„Nach der Vorstellung der OECD werden mit PISA Basiskompetenzen erfasst, die in modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig sind“ (BAUMERT et al. 2001, 16).
Eine dieser Basiskompetenzen, die in den PISA-Studien erhoben wurden, stellt nach dieser Sicht die mathematische Grundbildung dar. Egal ist dabei, wie man zu diesem kompetenzorientierten Bildungsverständnis steht. Festzuhalten bleibt, dass Rechnen können einen zentralen Bildungsgegenstand darstellt. Rechnen stellt aber eine hochkomplexe Leistung dar und viele können sich an Schwierigkeiten im Mathematikunterricht in der eigenen Schulzeit noch gut erinnern. Probleme in Mathematik scheinen trotz der dargestellten negativen Auswirkungen ein Stück weit gesellschaftsfähig zu sein. Darin scheint auch ein möglicher Grund für den bisher unbefriedigenden Forschungsstand im Bereich des denkenden Umgangs mit Zahlen zu liegen.
Rechnen muss also erlernt werden und ein Großteil dieser Aufgabe fällt der Schule zu. Auch wenn festzustehen scheint, dass das Kind nicht als mathematisch unbeschriebenes Blatt eingeschult wird, so werden doch vor allem in den Eingangsklassen die Grundsteine gelegt, von denen der Erfolg in der weiteren Schullaufbahn abhängt. Kenntnislücken und missverstandene Begriffe in den ersten beiden Schuljahren haben demnach meist massive Schwierigkeiten in Mathematik zur Folge.
Der Erwerb dieser Grundsteine ist dabei mit vielfältigen Anforderungen an das Kind verbunden. Gerade für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen können diese Anforderungen immense Hindernisse darstellen.
Ziel dieser Arbeit soll es nun sein, diese Anforderungen am Beispiel des Zehnerübergangs im Teilschrittverfahren im Bereich des Zahlenraums bis 20 darzustellen. Dazu werden zunächst entwicklungspsychologische und neurowissenschaftliche Theorien aufgezeigt, wie das Kind zu einem Zahlbegriff kommt, der arithmetische Operationen erlaubt. Anschließend soll das Phänomen der Rechenschwäche etwas näher beleuchtet, mögliche Ursachen aufgezeigt und schließlich die Operation des Zehnerübergangs hinsichtlich seiner basalen und kulturell-mathematischen Anforderungen untersucht werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitende Gedanken
2. Historische Ansätze der Zahlbegriffsentwicklung
2.1 Das Phänomen „Zahl"
2.2 Kardinalzahltheorie
2.3 Ordinalzahltheorie
2.4 Zusammenfassung
3. Zahlbegriffsentwicklung nach PIAGET
3.1 Entwicklungsverständnis
3.2 Zahlverständnis
3.3 Stufen der kindlichen Entwicklung
3.4 Zahlbegriffserwerb
3.4.1 Invarianz
3.4.2 Klassifikation
3.4.3 Seriation
3.4.4 Arithmetik
3.5 Zusammenfassung
3.6 Kritik an PIAGET
3.6.1 Kritik am Zahlbegriffskonzept
3.6.2 Allgemeine Kritik
4. Intuitive Mathematik
4.1 Exkurs: Numerische Fähigkeiten von Tieren
4.2 Intuitive numerische Kompetenzen des Kindes
4.2.1 Subitizing
4.2.2 Anzahlunterscheidung
4.2.3 Arithmetik
4.2.4 Grenzen
4.2.5 Erklärungsversuche
5. Vorschulische numerische Kompetenzen des Kindes
5.1 Protoquantitative Schemata
5.2 Aspekte der Zahl
5.3 Zählwissen
5.3.1 Zählprinzipien nach Gelman und Gallistel
5.3.2 Zählentwicklung nach Fuson
5.3.3 Zusammenfassung
5.4 Zählstrategien
5.5 Teile-Ganzes Verständnis
5.6 Modell von WEIßHAUPT und Peucker
5.7 Weitere Modelle zur Zahlbegriffsentwicklung
5.7.1 Entwicklungsmodell früher mathematischer Kompetenzen nach Krajewski
5.7.2 Entwicklungsmodell nach Fritz und Ricken
6. Beiträge der Neurowissenschaften
6.1 Neuropsychologische Basisfunktionen im Zusammenhang mit mathematischer Leistung nach Rourke
6.2 Triple-Code-Modell nach Dehaene
6.3 Modell der Entwicklung zahlenverarbeitender Hirnfunktionen nach von Aster
6.3.1 Lokalisation
6.3.2 Module
6.4 Theorie der minimalen kognitiven Architektur nach Anderson
7. Erwerb mathematischer Fähigkeiten und Fertigkeiten
7.1 Modell des Erwerbs mathematischer Fähigkeiten und Fertigkeiten
7.3 Ursachen einer Rechenschwäche
7.3.1 Faktor Kind
7.3.2 Faktor Familie und soziales Umfeld
7.3.3 Faktor Schule
7.3.4 Zusammenfassung
8. Ein ausgewählter Lerngegenstand - der Zehnerübergang
8.1 Grundaufgaben
8.2 Mathematische Stufentheorie nach AEBLI
8.3 Strategien zum Zehnerübergang
8.4 Warum nicht-zählende Strategien?
8.5 Forderungen der Fachdidaktik
8.6 Lehrplanforderungen
9. Anforderungen im Zusammenhang mit dem Zehnerübergang im Teilschrittverfahren am Beispiel des Kutzerzuges
9.1 Der „Kutzerzug"
9.2 Core systems
9.3 Basale Fähigkeiten und Fertigkeiten
9.3.1 Teilleistungen im Zusammenhang mit arithmetischer Leistung
9.3.2 Gehirnstrukturen
9.3.3 Anforderungen in den Phasen der mathematischen Stufentheorie
9.4 Kulturell- mathematischer Bereich
9.4.1 Unterscheidung intuitive und kulturelle Mathematik
9.4.2 Verständnis der Addition
9.4.3 Zahlzerlegungen
9.4.4 Assoziativgesetz
9.4.5 Problematik „Ziffernsymbole" und „Zahlwörter"
9.4.6 Problematik „Operationssymbole"
9.4.7 Problematik „Zahlensyntax"
9.4.8 Problematik „zahlsystembezogene Sprache"
9.5 Sprache
9.6 Zusammenfassung
10. Abschließende Gedanken und Ausblick
Verzeichnisse
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Verwendete Literatur
1. Einleitende Gedanken
„Nach der Vorstellung der OECD werden mit PISA Basiskompetenzen erfasst, die in modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig sind“ (Baumert et al. 2001, 16).
