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Neben Bildhauerei, Malerei und Filmkunst stehen zu diesem Zwecke natürlich auch
Theaterspiel, Literatur und vor allem die Musik zur Verfügung. Der Liebhaber der klassischen
Musik hat die Qual der Wahl. Es existieren allein im deutschsprachigen Raum viele Komponisten,
und bezogen auf die Qualität schnalzt der Experte mit der Zunge, wenn er Namen wie
Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven und Richard Wagner in einem Atemzug nennen
kann. Doch diesen Richard Wagner wird in Reihen der großen deutschen Literaten neben
Goethe, Schiller, Thomas Mann und Günther Grass der Experte weniger in den Mund nehmen,
wenngleich Wagner das anders gesehen hätte. Wagner also sieht sich ebenso als Dichter
wie als Musiker. Deutlich gemacht hat er das mit seiner 1851 entstandenen theoretischen
Schrift „Oper und Drama“, von der auch diese Arbeit handeln soll.
Was ist dran an diesem Mann, dass er sich derartig äußern kann? Zumindest in der Musikund
Kulturforschung wird sein theoretisch-philosophisches Wirken der Zürcher Exilzeit häufig
unbeachtet gelassen. Und doch formulierte Wagner Thesen, die die Kulturwissenschaften
der Musik und Dichtung mit stärker aufgebrachtem Ernst der Leser total über den Haufen
hätte werfen können und dies in Ansätzen auch getan hat. Denn Wagner hat mit Kritik an der
Kunst und den Künstlern seiner Zeit nicht gespart und vor allem die Gattung der Oper reformieren
wollen. „Der Irrtum in dem Kunstgenre der Oper bestand darin, daß ein Mittel des
Ausdruckes (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdruckes (das Drama) aber zum
Mittel gemacht war“, formulierte er in der Einleitung zu „Oper und Drama“2 den Missstand
dieser Gattung.
Doch was will Wagner eigentlich mit dieser Schrift? Sind seine Aussagen zur Kunst – Musik
wie Dichtung – haltbar, und was soll am Ende dabei herauskommen? Schließlich stellt sich
auch überdeutlich die Frage, ob Wagner sich selbst an seine Reformforderungen gehalten hat?
Diesen Fragen will diese Arbeit nachspüren. Zum besseren Verständnis Wagners sollen im
folgenden Kapitel seine Aussagen und Thesen zu Oper, Drama und Kunstschaffen seiner Zeit
erklärt werden. Daran anschließend wird Kapitel 3 einen Einblick in die Rezeption Wagners
geben, um die Haltbarkeit seiner Ausführungen beurteilen zu können. Kapitel 4 bezweckt die
Anwendung seiner Thesen auf sein Werk.
2 Wagner, Richard: Oper und Drama, hg. v. Klaus Kropfinger, [Reclam], Stuttgart 1994, S. 19; im Folgenden als Direktzitat
im Text angegeben als OD 19.
Inhalt
1. Einleitung
2. Oper und Drama – Die Thesen Richard Wagners
2.1. Die Oper und das Wesen der Musik
2.2. Das Schauspiel und das Wesen der dramatischen Dichtkunst
2.3. Dichtkunst und Tonkunst im Drama der Zukunft
2.4. Richard Wagners Aussageabsicht
3. „Oper und Drama“ in der öffentlichen Diskussion
3.1. Unterstützung der Wagnerschen Thesen
3.2. Kritik an den Wagnerschen Thesen
4. Anwendung der Wagnerschen Thesen auf sein „Kunstwerk der Zukunft“
4.1. Analyse der Dichtung in Wagners „Ring“
4.2. Analyse der musikalischen Umsetzung des Dramas in Wagners „Ring“
5. Schlussbetrachtung: Der „Ring“ als Wagners „Kunstwerk der Zukunft“
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Es ist ein[1] erhabenes Gefühl und Verlangen der gebildeten Gesellschaft auf der ganzen Welt, sich künstlerisch zu betätigen oder sich zumindest den schon existierenden Künsten hinzugeben. Neben Bildhauerei, Malerei und Filmkunst stehen zu diesem Zwecke natürlich auch Theaterspiel, Literatur und vor allem die Musik zur Verfügung. Der Liebhaber der klassischen Musik hat die Qual der Wahl. Es existieren allein im deutschsprachigen Raum viele Komponisten, und bezogen auf die Qualität schnalzt der Experte mit der Zunge, wenn er Namen wie Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven und Richard Wagner in einem Atemzug nennen kann. Doch diesen Richard Wagner wird in Reihen der großen deutschen Literaten neben Goethe, Schiller, Thomas Mann und Günther Grass der Experte weniger in den Mund nehmen, wenngleich Wagner das anders gesehen hätte. Wagner also sieht sich ebenso als Dichter wie als Musiker. Deutlich gemacht hat er das mit seiner 1851 entstandenen theoretischen Schrift „Oper und Drama“, von der auch diese Arbeit handeln soll.
