke sind z.B. die Schreie von Opfern, die extremen Schmerzen ausgesetzt sind, oder das Erleben eines besonders qualvollen oder grausamen Todes. Von Menschen verübte Gewalttaten und großes Medieninteresse während eines Einsatzes stellen die Einsatzkraft vor eine besondere Art von Belastung, welche häufig mit Wut und Empörung einhergeht.
Besonders belastend für Einsatzkräfte sind u.a. der Tod, Suizid oder die Verletzung eines Kollegen, der Tod eines Kindes oder Jugendlichen, hohe Eigengefährdung oder eigene Verletzung.
Zusätzlich zu den Belastungen während eines Einsatzes können Konflikte mit Vorgesetzten, Kollegen oder gar im Familienkreis hinzukommen.
Ebenfalls als besonders kritisch gelten langandauernde und unübersichtliche Ereignisse wie Großeinsätze mit einer hohen Anzahl an Opfern, oder erfolglose Einsätze, z.B. eine negative Reanimation. Persönliche Gegenstände von Schwerverletzten, Schwererkrankten oder gar Toten können unter Umständen für Einsatzkräfte extrem schwierig sein, da damit plötzlich ein biographischer Bezug zum Opfern hergestellt wird bzw. die Distanzierung zu den Opfern erschwert wird.
Eine Einsatzkraft muss wissen, dass auch sie emotional und physisch auf Stress oder eine belastende Situation reagieren kann. Diese Reaktion kann in der Folge erst recht wieder belastend für sie sein, da sie Angst hat, „nicht mehr normal“ zu sein oder ein Problem zu haben.
Um mit der Stressbelastung besser umzugehen, hilft den Einsatzkräften ihre Einsatzerfahrung sowie ihre Ausbildung und Vorbereitung auf die zukünftige Tätigkeit. Von Brauchle et. al. (2000) werden einige Studien angeführt, welche signifikante Unterschiede in den Belastungsreaktionen bei verschiedenen Gruppen von Einsatzkräften aufzeigen. So sind einsatzerfahrenere und besser ausgebildete Mitarbeiter weit besser mit Belastungen umgegangen und bildeten weit weniger Symptome einer Belastungsreaktion aus (vgl. Brauchle et. al., 2000).
2.2.2. Belastungen im Auslandseinsatz
Bei einem humanitären Hilfseinsatz sind die Einsatzkräfte emotional oft davon überwältigt, mit bisher nie gesehenen Eindrücken konfrontiert zu werden. Meist sind diese Einsätze unerwartet und trotz der guten Ausbildung und Trainings sind auch diese „Profis“ bei solchen Extremereignissen von diesen auftretenden Einflüssen nicht verschont und somit starken Belastungen ausgesetzt. Solche Extremereignisse liegen außerhalb des normalen Erfahrungshorizontes der Einsatzkraft.
Hinzu kommt, so wie es Dombrowsky (1999) nennt, dass die Einsatzkraft „ fremd in der Fremde “ (Dombrowsky, 1999, S. 79. In: Hecht und Balzer, 2000) ist. Oft ergeben sich sprachliche Schwierigkeiten und kulturelle Differenzen, ohne dass dies bewusst ist: Welche Gepflogenheiten sind angebracht oder wie begrüßt man sich?
Meist wird der Einsatzort als Handlungsort und nicht als eigene Kultur gesehen. Dies ist im bestimmten Maße auch sicherlich legitim, schließlich ist man Helfer in einem fremden Land, welches unsere Hilfe benötigt. Es wird versucht die eigene Kultur einzuführen, eigenes Essen zu kochen, eigene Musik zu hören, usw.
Viele der Helfer sind auf der ständigen Hut vor Ansteckung, vor Angriffen und Übergriffen, vor Täuschung und vor physischer wie psychischer Überforderung.
Man ist Helfer in einem fremden Land mit der ihr eigenen Kultur, eigener Riten und Bräuche. Hinzu kommt ein anderes, ungewohntes Klima, welches mit einem mit Impfstoffen vollgepumpten Körper zu meistern ist.
Auch ist die dauernde Präsenz von Kollegen ein belastender Faktor, man möchte sich zurückziehen, sich erholen, allerdings ist die räumliche Situation der Unterbringung meist sehr mangelhaft!
