In der historischen Betrachtung scheint die Justiz der Weimarer Republik eine nicht geringe Schuld am Versagen der ersten Republik auf deutschem Boden zu treffen. Karl Dietrich Bracher formuliert das Urteil über die Richter der Weimarer Republik mit Blick auf die Folgen, die dieses Versagen nach sich zog, sehr drastisch: " Es ist durchaus berechtigt, die Weimarer Justiz zu einem guten Teil als Voraussetzung und Quellgrund des Dritten Reiches zu betrachten."1
Werner Neusel, dessen Dissertation einige Jahre nach der Arbeit Brachers erschien, gelangt in der Beurteilung der Justiz der Weimarer Republik zu einem gänzlich gegensätzlichen Urteil: "Wenn manche Autoren behauptet haben, das Scheitern der Weimarer Republik komme ganz oder teilweise auf das Konto der deutschen Justiz, so muß dem entgegengehalten werden, daß diese Meinung mit den Tatsachen nicht im Einklang steht und daß darin eine lebensfremde Überschätzung der Wirkungsmöglichkeit der Gerichte zum Ausdruck kommt."2
Das zwei Historiker (wobei Neusel als Justiziar nicht zu den Historiker gezählt werden darf) zu einem völlig divergenten Urteil über einen historischen Gegenstand gelangen, ist grundsätzlich kein Novum.Die Perspektive bei der Analyse eines historischen Gegenstandes und der Ansatz spielen, auch in diesem Beispiel, eine wichtige Rolle bei der Beurteilung von Geschichte. In diesem Fall stehen sich die Urteile hingegen derart konträr gegenüber, daß nach den Ursachen gefragt werden muß, die zu einem derart unterschiedlichen Forschungsergebniss und einer derart unterschiedliche Bewertung eines Sachverhaltes führen.
Inhalt
0. Einleitung
0.1 Aufbau und Ziel der Arbeit
1. Die Positivismusdebatte in der Weimarer Republik
2. Das Verhältnis zwischen Justiz und Staat in der Weimarer Republik
2.1 Differenzierung von Politik und Justiz
2.2 Beispielurteile der Justiz in der Weimarer Republik
3. Gründe für das Versagen der Weimarer Justiz
3.1 Die Herkunft der Richter: Konservatismus als Leitbild der wilhelminischen Ära
3.2 Die Antihaltung der Richter und ihre Auswirkungen auf die Republik
3.3 Öffentliche Kritik als Multiplikator der republikfeindlichen Einstellung der Richter
3.4 Der Gesetzesrelativismus
4. Die Theorie Werner Neusels zum Verhalten der Justiz in der Weimarer Republik
5. Mögliche Handlungsalternativen zur gezielten Steuerung der Justiz in der Weimarer Republik
6. Schlußwort
7. Literaturverzeichnis
0. Einleitung
In der historischen Betrachtung scheint die Justiz der Weimarer Republik eine nicht geringe Schuld am Versagen der ersten Republik auf deutschem Boden zu treffen. Karl Dietrich Bracher formuliert das Urteil über die Richter der Weimarer Republik mit Blick auf die Folgen, die dieses Versagen nach sich zog, sehr drastisch: " Es ist durchaus berechtigt, die Weimarer Justiz zu einem guten Teil als Voraussetzung und Quellgrund des Dritten Reiches zu betrachten."[1]
Werner Neusel, dessen Dissertation einige Jahre nach der Arbeit Brachers erschien, gelangt in der Beurteilung der Justiz der Weimarer Republik zu einem gänzlich gegensätzlichen Urteil: "Wenn manche Autoren behauptet haben, das Scheitern der Weimarer Republik komme ganz oder teilweise auf das Konto der deutschen Justiz, so muß dem entgegengehalten werden, daß diese Meinung mit den Tatsachen nicht im Einklang steht und daß darin eine lebensfremde Überschätzung der Wirkungsmöglichkeit der Gerichte zum Ausdruck kommt."[2]
Das zwei Historiker (wobei Neusel als Justiziar nicht zu den Historiker gezählt werden darf) zu einem völlig divergenten Urteil über einen historischen Gegenstand gelangen, ist grundsätzlich kein Novum.Die Perspektive bei der Analyse eines historischen Gegenstandes und der Ansatz spielen, auch in diesem Beispiel, eine wichtige Rolle bei der Beurteilung von Geschichte. In diesem Fall stehen sich die Urteile hingegen derart konträr gegenüber, daß nach den Ursachen gefragt werden muß, die zu einem derart unterschiedlichen Forschungsergebniss und einer derart unterschiedliche Bewertung eines Sachverhaltes führen.
