Wurde in der sozialistischen Ideologie e i n e Gemeinschaftsform für alle als verbindlich erklärt, weil sie als die einzig wissenschaftlich fundierte anzusehen wäre, gab es nach der Wiedervereinigung im gemeinsamen Deutschland plötzlich einen schier unüberschaubaren Pluralismus an Gemeinschaftsvorstellungen und Modellen, die – gleich aus welcher theoretischen oder praktischen Schule sie stammten – eine „Gleichgültigkeit“ beanspruchten.
Für Romano Guardini war es schon sehr früh zur Überzeugung geworden, daß menschliche Gemeinschaft letztlich nur einem Modell folgen sollte und einem Urbild verpflichtet war, das sich ihm schon auf den ersten Seiten der Bibel darbot: dem Menschen als Mann und Frau, den Menschen als Ebenbild/Abbild Gottes des Schöpfers, der sich nach christlichem Verständnis als der Dreieine, als innergöttliche Communio offenbart hat. Hier stellt Gott selbst das Modell auf, hier gibt die Offenbarung die „Meßlatte“ vor, an der sich menschliches Miteinander zu orientieren hat.
In Chiara Lubich und der Fokolarbewegung begegnet uns eine moderne Spiritualität, die in wenigen Jahrzehnten zahlenmäßig große Verbreitung erfahren hat, aber auch in ihren Strukturen
eine der Kirche insgesamt vergleichbare Breite entfaltete. Das Schlüsselwort ihrer Sendung lautet Einheit, Ausdruck von Gemeinschaft, die aus gegenseitiger Liebe und Hingabe entsteht
und lebt.
Vor allem Planen und Handeln geht es den Anhängern dieser Spiritualität um die Gegenwart dessen, der diese Einheit verwirklichen und fruchtbar machen kann: Gott soll in der Mitte seines Volkes wohnen (vgl. Ex 29,45f.) und Jesus, als der Mensch gewordene Gottessohn, als der auferstandene Christus, in ihrer Mitte sein (vgl. Mt 18,20). Bis in Formulierungen hinein finden sich bei Chiara Lubich, der Gründerin und langjährigen Präsidentin der Bewegung, Übereinstimmungen mit Einsichten Guardinis, die in dieser Spiritualität auch heute noch weitere Ausformungen und Umsetzungen in Kirche und Welt erfahren.
Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, das trinitarische Gemeinschaftsmodell „salonfähig“ zu machen, als eine Einladung angenommen zu werden, die Mut macht, einem an sich unerreichbaren Ideal doch mit Zuversicht zu folgen in dem Bewußtsein, in dieser Nachfolge zu wachsen und neue, vertiefte Einsichten über das letztlich in Gott gründende Miteinander aller Menschen zu gewinnen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
I. Das Woher: Hintergrunde
2. Historischer Hintergrund
3. Gemeinschaftserfahrung im Leben Romano Guardinis
3.1. DieFamilie
3.2. Freundschaft
3.3. Kirche und Presbyterium
3.4. Die Benediktiner und die Liturgie
3.5. In der Jugendbewegung
3.6. Universitat und Seminar
3.7. In Gemeinde und Seelsorge
Resumee
II. Das Worin: Realisationen
4. Vom Geist der Liturgie
4.1. Gemeinschaft der Kirche in der Liturgie
4.2. Gemeinschaft - keine Summe von Individuen
4.3. Gemeinschaft als Lex orandi, Lex credendi, Lex vivendi
4.4. Gemeinschaft in „Dramatik“ und Dialog
4.5. Gemeinschaft lebt aus Natur und Kultur
4.6. Gemeinschaft verlangt Opfer und Leistung
4.7. Gemeinschaft und ihr Stil
4.8. Gemeinschaft im Symbol
4.9. Gemeinschaft - ein wahres Spiel
4.10. Gemeinschaft muB die „Machtfrage“ klaren
4.11. Gemeinschaft als die Gegenwart des Logos
5. Kirche - Gemeinschaft par excellence
5.1. Kirche - Gemeinschaft nach dem Vorbild der Trinitat
5.2. „Christus in der Kirche ist die Wahrheit“
5.3. Die Person - ein Gottesgedanke in Freiheit
5.4. Vielfaltige Gemeinschaft in der einen Kirche
5.5. „Kirche zwischen Identitat und Differenz“
6. Vom Sinn der Gemeinschaft
6.1. In Richtung auf Gemeinschaft hin
6.1.1. Gemeinschaft ist frei gewahlt, von Freundschaft getragen
6.1.2. Gemeinschaft ist ein Bund, vom gemeinsamen Ziel getragen
6.1.3. Gemeinschaft verlangt Treue zur selbst gewahlten Ordnung
6.1.4. Gemeinschaft erweist sich an Haltungen der Einzelnen in ihr
6.1.5. Gemeinschaft erweist sich an Haltungen gegenuber dem Anderen . .
6.2. In Gegenrichtung auf Einsamkeit hin
6.3. Krisen im Leben von Gemeinschaft
6.3.1. Gemeinschaft im Sich-Verstehen
6.3.2. Gemeinschaft ist Anerkennen des Anderen
6.4. Das Ganze des menschlichen Daseins gewinnen
Resumee
III. Das Wodurch: GesetzmaBigkeiten
7. Gegensatz
7.1. Einordnung
7.2. Der Gegensatz
7.3. Das System
7.4. „Gemeinschaftsknupfungen“
7.5. Individuum und Gemeinschaft als Gegensatzbeziehung
7.6. Akt und Bau in einer Freundschaft
7.7. Fulle und Form in der Ehe
7.8. Einzelheit und Ganzheit in der Familie/Verwandtschaft
7.9. Produktion und Disposition im Arbeitsteam
7.10. Ursprunglichkeit und Regel in einer Glaubensgemeinschaft
7.11. Immanenz und Transzendenz in einer Gesellschaft/einem Staat
7.12. Ahnlichkeit und Besonderung in einem Staatenverbund/Europa
7.13. Zusammenhang und Gliederung in der Weltgemeinschaft
7.14. Die Kreuzung in der schulischen Erziehung
7.15. Gegensatzreihen und die Nachbarschaft
7.16. MaB im Eltern-Kind-Verhaltnis
7.17. Der Rhythmus im Mannschaftsspiel
7.18. Die Offenheit des Systems
7.19. Verbindung von Individualsystemen, Gruppengefugen und hoheren Einheiten
7.20. Zur Struktur der hoheren Einheiten
7.21. Das Leben als Trager des Gegensatzsystems
Resumee
IV. Das Woraus: Quellen
8. Hingabe in Liebe und Treue
8.1. Das Reich des mitlaufenden Anfangs
8.2. Freiheit ist Selbstgehorigkeit
8.2.1. Individuum - Staat
8.2.2. „Wille zur Freiheit“
8.2.3. „Sittliche Freiheit“
8.2.4. Freiheit und das Heilige
8.3. Liebe ist die Gesinnung Gottes
8.3.1. Die christliche Liebe ist geoffenbart und hat ihr MaB in Jesus Christus
8.3.2. Demut und Liebe in der Politik - die notwendige Gesinnung
8.4. Sakramente wandeln das Sein
8.4.1. Jesus Christus und seine Kirche
8.4.2. Die Einzelsakramente und ihr Beitrag zur Gemeinschaft
8.4.3. Taufe - Gemeinschaft wird grundgelegt
8.4.4. Firmung - Gemeinschaft wird in Angriff genommen
8.4.5. Eucharistie - Gemeinschaft mit Christus und untereinander
8.4.6. Ehe - Gemeinschaft mit dem Herrn in ihrer Mitte
8.4.7. Priesterweihe - Gemeinschaft von Brudern in der Hierarchie
8.4.8. BuBsakrament - Bekehrung und Neuanfang
8.4.9. Krankensalbung - Gemeinschaft gestarkt aus Leiden
8.5. Tugenden - Gestalten, wie der Mensch im Guten steht
8.5.1. Wahrhaftigkeit als Treue zur Wahrheit
8.5.2. Annahme in Geduld und absichtslose Treue
8.5.3. Askese und Verstehen
8.5.4. „Gerechtigkeit des Seins“
8.5.5. Sammlung und Schweigen
8.6. Gott selbst ist Quelle von Gemeinschaft
8.7. Gebet geht an Ihn, „an den Dreieinigen“
8.8. Gemeinschaft im Spiegel einer Freundschaft
9. Person und Gemeinschaft
9.1. Guardini und Gemeinschaftsvorstellungen seiner Zeit
9.2. Guardinis trinitarische Gemeinschaftsvorstellung
9.2.1. Ungetrennt und Unvermischt - zum Personbegriff Guardinis
9.2.2. Perichoresis
9.3. Gemeinschaft und ihre Grenzen
9.3.1. Gemeinschaft ist alles
9.3.2. Der Einzelne ist alles
V. Das Wozu: Perspektiven
10. Die Fokolarbewegung im Vergleich
10.1. Uber Romano Guardini hinaus?!
10.2. Biographischer Bezug
10.3. Die Spiritualitat Ch. Lubichs - ein Vergleich mit R. Guardini
10.3.1. Das Wortgeschehen
10.3.2. Mittlerschaft und Jesus in der Mitte
10.3.3. Hingabe als Quelle fur Gemeinschaft, Jesus der Verlassene
10.3.4. Zukunftsmodell Gemeinschaft
10.3.5. Gemeinschaft - offen fur alle
10.3.6. Gemeinschaft - immer und als erster bauen
10.3.7. Gemeinschaft - „allen alles werden“
10.3.8. Gemeinschaft - „sich gegenseitig lieben“
10.4. Perspektiven und Fruchte gelebter Gemeinschaft
10.4.1. In Gott ist alles gemeinsam - die Gutergemeinschaft
10.4.2. Gottes Wesen spricht sich aus - das Apostolat
10.4.3. Gebet - Einheit mit Gott
10.4.4. Im dreifaltigen Gott ist der „mystische Leib“ gesund
10.4.5. In Gott sind Harmonie und Schonheit
10.4.6. Der dreifaltige Gott ist Sitz der Weisheit
10.4.7. Eine offene Trinitat und Maria
11. Leitlinien gemeinschaftlichen Lebens
VI. Textanhang
12. Ausgewahlte Texte
12.1. Bedeutung des Dogmas vom dreieinigen Gott (R. Guardini)
12.2. Ein Exkurs: Person (R. Guardini)
12.3. Auf alle Blumen schauen (Ch. Lubich)
Verzeichnisse
1. Einleitung
Wurde in der sozialistischen Ideologic e i n e Gemeinschaftsform fur alle als verbindlich erklart, weil sie als die einzig wissenschaftlich fundierte anzusehen ware, gab es nach der Wiedervereinigung im gemeinsamen Deutschland plotzlich einen schier unuberschaubaren Plu- ralismus an Gemeinschaftsvorstellungen und Modellen, die - gleich aus welcher theoretischen oder praktischen Schule sie stammten - eine „Gleichgultigkeit“ beanspruchten. Auch eine Institution wie die katholische Kirche, die sich uber viele Jahrhunderte als geformte Gemein- schaft bewahrt hatte und die so auch im Osten Deutschlands weithin von den Diasporachristen akzeptiert worden war, wurde nun in ihrer Bedeutung relativiert und wie fast alle Gemein- schaftsbildungen rein soziologisch beurteilt und in gewissem Sinne pragmatisch bewertet.
Fur Romano Guardini war es schon sehr fruh zur Uberzeugung geworden, daB menschliche Gemeinschaft letztlich nur einem Modell folgen sollte und einem Urbild verpflichtet war, das sich ihm schon auf den ersten Seiten der Bibel darbot: dem Menschen als Mann und Frau, den Menschen als Ebenbild/Abbild Gottes des Schopfers1, der sich nach christlichem Verstandnis als der Dreieine, als innergottliche Communio offenbart hat2. Hier stellt Gott selbst das Modell auf, hier gibt die Offenbarung die „MeBlatte“ vor, an der sich menschliches Miteinander zu orientieren hat.
Auch die Kirche als die verbindliche Auslegerin der Offenbarung hat viele Jahrhunderte gebraucht, diese gottliche „Vorlage“ wirklich in ihrer Komplexitat und ihrer doch ebenso lapidaren Grundstruktur richtig zu erkennen und ins Leben zu ubersetzen. Vorstellungen vom „Reich Gottes“, von einem „Gottesstaat“, von der Konkurrenz geistlicher und weltlicher Macht standen in oft krassem und unvermittelbarem Widerspruch zum Haupt- und Doppelgebot der Liebe, zum Neuen Gebot oder zum Testament Jesu3, in dem die Gleichformigkeit menschli- chen Miteinanders mit der innergottlichen Liebesgemeinschaft beschworen wird. Viele, auch denkerische Hurden waren durch die Jahrhunderte zu nehmen: die Ausformulierung des Trini- tatsdogmas, die Herausbildung eines Personbegriffs, der auch die Relationen unter Personen als eine konstitutive GroBe erkannte und anerkannte.
Im Zweiten Vatikanischen Konzil wird das Bild vom „Volk Gottes“ bestimmend und erganzt die Vorstellung innerlicher Verbundenheit der Glaubigen als Glieder am „mystischen Leib Christi“ durch eine mehr auf gelebte Gemeinschaft hin orientierte Vorstellung von christlichem Leben. Aufbruche in der Liturgie zu Beginn des 20. Jh.s und spirituelle Erneuerungsbewegun- gen drangten und drangen in die gleiche Richtung. Romano Guardini steht fur erstere, die Fokolarbewegung fur letztere.
Guardini verkorpert Gemeinschaft in vieler Hinsicht: als Begegnung von Nationen (er - ita- lienischer Abkunft - lebt und wirkt fast ausschlieBlich in Deutschland); als in benediktinischer, gemeinschaftlich gepragter Spiritualitat Beheimateter; als Erneuerer der Liturgie, die eine Liturgie des ganzen Gottesvolkes sein soll; als Lehrer und Erzieher in der Jugendbewegung; als Denker des von Gegensatzen durchwirkten und bestimmten Konkret-Lebendigen, das immer auch durch gemeinschaftliche Lebensformen bestimmt ist; als Priester, Seelsorger, liebender Mitchrist, der die Quellen gemeinschaftlichen Lebens aufzuzeigen fahig ist.
Guardini formuliert, daB die Trinitat „Magna Charta“ jeglicher menschlicher Gemeinschaft sei und sein solle; er erfahrt aber auch, daB Gemeinschaft zu den gefahrdetsten Idealen menschli- chen Miteinanders wird. Er muB sehen, wie Nationalsozialismus und - wenn auch aus sicherer Entfernung - Kommunismus Gemeinschaftsideale pervertieren und ad absurdum fuhren. Zum einen muB sich Guardini auf auBeren Druck hin zuruckziehen, zum anderen zieht er sich wohl zuruck, weil er fur solch einen Kampf nicht geschaffen ist. Doch die Frucht solchen „Ruckzugs“ ist eine aufbauende Kritik an Gemeinschaft, an ihrer Rolle dem Einzelnen, der Person gegenuber. Den einzelnen Menschen will er letztlich schutzen und zur vollkommenen Begegnung mit dem fuhren, aus dessen schopferischer Liebesgemeinschaft jeder und jede kommt.
In Chiara Lubich und der Fokolarbewegung begegnet uns eine moderne Spiritualitat, die in wenigen Jahrzehnten zahlenmaBig groBe Verbreitung erfahren hat, aber auch in ihren Strukturen eine der Kirche insgesamt vergleichbare Breite entfaltete. Das Schlusselwort ihrer Sendung lautet Einheit, Ausdruck von Gemeinschaft, die aus gegenseitiger Liebe und Hingabe entsteht und lebt. Vor allem Planen und Handeln geht es den Anhangern dieser Spiritualitat um die Gegenwart dessen, der diese Einheit verwirklichen und fruchtbar machen kann: Gott soll in der Mitte seines Volkes wohnen (vgl. Ex 29,45f.) und Jesus, als der Mensch gewordene Gottessohn, als der auferstandene Christus, in ihrer Mitte sein (vgl. Mt 18,20). Bis in Formulierungen hinein finden sich bei Chiara Lubich, der Grunderin und langjahrigen Prasidentin der Bewegung, Ubereinstimmungen mit Einsichten Guardinis, die in dieser Spiritualitat auch heute noch wei- tere Ausformungen und Umsetzungen in Kirche und Welt erfahren. Guardinis Einsichten zur Gefahrdung des Einzelnen in einer uberwolbenden, vereinnahmenden, gar auflosenden Gemeinschaft konnen als hilfreiche Korrektive angesehen werden, ist doch die Fokolarbewegung im ProzeB der Reflexion der eigenen Vollzuge noch in einer ersten Phase.
Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, das trinitarische Gemeinschaftsmodell „salon- fahig“ zu machen, als eine Einladung angenommen zu werden, die Mut macht, einem an sich unerreichbaren Ideal doch mit Zuversicht zu folgen in dem BewuBtsein, in dieser Nachfolge zu wachsen und neue, vertiefte Einsichten uber das letztlich in Gott grundende Miteinander aller Menschen zu gewinnen. Romano Guardini kommt vor allem selbst zu Wort. Seine Sprache - ist sie auch die Sprache seiner Zeit - entwickelt eine eigentumliche Kraft, die ihr nicht genommen werden soll, und fur die der Autor meist keine besseren Formulierungen finden konnte oder wollte.
Ausgehend von Guardinis Biographie wird gezeigt, wie Gemeinschaft immer schon der eigenen Existenz vorlaufig und dem eigenen Personsein gleichursprunglich ist. Guardini hat in seiner Schrift „Vom Geist der Liturgie“ in nuce geradezu eine Vision gemeinschaftlichen Lebens entwickelt, das im liturgischen Miteinander seinen Hohepunkt findet und feiert. Kirche ist das erste Ebenbild trinitarischen Lebens. Doch alles Konkret-Lebendige hat Bezug zur Gemeinschaft. Und jede Gemeinschaftsform ist Ausdruck konkreten Lebens in Gegensatzstruk- tur. Das Gegensatzdenken Guardinis erweist sich als adaquates Instrument, gemeinschaftliche Strukturen zu beschreiben und ihre Dynamik sichtbar, durchschaubar zu machen. Damit Le- ben in Gemeinschaft gelingen kann, gilt es diese „Mechanismen“ kennenzulernen. Sie bilden gleichsam das auBere Gerust, zumindest eine wesentliche Strukturgesetzlichkeit jeglichen Miteinanders. Das Leben, die Verwirklichung von Gemeinschaft aber kommt, stromt aus Quel- len, die ihre Energie in diese aufgewiesenen Strukturzusammenhange einspeisen und darin fortstromen: Liebe zueinander, Hingabe in Treue, das Leben der Tugenden, die Entscheidung jeden Tag, ja jeden Augenblick neu miteinander zu beginnen, das Ziel gelebter Gemeinschaft anzustreben. Auf diesen beiden Saulen (der Gegensatzlehre und den Quellen, aus denen Gemeinschaft lebt) ruht Guardinis Gemeinschaftsverstandnis. Hier bewahrt es sich, hier findet es aber eben auch Grenzen, die wohl vor allem darin zu suchen sind, daB sich Guardinis Gedanken nicht „inkarniert“ haben in ganz konkreten Strukturen und „irdischen“ Modellen.
Jede gottliche Idee, so sagt es in abgewandelter Form Hans Urs von Balthasar, verlangt nach einer „Fleischwerdung“, muB in einer konkret menschlichen, kirchlichen, spirituellen Verwirklichung sichtbar gelebt werden, ja, sie wird durch ganz konkrete Menschen personifiziert.4Nur dann ist sie greifbares, abgreifbares Modell fur andere, fur viele. In diesem Sinn wird die Fokolarbewegung vorgestellt, weil sie sich als „Inkarnation“ eines gottlichen Wortes, eines Ideals versteht, das schon mit dem Begriff der Einheit beschrieben wurde und hinter dem das oben zitierte Wort aus dem Johannes-Evangelium steht: „Ut omnes unum sint“ (17,21)5.
Auch ohne ein bewuBtes Mitvollziehen und Gestalten kommt es weltweit zur „Ver - Einheit- lichung“, die hier aber in Form der Globalisierung nivellierende Tendenzen aufweist und die Gemeinschaft wiederum unter den Macht- und Modellanspruch einer alles kontrollierenden wirtschaftlichen und damit auch politischen Herrschaft bringen will. Guardini wird nicht mude in seinen Schriften darauf hinzuweisen, daB beim Menschen nichts so „naturlich“ funktioniert wie etwa im instinktgeleiteten Tierreich. Gemeinschaft ist eher Kultur und damit der Sorge des Menschen anvertraut. Es gilt ihre GesetzmaBigkeiten und Ressourcen aufzudecken und fur menschliches Miteinander im Kleinen wie im GroBen zu nutzen. Ohne ein gultiges Ge- meinschaftsmodell wird dies nicht moglich sein, ohne ein Konzept, das der Logik, dem Logos Gottes als trinitarischer Gemeinschaft folgt, kann keine gultige Ethik abgeleitet werden, moge sie fur das Verhaltnis von Partnern in der Ehe gelten oder als Weltethos Geltung beanspruchen.
So gesehen geht es auch hier um eine Weltanschauung, die aber in ihrer Weite Raum gibt fur jeden Einzelnen, wie auch fur vielfaltige Formen gemeinschaftlichen Lebens, seien es private Verbindungen wie die Freundschaft, administrative Einrichtungen wie ein Stadtrat, kulturelle Vereine wie ein Heimatbund, wirtschaftliche Verbande wie ein Konzern, politische GroBen wie Europa oder religiose Gremien, wie sie der Okumene unter Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften und den Dialogen unter den Weltreligionen dienen.
Romano Guardini ist bei Weitem nicht der einzige, dem in seiner Zeit Gemeinschaft aufging und wichtig wurde, wohl aber einer, der denkerisch ihre Bedeutung fur das Uberleben der Kirche und Menschheit erfaBte und durch seine konkrete Arbeit in der aufbrechenden Jugendbewegung auch entscheidende Schritte auf Gemeinschaft hin getan hat. Vielleicht ist es solchen neuen Aufbruchen wie der Fokolarbewegung vergonnt, das Erbe Guardinis noch starker im religiosen und weltlichen Leben umzusetzen und alle Krafte zu bundeln, die hier einen echten, dem Menschen als enssociale, weil imago Dei unius ettrini, entsprechenden Entwurf sehen.6
Diese Arbeit wird als Promotion im Fach Fundamentaltheologie eingereicht und steht damit auch unter dem Anspruch der Vermittlung zwischen Wissenschaft und Glaube, fides et ratio, die nach Guardini in ihrer Gegensatzlichkeit gerade deshalb zusammengehoren, weil sie das Ganze der Wirklichkeit nur in ihrer Einheit erfassen. Das fides quaerens intellectum“ des hl. Anselm ist ohne das „intellectus quaerens fidem“ nicht denk- und nicht lebbar. Guardini hat das in seinen Uberlegungen zur Person, die in Gemeinschaft steht, immer neu thematisiert, im Licht des Glaubens und der Offenbarung betrachtet, mit dem Licht der Vernunft durchdacht.
Der Einzelne muB sein Leben bestehen, kann es aber nur in Gemeinschaft; der Einzelne wird als Einzelner vor Gott treten, geht aber ein in die Gemeinschaft seiner Heiligen.
Hinweise zur Gliederung
Teill. der Arbeit beleuchtet das Woher, den historischen Hintergrund zu Beginn des 19. Jh.s und dabei besonders die Folgen des Ersten Weltkrieges. Ein neues Gemeinschaftsgefuhl ist in der Gesellschaft spurbar, was auch im Leben der Kirche empfunden wird. Die Biographie Romano Guardinis liefert zahlreiche Hinweise, daB Gemeinschaft neu aufbricht und zeigt, wie er selbst sich zu Gemeinschaft stellt, von ihr gepragt wird und auf gemeischaftliches Leben EinfluB nimmt in Freundschaft, Erziehung und Lehre.
Teil II. der Arbeit erlautert, worin Guardinis Gemeinschaftvorstellungen bestehen und stellt drei maBgebliche Werke Guardinis vor, die schon Fruchte gemeinschaftlichen Lebens und der Reflexion uber die damit gegebenen Zusammenhange darstellen. Sie geben in gewisser Weise Guardinis Denken und seinen Ansatz so wieder, wie er auch Jahrzehnte spater noch in den Grundzugen urteilt und empfindet. Immer wieder aufgelegt konnen diese Werke den Leser in die Erlebnis- und Gedankenwelt Guardinis einfuhren und dienen so einer ersten Reflexion zur Thematik.
Teil III. widmet sich Guardinis Gegensatzlehre. In ihr sieht der Autor ein zweckmaBiges und objektives Instrument, wodurch - wie Guardini selbst es gewollt und nachgewiesen hat - Phanomene des Konkret-Lebendigen beschrieben und analysiert werden konnen. Dabei wird diese Art des Philosophierens an Phanomenen gemeinschaftlichen Lebens dargestellt und aufgezeigt, wie sie von Guardini selbst angefuhrt oder angedeutet wurden. In anderen Fallen hat der Autor eigene Beispiele dargestellt, um zum einen die Effizienz der Methodik Guardinis aufzuzeigen und zum anderen ein moglichst breites Spektrum von Gemeinschaftsformen auszuleuchten.
Teil IV. handelt von den Quellen, der Kraft, woraus Gemeinschaft letztlich lebt. Stellt Teil Drei die Methodik, das Instrumentarium zur Verfugung nachzuweisen, wie Gemeinschaft „funktioniert“, so will dieser Teil moglichst viele der Kraftquellen fur gelingendes gemein- schaftliches Leben anfuhren. In ihnen zeigt sich der „Wille zur Gemeinschaft“ und wie er im konkreten Lebensvollzug verwirklicht wird und werden kann. Eine Wurdigung von Guardinis Denken schlieBt diesen Teil der Arbeit ab.
Teil V. sucht das Wozu, die Perspektiven anzudeuten, die sich aus Guardinis Ansatz ergebn. Zahlreiche Momente und Elemente erweisen sich einer Fortfuhrung und Uberfuhrung in gelebte Gemeinschaft dienlich und stehen in nachweisbarer Ubereinstimmung mit den Aussagen des Zweiten Vatikanums, zu dessen Wegbereitern Guardini mit Sicherheit zu zahlen ist. Es wird dazu ein Werk und eine geistliche Bewegung der neueren Kirchengeschichte vorgestellt, in welcher der Autor zahlreiche Ubereinstimmungen mit und Anknupfungspunkte zu Guardini zu erkennen glaubt. Guardinis Ansatz enthalt aber auch ein kritisches Potential und lasst damit auch Ansatze und Entwicklungen in der Fokolarbewegung auf einem objektivierenden Hintergrund neu und anders verstehen. Die Fokolarbewegung hat in ihrer Geschichte und strukturellen Entfaltung vieles von dem in konkrete Lebensformen uberfuhrt, was Romano Guardini begonnen, gedacht und erhofft hat. Dabei wird nicht der Anspruch auf eine irgendwie geartete Nachfolgerschaft in Bezug auf Guardini behauptet, sondern die Kontinuitat im Wirken des Geistes Gottes in der Geschichte erkennbar. Gerade aus den Texten Guardinis wird deutlich, daB sich im 20. Jh. eine neue Sicht auf Kirche und Welt abzeichnet, die auf Einheit und Gemeinschaft zielt.
Ein Textanhang soil an zentralen Beispielen Stil und denkerische Tiefe von Romano Guardini und Chiara Lubich verdeutlichen. Es sind fruhe Aufzeichnungen, in den beide sozusagen das gesamte Programm ihres Lebens und Denkens dargelegt haben.
Das fur den Titel der Arbeit gewahlte Zitat ist entnommen: GUARDINI, ROMANO Auf dem Wege. Versuche. Mainz: Matthias Grunewald, 1923, 937.
Hinweise zur Lekture
Guardini hat eine an vielen Stellen eigenwillige Diktion und Rechtschreibung. Sie wurde in allen Zitaten beibehalten Eine Ausnahme bildet „Ue“, das zu „U“ normalisiert wurde. Des einheitlichen Schriftbildes wegen wurde der alten Rechtschreibung der Vorzug gegeben. Nicht eigens im Literaturverzeichnis erwahnt werden Standardwerke wie das LThK in der aktuellen Ausgabe, der KKK (Katechismus der Katholischen Kirche) und die Dokumente des Zweiten Vatikanums, die in den gelaufigen Abkurzungen zitiert werden. Uberall wurden die Angaben der Bibelstellen nach den Loccumer Richtlinien vereinheitlicht.
Teil I.
Das Woher: Hintergrunde
2. Historisch-soziologischer Hintergrund zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Der Erste Weltkrieg hatte Deutschland in eine schwere Krise gesturzt. Viele Ideale gerade auch die der Jugend waren in den Schutzengraben vor Verdun mit begraben worden. Gleichzeitig - und dies wiederholt sich wohl in vielen geschichtlichen Epochen - verspurt man einen hoffnungsvollen Aufbruch unter eben dieser vom Krieg ge- und enttauschten Jugend1. Auch der deutsche Katholizismus gerat in eine neue Aufbruchsstimmung.2
[So schreibt Thomas Nipperdey,] daB es der katholischen Kirche [...] gelungen war, sich einstweilen im Zeitalter der modernen Massen- und Industriegesellschaft zu behaupten: Mit dem ultramontan zugespitzten Traditionalismus der Klerus- und Ghettokirche und der Modernitat des Vereinskatholizismus und mit intensiver Kirchenzugehorigkeit und einer Mischung von Status-quo-Bindung und latentem Aufbruchspotential trat sie ins 20. Jahrhundert, trat sie 1918 in die Republik ein.3
Wesentliches Merkmal dieses neuen Aufbruchs war sicher ein neues Gespur fur Gemeinschaft.4Die erzwungene und doch auch tragende Kameradschaft der Schutzengraben lebte in den Kriegsteilnehmern weiter, der Wunsch nach einer neuen Ordnung im zerbrochenen Europa wird wach:
[Geradezu prophetisch verkundet Max Scheler 1921, daB] die Vertreter des Chris- tentums mit den hervorragenden Vertretern anderer Weltanschauungen sich einig wissen. Wir fuhlen namlich alle, daB wir am Beginne eines historischen Weltalters stehen, das gegenuber dem vorwiegend kritischen und individualistischen, alle irdischen Krafte des Menschen und der Natur bis zur auBersten Leistung entbin- denden Zeitalter der sog. Neuzeit als ein positives, glaubiges Zeitalter bezeichnet werden darf; gleichzeitig aber als ein auf Gemeinschaft gerichtetes, die zuvor nur entbundenen Krafte geistig meisterndes, darum auch „organisatorisches“ Zeitalter.