Eine dieser Basiskompetenzen, die in den PISA-Studien erhoben wurden, stellt nach dieser Sicht die mathematische Grundbildung dar. Egal ist dabei, wie man zu diesem kompetenzorientierten Bildungsverständnis steht. Festzuhalten bleibt, dass Rechnen können einen zentralen Bildungsgegenstand darstellt.
Der Mathematikunterricht vermittelt dabei nicht nur die fachlichen Grundlagen, sondern beeinflusst die gesamte Entwicklung des Kindes. Er soll zur Erschließung der Lebensumwelt unter mathematischen Aspekten beitragen. Wir sind im Alltag stets von Zahlen umgeben, die gelesen und interpretiert werden wollen. Buslinien, Preise, Hausnummern, Platzierungen, Adressen, usw. Eine Welt ohne Zahlen ist schlichtweg nicht vorstellbar. Wie relevant auch gesellschaftlich ein adäquater Umgang mit Zahlen tatsächlich sein kann, konnte in einer Studie nach]gewiesen werden. Dabei wurde festgestellt, dass die Arbeitslosenquote bei 37-jährigen englischen Männern mit guten Rechenleistungen bei etwa 8% liegt. Demgegenüber steht eine Quote von 48% bei Männern mit schwacher Rechenleistung (vgl. Landerl et al. 2008, 100).
Rechnen stellt aber eine hochkomplexe Leistung dar und viele können sich an Schwierigkeiten im Mathematikunterricht in der eigenen Schulzeit noch gut erinnern. Probleme in Mathematik scheinen trotz der dargestellten negativen Auswirkungen ein Stück weit gesellschaftsfähig zu sein. Darin scheint auch ein möglicher Grund für den bisher unbefriedigenden Forschungsstand im Bereich des denkenden Umgangs mit Zahlen zu liegen.
Rechnen muss also erlernt werden und ein Großteil dieser Aufgabe fällt der Schule zu. Auch wenn festzustehen scheint, dass das Kind nicht als mathematisch unbeschriebenes Blatt eingeschult wird, so werden doch vor allem in den Eingangsklassen die Grundsteine gelegt, von denen der Erfolg in der weiteren Schullaufbahn abhängt. Kenntnislücken und missverstandene Begriffe in den ersten beiden Schuljahren haben demnach meist massive Schwierigkeiten in Mathematik zur Folge.
Der Erwerb dieser Grundsteine ist dabei mit vielfältigen Anforderungen an das Kind verbunden. Gerade für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen können diese Anforderungen immense Hindernisse darstellen.
Ziel dieser Arbeit soll es nun sein, diese Anforderungen am Beispiel des Zehnerübergangs im Teilschrittverfahren im Bereich des Zahlenraums bis 20 darzustellen.
Dazu werden zunächst entwicklungspsychologische und neurowissenschaftliche Theorien aufgezeigt, wie das Kind zu einem Zahlbegriff kommt, der arithmetische Operationen erlaubt. Anschließend soll das Phänomen der Rechenschwäche etwas näher beleuchtet, mögliche Ursachen aufgezeigt und schließlich die Operation des Zehnerübergangs hinsichtlich seiner basalen und kulturellmathematischen Anforderungen untersucht werden.
2. Historische Ansätze der Zahlbegriffsentwicklung
2.1 Das Phänomen „Zahl“
Was ist eine Zahl und wie ist sie zu denken? Wurde die Zahl erfunden oder existierte sie schon immer? Diese Fragen stellt unter anderem Brainerd (1979) und stellt fest, dies sei „[...] one of humanity's most ancient and redoubtable mental preoccupation“ (Brainerd 1979, 1). Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ging man davon aus, dass Zahlen schon immer vorhanden waren und lediglich vom Menschen entdeckt und für den Alltag nutzbar gemacht worden sind. Aber bereits in der Antike lässt sich ein unterschiedlicher Umgang mit Zahlen feststellen. Die Ägypter und Babylonier benutzten Zahlen und Zahlsymbole im Alltag, wie beispielsweise zum Handeln und Schätzen. Die Griechen jedoch setzten sich mit der Zahl eher philosophisch auseinander und stellten sich die Frage, was denn die Zahl eigentlich sei. (vgl. Moser Opitz 2008, 15; Ullmann 2005, 200). Erst im späten 19. Jahrhundert setzte sich die Sichtweise durch, dass Zahlen konstruiert seien und mit ihrer Funktion der Menschheit zu dienen. Nun gab es Bemühungen zu begründen, warum und wie Zahlen konstruiert seien (vgl. Wember 2003, 51). Es entwickelten sich daraus vor allem zwei verschiedene Zahltheorien, die Brainerd zusammenfasst.
2.2 Kardinalzahltheorie
Bei der Kardinalzahltheorie ist der Aspekt der Größe und der Anzahl ausschlaggebend. Wichtige Vertreter dieser Theorie sind Russel und Frege.
