Theseus ist wohl der bekannteste Held des antiken Griechenlands nach Herakles. Wie dieser
vollbrachte er gewaltige Taten, tötete menschliche Bösewichte und Ungeheuer und
kämpfte gegen barbarische Feinde der Griechen wie Amazonen und Kentauren; seine berühmteste
Heldentat ist wohl die Tötung des Minotauros im kretischen Labyrinth. Aber im
Gegensatz zu Herakles bewährt sich Theseus noch auf einem anderen Gebiet – dem der
Politik. Obwohl Theseus durchaus eine panhellenische Reputation mitbringt, ist das Zentrum
seines Wirkens stets eine Stadt, nämlich Athen. Hier wird er der Nachfolger seines
Vaters Aigeus, indem er sich gegen seine Thronrivalen durchsetzt. Als nunmehriger König
entfalten sich seine politischen Aktivitäten: Er wird zum eigentlichen Gründervater Athens,
indem er die Zusammensiedlung der attischen Gemeinwesen zu einem zentral von
der Polis verwalteten Staat, den so genannten Synoikismos, herbeiführt. Ihm werden die
Einrichtung verschiedener wichtiger Staats-Feste wie die Panathenäen oder die Synoikien
ebenso zugeschrieben wie die Herstellung der frühesten attischen Geldstücke. Und schließlich
wird er sogar als Urheber der Einrichtung gefeiert, mit der Athen im 5. Jh. v. Chr. zur
glanzvollen Vormacht Griechenlands aufsteigt: Der Demokratie. Konsequenterweise hängt
auch seine Verehrung mit dieser zusammen: ihre Hochzeit ist die Periode zwischen 510
und 410 v. Chr.. Seit jeher wurde er als ein wichtiger athenischer Held betrachtet, doch am
Ende des 6. Jh. steigt er zu einem höheren Rang auf – er wird der Nationalheld der Athener,
die sich fortan in seinem Bild repräsentiert sehen.
Inhalt
1. Einleitung
2. Die Genese des Theseus-Mythos
3. Theseus im Machtkampf Ende des 6. Jh
4. Heros der aufsteigenden Demokratie
4.1 Identifikationsfigur für die Athener
4.2 Der „andere Herakles“
5. Perserkriege und Ausblick ins 5. Jh
6. Fazit
Literatur
1. Einleitung
Theseus ist wohl der bekannteste Held des antiken Griechenlands nach Herakles. Wie die- ser vollbrachte er gewaltige Taten, tötete menschliche Bösewichte und Ungeheuer und kämpfte gegen barbarische Feinde der Griechen wie Amazonen und Kentauren; seine be- rühmteste Heldentat ist wohl die Tötung des Minotauros im kretischen Labyrinth. Aber im Gegensatz zu Herakles bewährt sich Theseus noch auf einem anderen Gebiet - dem der Politik. Obwohl Theseus durchaus eine panhellenische Reputation mitbringt, ist das Zent- rum seines Wirkens stets eine Stadt, nämlich Athen. Hier wird er der Nachfolger seines Vaters Aigeus, indem er sich gegen seine Thronrivalen durchsetzt. Als nunmehriger König entfalten sich seine politischen Aktivitäten: Er wird zum eigentlichen Gründervater A- thens, indem er die Zusammensiedlung der attischen Gemeinwesen zu einem zentral von der Polis verwalteten Staat, den so genannten Synoikismos, herbeiführt. Ihm werden die Einrichtung verschiedener wichtiger Staats-Feste wie die Panathen ä en oder die Synoikien ebenso zugeschrieben wie die Herstellung der frühesten attischen Geldstücke. Und schließ- lich wird er sogar als Urheber der Einrichtung gefeiert, mit der Athen im 5. Jh. v. Chr. zur glanzvollen Vormacht Griechenlands aufsteigt: Der Demokratie. Konsequenterweise hängt auch seine Verehrung mit dieser zusammen: ihre Hochzeit ist die Periode zwischen 510 und 410 v. Chr.. Seit jeher wurde er als ein wichtiger athenischer Held betrachtet, doch am Ende des 6. Jh. steigt er zu einem höheren Rang auf - er wird der Nationalheld der Athe- ner, die sich fortan in seinem Bild repräsentiert sehen.