Ein Zeitalter scheint sich uns zu nahen, in dem vom Geist des Menschen dieje- nigen Krafte wieder kuhn und glaubig in die Hand genommen werden, die sich von den zentralen Machten des menschlichen Willens und Geistes freigemacht hatten und die das menschliche Leben gleichsam schicksalsmaBig und automatisch bestimmten [...], damit mit ihnen der menschliche Geist ein neues, dauerndes Wohnhaus der menschlichen Gesellschaft aufrichte. [...] Der Gedanke ist in dieser Allgemeinheit das Programm aller Vernunftigen der heutigen Welt.5
Eine Vielzahl von Erneuerungsbewegungen kennzeichnen den „katholischen Fruhling“ jener Jahre und betonen Gemeinschaft, besonders auch die der Kirche als des corpus mysticum. Neben den oben erwahnten Vereinen sind es vor allem die Aufbruche in der Jugendbewegung, die durch Krieg und Nachkrieg sich neu beleben und neu grunden:
Der Aufbruch der deutschen Jugendbewegung laBt sich darstellen als ein kraftig wachsender Widerspruch gegen die Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts, gegen die Erziehungsformen in Schule (und Kirche), gegen die burgerliche Lebens-, Berufs- und Kulturauffassung. „Ausstand aus der Gesellschaft“ hat es Felix Mes- serschmid einpragsam genannt.6
Der Weltkrieg raffte ein Funftel dieser Jugend auf den Schlachtfeldern dahin, „aber die ausge- sprochenen Wunsche und neugefundenen Lebensformen buBten ihre Wirksamkeit nicht ein.“7Max Scheler, der die positiven wie auch bedenklichen Aspekte der deutschen Jugendbewegung scharfsinnig analysiert, kommt am Beginn der 20er Jahren im Ganzen zu einer zuversichtlichen Einschatzung der Lage:
Die prazise Frage ist: Hat das deutsche Volk, wenigstens in den Minderheiten, aus denen sich seine zukunftigen Fuhrerschaften rekrutieren werden, den „kritischen Punkt“ schon uberwunden, an dem sich - unerkennbar an den sichtbaren, meBbaren Zustanden - das „Stirb und Werde“ begibt und das stets einfache GrundbewuBtsein des „Hinauf ‘ und „Hinab“ des Lebensstromes sich scheidet? Es ist die gesammelte Fulle meiner Lebenseindrucke von der deutschen Jugend [...], die mich antworten laBt: Ja! Es hat den „kritischen Punkt“ heute schon uberwunden - und an ers- ter Stelle in seiner Jugendbewegung: In ihrem Glauben, in ihrer Kraft, in ihrer Hoffnung.8
Speziell auf die Rolle der Religion bezogen schatzt Scheler ein:
Die bloBen Formeln der Religion sollen wieder mit anschaulich-lebendigem Ge- halt erfullt werden, und die Religion soll als wahrhaft fuhrende Lebensmacht von allen Abhangigkeiten, Dienstschaften, Legierungen an uberlebte Kultur- und Gesellschaftsformen, vor allem an politische und okonomische Interessengrup- pen freigesetzt, ihre gemeinschaftsbildenden und echtes SolidaritatsbewuBtsein entbindenden Krafte aber neu entfaltet werden.9
Wie stark die Frage nach Gemeinschaft die Zeit bestimmte, beweisen neben Max Scheler viele Denker jener Zeit, die von verschiedenen Erfahrungshorizonten herkommend fur eine Aufwer- tung des Gemeinschaftsgedankens pladieren und seine zunehmende Realisierung konstatieren. Da ist S. L. Frank (1877-1950), ein zum Christentum konvertierter judischer Philosoph aus RuBland, der mit anderen Intellektuellen 1922 aus der Sowjetunion ausgewiesen wurde. Er kommt aus der Tradition der All-Einheitsphilosophie eines W. S. Solowjow und der zerstoreri- schen Erfahrung einer pervertierten Gemeinschaftsideologie des Marxismus-Leninismus. Er legt seiner Lehre von der Gesellschaft eine Wir-Philosophie zugrunde, die dem Ich und dem Wir eine Gleichursprunglichkeit zuspricht: „Der Mensch lebe nicht deshalb in der Gesellschaft, weil ,viele‘ einzelne Menschen sich vereinten, sondern weil der Mensch von seinem Wesen her nur als Glied einer Gesellschaft denkbar sei.“10Der Gedanke M. Bubers vom Ich, das erst am Du sich bildet11, wird in dieser Wir-Philosophie ausgearbeitet und zum Gegensatzpaar Ich-Wir aufgespannt:
Wir behaupten nur, daB das Wir nicht mehr und nicht weniger, sondern ebenso primar ist wie das Ich. [...] Es ist eine ebenso unmittelbare und unzerlegbare Einheit wie das Ich. In der Korrelation zwischen dem Ich und dem Du erschopft sich das hier betrachtete Verhaltnis nicht; es findet ebenso in der Korrelation des Ich und des Wir Ausdruck. [...] Das Ich ist anders denn als Glied des Wir undenkbar, ebenso wie das Wir nur als Einheit des Ich und Du denkbar ist.12
Franks Ansatz erlaubt damit auch eine philosophische Wesenbegrundung von Gemeinschaft und Gesellschaft, in der Gesellschaft nicht in Gegensatz zu Gemeinschaft gesetzt werden muB (Tonnies13), sondern aus ihr erklart werden kann und auf sie bezogen bleibt. Edith Stein, zum Christentum konvertierte Judin und Phanomenologin aus der Husserlschule, betont ebenfalls den engen Zusammenhang zwischen Individuum und Gemeinschaft: „Wenn und soweit Gemeinsamkeit des Lebens erzielt sei, handle nicht mehr der Einzelne, sondern die Gemeinschaft in ihm und durch ihn. [...] Die Gemeinschaft verfuge wie das Individuum uber Lebenskraft.“14Stein verlagert den Akzent starker auf das Individuum:
Es ist nun hochst wunderbar, wie dieses Ich, unbeschadet seiner Einzigkeit und unaufhebbaren Einsamkeit, eingehen kann in eine Lebensgemeinschaft mit ande- ren Subjekten, wie das individuelle Subjekt Glied wird eines uberindividuellen Subjekts und wie im aktuellen Leben einer solchen Subjektgemeinschaft oder eines Gemeinschaftssubjektes sich auch ein uberindividueller Erlebnisstrom konstitu- iert.15
Helmut Plessner konstatiert in „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924): „Unnotig an dieser Stelle auf die Faktoren einzugehen, welche die vorwartsdrangenden Krafte der Jugend ausschlieBlich mit dem Gemeinschaftsgedanken sympathisieren lassen [... und diesen so] uber die gesellschaft- liche Lebensordnung triumphieren lassen will.“16Plessner weist, ebenso wie Theodor Litt schon 191917, im Gefolge von Tonnies auf den Unterschied von Gemeinschaft und Gesellschaft hin, unterstreicht aber gerade darin auch das starke Interesse an Gemeinschaft. Unabhangig davon, ob Gemeinschaft auf allen Ebenen personalen Zusammenlebens als tragendes Prinzip angesehen wird, oder ob gemeinschaftliche Erscheinungsformen wie Gesellschaft und Staat unter anderen Pramissen einem davon losgelosten „Uberbau“ zugeordnet werden, der Mensch wird in seiner sozialen Dimension sehr ernst genommen und die Wechselwirkung zwischen Individuum und Gemeinschaft als konstitutiv betrachtet. Von den Gemeinschaftskonzeptionen, die im Begriffsumfeld Romano Guardinis stehen, mogen noch die folgenden erwahnt wer- den: Gerda Walther (1897-1977), ebenfalls eine Husserlschulerin, nimmt eine sehr grundliche Analyse gemeinschaftlichen Dasein vor. Sie stellt dabei fest: „Der oberste, eigentlichste und wichtigste Einsatzpunkt fur die Realitat der Gemeinschaften[!] ist zweifellos das soziale Selbst [...] der Mitglieder.“18Jedoch: „Ein eigenes Willens- und Selbstmacht-Ichzentrum hat die Gemeinschaft allerdings nicht, hier ist Walther mit Stein d’accord, sondern jede Gemeinschaft ist auf das Sein der Einzelpersonen angewiesen.“19Walther sieht eine Gefahrdung darin, „wenn das Subjekt nicht mehr aus sich selbst und nicht mehr als es selbst lebt, sondern nur noch als ,Vertreter‘ der Gemeinschaft, in ihrem Namen.“20Diesen letzten Punkt arbeitet auch der Philosoph Dietrich von Hildebrand (1889-1977) heraus, weil er ihn als eine der Ursachen fur die Entwicklung des Nationalsozialismus erkennt. In seiner „Methaphysik der Gemeinschaft“ (1930) betont er den Eigenstand des Individuums:
Wenn Menschen in einer Gemeinschaft verbunden sind, verschwinden sie nicht wie Metallteile, die zu einem groBeren Stuck zusammengeschmolzen sind. Sondern wie Organe in einem Lebewesen bleiben sie als ganzes erhalten, sind erganzungs- bedurftig, aber - nun wiederum anders als Organe - nicht unselbstandig.21
Aus diesen knappen Belegen von Autoren aus der Zeit und dem Umfeld Romano Guardinis erhellt, daB Gemeinschaft ein zentrales Thema der Epoche war und sozusagen „in der Luft lag“. Was Guardinis Herangehen von dem der meisten anderen Theoretiker unterschied, war sein konkretes Engagement in der Jugendbewegung und als Jugendseelsorger seines Bistums. Dadurch war er im Stande, Theorie und Praxis in engen Bezug zu setzen, und er sah dies als wichtige, auch die Erkenntnis fordernde Bedingung an. Guardinis Biographie laBt an vielen Stellen erkennen, wie stark Impulse ihn pragten, die aus Gemeinschaftserfahrungen kamen.22
3. Gemeinschaftserfahrung im Leben Romano Guardinis
Auch das Leben Romano Guardinis ist von Gegensatzen gekennzeichnet, die immer neu auf konkret-lebendige Vermittlung angewiesen waren. Dabei zeichnen sich auch die Konturen eines wachsenden Gemeinschaftssinns und -verstandnisses entlang des eigenen Lebensweges deutlich ab. Herkunft, Kindheit, Jugend, Studium, Tatigsein in Lehre und Praxis, ja, zuletzt Alter und BeschluB des Lebens werfen ihr je eigenes Licht auf das, was Guardini unter Gemeinschaft versteht, was ihn darin verortet und was er anderen an Weisung vermittelt, um diesen tragenden Grund des Lebens zu sehen und immer neu zu legen.
Aus der Biographie Guardinis sollen Aspekte und Bereiche aufgezeigt werden, an denen deutlich wird, wo und wie stark Gemeinschaft im Leben eines Menschen wirksam wird. Gibt es doch nicht den abstrakten Menschen, sondern im lebendigen, konkreten Einzelnen begegnen uns die - dann auch fur alle - gultigen Phanomene.
3.1. Die Familie
Als alter Mann berichtet Romano Guardini von einem Traum, dem er das Folgende entnahm:
Wenn der Mensch geboren wird, wird ihm ein Wort mitgegeben,... nicht nur eine Veranlagung, sondern ein Wort. Das wird hineingesprochen in sein Wesen, und es ist wie das PaBwort zu allem, was dann geschieht. Es ist Kraft und Schwache zugleich. Es ist Auftrag und VerheiBung. Es ist Schutz und Gefahrdung. Alles, was dann im Gang der Jahre geschieht, ist Auswirkung dieses Wortes, ist Erlauterung und Erfullung. Und es kommt alles darauf an, daB der, dem es zugesprochen wird,
- jeder Mensch, denn jedem wird eins zugesprochen - es versteht und mit ihm ins Einvernehmen kommt. Und vielleicht wird dieses Wort die Unterlage sein zu dem, was der Richter einmal zu ihm sprechen wird.1
Welches Wort ihm zugesprochen wurde, verrat uns Guardini nicht.232Vielleicht sucht er selbst noch danach, und doch scheint es schon in seiner Kindheit aufzuleuchten: „Uber Verona fuhrt die alte StraBe vom Norden nach Italien herein, und StraBen sind Bahnen des Lebens, auf denen man hergehen kann, aber auch hin.“3Guardini sieht in der Tatsache seiner Geburt in Verona, dem altdeutschen (Walsch-)Bern, aus dem der Sagenheld Dietrich stammte, sowie in seinem Familiennamen, der auf das deutsche Wort „Wardein“= Wachter, Huter4) gewisse Vorzeichen5fur sein Leben. So, wie offensichtlich deutsche Vorfahren seiner Familie nach Italien gekommen waren, kam er nun 1886 - gerade ein Jahr alt - nach Deutschland zuruck, und zwar nach Mainz, wo der Vater als Kaufmann und spater politischer Vertreter Italiens tatig war.
Familie ist sicher die Gemeinschaftsform par excellence. Guardini hat in seiner naturlichen Familie Geborgenheit erfahren, auch Gemeinschaft mit seinen drei jungeren Brudern, die jedoch seine einzigen Spielkameraden blieben, da die Eltern in ihrer Liebe und Fursorge ein sehr geschlossenes, ja abgeschlossene Familienidyll aus ihrer Heimat und aus einer vergangenen Zeit mitbrachten.6So bleibt Guardini die eigene Kindheit in seiner Familie doch stets mit einem gewissen faden Beigeschmack in Erinnerung: „In meiner Kindheit und Jugend muB ich eine Art Traumleben gefuhrt haben, aus dem mir nur sehr wenig in Erinnerung geblieben ist. [...] Das Gefuhl der glucklichen Kindheit und den Wunsch, in sie zuruckzukehren, habe ich nie gehabt.“7
3.2. Freundschaft
Vielleicht als ein Ausgleichen, vielleicht als ein Angleichen in Bezug auf sein verborgenes Lebenswort (s. o.) wird Romano Guardini Freundschaft zu einem Schlussel fur sein Leben und darin die Entdeckung von Gemeinschaft:
Wo zwei sich treue Freundschaft halten: In der Freundschaft waltet Gott. Die Menschen also, die wahr sind und wahr handeln, reden und denken: In denen ist
Gottes lebendiges Reich. Nun sieh, das ist eine herrliche Sendung: Wir sollen dem Gott der Wahrheit Wohnung schaffen in der Menschenwelt.8
So formuliert Guardini in seinen beruhmt gewordenen Briefen uber Selbstbildung, in denen er jungen Menschen MaBstabe setzt fur sich selbst und Ratschlage gibt fur ein gelingendes Leben in Gemeinschaft mit Gott, sowie untereinander.
Wer sind seine personlichen Freunde, welche Freundschaften begleiten ihn durch das Leben?
Da ist zunachst Karl Neundorfer (1885-1926), der als Altersgenosse mit Guardini das glei- che Mainzer Gymnasium besuchte. Neundorfer war „zum alter ego Guardinis geworden [...], oder genauer gesagt, zu dem ihn erganzenden Pol, der die in Guardinis Anlage vorhandenen Einseitigkeiten hilfreich zur Ganze rundete“9. Dieser Freund studierte zunachst Rechtswis- senschaften und promovierte in diesem Fach, entschloB sich aber dann wie Guardini zum Theologiestudium. Am 28. Mai 1910 wurden sie gemeinsam im Mainzer Dom zu Priestern geweiht. In Zusammenarbeit mit Neundorfer hat Guardini seine Gegensatzlehre entwickelt, eine philosophische, erkenntnistheoretische Methode, die ihren „Sitz im Leben“ eingestande- nermaBen10in der von Gegenpoligkeit gepragten Freundschaft der beiden hatte11.
Ein weiterer langjahriger Freund ist Josef Weiger (1883-1966). Sechzig Jahre darf diese Freundschaft wahren; zwei Jahre (1943-45) wohnt Guardini nach seiner Flucht aus Berlin sogar bei Weiger im Pfarrhaus von Mooshausen.12Im Unterschied zu Neundorfer gleichen sich die Naturen der Freunde sehr. Beide sind sie empfindsam und von groBer seelischer Tiefe, beide aber leiden auch an der Schwermut, die sie von Zeit zu Zeit uberfallt und niederdruckt. Weiger war im Noviziat der Benediktiner von Beuron, konnte aber aus gesundheitlichen Grunden nicht Monch werden. Auch eine standige Anfalligkeit fur Krankheiten war beiden eigen. In einem Brief schreibt Guardini: „Vieles, von dem, was Du mir sagtest, konnte ich Dir zuruckgeben. Du hast ja alles so reich, was mir fehlt. Ich kann Dir nicht sagen, wie arm ich mir neben Dir vorkomme, mit all meinem Begriffskram und der taschenspielerhaften Leichtigkeit des Denkens und Lebens. Findest Du das fur so gut, daB man so rasch die Losung von allem hat, und mit allem so bald fertig ist?“13Weiger aber anerkennt Guardini als den groBeren: „Gott hat Dir, wie dem Apostel, eine Ture aufgetan, wie keinem anderen Theologen. Ohne die Liebe zur theoretischen Wahrheit auch nur eine Sekunde preizugeben, offnet deine kundige Hand leise den Zugang zur Christuswirklichkeit Tausenden.“14Weiger, der selbst - und oft auf Drangen von Guardini - zahlreiche geistliche Schriften verfaBt und ein groBes bibeltheologisches und patristisches Wissen besitzt, wird spater Ehrendoktor der Theologie.