„It is assumed that, in their simplest sense, numbers refer to classes, and the theory stresses that number ultimately is based on physical counterparts of the logical idea of manyness” (Brainerd 1979,92)
Hier wird zum einen davon ausgegangen, dass Zahlen eine Klasse von Dingen repräsentieren. „Jede Menge gehört zu einer übergeordneten Menge, diese wiederum gehört zur nächsten übergeordneten Menge usw.“ (Moser Opitz 2002, 18). Zum anderen wird die Bedeutung der Eins-zu-Eins-Zuordnung deutlich. Denn wenn gleiche Anzahl gleicher Zahl entspricht, muss diese Anzahl feststellbar sein. Wichtig ist deshalb, dass eine Menge aus wahrnehmbaren einzelnen Einheiten besteht.
„Two classes have the same number when their terms can be correlated one to one, so that any one term of either corresponds to one and only one term of the other“ (Russel, zit. nach Brainerd 1979, 67).
2.3 Ordinalzahltheorie
Die Ordinalzahltheorie, die vor allem von Dedekind und Peano entwickelt wurde, stellt die andere damalige Sichtweise zum Zahlbegriffserwerb dar. In deren Zentrum steht der Ordnungsaspekt. Demnach sind natürliche Zahlen „definiert als eine bestimmte arithmetische Progression, die mit Eins beginnt und bei der jede folgende Zahl dadurch generiert wird, dass zur vorangegangenen eine weitere dazu gefügt wird“ (Moser Opitz 2008, 17).
Nach dieser Theorie lernen Kinder den Umgang mit nicht numerischen Progressionen bereits im Alltag im Vorschulalter. Sie verwenden die Begriffe „größer“ und „kleiner“ oder ordnen Gegenstände der Größe nach an. Sie erwerben die Ordinalzahl also beiläufig in der kindlichen Sozialisation.
2.4 Zusammenfassung
Die Autoren Radatz und Schipper betonen, dass es sich bei den vorgestellten Theorien nicht um einen methodischen Streit, sondern eigentlich um eine Auseinandersetzung zwischen „Zahlbildphilosophen“ und „Zählphilosophen“ handelt (vgl. Radatz et al. 1983, 37). Demnach würde eine Ableitung der Mathematikdidaktik von einer der beiden Theorien eine der beiden damals angenommenen Gruppen benachteiligen. Die Existenz von „Zählern“ und „Anschauern“ wird heute sehr angezweifelt.
Logische und philosophische Herangehensweisen, die Zahl zu begründen konnten die Frage, wie das Kind zum Zahlbegriff kommt, nicht beantworten. Erst durch die Entwicklung der experimentellen Psychologie und der Psychologie als Wissenschaft wurde diese Frage verstärkt angegangen (vgl. Moser Opitz 2008, 16). Vor allem befassen sich die Entwicklungspsychologie, die „sich im Allgemeinen mit Vorgängen und Veränderung des Menschen im Laufe seines Lebens“ (Krajewski 2003, 33) beschäftigt und die kognitive Psychologie, der es vorrangig um die „Identifikation spezifischer Prozesse der Zahlenverarbeitung“ (Krajewski 2003, 31, Hervorhebung im Original) geht, mit dem Phänomen der Zahlbegriffsentwicklung.
3. Zahlbegriffsentwicklung nach PIAGET
3.1 Entwicklungsverständnis
In der Tradition der französischen Verhaltenspsychologie, geht PIAGET davon aus, dass man Psychologie betreibt, indem man das Verhalten des Menschen beobachtet und analysiert (Aebli, in Piaget et al. 1975, 7).
„Handeln ist es also, was Erkenntnis, was Denken möglich macht. Das Subjekt erweitert durch seine Aktivität die kognitiven Strukturen und differenziert sie immer weiter aus“ (Moser Opitz 2008, 20).
Damit ist er einer der ersten Vertreter einer konstruktivistischen Sichtweise von Lernen und Entwicklung. Er nimmt an, dass Kinder schlicht logisch handeln und sich mit dem instrument der Logik auch die stufen des Denkens untersuchen lassen.
3.2 Zahlverständnis
Piaget ging als erster der Frage nach, welche Teilfertigkeiten benötigt werden um den Begriff der natürlichen Zahl zu erwerben und wie diese Fertigkeiten aufeinander aufbauen. Aus diesem Grund wird an dieser Stelle etwas genauer auf die Erkenntnisse Piagets eingegangen. Er verbindet Ordinalzahl- und Kardinalzahlentwicklung. Sie finden nach seiner Auffassung zwar getrennt, aber gleichzeitig statt. Für Piaget entwickelt sich die Zahl aus den logischen Operationen der Klassen- und Reihenbildung. Mit dem Begriff der Operation sind Handlungen gemeint, die konkreten oder formalen Charakter haben. Konkrete Operationen können bereits im Gedanken ausgeführt werden, sind aber noch an konkrete Anschauung gebunden. Formale Operationen hingegen werden gekennzeichnet durch einen Umgang mit abstrakten Begriffen, die außerhalb der Anschauung liegen (vgl. Moser Opitz 2008, 27). Als Beispiel wäre hier die Unendlichkeit der Zahlen zu nennen. Da Piaget annimmt, dass das Kind kein angeborenes „Wissen“ im Hinblick auf den Zahlbegriff mitbringt, muss dieses sukzessive und aktiv aufgebaut werden. Dieser Vorgang beginnt bereits in der senso-motorischen Phase.
3.3 Stufen der kindlichen Entwicklung
Die kindliche Entwicklung verläuft nach Piaget allgemein in vier Phasen. Diese sollen hier nur kurz erwähnt werden, eine ausführliche Darstellung entfällt aber aus Gründen der Schwerpunktsetzung der vorliegenden Arbeit. Die Altersangaben, entnommen aus Ginsburg und Opper (vgl. Ginsburg et al. 1993, 43) sollen hier als ungefährer Anhaltspunkt und nicht als festgelegte Tatsachen verstanden werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Stufen kindlicher Entwicklung nach PIAGET
Senso-motorische Phase:
Die senso-motorische Phase (0;0 bis 2;0 Jahre) ist vor allem durch Reflexe und einfache Reiz-Reaktionsschemata gekennzeichnet. Das Kind ist in dieser Phase stark egozentriert und es gelingt ihm erst mit dem Übergang zur präoperationalen Phase eine so genannte Objektpermanenz aufzubauen. Das bedeutet, dass das Kind einen Gegenstand auch dann als existent betrachtet, wenn dieser aus seinem Wahrnehmungsfeld verschwunden ist.