0.1 Aufbau und Ziel der Arbeit
Die vorliegende Arbeit befaßt sich mit dieser Ursachenforschung und ist bemüht, die Frage zu klären, welche Rolle die Justiz innerhalb der politischen und gesellschaftlichen Prozesse Weimars eingenommen hat, und wie groß ihr Anteil am Scheitern der Weimarer Republik war. Das dieser "Anteil" nicht absolut zu bemessen ist, dürfte einsichtig sein, denn auch die scheinbar objektive Untersuchung anhand von Gerichtsurteilen und die daraus gezogenen Schlüsse stellen letztlich zu einem Teil eine Bewertung dar; eine Bewertung hingegen ist nicht frei von subjektiven Einflüssen, sie kann es gar nicht sein.
Betrachtet man die Situation der Weimarer Republik aus dem historischen Blickwinkel, stellt sich ein elementares Verhältnis zweier Körperschaften dar, daß für die Entwicklung der Weimarer Republik von großer, wenn nicht sogar von entscheidender Bedeutung für deren Entwicklung, und auch für den Niedergang der Weimarer Republik, gewesen ist: Die (ideologische) Verbindung von Justiz und Politik.[3] Die Begriffe Justiz und Politik werden im Folgenden häufiger verwandt. Sie bedürfen daher einer näheren Erläuterung. Wenn diese Begriffe in dieser generalisierenden Form verwendet werden, bedeutet dies auf keinen Fall, daß damit die Politik oder Justiz in ihrer absoluten Gesamtheit der Masse gemeint ist. Vielmehr wird eine Tendenz innerhalb dieser beiden Körperschaften beschrieben, die bei bestimmten Sachverhalten überwiegt.
In ihrer Selbsteinschätzung betrachtete die Justiz sich als eine von Staat und Verfassung getrennte Instanz; und somit als politisch neutral. Durch ihre Urteile griffen die Richter dagegen umso massiver in die politischen und auch sozialen Prozesse der Weimarer Republik ein, was nach Bracher jenem unheilvollen Zustand des "Dritten Reiches" den Boden bereitete.
Die Möglichkeit einer politischen Einflußnahme durch die Richter wurde begünstigt durch eine Paragraphenkonzeption, die es dem einzelnen Richtern ermöglichte, seine persönliche Einstellung in die Urteile mit einfließen zu lassen, und dadurch politischen Einfluß auszuüben. Die individuelle Einflußnahme der Richter ist als Argument für das Versagen der Justiz der Weimarer Republik jedoch nicht ausreichend.
Hattenhauer bewertet diesen Faktoren als minder relevant in Bezug auf die Frage des Scheiterns der Republik. Er führt die permanente öffentliche Kritik, insbesondere aus dem linken Lager[4] [5] als Ursache einer politischen Orientierungslosigkeit der Justiz an. Diese Orientierungslosigkeit führte dazu, daß sich die Justiz immer stärker der Öffentlichkeit, und dem durch sie ausgeübten Rechtfertigungsdruck zu entziehen versuchte. Die Folge war eine politische und öffentliche Isolation der Justiz.