Was Guardini seine leiblichen Eltern und sein Elternhaus nicht geben konnten, erhielt er in hohem MaBe vom Ehepaar Wilhelm und Josefine SchleuBner . Uber zehn Jahre von 1903 bis zum Tod von Josefine SchleuBner besuchten Guardini, sein Freund Karl Neundorfer und andere junge Leute einen wochentlichen 5-Uhr-Tee im Hause dieser humanistisch gebildeten und zutiefst religiosen Eheleute. Besonders zu Josefine SchleuBner (1861-1913) entwickelte Romano Guardini ein inniges Vertrauensverhaltnis: „Sie war liebenswurdig und lebendig, und man freute sich, bei ihr sein zu durfen. [... Hinzu kam,] daB sie nicht nur ein intensives religioses Leben fuhrte, sondern wahrscheinlich wirklich mystische Erfahrung hatte. In ihrer Nahe fuhlte man etwas Ungewohnliches, aber in der Form einer Gute und Zuruckhaltung, die nie verwirrte oder bedruckte, sondern immer half. [... Es war am schonsten,] wenn ich sie allein traf, und ihr erzahlen konnte, was ich auf dem Herzen hatte.“15Wilhelm SchleuBner, der nach dem Tod seiner Frau Priester wurde, und Josefine SchleuBner waren „so etwas wie geistige Eltern“16fur Guardini.
Viele andere Freunde waren noch zu erwahnen, Guardini war ein Mensch der Freundschaft, doch mogen die erwahnten als Beispiele genugen.
3.3. Kirche und Presbyterium
Dem groBen Satz Guardinis vom Erwachen der Kirche in den Seelen17geht die eigene Erfahrung voraus und begleitet ihn. Das Verhaltnis von Einzelnem und Gemeinschaft wird zur entscheidenden Frage: „Der Einzelne lebte fur sich. ,Ich und mein Schopfer‘ war fur Viele die ausschlieBliche Formel. Die Gemeinschaft war nichts Ursprungliches, sondern stand erst in der zweiten Linie.“18
Guardini erfahrt schon als Kind, wie Religion, wie Kirchlichkeit in eine private Sphare eingeschlossen wird. Man geht zur Kirche, man betet, aber man spricht nicht vom eigenen Glauben, macht die Gemeinschaft der Glaubenden nicht nach auBen sichtbar und erlebbar.19
Im Ruckblick muB Guardini auch sein eigenes religoses Leben als junger Mensch kritisch einschatzen: „Ich war immer angstlich und lange Jahre hindurch sehr skrupulos. Das ist fur einen jungen Menschen im Grunde schlimmer als Leichtsinn; denn Leichtsinn ist wenigstens Leben, die Selbstqualerei des angstlichen Gewissens aber zerstort. Helfen kann hier eigentlich nur ein anderer, der sieht, worum es geht; einen solchen traf ich aber nicht.“20
Wohl gab es Karl Neundorfer, mit dem ein reger Austausch auch uber Glaubensdinge bestand. Aber auch dieser kam durch die Lekture Kants in eine Glaubenskrise, aus der aber beide - begleitet vom eigenen Gebet und dem der SchleuBners - eines Tages herausfanden. Es handelt sich um eine Schlusselerfahrung im Leben Guardinis. Es ist im Jahr 1905 oder kurz danach. Neundorfer und Guardini treffen sich in Guardinis „Dachkammerchen“ im elterlichen Haus. Nach einem langeren Gesprach ziehen sich beide zuruck und gehen dem Gedanken nach, der sich auf Mt 10,39 bezieht: wer sich selbst, Gott und die Wahrheit gewinnen will, der muss sich weggeben, die „Seele verlieren“. Guardini geht diesem Gedanken nach:
Meine Seele hergeben - aber an wen? Wer ist im Stande, sie mir abzufordern? So abzufordern, daB darin nicht doch wieder ich es bin, der sie in die Hand nimmt?
Nicht einfachhin „Gott“, denn wenn der Mensch es nur mit Gott zu tun haben will, dann sagt er „Gott“ und meint sich selbst. Es muB also eine objektive Instanz sein, die meine Antwort aus jeglichem Schlupfwinkel der Selbstbehauptung herauszie- hen kann. Das aber ist nur eine einzige: die katholische Kirche in ihrer Autoritat und Prazision. Die Frage des Behaltens oder Hergebens der Seele entscheidet sich letztlich nicht vor Gott, sondern vor der Kirche.21
Eine Gemeinschaft also ist es, die das eigene Ich vor Egoismus und „Selbstbehauptung“ bewahrt. Diese Gemeinschaft kann sogar „Gott“ geben, weil sie eine „objektive Instanz“ ist, weil sie „Autoritat“ hat, „von oben“ legitimiert ist; weil sie „Prazision“ besitzt, das wegraumt („vorn abschneidet“), was der Wahrheitserkenntnis im Weg steht. Beide Freunde, Guardini und Neundorfer, gehoren zu dieser Gemeinschaft, bilden selbst eine ihrer Zellen. Doch verlangt diese Erkenntnis einen Schritt, der ein Schritt von sich weg in die Glaubensgemeinschaft hinein ist: „Ich kann meine Seele hergeben, oder sie behalten.“22Das Geschenk dieser Stunde ist, daB auch Karl Neundorfer fur sich den gleichen Schritt geht:
In ihm selbst aber muB etwas Ahnliches vor sich gegangen sein. Bei ihm hatte das fuhrende Wort schon lange gelautet: „Die groBte Chance der Wahrheit ist dort, wo die groBte Moglichkeit der Liebe ist.“ Darin hatte sich bei ihm schon lange eine Uberwindung seiner klaren, gerechten, aber auch sehr selbstsicheren und selbstbewuBten Natur vorbereitet. Er hatte erkannt, daB ihm die Welt der Liebe fehle, und die Fulle der Existenz daran hange, sie zu gewinnen. So war fur ihn die Frage gewesen, wo der Weg zur Liebe fuhre, und die Antwort hatte auch fur ihn gelautet: durch die Kirche.23
Ein gegenlaufiges Geschehen spielt sich hier zwischen den Freunden ab. Guardini erkennt in der Kirche mehr deren „Funktion“, eine Denkbewegung, die sonst eher zu Neundorfer paBt.
Neundorfer entdeckt in der Kirche die „Quelle“, eben die Liebe, etwas, das sonst eher Guardini (und Weiger) verkorpern. Die wesentlichen Elemente fur gemeinschaftliches Leben sind in dieser kleine Episode gegeben: Die Entdeckung, wie Gemeinschaft „funktioniert“, das Wissen um ihre Quellen und der Wille, diese Gemeinschaft aufzubauen.
3.4. Die Benediktiner und die Liturgie
Es war der Freund Josef Weiger, welcher Guardini in den Geist und die Spiritualitat der Benediktinerabtei Beuron unweit von Tubingen einfuhrte. Weiger hatte dort ein Noviziat als Frater Martin begonnen, dann aber abgebrochen (s. o.). Nun machte er Guardini mit dem Bibliothekar, Pater Anselm Manser, einem Freund Heideggers, bekannt. Pater Anselm machte ihn auch auf Max Scheler aufmerksam. Pater Odilo Wolff sprach mit den jungen Theologen uber Plato und dessen Lehre von der lebendigen Gestalt. Des weiteren gab es dort den „Seelenkenner“ Pater Placidus Pflumm, der als geistlicher Berater einen wohltuenden EinfluB auf Guardini ausubte. Der bekannteste Name ist der von Abt Ildefons Herwegen, der in Guardini den Geist fur die Liturgie entzundete und ihn zu dem spateren, uberaus geschatzten kleinen Buch „Vom Geist der Liturgie“24anregte und zu dem Herwegen dann auch das Vorwort verfaBte. In einem eigenen Kapitel („Liturgische Gemeinschaft“) formuliert Guardini schon wesentliche Grundsatze seines Gemeinschaftsverstandnisses uberhaupt, wobei ihm die Liturgie geradezu Modellcharakter zu haben scheint:
Die Liturgie sagt nicht „Ich“, sondern „Wir“, [... sie] wird nicht vom Einzelnen, sondern von der Gesamtheit der Glaubigen getragen. [...] Es ist deren Gesamtheit, aber sofern die Einheit, als solche etwas ist, abgesehen von der Menge derer, die sie bilden: die Kirch e.25
Guardini bleibt dem benediktinischen Geist ein Leben lang verbunden, tritt er doch bereits
1908 der Anwartschaft auf die Gemeinschaft der Benediktineroblaten bei (Oblate26dann seit 1909 bis zu seinem Lebensende).
3.5. In der Jugendbewegung
Am 15. August 1915 ubertragt der Mainzer Bischof Kirstein dem damaligen Kaplan Guardini die Leitung des Schulerbundes Juventus. Dies war eine Gruppe junger Gymnasiasten, die 1890 als Ersatz fur die im Kulturkampf verbotene Marianische Kongregation gegrundet wurde.27Kennzeichen dieser Vereinigung waren Freiwilligkeit, gemeinsames Wandern und Spielen. Beten und Nachdenken uber den Glauben gehorten ebenso zu den Saulen des Zusammensein an den Wochenenden. Guardini selbst wahlte viele Themen aus, die sowohl die Lehre, als auch das praktische Miteinander-Umgehen betrafen. In Mainz existierte noch der Quickborn als Jugendbewegung und es kam zur Grundung des Wandervogels. Der Quickborn war es auch, dem sich Guardini spater verbunden fuhlen sollte, nachdem man ihn auf Burg Rothenfels am Main eingeladen hatte. 1920 verbrachte er einige Tage in diesem Zentrum des Quickborn, der selbst in Schlesien noch vor dem Ersten Weltkrieg gegrundet worden war. Guardini „verfallt“ der Burg28. Seine Aufenthalte auf Rothenfels werden haufiger, man ladt ihn ein, er wird 1924 Mitherausgeber der Zeitschrift „Schildgenossen“ und man ubertragt ihm schlieBlich 1927 die Leitung der Burg, die er bis zu deren gewaltsamer SchlieBung 1939 innehat. Rothenfels und Quickborn war ein neues Gemeinschaftserleben, in dem aber der Einzelne seinen unverzichtbaren, ja konstitutiven Platz hatte:
Die eigentliche Gemeinschaft besteht darin, daB ich den Anderen anerkenne, nicht nur in seinem Eigensein, sondern auch in seiner Fremdheit ... Hinuber (zum Anderen) fuhrt - eigentlich - nichts. Und doch wieder - offenbar - etwas. Dieses „Nein und Dennoch“ ist der personale Akt.29
Rothenfels bot alles, was ein junger, kritischer Geist in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s suchte: Freiraum zu kunstlerischer Gestaltung (Architektur und Innengestaltung, inspiriert durch das Bauhaus), liturgische Erneuerung (Feier der Hl. Messe „versus populum“), lauteres und ungezwungenes Miteinander von Jungen und Madchen (was zur damaligen Zeit durchaus unublich war in der katholischen Jugendarbeit) und viele Formen geistiger Aufgeschlossenheit (freie Diskussion und eigene Beschaftigung mit den verschiedensten Themen aus Kirche und Gesellschaft).
Es gehort zu den offenen Fragen, warum Guardini nach dem Zweiten Weltkrieg diese Verbindung nicht mehr gepflegt und auch keine ahnliche Form von Gemeinschaft gesucht hat. Eine Ursache liegt sicher in Guardinis Erschrecken, daB die an sich positiven Ansatze unter der deutschen Jugend mit verbrecherischer Absicht von der nationalsozialistischen Ideologie umgedeutet und miBbraucht wurden. Guardini widmet sich deshalb spater - als gewisses Gegengewicht - der Starkung der Einzelperson gegenuber zu starker Vereinnahmung durch die u. U. auch „verfuhrerische“ Gemeinschaft.
3.6. Universitat und Seminar
In Ausbildung und Studium waren es wiederum personliche Freundschaft und auch die Hoch- achtung und das Vertrauen einzelnen akademischen Lehrern gegenuber, die Guardini fur gemeinschaftliche Erfahrungen offneten. So beeindruckte ihn und seine Freunde in Tubingen in den Jahren 1908-1909 besonders der DogmatikerWilhelm Koch30, der auch Guardinis Beichtvater wurde:
Die wichtigste Personlichkeit aber war Wilhelm Koch, der vor noch nicht langer Zeit als Nachfolger von Paul Schanz die Professur fur Dogmatik ubernommen hatte. Von ihm muB ich mehr sagen.
Vor allem, daB er es gewesen ist, der mich von der Not der Skrupulositat befreite.
[...] Ich lernte, meinen Angstlichkeiten gegenuber Stand zu gewinnen, Unwichtiges von Wichtigem zu unterscheiden und die eigentlichen Aufgaben der charakterlichen und religiosen Bildung zu sehen. Wie originell Koch war, beweist ein Rat, den er uns gab. Wir hatten, wie das ja nicht anders sein kann, mit dem Problem des Geschlechtlichen zu tun, und er sah, mit wieviel Unklarheiten es belastet war. So schickte er einen von uns zu einem Professor der Psychiatrie, er moge so freundlich sein und uns ein gutes Buch uber die sexuellen Dinge nennen. Die Sache war ein wenig riskant, denn „Herr KollegeG.“ war wohl alles andere als christlich; so hat er uns denn auch „Die sexuelle Frage“ von Forel empfohlen. Das Buch behandelte aber die Dinge mit einer solchen Ungeniertheit und Ausfuhrlichkeit, daB es seinen Dienst aufs beste tat. Um so mehr, als wir es zusammen laut lasen, und dadurch die ganze Angelegenheit grundlich entzaubert wurde. Dieses innere Freiwerden hat mitgewirkt, die Tubinger Semester so von Grund auf gut zu machen. Naturlich will ich damit nicht sagen, die Angstlichkeit sei ganz verschwunden. Wo sie wirklich vom Wesen her da ist, lauft sie immer als Moglichkeit unter der Oberflache weiter.
Aber ich habe einen Stand gewonnen und bin fahig geworden, zu urteilen und zu unterscheiden. Das ist mehr, als einer, der es von vornherein kann, je zu empfinden vermag.31
Das Priesterseminar hatte groBe Bedeutung fur Guardinis Gemeinschaftsverstandnis, weil er auf der einen Seite die groBen Chancen sah, die mit diesem geordneten Leben verbunden waren, auf der anderen Seite aber auch erfahren muBte, wie verpaBte, miBlungene Gemeinschaft nicht nur im ubertragenen Sinne „auf den Magen schlagt“. Meisterlich schildert Guardini in der folgenden Reflexion das Zusammenspiel von Institution und der in ihr wirkenden Personen:
Im Herbst [1907, A. M.] trat ich dann in das Mainzer Priesterseminar ein.