Präoperationale Phase:
Dieser Übergang führt schließlich zur präoperationalen Phase (2;0 bis 7;0 Jahre). Diese kann nochmals unterteilt werden in eine Stufe des symbolischen Denkens, in der es dem Kind gelingt, sich von konkreten Handlungen zu lösen und diese im Gedanken auszuführen und in eine Stufe des anschaulichen Denkens, die davon geprägt ist, dass noch keine Klassenbildung gelingt. Auch kann in dieser Phase nur jeweils ein Aspekt eines Gegenstandes betrachtet werden, beispielsweise die Form.
Konkret-operationale Phase:
Die nächste Phase, die Phase der konkreten Operationen (7;0 bis 11;0 Jahre) ist zentral bei der Betrachtung der Zahlbegriffsentwicklung. Hier gelingt es dem Kind erstmals mehrere Aspekte eines Gegenstandes zu betrachten. Zudem ist es fähig zur Reversibilität, d.h. dass Handlungen umgekehrt zu ihrer Entstehung zurückverfolgt werden können. Das Denken ist dabei noch sehr an Anschauung gebunden, wird jedoch zunehmend beweglicher.
Formal-operationale Phase:
Das formale Denken, welches in der Phase der formalen Operationen (älter als 11 ;0 Jahre) entwickelt wird, ist dadurch ausgezeichnet, dass es keine Gegenstände, d.h. keine Anschauung mehr benötigt. Es ist ein abstraktes, hypothetisch-deduktives Denken, das auch nicht-konkrete Inhalte haben kann. Erst hier kann beispielsweise die Zukunft in den Blick genommen oder die Tatsache der Unendlichkeit der Zahlen in das kindliche Denken integriert werden.
3.4 Zahlbegriffserwerb
Zentrale Begriffe der Zahlbegriffsentwicklung nach Piaget sind Invarianz, Klassifikation und Seriation. Von Piaget wurden verschiedene Versuche durchgeführt um möglichst genau beschreiben zu können, wie das operationale Denken im Hinblick auf den Zahlbegriff entsteht (vgl. Piaget et al. 1975). Dabei konnte sowohl im Hinblick auf die Invarianz, die Klassifikation als auch auf die Seriation eine dreistufige Entwicklung festgestellt werden.
3.4.1 Invarianz
Invarianz beschreibt Piaget folgendermaßen:
„Eine Menge oder eine Gruppe von Gegenständen ist nur vorstellbar, wenn ihr Gesamtwert unverändert bleibt, gleich welche Veränderungen in den Verhältnissen der Elemente eintreten mögen“ (Piaget, zit. nach Moser Opitz 2008, 34)
Eine typische Aufgabe zur Invarianz ist in folgender Abbildung dargestellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Versuch zur Invarianz (entnommen aus: Fritz et al. 2008, 24)
Die Reihe der Blumen wird vor den Augen des Kindes auseinander gezogen. Dem Kind wurde anschließend die Frage gestellt, ob es genauso viele Vasen wie Blumen oder mehr Vasen oder mehr Blumen seien (vgl. Fritz et al 2008, 24).
(1) Im Alter von 4;5 bis 5;0 Jahren zeigt das Kind keinerlei Fähigkeit zur Anzahlinvarianz denn das Kind berücksichtigt lediglich eine Beurteilungsdimension, nämlich die wahrnehmungsgemäße Übereinstimmung (vgl. Radatz et al. 1983, 50f.).
Die Antwort würde demnach lauten: „Mehr Blumen!“
(2) Die zweite Stufe im Alter von 5;0 bis 6;0 Jahren stellt eine Übergangsphase dar, in der es dem Kind teilweise gelingt, eine Stück-für-Stück- Korrespondenz zu erkennen. Stück-für-Stück-Korrespondenz bezeichnet die Fähigkeit, zwei Mengen hinsichtlich ihrer Äquivalenz überprüfen zu können indem jeder Einheit der einen Menge je eine Einheit der anderen Menge zugeordnet wird. Eine Begründung der Äquivalenz gelingt ihm in diesem Stadium noch nicht.
(3) Erst mit 6;0 bis 7;0 Jahren gelingt es, ein Verständnis dafür aufzubauen, dass die Anzahl nicht durch räumliches Umordnen verändert werden kann. Beide Mengen werden abgezählt, ihre Mächtigkeiten bestimmt und verglichen.
Die Antwort würde lauten: „Gleich viele Blumen wie Vasen!“
3.4.2 Klassifikation
Um den Zahlbegriff und damit auch das Invarianzkonzept zu erreichen, ist die Fähigkeit zur Klassifikation und zur Seriation nötig. Klassifikation ist für Piaget vor allem mit einem eher kardinalen Zahlaspekt verbunden. Unter Klassifikation ist zweierlei zu verstehen. Zum einen die Fähigkeit, Gegenstände nach einem Merkmal zu ordnen, also zu klassifizieren. Zum anderen die Fähigkeit, Beziehungen zwischen Oberklasse und Unterklasse und zwischen Ganzem und Teilen zu erkennen (Klasseninklusion). Eine kleinere Menge ist also eingeschachtelt in eine größere, die wiederum in eine noch größere eingeschachtelt ist, usw. Diese Erkenntnis ist für Piaget auch eine Voraussetzung für die Addition. Im Folgenden orientiert sich die Beschreibung der von Piaget festgestellten Stufen an der Aufstellung von Moser Opitz (vgl. Moser Opitz 2008, 28f.).