Diese zwei Positionen zeigen, wie auch die Zitate von Neusel und Hattenhauer, daß die Meinungen über Ursachen und Gründe des Scheiterns der Justiz in der Weimarer Republik von den Historikern unterschiedlich gewichtet und beurteilt werden. Daraus folgt eine Aufgabe dieser Arbeit, nämlich die diese Faktoren einander gegenüberzustellen und zu analysieren.
Der erste Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der Darstellung von - für die politische Entwicklung der Weimarer Republik grundsätzlich relevanten - juristischen Faktoren. Der zweite Abschnitt stellt die von Historikern erarbeiteten Argumente und Sichtweisen in Bezug auf die Arbeit der Justiz in der Weimarer Republik dar und versucht, eine Einordnung und Bewertung dieser Thesen und Positionen vorzunehmen. Im dritten Abschnitt wird die Theorie Neusels zum Wirken der Weimarer Justiz untersucht; dies ist darin begründet, daß Neusels Untersuchung im Ergebnis zu grundsätzlich anderen Aussagen gelangt, als die in dieser Arbeit zitierten Historiker.[6] Mit der Analyse der Arbeit Neusels wird dieser Komplex abgeschlossen. Der letzte Abschnitt stellt Ansätze dar, wie die Justiz der Weimarer Republik besser hätte gesteuert und überwacht werden könne, um einer derartigen Entwicklung schon in ihren Anfängen vorzubeugen.
1. Die Positivismusdebatte in der Weimarer Republik
Die Sichtweise der Jurisprudenz, die sich in der Weimarer Republik als von Staat und Verfassung losgelöst betrachtete, führte innerhalb der Weimarer Intellektuellenschicht zu einer Grundlagendiskussion über Position und Aufgaben der Justiz.[7] Das politische und gesellschaftliche Verhältnis zwischen Justiz, Staat und Gesellschaft wurde durch das Postulat des Positivismus bestimmt, der in seiner theoretischen Konzeption eine strikte Trennung von Staat und Politik postuliert: "Die reine Rechtslehre negiert die gestaltende Aufgabe der Rechtswissenschaft und beschränkt sich auf die formallogische Analyse und Synthese von Rechtsbegriffen losgelöst von ihrer sozialen Kompetenze, auf formale Zuordnung und Kompetenzabgrenzung."[8] Um sich dem vom Positivismus geforderten Ideal einer von allen gesellschaftlichen Aufgaben entledigten Justiz anzunähern, müssen, so die Forderung Kelsens, die juristischen Methoden der Analyse und Urteilsfindungen von allen "wesensfremden"[9] Elementen befreit werden.[10] Unter diese Elemente fallen gültige gesellschaftliche Moralvorstellungen ebenso wie politische Erwägungen. Kelsen begründet diese sehr abstrakte Rechtslehre damit, daß im Bereich der Ethik und Moralvorstellungen keine "Reine Objektivität" existiert: "Als relativistische Wertlehre soll sie (die Justiz; der Verfasser) Mittel und alle denkbaren Maßstäbe der Gestaltung von Recht und Staat aufzeigen [und] feststellen, welche Wertvorstellungen welchen Zielen zugrunde liegen und welche Mittel zu deren Realisierung dienlich sein können, ohne sie jedoch politisch zu beurteilen."[11]
Durch diese Forderung verwehrt sich die positivistische Rechtslehre ausdrücklich, auch politischen Interessen in der Form zu dienen[12], daß sie ihnen eine "Ideologie" liefert, mit der eine gesellschaftliche Ordnung legitimiert oder disqualifiziert wird. Allerdings darf sich die Justiz gegenüber dem Zugriff der Politik nicht durch die Begründung von Abstinenz oder Desinteresse legitimieren, sondern ausschließlich durch ein begründetes politisches Urteil über dessen Legitimität.[13]
Kritiker des Positivismus argumentieren dagegen, daß sich die Rechtslehre in dieser Form zu einer "dogmatischen Sozialtechnik" entwickelt[14], die im Idealfall jeden politischen und sozialen Verhältnissen angepaßt werden kann. "Der Formalismus [...] leistet so dem Mißbrauch durch politische Interessen Vorschub."[15] Damit wäre genau das Gegenteil dessen erreicht, was mit der Loslösung von allern Moralvostellungen intendiert würde.