Ich habe oft daruber nachgedacht, wie schon eine solche Institution sein konnte. Sie ware etwas ganz anderes, als die Universitat. Dieser fehlt die Eindeutigkeit der letz- ten Stellungnahmen, und von dorther kommt in alles eine innerste Ratlosigkeit und Schwache: die Welt des Seminars ruht auf der heiligen Wahrheit, ihrer Eindeutig- keit und Kraft. Die Universitat ist selbst sehr groB und steht im allgemeinen Raum der Stadt, so fehlt die letzte Einheit und Formkraft der Atmosphare; das Seminar ist kleiner, bildet aber dafur eine lebendige Einheit, eine „Welt“. Wissenschaft, religioses Leben, sittliche Erziehung, menschliche Gemeinschaft verbinden sich, und es erwachst, was zu den starksten bildenden Machten gehort: eine traditionsverwurzelte, formende Gesamtgestalt. Die Seminaristen sind junge Menschen; in der Regel mit sich selbst daruber klar, was sie wollen und bereit, sich der hochsten Aufgabe zu widmen. Im Seminar ist der Spiritual: ein Priester, der sie lehrt, an sich zu arbeiten, zu beten, Gott naher zu kommen. Die alte Tradition der Kirche bietet ihm Weisheit; sein Gefuhl fur das, was die christliche Person- lichkeit ist, lehrt ihn, sie zu sittlicher Selbstandigkeit, echter religioser Erfahrung, mit einem Wort, zur christlichen Freiheit zu fuhren. Eine Zahl von Mannern, ihre Lehrer, lehren sie philosophieren, das heiBt nach dem Wesen der Dinge zu fragen und jene alles ubrige tragende Ur=Macht zu erfahren, welche Wahrheit heiBt. Sie lehren ihren Geist jene entscheidende Wendung zu vollziehen, in welcher dieser von der Offenbarung her zu denken lernt und fahig wird, in ihrer Klarheit die Dinge der Welt und des Lebens richtig zu sehen, so daB christliches BewuBtsein entsteht. Die Professoren zeigen ihnen, wie man arbeitet, fuhren sie zu den Problemen, befahigen sie zum eigenen Urteil und lehren sie zugleich, was nur der Glaube kann, namlich Fragen, die man selbst nicht losen kann, ruhig zu tragen. SchlieBlich ist da das Haupt des Ganzen, der Regens, der dieses ganze Reich jungen Lebens in der Ordnung halt, nicht um etwas zu ersticken, sondern um alles zur besseren Entfaltung zu fuhren. Er kennt jeden Einzelnen, verfolgt seine Entwicklung und ist bereit, einzugreifen, wenn es notig ist. Sein Helfer ist der Subregens: junger, so daB er zu den Studenten noch lebendige Beziehung hat; andererseits uber sie hinausgewachsen, so daB er eine Vermittlung zwischen ihnen und dem Regens bilden kann. Hinter dem Ganzen schlieBlich steht der Bischof, der das Seminar als die „Pflanzschule“ des Priestertums liebt, ofter hineinkommt, mit den Einzelnen spricht und ihnen das Gefuhl gibt, daB sie in die lebendige Einheit der Kirche hineinwachsen.32
Guardini entwirft hier geradezu ein ideales Gemeinschaftsmodell. Er bestimmt die Aufgaben der Einzelnen und verweist auf die Wirkungen, die ein gelingendes Ineinanderwirken aller Faktoren und Handelnen als Gemeinschafts-Gefuge hervorrufen soll und kann. Wichtige Schlusselworte fur sein Verstandnis von gemeinschaftlichem Zusammenleben fallen. So fahrt er fort:
In allem ist eine klare und entschiedene Ordnung; eine Autoritat, die Gehorsam verlangt und verdient, weil sie aus der Vollmacht der Kirche her redet. Sie ist aber selbst darauf bedacht, die jungen Menschen zu Personlichkeiten zu machen, sie zur Selbstandigkeit des Urteils und der Sicherheit des Handelns zu fuhren.
Die Ordnung des kleinen Gemeinwesens ist an vielen Stellen ihnen selbst in die Hand gegeben, damit sie fahig werden, Verantwortung zu tragen und mit Menschen umzugehen. Wohl mussen von den jungen Theologen immer wieder Opfer verlangt werden, denn sie sollen ja zu Priestern werden, und der Priester ist nicht fur sich, sondern fur die Sache Gottes und fur die Menschen da. Aber das Seminar ist kein Kloster; die in ihm aufwachsen, sollen spater in der Welt stehen.
Sie sollen fahig werden, das Wertvolle der Welt zu sehen und zu schatzen, damit sie ihr nicht mit einem Ressentiment gegenuberstehen, das ihr Lehren und Handeln vergiften wurde. Sie sollen das Gefuhl fur Qualitat bekommen, damit es auch in ihrer christlichen Verkundigung wirksam sei. Spater werden sie viel arbeiten mussen und einer Bereicherung des Geistes bedurfen, oder aber auf stillem Posten sitzen, wo die Gefahr der Verodung droht: in beiden Fallen mussen sie den Zugang zur edlen Kultur kennen und aus ihren Schatzen schopfen konnen. So mussen die Manner, welche sie fuhren, die besten sein, die zu finden sind. Daher darf nicht jede Diozese ein Seminar haben, weil dann die Auswahl zu gering und das ganze Gesichtsfeld zu klein ist, sondern mehrere mussen gemeinsam eines aufbauen, dessen Moglichkeiten der Aufgabe entsprechen. Nach dem AbschluB des Studiums und der Weihen kehren dann die Einzelnen in ihre Diozesen zuruck und leben dort in der Form eines kleinen Kollegiums noch eine Weile unter entsprechender Lei- tung weiter, um so in die besonderen Traditionen und Erfordernisse ihrer Diozese hineinzuwachsen. Zugleich steht das Seminar mit den Universitaten in Verkehr, ist vielleicht mit einer unter ihnen besonders befreundet.33Immer wieder werden, sei es im Laufe des Studiums selbst, sei es nach seinem AbschluB, Einzelne auf die Universitat geschickt, damit so die beiden Grundformen geistlicher Bildung in lebendiger Beziehung bleiben..[.]
Das alles klingt vielleicht utopisch, ist es aber, glaube ich doch nicht. Und wenn selbst, „Utopien“ sind im Gang der Menschengeschichte die wirksamsten Machte gewesen, denn sie formulieren jene Formen der Vollkommenheit, die der Mensch fur erstrebenswert halt. Ich konnte mir denken, daB ein solches Bild vom Seminar noch einmal recht aktuell wurde. In Mainz war jedenfalls von dergleichen wenig zu spuren. Es sind nun funfunddreiBig Jahre her, seit ich es verlassen habe, und sicher ist vieles anders geworden; was ich sage bezieht sich also nicht auf seinen jetzigen Zustand, den ich nicht kenne. [...] Ich selbst habe manche gute, Innerstes in Bewegung bringende Stunde im Seminar gehabt. Im allgemeinen aber lag es als Druck auf mir. Es ist nicht zufallig, daB ich dort magenleidend geworden und es von da ab mein ganzes Leben geblieben bin.34
Die beiden langeren Zitate zeigen, wie intensiv sich Guardini in jeder Phase seiner Ausbildung schon dem Gemeinschaftsphanomen gegenuber sah und wie sehr es ihn geradezu existenziell betraf. Da ist die Sexualitat, die zu einer einengenden, den Einzelnen blockierenden Gemein- schaft fuhren kann, wenn nicht ihre GesetzmaBigkeiten und Funktionen bekannt sind, und sie nicht als Quelle fur Gemeinschaft aufgedeckt und genutzt wird. Die Seminarerfahrung ist eine komplexe Schilderung, wie Gemeinschaft strukturiert sein sollte und woher sie die Kraft zu ihrer nutzbringenden Wirkung fur jedes ihrer Glieder bezieht.
3.7. In Gemeinde und Seelsorge
Wie verstand Romano Guardini sein Priestersein? In einem Brief zur Priesterweihe eines Freundes aus der Juventus, Alfred Schuler, wird dazu einiges deutlich:
Es [das Priesterleben, A. M.] moge so sein, daB Du um das ganz besondere Amt wissest mit seiner Gewalt und Kraft von Gott zu den Menschen; von den Menschen zu Gott. Aber zugleich ganz gelost und selbstverstandlich als Bruder neben die Geschwister tretest.35
Im Ruckblick auf sein Leben beschreibt Guardini neben dem Ordenspriester zwei Grundtypen priesterlichen Dienstes: den vaterlichen und den bruderlichen Priester.
[Letzterer ist es,] der nicht vom Amt ausgeht, sondern es als Kraft in sich tragt; nicht als Trager der Autoritat den Glaubigen gegenubersteht, sondern neben sie tritt. Er scheut sich, feste Ergebnisse und Weisungen an sie heranzutragen, sondern stellt sich mit ihnen zusammen in das Suchen und Fragen hinein, um mit ihnen gemeinsam hinauszufinden. [...] Von hier aus bekommt auch das ganze Problem Priester und Laie einen verschiedenen Charakter, und ich habe oft gedacht, eine ganze Anzahl von Schwierigkeiten wurden verschwinden, wenn es mehr in der bruderlichen Haltung stehende Priester gabe.36
Guardini litt in seinen Kaplansjahren sehr darunter, daB ihm, wie vielen anderen Kaplanen, keine eigentliche Seelsorge anvertraut wurde. Selbst bei Ordensschwestern, in deren Haus er wohnte, war nur sein MeBdienst erwunscht. Erst als er die Berliner Dozentur im Jahre 1923 annahm fand er die Moglichkeit in einer Kapelle der sozialen Frauenschule neben der Messe zumindest eine kleine Ansprache zu halten: „Das habe ich durch einige Jahre hindurch gern getan, denn die Zuhorerschaft war aufmerksam und empfanglich.“37Eine zweite Moglichkeit eroffnete sich im wochentlichen Gottesdienst fur die Studentengemeinde, wo - auch aus baulich gerechtfertigten Grunden - der Priester die Messe meist mit dem Gesicht zum Volk (versus populum) las. Ein Eindruck Guardinis hierzu verrat viel uber seine Sicht auf das Verhaltnis Individuum und Gemeinschaft:
Ich habe mich dagegen gestraubt, da ich den Gedanken, mir so beim Gebet und der heiligen Handlung ins Gesicht sehen zu lassen, als unertraglich empfand, habe aber dann nachgegeben und bereut, es nicht fruher getan zu haben. Besonders in einem kleinen Raum ist das die einzig naturliche Art, die heilige Messe zu feiern. Durch sie entsteht ein wirklicher Zusammenhang. Alle sehen, was geschieht und konnen jeder Einzelheit folgen. [... Hier] bin ich der Verkundigung von Gottes Wort so recht froh geworden.38
Seelsorge - das sind vor allem auch Gesprache. Guardini hat diesen Dienst und diese Form der Zweisamkeit intensiv gepflegt und war ein beliebter Seelsorger und Gesprachspartner:
Eine besondere Form der Wirsamkeit vollzog sich im personlichen Gesprach. [...]
Da durfte es auf Zeit nicht ankommen. Ich lernte immer besser zuhoren und den Raum zu schaffen, in welchem der andere nicht bloB zum Sprechen frei wird, sondern auch sich selbst richtig vor den Blick bekommt.39
Gemeinde und Seelsorgsarbeit brachten auch negative Erfahrungen mit sich. Guardini verab- scheute vor allem jede Vereinsmeierei. Studentische Verbindungen hatten in der katholischen Studentenschaft eine groBe Bedeutung. Das bereitete dem Naturell Guardinis Schwierigkeiten:
Was die Verbindungen angeht, so habe ich den einen oder anderen Abend bei ihnen verbracht, um dann nie mehr hinzugehen. Die Leere ihres Betriebs war unertraglich. Hinzu kam, daB man wuBte, ich gehore zur Jugendbewegung und mich infolgedessen von vornherein mit MiBtrauen ansah; um so mehr, als ich vom Quickborn her abstinent war und mich daher im Bierbetrieb der Kommerse und sonstigen Veranstaltungen recht unangebracht ausnahm.40
Guardini hielt sich auch von einem politisch orientierten Katholizismus fern, wie ihn der damalige Berliner Studenten-Seelsorger Dr. Carl Sonnenschein vertrat, den Guardini noch aus seiner Tubinger Zeit kannte.71
Das aktive Wirken in der Kirche als einer vielfaltig strukturierten Gemeinschaft laBt Guardini zum einen erkennen, daB sowohl der bruderliche Priester, als auch der vaterliche Priestertyp gebraucht werden, zum anderen, daB Leben in Gemeinschaft auf Begegnung hin offen sein muB: Liturgie ist mehr als Messe-Lesen, zu ihr gehort die Verkundigung und zu ihr gehoren angemessene Gestaltungsformen. Das auBerliturgische, kirchliche Leben darf nicht zu stark auf die Seite des gesellig-organisatorischen ausschlagen. Ohne eine stets gesuchte Innerlichkeit ist auf Dauer auch keine politische Wirksamkeit mit Erfolg durchzuhalten.
Resumee
Die beiden ersten Kapitel umreiBen die Problemstellung von zwei Richtungen her. Das gestellte Thema wird in gewisser Weise schon einmal von der Polseite Gemeinschaft her gesehen, wenn in der Darstellung des historischen Hintergrundes die Gesellschaft, soziale Krafte, kulturellen Gegebenheiten und uberhaupt gemeinschaftlich gepragte Strukturen angesprochen werden. Gemeinschaft war immer da, aber sie kommt neu ins gesellschaftliche, und damit auch religiose Bewusstsein. Vieles, wie etwa der Einfluss starkerer wirtschaftlicher Vernetzung unter den Nationen, konnte dabei nicht angesprochen werden. Das Ausgefuhrte macht aber doch deutlich, in welchen Zusammenhangen und in welcher Atmosphare der Einzelne am Anfang des 20. Jahrhunderts (zumindest in Europa) steht und wie er auf Gemeinschaft verwiesen ist.
Die Biographie dieses Einzelnen, nun beleuchtet in ihrem reichen Beziehungsgeflecht zu anderen Menschen und Gruppen, bildet den der Gemeinschaft gegenuberstehenden Pol. Auch hier kommt es zu der Entdeckung, dass der Einzelne immer schon in gemeinschaftlichen Strukturen steht. Guardini gehort zu denjenigen, die dieses Stehen in Gemeinschaft wahrnehmen und reflektieren. Mehr noch: Guardini stellt sich bewusst in enge Gemeinschaftsknupfungen, wie er sie nennt. Er pflegt Freundschaft, ist gerne Seelsorger und akademischer Lehrer, erzieht mit Engagement junge Menschen zu gemeinschaftsfahigen Gliedern in Kirche und Gesellschaft. Und: Gurardini entwickelt Modellvorstellungen, „Utopien“, die Gemeinschaft attraktiv dar- zustellen vermogen und Ausrichtung auf reale Ziele ermoglichen. Nicht alle Facetten seiner Biographie konnten unter diesem Blickwinkel ausgeleuchtet werden. Es gab auch den Guardini, der bestimmte schwierige Mitmenschen mied, der aus einem Interessenkonflikt mit seiner Lehr- tatigkeit heraus auf Gemeinschaft verzichtete und der fur sich selbst Formen von Gemeinschaft bevorzugte, die seiner Person und Personlichkeit Raum zu Entfaltung und Schopfertum gaben.
Im zweiten Teil der Arbeit werden erste Fruchte dieser von Guardini gelebten und reflektier- ten Gemeinschaftserfahrung vorgestellt und es wird damit auch weiteres Material geboten, das den im dritten Teil systematischen Uberlegungen Vorlauf und Grundlage bietet.
Teil II.
Das Worin: Realisationen
Im Folgenden werden drei Hauptschriften Guardinis aus dem ersten Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg vorgestellt, in denen er Wichtiges und Grundlegendes zum Thema Gemein- schaft ausfuhrt. Sein Erstlingswerk Vom Geist der Liturgie (1918) atmet die Jahrhunderte benediktinischer Gemeinschaftserfahrung in Gebet und Liturgie („Werk des Volkes“), wobei Guardini diese Erfahrung fur das gesamte Gottesvolk offnet und transparent macht.
Eng damit verbunden sind seine Uberlegungen zur exemplarischen Gemeinschaft der Kirche, die er in seinem Buch Vom Sinn der Kirche (1922) darlegt. Guardinis Kirchenbegriff vertieft auf der einen Seite den paulinischen Gedanken vom mystischen Leib, offnet aber auch die Perspektive auf den heilsgeschichtlichen Aspekt der Kirche, den das Zweite Vatikanum heraus- arbeiten wird: Kirche ist Volk Gottes, Gemeinschaft der Glaubigen auf dem Weg. AuBerdem weitet Guardini den Kirchenbegriff hin auf die ganze Menschheit. Auch das ein Gedanke, den das Konzil ausformulieren wird.
Nach gut zwei Jahrzehnten gelebter und reflektierter Erfahrung mit Gemeinschaft stellt sich Guardini nochmals ganz konkret und existentiell die Frage nach ihrem Sinn, ihrer Lebbarkeit. In Vom Sinn der Gemeinschaft (1930) zieht er die Linien nach, die zur Entdeckung von Gemeinschaft gefuhrt haben, aber auch schon die gegenlaufigen Momente, die sich aus dem uneinholbaren Personsein des Einzelnen ergeben. Hier deutet sich eine Krisis, eine Wende in Guardinis Haltung zur Gemeinschaft an, die nicht zuletzt auch den politischen Entwicklungen in Deutschland geschuldet zu sein scheint.42
4. Vom Geist der Liturgie
Wie schon erwahnt1, schildert Guardini in dieser kleinen Schrift eine Gemeinschaftserfahrung der Kirche, vielleicht sogar die Gemeinschaftserfahrung und -vorstellung schlechthin2, die sich im „Opus Dei der Liturgie“3verwirklicht.4
Die kleine Schrift erscheint 1918, im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges. Auch wenn Guardini darauf nicht direkt Bezug nimmt, steht der Krieg mit seiner „Liturgie des Todes“ doch als Negativmatrize im Hintergrund, als die abschlieBende Dissonanz einer Epoche, die egoistische Interessen von Staaten und ihren Machthaber an ein unruhmliches Ende gebracht zu haben scheint. Noch weiB es niemand, daB auch die nun folgende Zwischenzeit mit ihren hoffnungsvollen Aufbruchen erneut in einem Totentanz enden soll.