(1) In Stadium 1 (prä-operational, 2;0 bis 5;0 Jahre) werden Gegenstände noch nicht nach festen Kriterien, sondern eher nach Figuren und Mustern gelegt. Ähnliche Eigenschaften werden wohl wahrgenommen, werden aber nicht einheitlich differenziert.
(2) Im zweiten Stadium (Übergangsstadium, 5;0 bis 7;0 Jahre) wird die Klasseninklusion noch nicht verstanden. Ein typisches Beispiel dafür ist die Frage, ob auf einem Bild mehr Blumen oder mehr Primeln sind. Das Kind wird in diesem Stadium mit „mehr Primeln“ antworten (vgl. Moser Opitz 2008, 29). Beim Ordnen von Gegenständen orientiert sich das Kind lediglich an einem Merkmal.
(3) Im dritten Stadium (konkret-operational, 7;0-11;0 Jahre) schließlich können Klassifikationsaufgaben gelöst werden. Auch werden jetzt Inklusionsbeziehungen verstanden. Das oben genannte Beispiel würde jetzt mit „mehr Blumen“ beantwortet werden.
3.4.3 Seriation
Der ordinale Zahlaspekt wird bei Aufgaben zur Seriation untersucht. So sollen bei diesen Versuchen beispielsweise Stäbe in eine Reihenfolge gebracht werden und anschließend weitere jeweils in deren Zwischenräumen platziert werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Aufgaben zur Reihenbildung (entnommen aus: Moser Opitz 2002, 30)
In Versuchen zur Reihenkorrespondenz soll eine Stück-für-Stück-Korrespondenz zweier Mengen, deren Elemente sich in der Größe unterscheiden, hergestellt werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Seriation und Stück-für-Stück-Korrespondenz (entnommen aus: Moser Opitz 2002, 30)
(1) In Stadium 1 (prä-operational, 2;0 bis 5;0 Jahre) werden Gegenstände, die nach der Größe geordnet werden sollen, willkürlich gelegt. Eine Stück-für- Stück-Korrespondenz kann dabei nicht hergestellt werden.
(2) Im zweiten Stadium (Übergangsstadium, 5;0 bis 7;0 Jahre) kann das Kind eine Stück-für-Stück-Korrespondenz aufbauen und schafft es beispielsweise auch, eine aufsteigende Reihe zu legen. Jedoch stellt es eine große Anstrengung dar, ein systematisches Arbeiten ist nicht zu beobachten. Die meisten Versuche folgen dem Prinzip von Versuch und Irrtum.
(3) Alle Aufgaben können erst im dritten Stadium (konkret-operational, 7;0 bis 11;0 Jahre) planvoll gelöst werden mit der Einschränkung, dass das Kind weiterhin auf Anschauung angewiesen ist. Formale Operationen sind wie oben erwähnt in diesem Stadium nicht möglich.
3.4.4 Arithmetik
Auch wenn PIAGET keine tiefergehenden Forschungen in Bezug auf Rechenoperationen betrieb, so kann dennoch auch dabei der dreistufige Ablauf beobachtet werden.
Werden acht Objekte zunächst aufgeteilt in 4+4 und anschließend in 7+1, so gelingt einem Kind im ersten Stadium das Erkennen der Äquivalenz der beiden Teilmengen nicht. Das Kind nimmt lediglich die räumliche Anordnung der Objekte wahr. Im Übergangsstadium gelingt es, die Äquivalenz zu erkennen, jedoch nur durch Abzählen. Im dritten Stadium ist das Kind zur Reversibilität fähig und kann spontan die Gleichheit der Teilmengen erkennen (vgl. Krajewski 2003, 39f.). Das Prinzip der Klasseninklusion aber auch der Reversibilität ist demnach die Voraussetzung für arithmetische Operationen. Piaget definiert Reversibilität folgendermaßen:
„Die Teile in Bezug auf das Ganze - und umgekehrt - begreifen ...(und)...die folgenden zwei Gleichheiten simultan herstellen: A+A'=B und: A=B-A', d.h. also die inverse Operation ebenso durchführen wie die diskrete“ (vgl. Piaget et al. 1975, 234f.).
3.5 Zusammenfassung
Der kardinale und der ordinale Aspekt der Zahl entwickeln sich nach Piaget parallel aber getrennt voneinander. Als wesentlich ist herauszustellen, dass erst mit der Verschmelzung des ordinalen und des kardinalen Aspekts die Zahl als solche konstruiert wird.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Ordinaler und kardinaler Zahlbegriff nach PIAGET (modifiziert nach: MOSER OPITZ 2002, 38)
Dafür ist operationales Denken die Voraussetzung, so ist es nicht verwunderlich, dass in den ersten beiden der vier Phasen von Piagets Entwicklungsmodell der Zahlbegriff erst rudimentär vorhanden ist. Erst ab der konkret-operationalen Phase ist das Kind zu operationalem Denken und damit auch zum flexiblen Zahlgebrauch fähig. In der Praxis bedeutet dies, dass das Kind erst im Schulalter den Zahlbegriff voll erwerben kann.
Die Mathematikdidaktik wurde von Piagets Theorien stark beeinflusst. Gründe dafür fassen Radatz und Schipper zusammen. Zum einen greifen die PiAGETschen Aufgaben Inhalte auf, die zu jeder Mathematikdidaktik gehören, wie beispielsweise Klassifikation und Mengenvergleiche. Zum anderen wird die Mathematik als Fach gestärkt, wenn Piaget die Entwicklung mathematischer Begriffe als exemplarisch für die allgemeine Denkentwicklung darstellt. Zudem erfährt ein ganzheitlicher Mathematikunterricht durch Piagets Theorie eine Begründung (vgl. Radatz et al. 1983, 45f.). Die Altersangaben, die Piaget verwendet, lassen den Schluss zu, dass im Einschulungsalter beispielsweise im Bereich der Klassifikation die Entwicklung noch nicht vollständig durchlaufen scheint. Der Mengenlehre wurde ein großer Platz eingeräumt und einem frühen Beginn mit arithmetischen Operationen, sprich dem Rechnen, wurde eine Abfuhr erteilt. Das Kind ist nach diesem Modell mit seiner Denkstruktur für dafür noch nicht bereit, es kann sich sogar eher schädlich auswirken.