Graner kritisiert an der Theorie Kelsens, daß Werturteile schon bei einer Überlegung, welche Tatbestände unter eine juristische Norm gefaßt werden, eine entscheidende Rolle spielen. Diese auch einem gesellschaftlichen Bedürfnis entspringenden Normen können nicht objektiv mathematisch-naturwissenschaftlich in Segmente - und damit frei von gesellschaftlicher Relevanz - zerlegt werden.
Das Hauptargument das gegen den Positivismus angeführt wird, ist die Ablehnung einer sozial-gestaltenden Rolle der Staatsrechtslehre und die Ablehnung einer kritischen sozialen Position. Eine Justiz, die auf formallogisch-juristischem Wege ohne die Relevanz gesellschaftlicher und sozialer Aspekte Normen setzt, kann keinen wirklich kritischen Standpunkt innerhalb dieser Prozesse einnehmen.
Kelsen hält diesem Argument entgegen, daß durch die Emanzipation[16] der Justiz von der Politik diese für eine Instrumentalisierung (der Herrschenden) ungeeignet erscheint, und daher auch nicht zu einem politischen Mißbrauch benutzt werden kann.[17] Eine durch den Positivismus legitimiert Justiz konnte in der Weimarer Republik keine Antwort auf die sozialen und gesellschaftlichen Problem finden.
Der Positivismus der Weimarer Republik stellt sich im Rückblick jedoch als eine Verlegenheitslösung dar - im Zuge eines aufkommenden Werterelativismus löste sich die Justiz von ihren gesellschaftsgestaltenden Aufgaben und zog hinter die schützenden Mauern des juristischen Paragraphengeflechts zurück. Für die gesellschaftliche und politische Entwicklung der Weimarer Republik hatte dieser Rückzug weitreichende Folgen, auf die zu einem späteren Zeitpunkt näher eingegangen wird.
2. Das Verhältnis zwischen Justiz und Staat in der Weimarer Republik
2.1 Differenzierung von Politik und Justiz
Um das Verhältnis zwischen Justiz und Politik in der Weimarer Republik genauer analysieren und bestimmen zu können, bedarf es einer Differenzierung der verschiedenen juristischen Ebenen:[18]
1.) Justiz als politische Justiz im engen Sinn. Sie beinhaltet das politische Strafrecht bis zum republikanischen Ehrenschutz für Repräsentanten und Symbole der Weimarer Republik und beschäftigt sich mit juristischen Auseinandersetzungen der Republik mit ihren Gegnern.
2.) Die "politische" Justiz. Als politische Justiz wird eine Instrumentalisierung der Justiz durch politische Interessen und deren Akteure bezeichnet, die sich mit Hilfe die Justiz eine Legalisierung ihrer politischen Opposition, oder eine Illegalisierung der Kontrahenten erhoffen.
3.) Die Ebene der "allgemeinen" politischen Funktion der Justiz. Auf dieser Ebene operiert die Justiz als Teil der politischen Institutionen, als "politische Gewalt". Sie ist in dieser Funktion Ausdruck öffentlicher Herrschaft und Machtverteilung. Als Prämisse dieser Ebene gilt, daß die Justiz und Politik untrennbar miteinander verbunden sind, da Gesetzesinterpretationen unter den regulativen Bedingungen eines Rechtsstaates immer auch einer Interpretation bedürfen.