Romano Guardini entwirft in seinen Uberlegungen eine Vision von Gottes- und Menschen- dienst. Liturgie ist der vollkommenste Ausdruck dessen, was Kirche ist. So vereinigt sie in sich das Werk Gottes als tranzendente Dimension und das Werk des Menschen5als das Stehen in realer Gemeinschaft.
4.1. Gemeinschaft der Kirche in der Liturgie
Guardini setzt einen weiten Begriff von Kirche voraus, die ja uber Raum und Zeit hinausgreift:
Sie dehnt sich [...] uber die Schranken des betreffenden Raumes hin aus und umfaBt alle Glaubigen auf der ganzen Erde. Uber die Schranke der Zeit greift sie ebenfalls hinweg, insofern sich die auf Erden betende Gemeinschaft auch mit den Heimgegangenen eins weiB, die in der Ewigkeit stehen.6
Dieser Gemeinschaftsbegriff steht in Beziehung zur Vorstellung des durch keinen Raum und keine Zeit begrenzten Gottes, der in seiner Dreipersonalitat das Urbild von Gemeinschaft7darstellt.8
In den Elementen und Vollzugen der Liturgie entdeckt Guardini all jene Charakteristiken, die Leben in Gemeinschaft ausmachen. Ohne die Bedeutung der vielfaltigen Formen von Volks- frommigkeit zu leugnen, spricht sich Guardini fur die Eucharistiefeier als die vollkommenste Form gemeinschaftlichen Glaubens- und Lebensvollzuges aus. Damit nimmt er eine Erkenntnis vorweg, die erst das Zweite Vatikanum mit den Worten ausdruckt:
Die Liturgie, durch die sich, besonders im gottlichen Opfer der Eucharistie, „das Werk unserer Erlosung vollzieht“, tragt namlich in hochstem MaBe dazu bei, daB die Glaubigen das Geheimnis Christi und die eigentliche Natur der wahren Kirche zum Ausdruck bringen und anderen offenbar machen; ihre Eigentumlichkeit ist es, zugleich menschlich und gottlich zu sein, sichtbar mit Unsichtbarem ausgestattet, gluhend im Handeln und frei fur die Betrachtung, in der Welt gegenwartig und doch unterwegs; und zwar so, daB in ihr das, was menschlich ist, auf das Gottliche hingeordnet und ihm untergeordnet wird, was sichtbar ist, auf das Unsichtbare, was zur Tatigkeit gehort, auf die Betrachtung, was gegenwartig ist, auf die kunftige Stadt, die wir suchen.9
Die Grundzuge alles dessen, was Guardini spater noch uber das Leben in Gemeinschaft schreiben wird10und was er bereits in Bezug auf den Modellcharakter der trinitarischen Gemeinschaft in Gott programmatisch geauBert hat11, wird hier an der Liturgie in verdichteter
Form aufgezeigt. Liturgie ist Abbild des trinitarisch-gottlichen Lebens und damit Vorbild gemeinschaftlich-menschlichen Lebens. Die Feier der Liturgie ist eine Form gemeinschaftlichen Vollzuges.12
Dies kommt besonders darin zum Ausdruck, daB die Vereinigung der Glieder untereinander nicht unmittelbar von Mensch zu Mensch geht. Sie vollzieht sich dadurch, daB alle auf das gleiche Ziel gerichtet sind und geistig in derselben Endstatt ruhen: in Gott, im gleichen Bekenntnis, Opfer und Sakrament.13
Wahre Gemeinschaft entsteht nicht allein aus der Ich-Du-Beziehung zweier Menschen, sondern sie bedarf stets der Vermittlung durch und der Ausrichtung auf den, der im Letzten Gemeinschaft begrundet: Gott. Guardinis Gemeinschafts- und damit auch Kirchenverstandnis ist von daher niemals nur eine soziologische Abstraktion, eine psychologische Forderung oder philosophische Ordnung, wo der Mensch in einer wie auch immer definierten „arbor porphyriana“ steht, sondern er sieht den Menschen und die menschliche Gemeinschaft immer schon in Bezug auf ihren Schopfer. Ohne Gott ist der Mensch und ist Gemeinschaft fur Guardini nicht denkbar.
In der Liturgie leuchtet fur Guardini dieser ursprungliche Zusammenhang in besonderer Weise auf und es lohnt die einzelnen Aspekte eingehender zu betrachten. Guardini spricht eingehend von einzuhaltenden Grund- oder Wesensgesetzen bzw. von Grundbedingungen fur „das regelmaBige geistliche Leben einer Gemeinschaft“, das Ausnahmen von der Regel wirklich nur als solche erlaubt.14Ganz gewiB denkt Guardini hier an Geschichte und Ausfor- mung benediktinischer Spiritualitat und Lebensart, zu der er sich auch personlich bekennt.15Guardini sieht in der Liturgie der katholischen Kirche die „vollendete Erscheinung“ einer solchen Lebensordnung, die dann auch in Beziehung gesetzt werden muB zu anderen Formen gemeinschaftlichen Lebens.16Im Folgenden seien einige Kennzeichen von Gemeinschaft in der Liturgie und deren Charakterisierung genannt, so wie sie Guardini herausgearbeitet hat.
4.2. Gemeinschaft - keine Summe von Individuen
Die entstehende und entstandene liturgische Gemeinschaft ist dabei keine Summe von Individuen, auch ist der einzelne Glaubige nicht der Trager dieses Handelns: „Das Ich der Liturgie ist vielmehr das Ganze der glaubigen Gemeinschaft als solcher, ein uber die bloBe Gesamt- zahl der Einzelwesen hinausliegendes Mehr, die Kirche.“17Die Liturgie ist die Form dieses gemeinschaftlichen Handelns, wobei sich auch hier ein Wille zur Gemeinschaft zeigt.18
Fur den Einzelnen ergibt sich aus dem „Aufgehen in dieser hoheren Einheit“ die Freiheit als Selbstgehorigkeit19, und dies alles „ist in der zugleich individuellen und gesellschaftlichen Natur des Menschen begrundet.“20
Zudem gilt, daB die liturgische Gemeinschaft - nach katholischem Verstandnis - nicht nur die aktuell versammelte Gemeinde einschlieBt. Guardini sieht eben diese Kirche als eine kosmische GroBe21.
4.3. Gemeinschaft als Lex orandi, Lex credendi, Lex vivendi
Der bis auf die Vaterzeit zuruckgehende Grundsatz, daB die lex credendi und die lex orandi einander bedingen, ja daB - wie es Walter Kasper ausdruckt - die lex credendi „gedachte Liturgie“ sei, wird besonders von der liturgischen Bewegung neu herausgearbeitet und un- terstrichen.22Und so formuliert Guardini: „Die Lex orandi, die Liturgie, ist nach dem alten Spruch zugleich Lex credendi, Gesetz des Glaubens. Sie ist vom Wahrheitsgut der Offenbarung ganz erfullt.“23Guardini ist es wichtig, daB das Gebet vom richtigen Gedanken getragen wird, daB es von subjektiven Einfarbungen24, den Gemutszustanden nicht uberformt und verfalscht wird25. Eben diese Wirksamkeit fur das Leben soil der von mir gewahlte Ausdruck Lex vivendi unterstreichen.26
Die Liturgie als „gebetete Wahrheit“99garantiert die Entsprechung von Gebet, Dogma und Praxis.27Der Einzelne betet in der Gemeinschaft, wobei deutlich wird: „Das Beten der Kirche zerrt die Geheimnisse des Herzens nicht heraus.“28Guardini wahlt als Vergleich zu dem, was die Liturgie tut, die unter Menschen gewachsene Umgangsform, die sich durch eine lange Zeit herausgebildet und bewahrt hat29.
Nach der Einschatzung Guardinis lebt (liturgische) Gemeinschaft von der Ausgewogenheit zu entschiedener Hingabe und dem Wissen, daB die gewohnten Vollzuge dabei aufrecht erhalten werden mussen, also einer gewissen Zuruckhaltung bedurfen, die einen tragenden Grund bildet.30
4.4. Gemeinschaft in „Dramatik“ und Dialog
Die Liturgie als ein Raum der Gemeinschaft fordert konsequenter Weise ihre Form des Ge- sprachs, des Gebetes als Dialog, mit anderen Worten die Form des Dramas32. Schon das antike griechische Drama hatte seinen Ursprung in religiosen Mythen (Dionysoskult) und aus der mit- telalterlichen Liturgie entwickelt sich das religiose Drama (Wechselgesange der Osterliturgie). In diesen Formen wird „fur die Glaubigen bereits ein Stuck der transzendenten Welt erfahr- bar“.33Nur in „Rede und Gegenrede“ schreitet die Handlung voran. Dieses Voranschreiten, die „handelnde Anteilnahme“ macht Guardini interessanter Weise an der Rolle der Manner in der (liturgischen) Gemeinschaft fest.34Uberhaupt ist der Dialog in der Gemeinschaft nicht nur ein Gesprach zwischen homogenen Teilnehmern. Die verschiedenen Aufgaben finden ihre
Berucksichtigung. So fungiert etwa der Vorbeter, welcher ja meist der Leiter der Liturgie ist, als „Chorfuhrer“35.
4.5. Gemeinschaft lebt aus Natur und Kultur
Bei Guardini tritt die Liturgie als Modell eines ausgewogenen Verhaltnisses menschlicher Ver- faBtheit vor Augen. Der Einzelne steht mit seinen Strebungen, Freuden, mit Sunde und Schuld im Leben der Gemeinschaft36. Doch zugleich steht er, stehen alle gemeinsam in einer Kultur. Da ist das durchgebildete Wort, das Gefuge der Gebete, das „Gesamtwerk des Kirchenjahres“; da sind Gebarden und Vollzuge, „GefaBe, Gerate und Gewander“. Musik und Architektur sind ebenfalls Ausdrucksmittel der Kultur37.
Ebenso verteidigt Guardini die Rolle der Natur, die ja als Voraussetzung fur die zu empfan- gende Gnade gilt38.
4.6. Gemeinschaft verlangt Opfer und Leistung
Die geistliche Gemeinschaft, wie jede andere, verlangt vom Einzelnen ein Dop- peltes. Einmal ein Opfer: [...] Er muB sich weggeben und mit anderen sein, muB der Gemeinschaft einen Teil seiner Selbstgehorigkeit und Selbstfuhrung opfern. Und dann eine Leistung: es wird von ihm gefordert, daB er einen umfassenderen Lebensinhalt, namlich den der Gemeinschaft, als eigenen annehme, daB er sich in diesen ausweite, ihn im BewuBtsein trage, bejahe und auswirke.39
An dieser Stelle wird besonders deutlich, wie sehr es zwar der Natur des Menschen entspricht, ein Gemeinschaftswesen zu sein (ens sociale), wie sehr es aber dazu einer bewuBt ausgebildeten Gemeinschaftskultur bedarf, um das Gefuge Einzelner-Gemeinschaft aufrecht und in einem die Freiheit und Wurde wahrenden Verhaltnis zu halten.
Auch hier ist die Betrachtung der liturgischen Gegebenheiten oder besser ihrer gewachsenen Strukturen sehr hilfreich. Guardini unterscheidet eine sachliche und eine personale Ebene. Unter dem Blickwinkel von „Sachzwangen“, wie wir es heute wohl nennen wurden, verlangt Gemein- schaft das Opfer des Gehorsams gegenuber den Regeln und Gesetzen des Gemeinschaftslebens. Der Einzelne „hat den Absichten und Wegen der Liturgie zu folgen“40.
Auf personaler Ebene kann die Schwierigkeit darin bestehen, mit anderen „wirklichen Menschen“41zusammenzusein. Ging es in der Akzeptanz sachlicher Zwange um Demut, so hier um die Haltung der Liebe, „die bereit ist, das Leben der andern zu teilen und zum eignen anzunehmen“42.
Das Leben in der Ich-Du-Gemeinschaft wird nach Guardini erleichtert durch eine Seelenver- fassung, die sowohl individualistisch, als auch sozial eingestellt ist, die „ebenso unwillkurlich im ,Wir‘ lebt, wie [...] im abgeschlossenen ,Ich‘.“ Beide Richtungen sind wichtig. Der Einzelne darf von Gemeinschaft nicht absorbiert werden, wie dies etwa in Sekten geschieht, „er geht im Ganzen nicht auf“43.
Besonders in der Liturgie gilt, daB unterschiedliche Veranlagungen - und immer neigt der eine mehr zu individualistischer, ein anderer mehr zu sozialer Einstellung - ausgeglichen werden, „daB e i n Gott und Herr sie alle zur geheimnisvollen Einheit verbindet“44.
4.7. Gemeinschaft und ihr Stil
Gemeinschaftsleben - ein weiterer Gesichtspunkt, den Guardini anhand der Liturgie heraus- arbeitet - hat Stil. Das mag zunachst verbluffen. Denn auf der Suche nach diesem Begriff in einschlagigen Lexika zur Theologie oder Liturgik wird man schwerlich fundig. Auch geht es Guardini nicht um Asthetik oder gar Asthetizismus, es ist vielmehr der Logos45, der sein phanomenologisches Herangehen bestimmt. Stil ist „das Anzeichen der Tatsache, daB ein bestimmter Lebensinhalt seinen wahrhaftigen und erschopfenden Ausdruck gefunden hat.“46
Manna, und will ihm geben einen weiBen Stein, und darauf geschrieben einen neuen Namen, der niemandem kund ist als dem allein, der ihn empfangt.‘ (Offb 2,17)“
[...]
1Vgl. Gen 1,26f.: „Dann sprach Gott: LaBt uns Menschen machen als unser Abbild, uns ahnlich. [...] Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“
2z. B. Gal 4,6: „Weil ihr aber Sohne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unser Herz, den Geist, der ruft: Abba, Vater.“
3Joh 17,21: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, daB du mich gesandt hast.“
4So unterscheidet von Balthasar nach den neutestamentlichen Gestalten vier groBe kirchliche Profile: das marianische, petrinische, johanneische und paulinische. „Fur uns aber wird dieser Einheitsgrund der Kirche doch nur an ihren Gliedern konkret, und da gewisse dieser Glieder archetypische Erfahrungen besitzen, die sie zur gemeinsamen Verwendung in den gemeinsamen Schatz der Communio Sanctorum ubergeben, steht nichts im Wege, der Kirche selbst eine solche Erfahrung zuzuschreiben.“ In: BALTHASAR, HANS URS VON Herrlichkeit. Eine theologische Asthetik. Band 1, Einsiedeln: Johannes, 31988, 337. Dazu: LEAHY, BreandAn The Marian Principle in the Church according to Hans Urs von Balthasar. Frankfurt am Main: Peter Lang, 1996, 98: „Von Balthasar reflects on the Gospel experience. On one hand, in building an extrapolation' of the Trinity on earth pro-nobis, our Lord’s life could not be anything other than a recitation ,on earth' of the life ,as it is in heaven'. This ,trinitarian extrapolation' was evidenced in the life he led with others. Peter, James, John, the sisters of Bethany, Mary Magdalen all inter-related with Jesus and with on another in ways which are unique. [...] Their experiences have flown into the Church. Von Balthasar writes of a form of perichoresis of personal missions which has been universalised by the Holy Spirit so as to flow into the Church as archetypal principles, experiences, traditions, dimensions and profiles."