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 8: Flug nach Tirana (Schönherr, 1999)
2.2.3. Belastungen im Flüchtlingslager
In diesem „speziellen“ Fall eines Auslandseinsatzes3 kommt hinzu, dass gerade die ununterbrochene Nähe zu den „Insassen“ oder „Bewohnern“, wie die Flüchtlinge in einem Flüchtlingslager bezeichnet werden, ja sogar die Nähe zu den eigenen Kollegen sich als bedrohliche Enge erweisen kann. Beinahe unmöglich erscheint der Versuch sich zurückzuziehen, eingeschlossen in einem kleinen Areal, kein Platz zum Erholen. Einmal Abschalten wird somit unmöglich – kein Camp ohne „Lagerkoller4 “, ohne Gereiztheit auf Grund zu großer Nähe. Hingegen sind die, welchen man nah sein möchte, weit weg.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 9: Unterbringung der Einsatzkräfte (Schönherr, 1999)
„ Man nächtigt in Großzelten, hat Teil am Schnarchen, am Harn- und Stuhldrang, an der Flatulenz und dem dauernden Husten und Räuspern der Kameraden “ (Dombrowsky, 1999, in: Hecht; Balzer, 2000, S. 79).
Die große Anzahl an Verwundeten, Kranken und auch Toten, sowie die Geschichten der betroffenen Bewohner, mit welcher die Helfer ständig konfrontiert sind, führen ebenfalls zu starken Belastungen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 10: Flüchtlingslager bei Skhodra/Albanien (Schönherr, 1999)
Hier sei erwähnt, dass es im Österreichischen Roten Kreuz den helfenden Einsatzkräften nicht erlaubt ist, sich in der Zeit zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang im Flüchtlingslager aufzuhalten oder unterwegs zu sein. Meistens beziehen Teams ihre Unterkünfte einige Kilometer außerhalb der Lager.
2.2.4. Sekundäre Traumatisierung bei Einsatzkräften
Unter einer „sekundären Traumatisierung“ versteht man die Traumatisierung von Menschen, welche nicht unmittelbar von der Katastrophe, der Krisensituation oder dem Trauma betroffen sind. Sog. „Sekundäropfer“ sind „nur“ Augenzeugen eines Ereignisses und werden somit mit dem Leid, Schmerz, Tod, usw. Anderer konfrontiert. Auch Einsatzkräfte sind nicht direkt Betroffene, kommen als Helfer in Konfrontation mit der bestehenden Situation und erleben so z.B. die Schrecken der Katastrophe in all ihren Facetten. Helfer neigen dazu, die Vorsorge für die eigene Gesundheit und Sicherheit auszublenden und übersehen zeitweise ihre eigenen Stressreaktionen. Vor allem im Auslandseinsatz oder in einem Flüchtlingslager werden die Einsatzkräfte mit der Zerstörung, dem Elend, dem Leid oder auch den Biographien (durch Erzählungen, durch Zeichnungen der Kinder, usw.) der Betroffenen konfrontiert. Empathische Beziehungen werden zu jenen aufgebaut, „ die den Schrecken von Katastrophen erlebt haben, die Kinder, Ehepartner, Eltern oder Verwandte verloren haben oder deren Lebensgrundlage zerstört wurde “ (Brauchle et. al., 2000, S. 287).
Wie in Brauchle et. al. (2000) genau beschrieben, können bei einer sekundären Traumatisierung verschiedene Reaktionen auftreten, welche den Stressreaktionen direkt Betroffener sehr ähnlich sind: emotionale (z.B. Wut, Hilflosigkeit, Zorn, Angst), kognitive (z.B. Konzentrationsstörungen, Verwirrung, Motivationsverlust, Intrusionen, Vermeidung), physische (z.B. Schlafstörung, Appetitverlust, Erschöpfungszustände, Kopfschmerzen) und auch soziale Folgen (z.B. Konflikte in der Partnerschaft) sind bekannt. Die Gefahr der sekundären Traumatisierung steigt mit der Unerfahrenheit der Einsatzkraft und die Folge sind häufig sogar gesundheitsschädigende Copingstrategien (siehe Kap. 2.3.).