Dieser Aufstieg in der Popularität des Theseus ist das Thema dieser Arbeit, die sich da- mit zeitlich auf die Jahrzehnte um die Wende vom 6. zum 5. Jh. v. Chr. konzentriert. In drei Kapiteln wird der Aufschwung des Theseus-Mythos in dieser Periode nachgezeichnet, und zwar unter dem Fokus des Zusammenhangs mit den politischen Ereignissen jener Zeit:
Können politische Bedingungen f ü r die Promotion des Theseus verantwortlich gemacht werden? Und wenn ja, welche sind dies und auf welche Weise wirken sie auf die Entwick lung des Heroen zum Nationalhelden der Athener?
Zur Bearbeitung dieser Ansätze wird zunächst die Genese des Theseus-Mythos nachge- zeichnet, um die Ursprünge und Bedingungen zu klären, die Ende des 6. Jh. bezüglich des Theseus vorlagen. Verschiedene Autoren setzen die entscheidenden Schritte zum Aufbau des Theseus in der Zeit der Peisistratiden an, daher wird im Anschluss daran eine eventuel- le Rolle des Helden im Machtkampf zwischen den Athen beherrschenden Tyrannen und deren Gegnern untersucht. Es folgt die Behandlung des Theseus als dem Heros der Demo- kratie, die sich nach der Vertreibung der Tyrannen in Athen etabliert. Diese ist in zwei wesentliche Punkte unterteilt: Den Charakter des Theseus zum einen als Identifikationsfi- gur für die Athener und zum anderen als ein Gegenbild zu Herakles. Da der Beginn der Hochzeit der Theseus-Verehrung, insbesondere in der Kunst, zeitlich mit der Etablierung der Demokratie zusammenfällt, erscheint diese Thematik als das Herzstück der Arbeit. Anschließend erfolgt ein kurzer Ausblick über die weitere Popularitätssteigerung des nun- mehrigen Nationalhelden, und seine Rolle in der aufsteigenden Großmacht Athen bis zu deren Niedergang im Peloponnesischen Krieg. Den Abschluss bildet ein kurzes Fazit, das die Ergebnisse zusammenfasst und versucht, die gestellten Fragen zu beantworten.
2. Die Genese des Theseus-Mythos
Wie in der griechischen Mythologie allgemein üblich existieren von den dem Theseus zu- geschriebenen Taten eine Fülle unterschiedlicher Versionen und Reihenfolgen. Die gän- gigste Zusammenfassung stammt wohl von Plutarch, dem wir einen Großteil unseres Wissens über den Helden verdanken.1 Neben den verschiedenen literarischen Überliefe- rungen bilden Vasenmalereien und Baudenkmäler die Hauptquellen unserer Kenntnisse. Die Genese des Mythos geschieht insgesamt über einen langen Zeitraum, so dass sich vie- lerlei Einflüsse in ihm spiegeln. Viele Bestandteile sind beispielsweise aus ursprünglich unabhängigen Mythen übernommen worden: so war z.B. Hippolytos ursprünglich eine troizenische Dämonengestalt2, der Kampf mit Pallas eine lokale Sonderform der Giganto- machie, bei der Athena den gleichnamigen Giganten besiegte3. Die Ursprünge des Theseus verlieren sich im Dunkeln des gleichnamigen Zeitalters und sind bis heute umstritten. Nach einer maßgeblich von Herter beeinflussten Richtung war er ein alter pan-ionischer Heros, der sowohl in Thessalien, als auch in Troizen und Attika heimisch war, was sich in den Orten seiner Taten bzw. seinem Geburtsort reflektiert.4 Möglicherweise ist er sogar aus mehreren alten ionischen Heldengestalten hervorgegangen.5 Andere, wie Walker und Nils- son, sehen Theseus als „of local Attic origin“6, und die Gegend um das im nordöstlichen Attika gelegene Aphidna als die eigentliche Heimat des Theseus an.7