Was ist dran an diesem Mann, dass er sich derartig äußern kann? Zumindest in der Musik- und Kulturforschung wird sein theoretisch-philosophisches Wirken der Zürcher Exilzeit häufig unbeachtet gelassen. Und doch formulierte Wagner Thesen, die die Kulturwissenschaften der Musik und Dichtung mit stärker aufgebrachtem Ernst der Leser total über den Haufen hätte werfen können und dies in Ansätzen auch getan hat. Denn Wagner hat mit Kritik an der Kunst und den Künstlern seiner Zeit nicht gespart und vor allem die Gattung der Oper reformieren wollen. „Der Irrtum in dem Kunstgenre der Oper bestand darin, daß ein Mittel des Ausdruckes (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdruckes (das Drama) aber zum Mittel gemacht war“, formulierte er in der Einleitung zu „Oper und Drama“[2] den Missstand dieser Gattung.
Doch was will Wagner eigentlich mit dieser Schrift? Sind seine Aussagen zur Kunst – Musik wie Dichtung – haltbar, und was soll am Ende dabei herauskommen? Schließlich stellt sich auch überdeutlich die Frage, ob Wagner sich selbst an seine Reformforderungen gehalten hat? Diesen Fragen will diese Arbeit nachspüren. Zum besseren Verständnis Wagners sollen im folgenden Kapitel seine Aussagen und Thesen zu Oper, Drama und Kunstschaffen seiner Zeit erklärt werden. Daran anschließend wird Kapitel 3 einen Einblick in die Rezeption Wagners geben, um die Haltbarkeit seiner Ausführungen beurteilen zu können. Kapitel 4 bezweckt die Anwendung seiner Thesen auf sein Werk. Eine Analyse der dramatischen Dichtung und der musikalischen Umsetzung seines „Ring des Nibelungen“ – am Beispiel der „Götterdämmerung“ – soll diesen Thesen gegenübergestellt werden. Darüber hinaus kann diese Analyse dazu dienen, zu klären, ob Wagners „Oper und Drama“ wirklich eine ernstzunehmende Reformschrift ist, oder man annehmen muss, dass Wagner sich lediglich eine Gedankenordnung und Rechtfertigung für seinen „Ring“ zurecht gelegt hatte.
2. Oper und Drama – Die Thesen Richard Wagners
Richard Wagner erachtet sein Anliegen, sich deutlich über das Kunstschaffen seiner Zeit, vor allem bezüglich der Operngattung, auszusprechen, als besonders wichtig, da er Missstände beobachtet hat, die ihm keine Ruhe lassen. Die Opernkomponisten seiner Zeit scheinen sich durch unkünstlerisches Wirken „auszuzeichnen“. Er strebt an, „den Grund der Unfruchtbarkeit unseres jetzigen Kunstschaffens aufzudecken [... und gleichzeitig ...] die Bedingungen künftiger Fruchtbarkeit desselben zu bezeichnen“ (OD 7). In „Oper und Drama“ geht er zuerst auf die musikalischen Aspekte der Oper ein.
2.1. Die Oper und das Wesen der Musik
„Wenn wir heutzutage von Opernmusik im eigentlichen Sinne reden, sprechen wir nicht mehr von einer Kunst, sondern von einer bloßen Modeerscheinung.“ (OD 109) Dieses harte Urteil fällt Wagner, nachdem er zuvor nicht nur von der Kunst, sondern auch von der diese fassenden Wissenschaft enttäuscht wird. Denn laut allgemeinem Lexikon ist die Oper ein „Bühnenwerk, in dem Musik, Dichtung, Gesang [...und anderes ...] vereinigt sind. [Aber] „der Form nach ist die Oper [nur] eine Aneinanderreihung geschlossener Musik-Stücke“[3]. Für Wagner ist demnach eines völlig klar: Die Entwicklung der Oper führte nicht zur künstlerischen Wahrheit, sondern ist eine „Geschichte des Irrtums“ (OD 15).