Als Folge dieses „Mitbetroffen-Seins“ isolieren sich sekundär traumatisierte Personen von ihrer Umwelt und dies wiederum kann zu einer „tertiären“ Traumatisierung von Angehörigen, sogar späterer Generationen führen.
In Bezug auf „Traumahelfer“ wird in Fischer, Riedesser (1999) der Begriff der „ vicariierenden “ Traumatisierung (vicarious = stellvertretend) genannt. Dies bezeichnet die emotionale Belastung, welcher Helfergruppen wie z.B. Katastrophenhelfer, Personal auf Intensivstationen oder Polizeibeamte ausgesetzt sind.
2.3. Bewältigungsstrategien (Copingstrategien)
2.3.1. Grundannahmen von Menschen
Wie oben schon beschrieben wurde, besteht unser gesamtes Leben aus ständiger Konfrontation mit belastenden Situationen. Erst Stress macht unser Leben interessant. Um den ständigen Anforderungen und Gefahren entgegentreten zu können, werden sogenannte Grundannahmen gefasst. Z.B. ist es banales Grundwissen jedes Menschen, dass auch er eines Tages sterben wird und dass dies jederzeit passieren kann. Dieses Wissen hält viele Gesunde aber nicht davon ab, dieses Faktum zu verdrängen und die Möglichkeit des Todes weit hinauszuschieben: „ Ich sterbe ja viel später als alte und kranke Menschen, bis dahin ist noch viel Zeit “ oder „ Wenn jemand stirbt, dann hat er sich unvorsichtig verhalten, mir kann das nicht passieren “. Weitere Grundannahmen sind auch: „ Ich kann meine Kinder vor Leid bewahren “ oder „ Andere Menschen sind prinzipiell vertrauenswürdig “, usw.
Solche Grundannahmen sind je nach Kultur oder politischer Situation unterschiedlich ausgeprägt, haben aber dennoch universelle Gültigkeit. Janoff-Bulman (1989) unterscheidet drei primäre Kategorien von Grundannahmen, welche mit den Jahren erlernt und gefestigt werden: „ I would maintain that there are three primary categories of such assumptions: (1) perceived benevolence of the world, (2) meaningfulness of the world, and (3) worthiness of the self “ (Janoff-Bulman, 1989, S. 117). Typisch dafür ist z.B. die Illusion der Unverwundbarkeit, das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit.
Traumatische Ereignisse können die bisher erworbenen Grundannahmen erschüttern. Um nach dem belastenden Ereignis mit der neuen Situation fertig zu werden, werden die Informationen sowohl abgewehrt, als auch zwanghaft wiederholt, bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Verarbeitung weitestgehend abgeschlossen ist (Horowitz, 1974). Es treten Emotionen auf, welche als Antwort auf einen Konflikt zwischen der Realität und diesen Grundannahmen angesehen werden. Janoff-Bulman (1985) nennt dies die „ shattered assumptions “, die Erschütterung der Grundannahmen durch das Trauma. Z.B. die Bedrohung der eigenen Gesundheit oder gar des Lebens stehen im Widerspruch unserer Grundannahme der eigenen Unverwundbarkeit, dem bisherigen Selbst- und Rollenbild. Über kurz oder lang werden die Grundannahmen aufgegeben, verändert oder neue gefunden, wie z.B. die Aussage eines Sanitäters nach einem Großschadensereignis, bei dem Jugendliche verstorben sind, zeigt: „ Manchmal ist der Tod besser als das Weiterleben mit Schmerzen oder Folgeschäden “.
[...]
1 Die vom Österreichischen Roten Kreuz eingeführte und in Österreich gültige Bezeichnung für CISM.
2 Diese nehmen den Verstorbenen noch als Person wahr, daher wird es in der Praxis vermieden solche Begriffe vor den Angehörigen zu verwenden.
3 Hier beschränkt auf länger dauernde Auslandseinsätze in einem Flüchtlingslager.
4 „ Psychische Störung, die nach längerem Aufenthalt in einer ausgegrenzten, engen, willkürlich zusammengesetzten Gemeinschaft aufkommt “ (Bünting, 1996, S. 688).
- Citar trabajo
- Christian Schönherr (Autor), 2003, Belastungen und Bewältigungsstrategien von Einsatzkräften im Auslandseinsatz, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/15171
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