Die ältesten literarischen Zeugnisse über Theseus stammen aus den Homer-Epen Illias und Odyssee: Vier Stellen verraten die Bekanntschaft mit dem Kentaurenkampf (Il. I 265), der Ariadne-Geschichte (Od. XI 321ff), der Helena-Entführung (Il. III 144) und der Un- terwelt-Expedition (Od. XI 631).8 Die Echtheit der entsprechenden Zeilen wurde von ver- schiedenen Forschern angezweifelt, und als athenische Interpolationen späterer Zeit be- zeichnet. Doch selbst wenn dies der Wahrheit entspräche zeigen verschiedene andere Quellen, dass Theseus in jener Zeit schon wohlbekannt war.9 Die ältesten bekannten bildli- chen Darstellungen des Theseus beginnen im frühen 7. Jh. v. Chr. und zeigen den Helena- Raub, sowie etwas später die Minotauros-Sage.10 Die ältesten Zeugnisse stammen dabei interessanterweise nicht aus Athen, dem eigentlichen Stammsitz des Heros. Dennoch wur- de Theseus wohl schon zu homerischer Zeit als athenischer Held gesehen, denn sämtliche seiner Schreine, die als Orte der Heldenverehrung im 8. Jh. aufkamen, befinden sich in Athen, keines im attischen Umland.11 Dieser Widerspruch zu seinen im Mythos erhalten gebliebenen attischen Wurzeln empfanden auch die Athener, die diese jedoch nicht ausra- dierten, sondern den Mythos in der Weise anpassten, dass Theseus seine ländlichen Schreine, aus Dankbarkeit für seine Rettung aus dem Hades, Herakles überlassen hätte.12 Zudem betrachtet schon die Illias Attika als unter Athen vereinigten Staat, so dass der The- seus zugeschriebene Synoikismos schon im 7. Jh. Bestandteil des athenischen Mythen- schatzes gewesen sein muss.13 Im Gegensatz zum alten Mythos, „as far as hero cult is concerned, Theseus is purely Athenian“.14 In der Literatur wurde Theseus wohl seit dem 7. Jh. in Heldenballaden und Kulten berücksichtigt15, der Großteil der geschilderten Taten ist jedoch erst aus dem 6. Jh. in der Kunst und Literatur bekannt.16 „In its early form [...] the myth of Theseus consists of five main episodes: the abductions of Helen, Ariadne, and Persephone, and the fights against the Minotaur and the Centaurs. They seem to be known as early as the eight century”.17
Das 6. Jh. hindurch taucht Theseus regelmäßig, aber nicht übermäßig häufig, auf etwa fünf Prozent der attischen Vasenmalereien auf.18 Im Laufe dieser Zeit traten neue Mythen zu den althergebrachten hinzu, Stesichorus (ca. 630-555 v. Chr.) berichtet etwa über neue Liebesaffären und Nachkommen, und auf Vasen tauchen der marathonische Bulle (um 555 v. Chr.) und die Amazonomachie (ab ca. 520 v. Chr.) auf. Einen sprunghaften Anstieg von Theseus-Darstellungen auf attischen Vasen findet sich dann im letzten Jahrzehnt des 6. Jh. und erst zu diesem Zeitpunkt kommen auch die Jugendtaten des Theseus überhaupt auf. Es wird allgemein angenommen, dass in den Jahren zuvor eine Theseis -Dichtung entstanden ist, die die bekannten Abenteuer zusammenfassend schilderte bzw. erst hervorbrachte.19 Walker bezweifelt die Existenz dieser Dichtung unter Hinweis auf die nur vagen Indizien für sie und schreibt die unbestrittene Neuorganisation der Taten den Vasenmalern und ihrer „rich, oral tradition“ selbst zu.20 In jedem Fall wurden die Reisetaten des jungen Theseus mit dem Stier-Abenteuer und der Minotauros-Sage zu einem Zyklus verbunden, der insbe- sondere in den Vasendarstellungen reichliche Rezeption gefunden hat.21 Dabei ergeben sich zwar häufig Differenzen bei der genauen Auswahl der Zyklus-Taten, die