3.6 Kritik an PIAGET
3.6.1 Kritik am Zahlbegriffskonzept
Forschungen nach Piaget zeigten, dass eine gleichzeitige Entwicklung des ordinalen und des kardinalen Aspekts eher unwahrscheinlich ist. Vielmehr scheint Kindern eher der ordinale Aspekt leichter zu fallen. Viele von Piaget abgeleitete mathematik-didaktische Entscheidungen wie beispielsweise die Fokussierung auf die Mengenlehre scheinen dadurch ihre Begründung verloren zu haben (WEMBER 2003, 58). Wesentliche Kritik kann bezüglich Piagets Vernachlässigung des Zählens geübt werden. Heute scheint geklärt zu sein, welch wichtige Rolle das Zählen bei der Entwicklung des Zahlbegriffs spielt (vgl. Werner 2007, 583). Dies erkennt man vor allem in aktuellen Modellen zur Entwicklung des Zahlbegriffs (vgl. Kap. 5.6; 5.7). So kann bezüglich der Aufgabe zur Invarianz in Kapitel 3.4.1 angenommen werden, dass Schulanfänger die Aufgabe durch Zählen lösen können (vgl. Radatz et al. 1983, 51).
3.6.2 Allgemeine Kritik
Piaget wurde und wird noch immer im Hinblick auf seine nicht-standardisierten Forschungsmethoden kritisiert. So ist die verbale Orientierung seiner Experimente ein zentraler Kritikpunkt geworden. Verschiedene Autoren konnten auch mit weiteren Untersuchungen diese Kritik stützen. Kinder verstehen oft die Anweisungen nicht oder interpretieren sie anders (vgl. Wember 2003, 57; Moser Opitz 2002, 43).
„Jedermann, der Piaget liest, fragt sich, ob die Versuchspersonen denn die Fragen des Versuchsleiters überhaupt verstanden haben [...]“ (Freudenthal, zit nach Moser Opitz 2002, 43).
Ein weiterer Kritikpunkt ist in der Tatsache zu finden, dass heute grundsätzlich nicht mehr davon ausgegangen werden kann, „dass es eine allgemeine, inhaltsübergreifende kognitive Entwicklung gibt“ (Krajewski 2003, 40f.
Hervorhebung im Original) wie sie PIAGET annahm. Auch wurden die Entwicklungsstufen und vor allem die Altersangaben kritisiert.
Ein gutes Stück weiter geht Dehaene mit seiner Kritik. Nach Piaget entwickelt sich der Zahlbegriff ausgehend von einem, lediglich mit Reflexen ausgestattetem, Säugling, der durch Handeln in der Umwelt Kompetenzen nach und nach erlangt. Demnach würde es Sinn machen, im Vorschulalter vor allem die Beziehungen zwischen Mengen in Auseinandersetzung mit konkretem Material zu lehren (vgl. Dehaene 1999, 57). Er teilt diese Sichtweise nicht.
„Wir wissen heute, daß (sic) Piagets Konstruktivismus in dieser Hinsicht nicht zutrifft. Offensichtlich müssen kleine Kinder noch viel Arithmetik lernen, und offensichtlich vertieft sich ihr Verständnis für den Zahlbegriff über Jahre hinweg - dennoch fehlt es ihnen auch in den Vorschuljahren nicht an einer kognitiven Repräsentation von Zahlen, nicht einmal bei der Geburt!“ (Dehaene 1999, 57)
Dieses Zitat soll zum nächsten Punkt meiner Ausführungen überleiten.
4. Intuitive Mathematik
Wie oben dargelegt wurde ging Piaget davon aus, dass das Kleinkind lediglich mit Reflexen zur Welt kommt. Auf dieser Basis entwickeln sich durch Auseinandersetzung mit der Umwelt immer höhere Denkoperationen und ausdifferenziertere Aspekte des Zahlbegriffs. Auch wenn diese Sichtweise lange Zeit von vielen Seiten anerkannt wurde und auch wesentlich auf die Mathematikdidaktik wirkte, so muss doch gesagt werden, dass neuere Forschungen im Bereich der Zahlbegriffsentwicklung teilweise andere Erkenntnisse erbrachten. Besonderes Augenmerk muss dabei auf die relativ junge Neurowissenschaft gerichtet werden, die auch mit Forschungsmethoden wie beispielsweise der bildgebenden Verfahren eine ganz neue Sichtweise auf das Phänomen der Zahlbegriffsentwicklung zulässt. Ein Exkurs in den Bereich tierischer Kompetenzen soll dabei in dieses Kapitel einleiten.
4.1 Exkurs: Numerische Fähigkeiten von Tieren
Ein berühmt gewordenes Beispiel für ein rechnendes Tier ist Hans, ein Araberhengst, geworden. Sein Besitzer Wilhelm von Osten, ein Psychologe, zeigte Interessierten gerne die Fähigkeit seines Pferdes im Hinblick auf Addition. Auch wenn das sehr außergewöhnliche Fähigkeiten zu sein schienen, so zeigte sich doch in einer näheren Untersuchung, dass die „Berechnungen“ des Pferdes durch unbewusste Zeichen des Besitzers beeinflusst wurden. Diese Tatsache führte zum einen dazu, dass in der Psychologie nun verstärkt auf klare und strikte Versuchsplanung und -durchführung geachtet wurde, zum anderen aber auch dazu, dass Versuche numerische Fähigkeiten bei Tieren zu erforschen sehr in den Hintergrund geraten waren.