5So auch der Titel der Okumene-Enzyklika von Johannes Paul II. aus dem Jahre 1995. Gleichzeitig war es auch der Wahlspruch des Mitbegrunders der Fokolarbewegung, von Bischof Dr. Klaus Hemmerle (Aachen), der etwa zum bevorstehenden ersten gemeinsamen deutschen Katholikentag in Dresden schrieb: „Wenn ich nun in das 21. Kapitel des Buches der Offenbarung des Johannes hineinschaue, wo von diesem neuen Jerusalem die Rede ist, wird uns im 3. Vers gesagt, daB diese neue Stadt die Wohnung Gottes unter den Menschen ist, daB er unser Gott ist und daB wir sein Volk sind. Sein Volk - das erinnert an Dresden 1989. In Dresden den ersten deutschen Katholikentag zu planen, an dem alle Deutschen unmittelbar teilnehmen konnen, ruckt uns, sozusagen schier unausweichlich, den Gedanken des einen Volkes ins Herz und vor die Augen. Hier in Dresden [und in vielen Stadten, A. M.] ertonte fur alle vernehmbar und wirkmachtig der Ruf ,Wir sind das Volk‘. Was damals wie eine VerheiBung fur alle greifbar war, steht heute als schwere Aufgabe vor uns. Wir konnen einfach nicht daran vorbeigehen, daB eben diese ungeheure Aufgabe der Einswerdung vor uns steht. Dieser Katholikentag in Dresden braucht eine wirklich tiefere innere Inkubationszeit, um seinen Beitrag zu einer inneren Einheit zu geben. Wo finden wir diese Prinzipien, aus denen diese Einheit wachst, wo die Werte, die diese Einheit pragen? Wo wird die Sprache wachsen, die wir miteinander sprechen konnen? Wo wird jene Gemeinschaft des Lebens, des Handelns verankert sein, ohne die wir ja nur ein auBeres Konglomerat oder ein Apparat waren?“ in: ZENTRALKOMITEE DER DEUTSCHEN Katholiken (ZdK) (Hrsg.) Weggeschichte. Band Heft 91, Berichte und Dokumente, Bonn: Druckerei Emhart, Aachen, 1994, 40. Diese Gedanken jahren sich zum 20.Mal.
6Eine Vielzahl von Bewegungen und Initiativen sind in den letzten Jahrzehnten in dieser Richtung entstanden, und es kommt - das ist vielleicht noch entscheidender - zu immer starkerer Verbindung und Zusammenarbeit unter diesen. So wurde der 2008 verstorbenen Grunderin und Prasidentin der Fokolarbewegung, Chiara Lubich, posthum der Ehrenpreis der Interdependence-Day-Bewegung von Benjamin R. Barber verliehen, einer sakularen, weltweiten Vereinigung, die sich ebenfalls um Frieden und Einheit bemuht.
7S. auch S. 206 dieser Arbeit. „Spurbild“ ist Guardinis Ubersetzung fur das lateinische vestigium (trinitatis)
1Bruske, Gunda Anruf der Freiheit. Anthropologie bei Romano Guardini. Paderborn: Ferdinand Schoningh, 1998, 65: „Die Erlebnisse im Krieg hatten den Soldaten ein bisher ungekanntes Erlebnis von Gemeinschaft vermittelt, die Kameradschaft als ,Schutzengrabengemeinschaft‘, also eine Gleicheit und Einheit gerade angesichts groBer auBerer Bedrohung.“
2Knoll, Alfons Glaube und Kultur bei Romano Guardini. Paderborn; Munchen; Wien; Zurich: Ferdinand Schoningh, 1994, 29, Fn. 3: Knoll macht auf zwei Werke aufmerksam, die - beide 1924 erschienen - dieser ge- genlaufigen Tendenz in Nachkriegsdeutschland Ausdruck verleihen: Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“, welcher das Sterben einer dekadenten burgerlichen Klasse thematisiert, und Gertrud von le Forts „Hymnen an die Kirche“, die Guardinis Ausruf vom Erwachen eben dieser Kirche in den Seelen unterstreichen.
3Nipperdey, Thomas Deutsche Geschichte 1866-1918. Munchen, 1994,468
4Wesentliches zu dieser Thematik in: Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara, „Edith Steins wenig bekannte Seite: Sozialphilosophie aus dem Geist der Phanomenologie“, in: Beckmann-Zoller, Beate/Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara (Hrsg.) Die unbekannte Edith Stein: Phanomenologie und Sozialphilosophie. Frank- furta.M., 2006, 25-40
5„Die christliche Liebesidee und die gegenwartige Welt“. Ein Vortrag, in: Scheler, MAX Vom Ewigen im Menschen. Maria Scheler (Hrsg.). Band 5, GW, Bern und Munchen: Francke,51968, 377f., Hvhg. (fett), A. M.
6Gerl, Hanna-Barbara Romano Guardini 1885-1968 : Leben und Werk. Mainz: Matthias Grunewald, 1985, 154
7Gerl, 155
8„Jugendbewegung“ (1923), in: Scheler, Max Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre. Maria Scheler (Hrsg.). Band 6, GW, Bern und Munchen: Francke,31986, 396
9Ebd. 395
10Wolfgang RieB: „Die sozialphilosophische Letztbegrundung von Individuum und Gesellschaft bei Simon L. Frank und Edith Stein“, in: Sozialphilosophie, 149
11Buber, Martin Ich und Du. Stuttgart: Reclam, 1999, 12: „Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“
12Frank, Simon Ludwigowitsch Die geistigen Grundlagen der Gesellschaft. Einfuhrung in die Sozialphilosophie. Freiburg/Munchen: Alber, 2002, 137
13Tonnies, Ferdinand Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft,31991, 1.Aufl. 1887(!)
14Sozialphilosophie, 152
15„Individuum und Gemeinschaft“, zitiert nach: Sozialphilosophie, 151
16Plessner, Helmut Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Bonn, 1924, 9
17Litt, Theodor Individuum und Gemeinschaft. Grundfragen der sozialen Theorie und Ethik. Leipzig/Berlin, 1919
18Walther, Gerda Ein Beitrag zur Ontologie der sozialen Gemeinschaften mit einem Anhang zur Phanomeno- logie der sozialen Gemeinschaften. Halle, 1923, 125
19Beate Beckmann-Zoller: „Die Herausforderung des Gemeinschafts-Gedankens fur katholische Denker im zeitgenossischen Umfeld Edith Steins: Gerda Walther (1897-1977), Romano Guardini (1885-1968), Dietrich von Hildebrand (1889-1977), Josef Pieper (1904-1997)“, in: Sozialphilosophie, 119
20Ebd.
21Ebd. 125, nach: HILDEBRAND, DIETRICH VON Metaphysik der Gemeinschaft. Augsburg, 1930, 178
22Dies erhalt eine indirekte Bestatigung durch Ratzinger, Joseph Aus meinem Leben. Erinnerungen (19271977). Munchen: Wilhelm Heyne, 2000, 159: „Der Gedanke daran, daB Romano Guardini seine groBe Wirksamkeit in den zwanziger und dreiBiger Jahren niemals von der Universitat allein hatte entfalten konnen, sondern daB er durch die freie Gemeinschaft junger Menschen auf der Burg Rothenfels ein geistiges Zentrum geschaffen hatte, das dann auch sein universitares Wirken aus dem bloB Akademischen heraushob, ging mir nach. Etwas Ahnliches muBte versucht werden, wenn auch gemaB der veranderten geistesgeschichtlichen Situation in sehr viel bescheidenerer Form.“ Indirekt bestatigt Ratzinger hier auch, daB es vielleicht fur Guardini selbst nach dem Krieg in der neuen „veranderten geistesgeschichtlichen Situation“ nicht ohne weiteres den Faden zu Gemeinschaftsformen wie der Jugendbewegung aufnehmen konnte.
1Guardini, Romano Berichte aus meinem Leben. Dusseldorf: Patmos, 1984, 20.
2Guardini, Romano Vorschule des Betens. Einsiedeln: Benziger, 41954, 251f. Hier findet sich eine Parallele zu Guardinis Traum, das personliche Angesprochensein jedes Menschen durch Gott: „Die Menschen stehen
vor Gott nicht im Dutzend, sondern jeder ist fur Ihn so da, als ob er der einzige ware. Seinen letzten Ausdruck findet das Verhalnis in dem wunderbaren Wort der Apokalypse: ,Dem Sieger will Ich geben vom verborgenen
3Guardini, Romano Stationen und Ruckblicke. Wurzburg: Werkbund, 1965, 12.
4Ein Beamter, der die Kontrolle uber das Munzwesen, die Qualitat der Gold- bzw. Silberlegierung und des Gewichts zu achten hatte.
5Guardini Stationen, 12: „Wir heutigen legen Wert darauf, durch BewuBtheit und Kritik aufgeklart zu sein; so steht es uns nicht recht an, von Vorzeichen zu sprechen. Manchmal kann man aber doch nicht umhin, solche zu empfinden.“
6Guardini Berichte, 58: „So wuchsen wir ganz im Hause auf. Das Kinderzimmer, dann, als wir groBer wurden, das eigene Zimmer mit seinem Bett, seinem Arbeitstisch und seinem Schrank, bildeten unsere Welt. [...] Was bei anderen Jungen selbstverstandlich war, in Spiel und allerlei Unternehmungen zusammen zu sein, fiel bei uns fast ganz weg. Praktisch gesprochen, gingen wir zu niemand, und niemand kam zu uns.“
7Guardini Berichte, 60f. Dazu versohnlicher in einem Brief an Freund Josef Weiger: „Du weiBt eigentlich fast nichts daruber. Wie Eltern und Bruder sind, wie ich selber aufwuchs, in mancher Beziehung trotz der Stadt einsam wie Du droben auf Deinem Berg [,SchloB Zeil, Geburtsort Weigers, liegt hoch oben auf einem Berg bei Leutkirch.‘, Anm. zur Stelle von H.-B. Gerl-Falkovitz], und wie jeder von uns ein Stuckchen vom Sonderling in sich hat, das ihm wohl eine eigene Welt schafft, aber auch manches Hemmnis dazu. Und doch mocht’ ich es nicht anders haben. Es war doch ein Meisterstuck von Mutter, mitten im fremden Land, ohne Hilfe, einen Kreis zu ziehen, und nichts hereinzulassen, was nicht ihres Geistes war.“ Guardini, Romano „Ich fuhle, daB GroBes im Kommen ist.“ Romano Guardinis Briefe an Josef Weiger 1908 - 1962. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Hrsg.). Paderborn: Ferdinand Schoningh, 2008, 126
8Guardini, Romano Briefe uber Selbstbildung. Mainz: Matthias Grunewald, 1930, 14f.
9Gerl, 70.
10Guardini, Romano Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten. Mainz: Der Werkkreis bei Matthias Grunewald, 31985, 10. Als „Der Gegensatz“ 1925 erscheint, schreibt Guardini im Vorwort: „Das Buch ist Karl Neundorfer zu eigen gegeben. Ginge es nach voller Gerechtigkeit, so muBte sein Name mit unter dem Titel stehen. Er weiB, wie diese Gedanken entstanden sind. Sie gehoren auch ihm, und nicht nur dadurch, daB so mancher aus ihnen, und so manches an allen von ihm stammt.“ Im August des nachsten Jahres verungluckt Neundorfer todlich in den Bergen.
11Vgl. 7
12In Mooshausen war Weiger uber vierzig Jahre lang Pfarrer und hier ist er auch auf dem Kirchhof begraben. Heute beherbergt das Pfarrhaus eine Gedenk- und Begegnungstatte des „Freundeskreis Mooshausen e. V.“, der sich fur den Erhalt der Raumlichkeiten einsetzt und durch zahlreiche Veranstaltungen das Gedenken an die beruhmten Bewohner wahrt.
13Guardini Weiger, 68 (Mainz, 25.06.1912).
14Weiger, Josef Briefe an Romano Guardini. Munchen: Staatsbibliothek, Ana 342, 6.9.1958
15Guardini Berichte, 67f.
16Guardini Berichte, 94: „Eine groBe Freude haben an dem Tag [Primizmesse Guardinis, A. M.] auch jene beiden Menschen gehabt, die mir so etwas wie geistige Eltern gewesen waren, namlich Herr und Frau SchleuBner. Sie haben das Ereignis als Kronung von viel Geduld und Sorge empfunden, die sie im Laufe mancher Jahre um mich hatten. Viel schone Moglichkeiten sind versunken, als Frau SchleuBner drei Jahre nachher, am 15. Juni 1913 starb.“
17Guardini Kirche, 11: „Ein religioser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche erwacht in den Seelen. Das will recht verstanden sein. Vorhanden war sie stets [...] Der Glaubige lebte wohl in der Kirche und war von ihr gefuhrt; er lebte aber immer weniger die Kirche. Das eigentlich religiose Leben neigte immer mehr in den Bereich des Personlichen.“ (s. 5)
18Guardini Kirche, 15.
19Guardini Berichte, 60f.: „Was das Religiose angeht, so waren die Eltern glaubig. Vater [...] ging jeden Sonntag zur Kirche, sprach aber uber religiose Dinge so gut wie nie. Mutter war fromm in einem sehr innerlichen und herben Sinne. [...] Morgen- und Abendgebet, der sonntagliche Kirchenbesuch usw. waren fur uns selbstverstandlich; im Ubrigen wurde uber Religioses nicht ohne besonderen AnlaB geredet.“
20Guardini Berichte, 61
21Guardini Berichte, 72
22Ebd.
23Ebd.
24Guardini, Romano Vom Geist der Liturgie. 1918, ecclesia orans
25Guardini Vom Geist der Liturgie, 45f. Guardini fahrt fort: „Hier liegt etwas Ahnliches vor wie im Staatsleben. Der Staat ist mehr als die Gesamtzahl der Burger, Behorden, Gesetze und Einrichtungen usw. Die Glieder des Staates fuhlen sich nicht nur als Teile einer groBeren Zahl, sondern irgendwie als Glieder eines ubergreifenden lebenden Einheitswesens. Etwas Entsprechendes, freilich in einer wesentlich anders gearteten Ordnung, der ubernaturlichen, stellt die Kirche dar.“ (ebd.)
26Guardini Weiger, 37: „Nun bin ich also Oblate. Ich weiB ja eigentlich praktisch noch nicht viel damit anzufangen. Ich lese taglich die Perikope der heiligen Regel und bete zum hl. Benedikt. Aber ich hoffe es kommt mit der Zeit.“
27Vgl. Gerl, 96. Guardini war als Kind und Jugendlicher selbst in der Juventus.
28„So bin ich denn 1920 zu Ostern selbst hinauf gegangen, und das hat fur mich Folgen gehabt wie wenige Dinge sonst; denn damals ist in mein Leben eine starke Welle von dem eingestromt, was Jugendbewegung heiBt.“ Rede am Pfingstmontag 1949, in: Burgbrief 1949, zitiert nach: Gerl, 153
29Mogliche Gemeinschaft, in: Schildgenossen 8 (1928), 384ff., zitiert nach: Gerl, 233
30Koch wurde spater (1916) wegen modernistischer Tendenzen aus dem Universitatsdienst entlassen, was Guardini und seine Freunde sehr bedauerten: „Wenn nur Koch innerlich gut und frei hindurchkommt, das sorgt mich am meisten; wenn’s ihn nur innerlich nicht zu sehr mitnimmt!“ Guardini Weiger, 103, (Freiburg, 13.07.1913)
31Guardini Berichte, 81ff.
32Guardini Berichte, 89ff.
33Fur jemanden, der die Entwicklung des Verhaltnisses von Seminar und Universitat in verschiedenen Etappen in Erfurt, also im Osten Deutschlands, kennengelernt hat, ist die Einschatzung Guardinis hoch interessant und auf ihre Weise prophetisch: Zunachst sind in der schwierigen Zeit des DDR-Sozialismus Kirche und Staat vollig getrennt, damit auch das Philosophisch-Theologische Studium allein unter der Aufsicht der Kirche, aber eben auch ohne staatliche Anerkennung. Nach der Wende kommt es dann zur Eingliederung der Katholischen Fakultat in die staatliche Universitat Erfurt und es beginnt und kann das beginnen, was Guardini erhofft.
34Guardini Berichte, 91f.
35Brief an Alfred Schuler vom 9.3.1925 (Besitzt Anny Schuler), zitiert nach: Gerl, 79.