Kennzeichen und Periphetes sind gar erst Mitte des 5. Jh. aufgekommen22, dennoch scheint mit der konstatierten Theseis ein „agreement between the monumental and literary tradition about a definite form of the sagas“23 einhergegangen zu sein. Auffallend ist, dass die neuen Taten des Zyklus den alten „wild man“ kontrastieren, und „den jungen Athener als einen Vor- kämpfer des Rechtes Kulturaufgaben vollbringen“24 ließen, in deren Folge der alte atheni- sche Held zu dem Helden Athens aufsteigt.25 Es liegt nahe, hinter diesem plötzlichen Popularitätsschub eine politische Entscheidung zu vermuten. Im Laufe des 5. Jh. kamen weitere Sagenstränge auf, zudem wurden die älteren Mythen teilweise umfangreichen Mo- difikationen unterzogen.26 Die archaischen Überlieferungen, die den Theseus vornehmlich als Frauenräuber und wilden Kämpfer, als „something of a wild bandit“27 zeichneten, wur- den überstrahlt vom Ruhm des die ’ mit und verbindenden hervorragen- den Helden.28
Ein Großteil der bekannten Heldentaten des Theseus ist also verhältnismäßig jung. Die Zeitspanne von ca. 510 - 410 v. Chr. bildet die Hochzeit der Theseus-Verehrung und - Darstellung, sowohl in Literatur und Theater, als auch in Kunst und Bauskulptur29. Die entscheidende Zeitspanne des Aufstiegs des Helden bildet die Zeit vor der Jahrhundertwende vom 6. ins 5. Jh. - in Athen eine Zeit der politischen Unruhen, in der Tyrannen und Aristokraten um die Macht kämpfen.
3. Theseus im Machtkampf Ende des 6. Jh.
Der rasante Popularitätsgewinn des Theseus am Ende des 6. Jh. v. Chr. wird im Allgemei- nen einer politischen Entscheidung zugerechnet, den bisher eher als Raufbold bekannten Lokalhelden zum Nationalhelden Athens aufzubauen.30 Ob die postulierte Theseis hierfür das Mittel war, oder eine direkte Beeinflussung der athenischen Künstler, muss ungeklärt bleiben. Bedeutsamer erscheint ohnehin, welche politische Gruppe für die Aufwertung des Helden verantwortlich war, wo also Theseus im spätarchaischen Machtkampf zwischen den Tyrannenherrschern Athens, den Peisistratiden (Peisistratos und dessen Söhne Hippar- chos und Hippias) und deren aristokratischen Gegnern unter Führung der Alkmäoniden (um Kleisthenes) zu verorten ist.
„The answer given by Herter, Nilsson, Kirk, and Connor is that the sixth-century dicta- tors [...] decided to promote Theseus as the greatest hero of Athens.”31 Dieser Sichtweise nach förderten die Peisistratiden Theseus in Literatur und Kunst, benutzten seinen Mythos als Legitimation ihrer eigenen Politik, und schrieben in einer mythischen Überhöhung The- seus die eigentliche Begründung eigener Einrichtungen zu. Tatsächlich wurde Peisistratos schon in der Antike nachgesagt, Theseus-Stellen bei Homer (Od. XI, 631) und Hesiod (Ai- gimios, fr. 298 Merkelbach-West) manipuliert zu haben.32 Die Quelle für diese Behaup- tung, Hereas von Megara, ist allerdings nicht allzu glaubwürdig, ist doch dessen „anti- Athenian bias [...] notorious“.33 Doch die Ausnutzung von Mythen beschränkte sich im antiken Griechenland natürlich nicht auf die Umdichtung von Literatur. Die Durchdrin- gung des gesamten gesellschaftlichen Lebens mit dem Mythos barg andere Möglichkeiten, die Peisistratos offensichtlich nicht verschmähte: Bei seiner triumphalen Rückkehr aus dem Exil 556 v. Chr. ließ er sich von einer als Athena verkleideten Jungfrau eskortieren, was laut Herodot seine Wirkung nicht