Erst KÖHLER konnte, wenn auch methodologisch sehr kritisiert, erste Erfolge mit seinem Raben Jakob vorweisen. Dieser konnte unabhängig von Form, Farbe oder Größe der Gegenstände die Zahl 5 erkennen. Weitere Untersuchungen unter anderem von Mechner, Platt und Johnson zeigten, dass Ratten eine geforderte Anzahl an Hebelbetätigungen zumindest näherungsweise ausführen konnten. So sollten sie zunächst Hebel A entsprechend der geforderten Anzahl betätigen, bevor mit der Betätigung des Hebels B die Belohnung in Form eines Futterbrockens zum Vorschein kommt. Dieser Anforderung konnten die Ratten gerecht werden mit der Einschränkung, dass die Variabilität der Hebelbetätigungen mit steigender geforderter Anzahl zunahm. Daraus lässt sich nach Dehaene schließen, dass Ratten nur „über einen recht groben Schätzmechanismus“ (Dehaene 1999, 30) verfügen.
Eine neuere Untersuchung zur Verarbeitung von Anzahlen führten Jordan und Brannon mit Rhesusäffchen durch. Dabei konnten die Äffchen Aufgaben zur Unterscheidung von Anzahlen und auch zu Ähnlichkeiten mit präsentierten Anzahlen richtig lösen. So wurden sieben Punkte eher mit acht Punkten und drei Punkte eher mit zwei in Verbindung gebracht (vgl. Landerl et al. 2008, 52). Auch wurden Forschungen in Richtung Multimodalität der Reize durchgeführt. Church und Meck konnten bei Ratten „die Zahl als einen abstrakten Parameter darstellen, der nicht mit einer spezifischen -auditiven oder visuellen - Sinnesmodalität verbunden ist“ (Dehaene 1999, 34). Es wurden bei diesem Experiment Anzahlen durch Lichtblitze und Töne präsentiert. Die Anzahlen sind „also nicht an eine bestimmte Wahrnehmungsmodalität gebunden, sondern [sind] abstrakter Natur“ (Landerl et al. 2008, 53). Diese Ausführungen weisen vor allem auf einen kardinalen Zahlaspekt.
Dass Tiere, in diesem Fall wiederum Rhesusäffchen, auch zu Ordinalität fähig sind, konnten Brannon und Terrace zeigen. In diesem Experiment ordneten die Äffchen mithilfe eines Touchscreens verschiedene Objekte aufsteigend nach ihrer Anzahl. Trainiert wurde dies mit den Anzahlen eins bis vier. Sowohl die trainierten als auch nicht trainierte Anzahlen konnten mit großer Genauigkeit geordnet werden (vgl. Landerl et al. 2008, 52).
Bezüglich der arithmetischen Fähigkeiten von Tieren sei an dieser Stelle auf zwei Arbeiten hingewiesen. Zum einen auf die Untersuchungen von Woodruff und Premack (vgl. Dehaene 1999, 37) und zudem auf Hauser und Mitarbeiter (vgl. Landerl et al. 2008, 53). Woodruff und Premack zeigten, dass ein Schimpanse sowohl „die Fähigkeit zur Addition als auch zum näherungsweisen Vergleich von Anzahlen besitzt“ (Dehaene 1999, 37). Er wählte von zwei Tabletts dasjenige aus, auf dem ein Häufchen mit drei und ein Häufchen mit vier Schokoladenstücken lagen. Das andere mit fünf Stücken und einem einzigen Stück daneben, vernachlässigte er. Hauser und Mitarbeiter arbeiteten mit einem Paradigma, das an anderer Stelle noch näher beleuchtet wird. So zeigten sie in freier Wildbahn lebenden Rhesusäffchen zwei Auberginen die nacheinander verdeckt wurden. Wurden sie wieder aufgedeckt und zeigte sich nur eine Aubergine so war die Blickdauer signifikant länger als beim möglichen Ergebnis (vgl. Landerl et al. 2008, 53f.).
Zusammenfassend kann man also sagen, dass bei Tieren eine numerische Kompetenz vorhanden ist. Dieser macht nach Dehaene auch aus evolutionären Gründen Sinn. Das Erkennen von Nahrungsmengen kann sich als überlebenswichtig erweisen. Die Phänomene des Distanzeffekts und des Größeneffekts, die im Folgenden noch näher erläutert werden, lassen sich ebenfalls bei Tieren nachweisen. Der Zahlbegriff ist, anders als viele Philosophen meinen, von Sprache unabhängig und zudem gibt es „keinen Grund anzunehmen, daß (sic) die Zahl ein komplexer Parameter der Außenwelt ist, abstrakter als andere sogenannte objektive oder physikalische Parameter wie Farbe, Lage im Raum oder Dauer“ (Dehaene 1999, 33).
Wenn also bereits Tiere mit diesen anzahlbezogenen Kompetenzen ausgestattet sind, wie verhält es sich damit beim Menschen?
4.2 Intuitive numerische Kompetenzen des Kindes
4.2.1 Subitizing
Verschiedene Studien zeigen, dass kleine Kinder schon über beachtliche Fähigkeiten bezüglich der Menge von Objekten verfügen.
Schon in den 70er Jahren (vgl. Chi et al. 1975, 436) konnte in Reaktionszeituntersuchungen gezeigt werden, dass zum Erkennen von bis zu vier Elementen nahezu immer die gleiche Zeit benötigt wurde.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6: Reaktionszeiten zur Anzahlerkennung (modifiziert nach: Chi et al. 1975, 436)
Starkey und Cooper (vgl WEIßHAUPT et al. 2009, 55) präzisierten diese Befunde indem sie Kindern eine ungeordnete Menge von Punkten nur sehr kurze Zeit präsentierten. Demnach können zweijährige Kinder zwei bis drei Elemente, Kinder im Alter von drei Jahren und fünf Monaten ein bis vier Elemente und Vier- bis Fünfjährige ein bis fünf Elemente simultan erfassen. Diese Fähigkeit wird auch als „subitizing“ bezeichnet, kommt ohne einen bewussten Zählvorgang aus und ist bereits im Vorschulalter komplett ausgebildet. Auch Erwachsenen gelingt lediglich eine maximale Simultanerfassungsleistung von fünf Elementen.