36Wobei Guardini sofort im folgendne Satz relativierend hinzusetzt: „Im ubrigen ist wohl klar, daB ich damit keinerlei Wertung aussprechen will. Ja ich bin sogar bereit, zuzugeben, daB in der Okonomie des christ- lich=kirchlichen Lebensganzen der erste Typus fuhren wird.“ Guardini Berichte, 99f.
37Guardini Berichte, 106.
38Guardini Berichte, 107. Eine interessante Erfahrung, die in der neu aufgebrochenen Diskussion zur „Tridenti- nische Messe“ Beachtung verdient.
39Guardini Berichte, 110. (s. dazu 10.3.7 bzw. S. 245)
40Guardini Berichte, 43.
41Gerl, 294f.: „In Berlin versuchte Sonnenschein, Guardini in seine Arbeit einzubeziehen; dieser wehrte sich aus dem richtigen Instinkt, hier - wie es Sonnenscheins Art war - zu sehr der Sache wegen ausgenutzt zu werden.“
42Guardini schreibt mitten im Ersten Weltkrieg einen Aufsatz, der seine Vorstellung von kirchlicher und allgemein menschlicher Gemeinschaft entwirft und der als ein Schlusseltext fur alle nachfolgenden Realisierungen von Gemeinschaft zu betrachten ist: Die Bedeutung des Dogmas vom dreieinigen Gottfur das sittliche Leben der Gemeinschaft (1916). Der Text selbst wird als theoretischer Ansatz naher im systematischen Teil, der Wurdigung von Guardinis Gemeinschaftsverstandnis, ausgewertet (s. Kapitel 9). Seiner Wichtigkeit halber ist er im Anhang dieser Arbeit (s. 12.1) ungekurzt wiedergegeben und kann naturlich auch schon an dieser Stelle gelesen werden.
1Vgl. 3.4
2Guardini Vom Geist der Liturgie, 22: „An der Liturgie kann das ubrige geistliche Leben am leichtesten seine Fehler erkennen, und an ihr wird es sich am sichersten wieder auf die Via ordinaria zuruckfinden.“
3Guardini Vom Geist der Liturgie, 110
4Guardini Weiger, 211. In einem Brief von 1917 bereits an seinen Freund Weiger: „Es ist eine der allerele- mentarsten Fragen fUr die Existenz der Kirche, daB das Volk das Gottesdienstliche Leben wirklich mitmache. Geschieht das nicht, so gibt es keine Revolution, sondern etwas viel Schlimmeres: die Glaubigen werden immer gleichgultiger, gerade die selbstandigeren unter ihnen, und bleiben einfach weg. Dann haben die Betschwestern die Kirche allein. Man schreibt und spricht Uber alle moglichen Pastoralfragen; aber Uber die eigentlichen, was denn z. B. das Volk (und zwar das wirkliche, heutige) in seinem Verhaltnis zu Gott fordere, was hemme, wie diese, wie jene Andachtsform wirke, u. s. w., daruber nichts.“
5So sagt es auch das Wort selbst: leiturgia - „eigentlich Volksdienst, jeder dem Volke oder Staate geleistete Dienst [bzw. Werk, gr. drgon, lat. opus, A.M.], besonders in den Demokratien wie in Athen, ein offentliches Amt, das der reichere Burger, wenn ihn die Reihe traf, oder wenn er auBerordentlich dazu beordert wurde, ubernahm, so daB er die dazu erforderlichen Kosten aus seinem eigenen Vermogen bestritt“, in: leiturgia, Pape, Wilhelm Griechisch-Deutsch. Altgriechisches Worterbuch, Faksimile-Ausgabe, 3. Aufl. 1914. Berlin: Directmedia, 2005, 26, Bd. 2.
Spater setzt sich das Wort als Bezeichnung fur die gottesdienstliche Feier durch „und bleibt im Osten im Gebrauch, wenn inzwischen dort auch (seit 5. Jh.) ausschlieBlich auf die Eucharistiefeier eingeschrankt. [...] Seit dem Vat. II ist Liturgie endgultig und weltweit in der Kirche zu einer ublichen Bezeichnung geworden. Im deutschen Sprachraum hat sich indes zunehmend der Gebrauch des sprachgeschichtlich neuen Wortes ,Gottesdienst‘ (Ubersetzung des altkirchlichen ,Opus dei‘) durchgesetzt, in dieser verengten Bedeutung zu Lasten des ursprunglich weiten Sinnes (,Gott‘ als Genitivus subjectivus oder Genitivus objectivus); deshalb ,opus dei‘ offen fur eine Bezeichnung des ganzen christlichen Lebens.“, A. A. Haussling, in: LThK, Liturgie, I. Begriff.
6Guardini Vom Geist der Liturgie, 45.
7S. 12.1
8Zur Lekture dogmatischer Werke gehorte fur Guardini auch PILGRAM, FRIEDRICH Physiologie der Kirche. Forschungen uber die geistigen Gesetze, in denen die Kirche nach ihrer naturlichen Seite besteht. Mainz: Matthias Grunewald, 1931 (1. Aufl. 1860), das sicher Guardinis Kirchenbegriff beeinfluBt hat, wennesdort etwa heiBt, daB „von der Kirche ausgesagt wird, daB sie eine Einheit sei, daB die Einheit selbst als solche das Grundverhaltnis und Gesetz an ihr ausmache, das findet sich vom Herrn selbst ohne alles Bild ausdrucklich gesagt, wenn er im 21. und 22. Verse des 17. Kapitels des Johannes-Evangeliums die Vereinigung und Einheit der Glaubigen mit Ihm und in Ihm mit dem Vater als das Grundverhaltnis und Ziel hervorhebt, in dem die Christen mit Gott und unter sich stehen sollen, und zugleich diese Einheit als das hochste und allgemeinste Ziel seines Gebetes ausspricht. Diese Einheit kann aber keine nur innere und bloB geistige, sie muB notwendig eine reale und auch auBerlich erkennbare sein, denn die Welt soll ja erkennen, daB Christus von Gott gesandt sei, — ,damit die Welt glaube, daB du mich gesandt hast‘.“ (ebd. 13)
9SC2. Nach SC 10 „ist die Liturgie der Hohepunkt [culmen], dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich Quelle [fons], aus der all ihre Kraft stromt.“
10z. B. in: „Vom Sinn der Kirche“ (1922) und „Moglichkeiten und Grenzen der Gemeinschaft“ (1930)
11„Die Trinitat - Magna Charta jeder menschlichen Gemeinschaft“ (1916)
12Guardini Vom Geist der Liturgie, 143: [Sie] „hat etwas an sich, was an die Sterne erinnert, an ihren ewig gleichen Gang, ihre unverrUckbare Ordnung, ihr tiefes Schweigen, an die unendliche Weite, in der sie stehen. Die Liturgie scheint aber nur sich um das Handeln und Streben und den sittlichen Stand der Menschen so wenig zu bekummern. Denn in Wirklichkeit weiB sie sehr wohl: wer in ihr lebt, wird wahr, gesund und befriedet in seinem innersten Wesen.“
13Guardini Vom Geist der Liturgie, 53
14Guardini Vom Geist der Liturgie, 17f: „Es dreht sich nun nicht mehr um Weisen des geistlichen Verhaltens, die nur einem augenblicklichen Bedurfnis genugen sollen, sondern um bleibende Einrichtungen, die fort- wahrend ihren EinfluB auf die Seele ausuben. Sie sollen nicht einem einmaligen Zustand Ausdruck geben, sondern dem durchschnittlichen Leben des Alltags gerecht werden. Sie stellen die geistliche Form nicht eines bestimmt gearteten Menschen dar, sondern einer aus den verschiedensten Veranlagungen zusammengesetzten Gesamtheit.“
15S. 3.4 und S. 191
16Guardini Vom Geist der Liturgie, 19, Fn. 1: „So wie ihre [der Kommunion in der Liturgie, A. M.] volle sittlich- tatige Kraft erst frei wird, wenn sie mit den Aufgaben des Gemeinschaftslebens, mit Familie, christlicher Karitas [sic!] und Berufsarbeit in Beziehung gesetzt wird.“
17Guardini Vom Geist der Liturgie, 20.
18Guardini Vom Geist der Liturgie, 20: „In ihr [der Liturgie, A.M.] soll Gott durch die geistliche Gemein- schaftseinheit als solche verehrt und diese in und durch solche Verehrung ,auferbaut‘ werden.“
19S. 8.2
20Guardini Vom Geist der Liturgie, 21
21Guardini bezieht sich hier vor allem auf die paulinischen Schriften, vgl. u. a. Rom 8,22; Eph 1,10; Kol 1,24. Guardini Kirche, 23f.: „Sie erfaBt das Volk; sie erfaBt die Menschheit. Sie zieht auch die Dinge, die ganze Welt in sich hinein. [...] In ihr beginnt bereits die groBe Wiedergeburt“: die Kirche als mystischer Leib Christi und Christus das Haupt seiner Kirche. „In der Kirche ist alles mit Gott verbunden, Engel und Menschen und Dinge.“
22A. Schilson, in: LThK, Lex orandi - lex credendi,
23Guardini Vom Geist der Liturgie, 23
24Guardini geht es um die Objektivitat in der Liturgie. Dazu KNOLL, Alfons Befremdendes Spiel? Guardinis Deutung der Liturgie als theologische Herausforderung. In: zur debatte, Zeitschrift der Akademie, Katholische Akademie in Bayern, 2008, 33: „Guardini kann auf diese Objektivitat umso besser verweisen, als in der Kultur der damaligen Gegenwart [Anfang des 20. Jahrhunderts, A. M.] ein neuer Sinn fur das ,Objektive‘ zu beobachten ist und so freut er sich unverhohlen uber das Ende eines radikalen Subjektivismus. Allerdings bleibt er sich auch der Problematik bewuBt, die aus dem objektiven Verhalten Charakter fur den Menschen in seiner konkreten Subjektivitat entsteht - und gerade diese Problematik ist es, der er sich in seinen Schriften immer wieder stellt. Zum einen versucht er darin namlich, die liturgische Objektivitat in einer Weise darzustellen, daB sie dem Subjektiven gerade Raum gibt - starker als ein reiner Subjektivismus, in dem die Individuen im Fortschreiten ihrer Selbstverwirklichung einander immer fremder werden. Zum anderen realisiert er - in Abhebung von anderen liturgisch Bewegten der damaligen Zeit -, daB die Liturgie in ihrer Objektivitat eben nicht die einzige Form der Frommigkeit darstellt, sondern daB sie notwendigerweise eingebettet bleibt in die gesamte Bandbreite des religiosen Lebens“.
25Guardini Vom Geist der Liturgie, 25: „Der dogmatische Gedanke macht frei von der Knechtschaft des Gemutes, von der Verschwommenheit und Tragheit des Gefuhls. Er macht das Gebet klar und fur das Leben wirksam.“
26Ursprunglich beinhaltete der Begriff des Glaubens [credere] auch die Glaubenspraxis, hat sich aber seit der Aufklarung stellenweise zu einem bloBen Fur-wahr-Halten verfluchtigt.
27S. hierzu auch 8.5.1
28„Die Liturgie als Ganzes liebt das UbermaB des Gefuhls nicht. Es gluht [vgl. SC 2 auf S. 44] in ihr, aber wie in einem Vulkan, dessen Gipfel klar in kuhler Luft steht.“, vgl. Guardini Vom Geist der Liturgie, 26ff.
29Guardini Vom Geist der Liturgie, 30
30Guardini Vom Geist der Liturgie, 31, Fn.6: „Diese ermoglicht dem Menschen die Gemeinschaft mit den anderen und sichert ihn doch vor allem unberechtigten Eingriff in sein Inneres; [...] er hat eine Brucke zum Nachsten, ohne deshalb in der Menge unterzugehen.“ Hvhg. A.M.
31Guardini Vom Geist der Liturgie, 33: „Die Aufgabe, bestandig zu den hochsten sittlichen Zielen anzuspornen und doch wahr zu bleiben und dem Alltag gerecht zu werden, hat die Liturgie in bewunderungswurdigem MaBe gelost.“
32W.-D. Lange, in: Brockhaus 2008, Drama: „Idealtypisch besteht das Drama aus Rede und Gegenrede (Dialog), Schauspieler und Rolle verschmelzen zu einer Einheit“.
33M. Hutter, in: LThK, Drama
34Guardini Vom Geist der Liturgie, 35f. Guardini schreibt dies aus pastoraler Sorge. Es stellt aber ein bis heute auffalliges Phanomen dar, daB Manner am liturgischen Geschehen deutlich weniger Interesse zeigen als Frauen (groBerer Anteil am Gottesdienstbesuch).
35Guardini Vom Geist der Liturgie, 36: „[Er hat] den Leitgedanken anzugeben, hat schwierige Stucke selbst zu ubernehmen, damit sie mit hinreichender Sorgfalt zur Aussprache kommen, dem gemeinsamen Empfinden auf gewissen Hohepunkten des Gebets einen gesammelten Ausdruck zu geben, durch belehrende oder betrachtende Stucke Ruhepunkte zu schaffen usw.“
36Guardini Vom Geist der Liturgie, 37: „Seine Natur ist ein Gewebe von Adel und Armseligkeit, von Hohem und Niedrigem, und so steht er in den Gebeten der Kirche; [...] der Mensch, wie er ist.“
37Guardini Vom Geist der Liturgie, 39: „Kultur vermag keine Religion zu schaffen, aber sie stellt dieser die Mittel zur Verfugung, damit sie ihre segensreiche Wirksamkeit voll entfalten konne.“ Dies sei der rechte Sinn des oft verkannten Satzes: „Philosophia ancilla theologiae [...]. Er gilt fur die ganze Kultur.“
38Guardini Vom Geist der Liturgie, 40: „Der Mangel einer edlen, reichen Kultur wurde das geistliche Leben erstarren und enge werden lassen; ginge ihm die Grundlage gesunder Natur verloren, so muBte es suBlich, unwahr, unnaturlich, unfruchtbar werden.“
39Guardini Vom Geist der Liturgie, 47f.
40Guardini Vom Geist der Liturgie, 48: „Er muB aus seinem gewohnten Gedankenkreis heraustreten und sich eine weit reichere, umfassendere Geisteswelt zu eigen machen.“ Mit sicherem Urteil erkennt Guardini gerade dies als „eine Schwierigkeit, doppelt fuhlbar fur den heutigen Menschen, der so schwer auf seine Selbstandigkeit Verzicht leistet.“ Es geht um Demut: „Demut als Verzicht: namlich die Hingabe der eigenen Selbstandigkeit und Selbstherrlichkeit. Und Demut als Leistung: namlich die Annahme eines dargebotenen, uber die Kreise des eigenen Daseins hinausgehenden geistlichen Lebensinhaltes.“ (ebd., vgl. auch S. 245)
41Guardini Vom Geist der Liturgie, 49f.: Hier gilt es, „das eigene Lebensgefuhl aus seiner Innerlichkeit heraus uber andere auszubreiten, mit ihnen zu fuhlen, zu wollen, sich mit ihnen in einer hoheren Einheit verbunden wissen“. Dies ist gefordert fur den Umgang mit allen Menschen, auch mit „gleichgultigen, widerwartigen, ja selbst feindlich gesinnten“.
42Guardini Vom Geist der Liturgie, 51. S. auch 8.3
43Guardini Vom Geist der Liturgie, 53. Im konkreten Umgang mit dem andern heiBt das: „Stets ist es ihm uberlassen, wie weit er geistig die Fuhlung in dem sucht, was beiden gemeinsam ist, dem daruberstehenden Gott.“ (ebd.)
44Guardini Vom Geist der Liturgie, 54
45Das Wort Stil leitet sich von lat. stilus - Griffel, Schreibgerat her, macht also die Verbindung zum in Sprach- und Schriftform gebrachten Wort, gr. logos, deutlich.
46Guardini Vom Geist der Liturgie, 59: „Von Stil kann man zunachst in einem allgemeinen Sinn reden. Wir verstehen dann darunter den eigenartigen Zug, den jede echte, gultige Gestaltung als solche in sich tragt, sei es nun Kunstwerk, Personlichkeit, Gemeinschaftsleben oder was immer“.
- Quote paper
- Andreas Martin (Author), 2009, Spurbild der dreieinigen Gottesgemeinschaft., Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/149416
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