verfehlte.34 In diesem Sinne wurden auch die im 6. Jh. sehr häufigen Abbildungen des Herakles mit Athena als Indikator dafür gesehen, dass Peisistratos sich als „neuer Herakles“ und Verbündeter der Göttin darstellen wollte. „But the theory appears to work neither chronologically, nor in terms of the logic of communi- cation: the relevant scenes begin to early and end too late, and they do not force the viewer to look behind Heracles to Pisistratus in the way that effective propaganda would need to do.”35 Gilt diese Einschränkung schon für die häufigen Herakles-Darstellungen (etwa 44% der Vasenbilder des 6. Jh. zeigen ihn), dann erst recht für Theseus, der in peisistratidischer Zeit relativ selten in der Kunst vorkam.36 Es lassen sich zwar Parallelen zwischen dem Selbstbild Peisistratos´ und Theseus zeichnen, - beide waren starke, pan-athenische Herrscher, die neue Einrichtungen, wie Feste, schufen - die „might have provided the tyrants with some reasons for choosing Theseus as a heroic role-model“, aber „there is no evidence that they actually did so.“37
Allgemein sind die Hinweise für ein Engagement Peisistratos´ in der Beförderung des Theseus äußerst dünn38, zumal sein Tod 528/29 v. Chr. noch recht weit entfernt von dem um 510 beginnenden Popularitätsschub liegt. Soll dennoch ein peisistratidischer Ursprung desselben angenommen werden, muss also auf die Söhne des Peisistratos, Hipparchos und Hippias, zurückgegriffen werden. Da die Häufigkeit der Vasendarstellungen Theseus ziem- lich genau 510 v. Chr. ansteigt, wurde die hypothetische Theseis und mit ihr die Entwick- lung der Zyklustaten, auf das letzte Viertel des 6. Jh. datiert, also in die Regierungsjahre der Peisistratos-Söhne. Die Zeitdifferenz zwischen politischem Anstoß und Wirkung (die ja erst nach dem Sturz des Tyrannen in den Darstellungen auftrat), wurde damit erklärt „eine breite Wirkung [bräuchte] Zeit.“39 Dieses Argument erscheint jedoch wenig über- zeugend, ist doch eine stark zeitversetzt wirkende Propaganda nicht recht effektiv, insbe- sondere in einem stattfindenden Machtkampf.40 Zudem sind die Hinweise auf eine peisistratidische Theseis äußerst dünn und es ist auch nicht einzusehen, warum ein Tyrann nicht einfach direkten Einfluss auf die Vasenmaler genommen haben sollte. Ein solcher Einfluss könnte z.B. vielleicht hinter dem ersten bekannten Vasenbild stecken, das Taten des Zyklus zeigt und um 515 v. Chr. hergestellt wurde: Es zeigt die krommyonische Sau und den Kampf mit (vermutlich) Skiron. Es ist dies nicht nur ein Hinweis auf die Entwick- lung des Zyklus noch unter Hippias, sondern auch auf eine politische Inspiration: Skiron, der seine Opfer vom Felsen stürzt, war eigentlich ein megaritischer Lokalheld, der wohl nicht grundlos zum Wegelagerer herabgewürdigt wurde,41 denn die Peisistratiden hatten ein starkes Interesse an der Megaris.42 Daraus allerdings eine allgemeine Verantwortung des Hippias für die Promotion des Theseus abzuleiten, erscheint recht fragwürdig, denn der Traum von der Beherrschung des Isthmos „is a dream that lasts from the time of Solon down to the Peloponnesian War“.43 Zudem tritt der ganze Zyklus, der mit dem Eleusier Kerkyon noch andere „fremdenfeindliche“ Elemente enthält, eben erst nach dem Sturz des Hippias auf, so dass die Darstellung (so sie denn tatsächlich auch Skiron zeigt) eher als ein frühes Aufflackern gedeutet werden kann.