Es wird angenommen, dass diese Fähigkeit durch eine gerichtete Aufmerksamkeit auf quantitative Aspekte in der kindlichen Umwelt geübt werden kann (WEIßHAUPT et al. 2009, 55f.). Bereits hier wird deutlich, wie wichtig eine anregungsreiche Umgebung für die kindliche Entwicklung ist.
4.2.2 Anzahlunterscheidung
Eine Menge kann von Säuglingen und Kleinkindern nicht nur simultan erfasst, sondern auch bezüglich ihrer Mächtigkeit unterschieden werden. Für diese Untersuchungen wurde meist mit einem Habituations-Dishabituations-Paradigma gearbeitet. Demnach wird einem Kind ein Stimulus so lange präsentiert, bis es das Interesse daran verliert. Dies ist durch eine verkürzte Blickdauer zu beobachten. Anschließend wird dem Kind ein Stimulus, der sich lediglich in einem Aspekt unterscheidet, präsentiert. Verlängert sich dabei die Blickdauer, hat das Kind den Unterschied erkannt (Landerl et al. 2008, 56).
Die Untersuchungen konnten zeigen, dass bereits wenige Tage alte Säuglinge im Zahlenraum bis drei „über eine bemerkenswerte Sensitivität für Anzahlen verfügen“ (WEIßHAUPT et al. 2009, 52). Sie konnten bereits Anzahlen unabhängig von der Präsentationsform, also visuell oder akustisch, unterscheiden. Auch abstrakte Ereignisse wie Sprünge einer Puppe konnten von 6 Monate alten Kindern unterschieden werden (vgl. Wynn 1996, 164). 10 und 12 Monate alte Kinder haben bereits die Fähigkeit „mehr“ von „weniger“ zu unterscheiden. Sie wählten in einer Versuchsanordnung, in der Kekse nacheinander in Dosen gefüllt wurden, stets die Dose mit mehr Keksen. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass sie die Anzahlen mental repräsentiert haben, denn die Kekse waren in den Dosen nicht sichtbar (vgl. Feigenson et al. 2002, 150ff.). Diese Repräsentationen und ein Verständnis für Handlungsabfolgen sind Voraussetzung für eine Beurteilung von Mengenveränderungen
4.2.3 Arithmetik
Wynn (vgl. Wynn 1992, 749f.) konnte zeigen, dass Kinder schon sehr früh auch arithmetische Fähigkeiten haben. Ein viel zitiertes Beispiel stellt ihre Versuchsanordnung zur Addition und Subtraktion bei fünf Monate alten Kindern dar. Wie in der Abbildung zu sehen ist, gibt es sowohl für die Addition als auch für die Subtraktion ein mögliches und ein unmögliches Ergebnis. Kinder zeigten bei unmöglichen Ergebnissen größeres Erstaunen, was sich an einer verlängerten Blickdauer erkennen lässt. Daraus wird der Schluss gezogen, dass Kinder dieses unmögliche Ergebnis erkennen, also arithmetische Fähigkeiten besitzen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 7: Versuchsaufbau zur arithmetischen Fähigkeit von Kleinkindern (entnommen aus: Wynn 1992, 749)
4.2.4 Grenzen
Grenzen zeigen sich bei den kindlichen präverbalen numerischen Fähigkeiten in zwei Bereichen: Zum einen gelingt eine sichere Erfassung von größeren Anzahlen nicht, da diese gezählt werden müssten. Zum anderen ist in einem größeren Zahlenraum zur sicheren Unterscheidung von zwei Mengen ein gewisser Unterschied in den jeweiligen Mächtigkeiten nötig, sowohl bei visueller als auch bei auditiver Darbietung.
Es konnte in Untersuchungen mit Erwachsenen gezeigt werden, dass die Unterscheidung von zwei Zahlen leichter fällt, wenn diese weiter auseinander liegen. Selbst bei sehr guten Mathematikern zeigt sich dieser sogenannte Distanzeffekt, was den Schluss zulässt, dass diese Fähigkeit nicht trainiert werden kann (vgl. Schweiter et al. 2005, 37). So können Kinder im Alter von 6 Monaten Anzahlen im Verhältnis 1:2, zehn Monate alte Kinder im Verhältnis 2:3 unterscheiden. Erst mit fünf Jahren etwa ist ihnen ein Vergleich im Verhältnis 1:1,15 möglich, was der Leistung eines Erwachsenen entspricht (vgl. WEIßHAUPT et al. 2009, 55)
4.2.5 Erklärungsversuche
Object Files:
Dieses Konzept geht vor allem auf Kahneman zurück. Object Files sind als mentale Platzhalter zu denken, die minimale Informationen zu Form und Position eines Objekts enthalten. Die Objektpermanenz in der Konzeption Piagets könnte damit ebenso erklärt werden, wie die Fähigkeit des subitizing. Für die Tatsache, dass Säuglinge und Kleinkinder aber auch akustische Impulse ebenso wie visuelle wahrnehmen und unterscheiden, sowie die Fähigkeit der Mengendifferenzierung im größeren Zahlenraum besitzen, ergibt sich damit keine Erklärung (vgl. Landerl et al. 2008, 59f.).
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- Quote paper
- Andreas Thiel (Author), 2010, Zahlbegriffsentwicklung und Anforderungen an den Zehnerübergang im Teilschrittverfahren, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/150127
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