2.2 Beispielurteile der Justiz in der Weimarer Republik
Die ersten Jahre der Weimarer Republik waren geprägt durch Putsch- und Umsturzversuche und in ihrer Folge von politisch motivierten Morden. Diese Vorgänge stellten hohe Anforderungen an die Justiz; sie war aufgerufen, den neuen demokratischen Staat mit den Mitteln der Rechtsprechung vor seinen Gegnern zu schützen.[19] Das während des Übergangs zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik personell veränderte Reichsgericht stellte sich schnell auf die neuen Machtverhältnisse ein.[20] Es verfolgte schon die Januarunruhen 1919 in Berlin als Hochverrat, als einen Versuch, "die Verfassung des deutschen Reiches gewaltsam zu ändern" (§81 StGB).[21]
Das Reichsgericht betrachtete das kaiserliche Gesetzbuch - die Weimarer Verfassung war zu diesem Zeitpunkt noch nicht erlassen - als anwendbar, da seine Bestimmungen generell die Verfassung, und keineswegs eingeschränkt nur die Verfassung des Kaiserreiches schützten. Neusel folgert aus diesem Akt, daß die Justiz in ungebrochener Loyalität zum neugeschaffenen Weimarer Staat stand: "Von ´Konservativismus´, ´Monarchchismus´, ´Republikfeindlichkeit´, ´Sabotage´ des neuen Staates kann man unter diesen Umständen wirklich nicht sprechen."[22]
Nicht zur Disposition wurde die Frage gestellt, welches Schutzobjekt die Richter konkret im Auge hatten[23], als sie mit den bürgerlichen Kräften kooperierten, als sie die Wahl der Nationalversammlung gegen linken Widerstand durchsetzten und gegen rätesozialistischen und kommunistischen Aufstand verteidigten.[24] Für die Richter stand primär der "Schutz der allgemeinen Ordnung" im Vordergrund, sie sahen in diesem Versuch eine Möglichkeit der Aufrechterhaltung der bürgerlich geprägten Gesellschaftsordnung, die sie als Leitbild dem monarchistischen Bismarckstaat entnommen hatten.[25] Die Loyalitätsfrage der Justiz stand zu diesem Zeitpunkt noch nicht zur Debatte. Sie sollte erst beim Kapp-Putsch eine entscheidende Rolle spielen.
1.) Der Kapp-Putsch. Den Richtern der Weimarer Republik schien der Versuch einer gewaltsamen Revision der Verfassung zugunsten einer autoritär-nationalistischen Regierung nach den Vorstellungen Wolfgang Kapps weit weniger strafwürdig als die räterepublikanischen Regierungsprovisorien in Bremen oder München.[26] Die Verurteilung der Putschisten des Kapp-Putschs avancierte zu einem juristischen Schauspiel. Ein durch die Reichsregierung erlassenes Amnestiegesetz vom 04.08.1920 erklärte alle Beteiligten des Kapp-Putschs für straffrei, die nicht als Urheber oder Führer definiert wurden. Auf Basis dieses Gesetzes existierten nach Auffassung des Reichsgerichtes zehn Urheber des Putsches; die übrigen Putschisten wurden strafrechtlich nicht weiter verfolgt. Von den ursprünglich zehn Beschuldigten konnten sieben sich dem Verfahren durch Flucht und/oder Abwesenheit entziehen (unter ihnen Kapp, Papst, Lüttwitz, Erhardt); die drei übrigen Angeklagte wurden gegen Kaution freigelassen. Einzig von Jagow wurde verurteilt. Obwohl er eine führende Rolle im Rahmen des Putsches inne hatte, erkannte das Gericht "nur" auf Beihilfe zum Landesverrat und verhängte die gesetzliche Mindeststrafe von fünf Jahren Festungshaft[27]. Aus dem Urteil: "Bei der Strafzumessung sind dem Angeklagten, der unter dem Banne selbstloser Vaterlandsliebe und eines verführerischen Augenblicks dem Rufe Kapps gefolgt ist, mildernde Umstände zugebilligt worden."[28] Der zweite Angeklagte von Wangenheim wurde freigesprochen, weil ihm eine Urheberschaft im Sinne des Reichsgesetzes nicht nachzuweisen war. Beide Angeklagten erhielten auch weiterhin ihre Beamtenpensionen.