Allgemein lässt sich sagen, dass das gesteigerte Interesse im 6. Jh. an Theseus bis 510 v. Chr. ein graduelles Phänomen. ist, aus dem die Peisistratiden-Ära keinesfalls besonders heraussticht. Für eine politisch motivierte Urheberschaft der Peisistratiden gibt es einfach keine Beweise, dabei wäre eine solche Nutzung des Mythos wohl auch zeitgenössischen Autoren aufgefallen, wie der Bericht Herodots vom „Athena-Einzug“ 556 v. Chr. zeigt. Aus heutiger Sicht erschiene eine Promotion des Theseus durch Peisistratos und dessen Söhne zwar plausibel und logisch, und Herter betont immer wieder, dass „Theseus was a heroic king, and could therefore have been promoted as a model only by another autoc- rat.“44 Laut Walker unterliegt Herter hier aber einem Paradoxon, das die gesamte Struktur der Heldenverehrung im Griechenland der Poleis kennzeichnet: Diese waren im allgemei- nen Aristokraten-Republiken, und nur in Ausnahmefällen Monarchien, verehrten aber mythische Helden-Könige, „they could not have tolerated for one moment as their peers.“45 Der Grund hierfür liegt in der erwünschten Verbindung zu der mythischen Vergangenheit der griechischen Königreiche des mykenischen Zeitalters, von deren Größe die neue Orga- nisationsform der Polis einen Abglanz erhalten wollte, ohne aber deren Werte und Verhal- tensweisen weiterzuführen, die ebenjene aristokratische Organisation bedroht hätten. „Their dilemma was to retain the glory and authority of the heroic age while rejecting ist behavior and ist values, and to this dilemma the cult of the heroes in the new city-states provided the perfect solution.”46 Mit der Verehrung der toten Helden einer Vergangenheit, die mit ihrer Glorifizierung als etwas Vergangenes bewusst gemacht wurde, traten die A- ristokraten als Gruppe die Nachfolge der Helden-Könige unter deren legitimierendem Schutz an. Im Interesse eines autokratischen Tyrannen konnten solche toten Helden nicht sein, betrachteten sie sich selbst doch als lebendige Erben der alten Königsmacht. Insofern waren sie im Bewusstsein der Griechen eher Rivalen der Heroen, die ihr Erbe bereits an die Republiken abgegeben hatten.47
Ob man diese Theorie akzeptiert oder nicht, Tatsache ist, dass die Hochzeit der Theseus- Verehrung erst nach dem Sturz der Tyrannis liegt. Der entscheidende Einschnitt ist wohl kaum zufällig das Jahr 510 v. Chr., das ebenjenen Sturz mit sich bringt. „It is not until after the expulsion of Hippias that Theseus will change from being an Athenian hero to the fa- vorite hero of the Athenians.”48 Es liegt somit Nahe, die Verantwortung für den Aufstieg des Theseus bei den Tyrannen-Gegnern um den Alkmäoniden Kleisthenes zu suchen. Die- se Auffassung vertreten Schefold, Jacoby und Sourvinou-Inwood, die ebenso wie ihre Kontrahenten eine, diesmal in der Umgebung des Kleisthenes entstandene, Theseis zu die- sem Zweck voraussetzen.49 Walker kritisiert auch diese Schlussfolgerung und wirft den Autoren vor, denselben falschen Ansatz gewählt zu haben wie ihre Gegner: „Any attempt to attribute the dissemination of this myth to any one political personality seems futile.“50 Tatsächlich existieren für die Kleisthenes-Theorie ebenso wenig Beweise wie für die ande- re. Folgt man jedoch Walkers Argumentation51, steht man vor dem Problem, niemanden als Verantwortlichen benennen zu können und den Popularitätsschub als mehr oder weni- ger zufällige Entwicklung annehmen zu müssen - etwas, dem auch Walker widerspricht.52 Die Tatsache, dass Theseus erst nach der Machtübernahme der Demokraten den entschei- denden Sprung zum Nationalhelden - symbolisiert im ausgeformten Zyklus, den Vasenma- lereien und der Bauskulptur des Schatzhauses in Delphi - schafft53, lässt es plausibel erscheinen, die Alkmäoniden zumindest als primären Träger dieses Wandels anzusehen. Dies schließt ja nicht aus, dass auch Peisistratos „my have taken some interest in the hero (why should he not?).”54 Von einem neuen Nationalhelden, der sich ohne allzu große Schwierigkeiten formen und nutzen ließ, konnten ohnehin beide Seiten profitieren. Die politische Nutzung von Mythen war kein Nullsummenspiel bei dem eine Seite einen An- spruch auf mythische Begebenheiten verlor, wenn die andere sie scheinbar für sich verein- nahmte: Die gleichzeitige Aufladung der dasselbe Ereignis - die Gigantomachie - darstellenden Giebelkompositionen am Alten Athena-Tempel auf der Akropolis des pei- sistratidischen Athens und des von den exilierten Alkmäoniden erbauten Apollon-Tempels in Delphi mit eigenen Machtansprüchen, liefert hierfür ein eindrucksvolles Beispiel.55 Es ist wohl Parker zuzustimmen, wenn er der Ansicht widerspricht, Theseus sei „a hero of party rather than of country.“56 Theseus war wohl kein entscheidender Faktor im Macht- kampf um Athen im Sinne einer klar zuzuordnenden Propaganda einer Seite. Und man sollte die Wirksamkeit von Religionspolitik, angesichts handfester Machtpolitik, vielleicht auch nicht überschätzen: Schlussendlich wurden die Tyrannen von den über Delphi mit den Alkmäoniden verbündeten Spartanern vertrieben - die Beliebtheit des dorischen Hera- kles im peisistratidischen Athen hatte darauf anscheinend keinen Einfluss.
[...]
1 Plutarch: Life of Theseus, http://ancienthistory.about.com/library/bl/bl_text_plutarch_theseus.htm; vgl. Brommer 1982, S.143; für ausführliche Darstellungen der Mythen mit Quellenangaben siehe u.a. Ranke-Graves 1955, S.293-337; Herter 1973, S.1052-1201
2 Herter 1973, S.1187f
3 Herter 1973, S.1092f
4 Herter 1973, S.1052f; Walker 1995, S.9f
5 Ranke-Graves 1955, S.296
6 Nilsson, zit. nach Walker 1995, S.14
7 Walker 1995, S.13ff
8 Herter 1973, S.1045f
9 Walker 1995, S.16
10 Brommer 1982, S.149
11 Walker 1995, S.14
12 Herter 1973, S.1223; Parker 1996, S.169; Walker 1995, S.20
13 Walker 1995, S.15, Herter 1973, S.1213
14 Walker 1995, S.21
15 Herter 1973, S.1046
16 Brommer 1982, S.74f
17 Walker 1995, S.20
18 Boardman, zit. nach Walker 1995, S.50
19 vgl. u.a. Brommer 1982, S.74; Herter 1973, S.1046; Schindler 1988, S.62; Walker 1995,S.38, 46
20 Walker 1995, S.38f
21 Brommer 1982, S.65ff
22 Brommer 1982, S.66
23 Herter, zit. nach Walker 1995, S.38
24 Herter: “Theseus”, S.1063; vgl. auch Walker 1995, S.53
25 Walker 1995, S.53
26 Walker 1995, S.65f
27 Walker 1995, S.15
28 vgl. Herter 1973, S.1219f
29 Brommer 1982, S.148; Walker 1995, S.66; Herter: “Theseus”, S.1047
30 Parker 1996, S.85; Brommer 1982, S.67f
31 Walker 1995, S.35
32 Walker 1995, S.36
33 Herter, zit. nach Walker 1995, S.36
34 Parker 1996, S.83
35 Parker 1996, S.85; vgl. auch Schindler 1988, S.66; Walker 1995, S.50
36 Boardman, zit. nach Walker 1995, S.49f
37 Walker 1995, S.45
38 Walker 1995, S.40f; S.43f
39 Herter 1973, S.1046
40 Moore, zit. nach Walker 1995, S.50
41 Walker 1995, S.41f; Herter: “Theseus”, S.1063
42 Herter 1973, S. 1215; Walker 1995, S.42
43 Walker 1995, S.42
44 Herter, zit. nach Walker 1995, S.47
45 Walker 1995, S.48
46 ebenda
47 Walker 1995, S.49
48 Walker 1995, S.46
49 ebenda; vgl. auch Schindler 1988, S.62, 66; Knell 1998, S.62
50 Walker 1995, S.46f
51 die auch von Vidal-Naquet und Kron vetreten wird, vgl. Walker 1995, S.46f, 71
52 Walker 1995, S.41
53 Walker 1995, S.50
54 Parker 1996, S.85
55 Schindler 1988, S.37f; Knell 1998, S.41-51
56 Parker 1996, S.86
- Arbeit zitieren
- Michael Fürstenberg (Autor:in), 2003, Theseus als Nationalheld der Athener, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/15019
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.