Der Begriff der "Urheberschaft" wurde innerhalb des Verfahrens von den Richtern in einem Maße unpräzise definiert, daß die Interpretation ausreichte, um die vaterländisch gesinnten Angeklagten trotz eines offensichtlich politisch motivierten Umsturzversuchs freizusprechen, bzw. das Strafmaß gering anzusetzen. Hinzu kam, daß nicht ein Landgericht, sondern die höchste richterliche Instanz der Weimarer Republik, daß Reichsgericht, dieses Urteil gesprochen hat, das damit der noch jungen Republik erheblichen Schaden zufügte.
Das nicht ein untergeordnetes Landgericht, sondern die höchste richterliche Instanz der Weimarer Republik dieses Urteil gefällt hat, wirft ein erstes bezeichnendes Bild auf die Richter. Insbesondere wenn man bedenkt, daß das Reichsgericht auch normativen Einfluß auf die Instanzengerichte besaß.
Neusel bewertet das Urteil des Kapp-Putschs als kein Anzeichen eines Loyalitätsschwundes der Richter gegenüber der Republik. Im Gegenteil - er bescheinigt dem Gericht eine juristisch korrekte Urteilsfindung. Zu kritisieren ist nach seiner Ansicht hingegen allein die unpräzise Definition von "Urheber" und "Führer" des Gesetzes.[29] Dies sei aber nicht die Schuld der Justiz, sondern dem Reichstag anzulasten, der die Gesetzesgrundlage erarbeitet und somit zu verantworten hatte. Eine juristische Interpretation des Putsches, die Kapp, von Lüttwitz und weitere Teilnehmer als Urheber definierte, könne nach Neusel nicht als "eng" bezeichnet werden.[30]
[...]
[1] Zitiert nach Hannover. S. 13.
[2] Neusel. S. 125-126.
[3] Graner. S. 16.
[4] Hattenhauer. S. 117.
[5] Die 1926 in dem von Sinzheimer formulierten Begriff "Krise der Justiz" (Hattenhauer: "Vertrauenskrise")
gipfelte.
[6] Neusel. S. 126.
[7] Graner. S. 06-15.
[8] Graner. S. 17. Wasserman bezeichnet diesen Vorgang als "Entpolitisierung". S. 59.
[9] Graner. S. 17.
[10] Zitiert nach Graner. S. 17.
[11] Graner. S. 18.
[12] Wassermann. S. 59.
[13] Zitiert nach Graner. S. 19-22.
[14] Graner. S. 22.
[15] ebd.
[16] Zitiert nach Graner. S. 21.
[17] ebd.
[18] Das Modell ist an die Gliederung von Jasper angelehnt.
[19] Jasper. S. 171.
[20] ebd.
[21] ebd.
[22] ebd.
[23] ebd.
[24] In diesem Punkt, sowie in der Behauptung, die Justiz schütze monarchistische Strukturen in der Weimarer
Republik, widerspricht Neusel auch hier dem allgemeinen Konsens. S. 27.
[25] Wassermann. S. 57.
[26] Jasper S. 172.
[27] Wobei Festungshaft gegenüber einer Gefängnishaft die mildere Verurteilung bedeutete. Zu Festungshaft
Verurteilten wurden politische Motive zugebilligt, während Gefängnishaft bedeutete, daß man zum Kreis
"einfacher" Krimineller gehörte.
[28] Hannover. S. 77.
[29] Neusel. S.56.
[30] Neusel.S. 57-58.
- Citar trabajo
- Kristian Seewald (Autor), 1997, Die Rolle der Justiz am Scheitern der Weimarer Republik, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/15115
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