Nach Wagner sei der Ursprung der Opernmusik im Volkslied und im Tanz anzusiedeln, wie sie im Mittelalter geprägt wurden. Die Liedform wurde in Italien zu einer künstlerischeren Arienform, die den gesanglichen Teil über den inhaltlichen stellte. Die Oper entstand somit nicht im Volke, sondern an den italienischen Höfen und in der Bildungsbürgerschicht Italiens. Dadurch verlor die Oper ihren natürlichen bzw. historischen Ursprung (OD 16), indem die Opernkomponisten das natürliche Volksliedgut künstlich mit musikalischen und gesanglichen Finessen aufbereiteten. „Die musikalische Grundlage der Oper war [...also...] die Arie, die Arie aber wiederum nur das vom Kunstsänger der vornehmen Welt vorgeführte Volkslied, dessen Wortgedicht ausgelassen und durch das Produkt des dazu bestellten Kunstdichters ersetzt wurde.“ (OD 24) Den inhaltlichen Mittelpunkt in dieser Arien- bzw. Opernform fand nicht die Dichtung, sondern vielmehr die Musik. (Vgl. OD 21)
Der Einfluss auf das Kunstschaffen von Opern läge in den Händen der Komponisten, führt Wagner seine Argumentation weiter. Allerdings erwarteten die Kritiker der Kunst „das Drama in höchster Fülle und Potenz“ (OD 17), doch wurde diese Erwartung nicht an den Dichter, sondern an den Musiker herangetragen, was Wagner als höchst inakzeptabel einstuft. In diesem Zusammenhange zweifelt er auch an, dass dies im Interesse des Musikers läge. Denn dann müsste der Komponist ja darauf achten, dass die Musik nicht nur den Ausdruck der Dichtung, sondern gleichzeitig auch den Inhalt transportiere und somit eingeschränkt wäre. Vielmehr gehe es dem Komponisten aber wohl darum, seine Musik prächtig zu präsentieren und dem Sänger einen glänzenden Vortrag zu ermöglichen. „Er will die Wirkung, nicht aber die Ursache, die eben nicht in seiner Macht liegt“ (OD 104). Die Oper verkam somit zu einer Gesangsdarbietung und erreichte nie die kunstvolle Plattform. „Das rein menschliche Charakteristische ist in unserer Oper [somit] von vornherein als farblose, nichtsbedeutende Ariensänger-Maske verbraucht“ (OD 65), erfasst Wagner aufs Schärfste. Mit dieser Art und Weise mit der Operngattung und dem Inhalt der Oper umzugehen, sorgte für die Bedeutungslosigkeit der Dichter wie der Dichtung, denn diesen Part nahm nun der Musiker zwangsläufig ein und er wurde dafür gefeiert. Wenn noch Dichter am Werk waren, so mussten sie „undramatische Dichtungen schreiben als Diener der Komponisten, damit diese dann großartig“ (OD 33) auftrumpfen konnten. Mit dieser Art der Opernkunst verließ der Dichter seine natürliche Aufgabe und entfremdete sich von sich selbst. Diesen Stand der Opernkunst konstatiert Wagner für seine Zeit. Die Fehlentwicklung begann allerdings schon früher. Er versucht dies in der Musikgeschichte nachzuzeichnen.
Seiner Einschätzung nach gäbe es zwei Arten von sogenannten Tondichtern, nämlich die ernsten, die Verantwortung für ihr künstlerisches Schaffen übernähmen, und die frivolen, die sich durch Experimente im Umgang mit der Kunst bemerkbar machten und individuelle materialistische Vorteile aus ihr zögen. Seine Kritik am Opernschaffen geht dabei in erster Linie an die ernsten Tonkünstler. In dieser Kategorie unterscheidet er eine reflektierende Richtung derer, die sich ernsthaft um künstlerisches Vorankommen bemühten, und eine naive Richtung derer, die allein durch ihr Talent das Potenzial für großartige Opernwerke besäßen. Doch allen diesen traut Wagner nicht zu, den dichterischen Part mit zu übernehmen, zumal das auch nicht in der Natur der Sache liege. Vielmehr macht er darauf aufmerksam, dass nicht die Kombination aus Musik und Dichtung im Mittelpunkt des Operninteresses stand, sondern eher noch die absolute Musik an sich. Mit dem Komponisten Christoph Willibald Ritter von Gluck sieht Wagner noch die ernsthaft reflektierenden Versuche, „die in der Textunterlage bezeichneten Empfindungen so getreu wie möglich durch den musikalischen Ausdruck wiederzugeben [...und...] in der Musik richtig und verständlich zu sprechen.“ (OD 85) Der talentiert-naive Mozart dagegen, den Wagner sehr schätzte, zerlegte die Melodiestücke des ursprünglichen Volksliedes in kleine und kleinste Musikstückchen und gab dem Text schon nicht mehr so große Chancen, wenn er diese musikalischen Motive wieder zusammenfügte. Doch in dieser unnatürlich sich artikulierenden Oper war das weniger ausschlaggebend als vielmehr die Tatsache, dass sich jeder, der nur etwas Musik im Leibe hatte, an der Oper versuchen konnte. (Vgl. OD 40) In Italien tat das Gioacchino Rossini und schlug damit eine ganz neue Richtung ein. „Als das einzige Lebendige in der Oper sah Rossini die absolute Musik“[4] an, so dass er das Drama für den dramatischen Ausdruck der Musik opferte (vgl. OD 91/92) und den Dichter in Italien „zur völligen Null“ (OD 97) degradierte.
Bei Rossini würde Wagner gern das Ende des Irrtums der Operngeschichte ansetzen, da hier der Dichter bereits aus der natürlichen Sache herausgefallen sei. Zwar vernahm er noch die Bemühungen van Beethovens, der seiner Musik den nötigen inhaltlichen Sprachanstoß fast verpasst habe, und Hector Berlioz, der die kleinen Musikstückchen geschickt mit Hilfe seines technisch versierten Orchesters zu maximaler Blüte trotz minimalen Inhalts erhöhte. Doch in einem Nachfolger der rossinischen Tradition verzweifelte Wagner: Jakob Meyerbeer hieße den Dichter, „den ungesündesten Schwulst, [...] Aktionen ohne Handlung, Situationen von der unsinnigsten Verwirrung, Charaktere von der lächerlichsten Fratzenhaftigkeit“ (OD 99) zu kreieren, um auf diese Weise der Komposition einen noch höheren Welt rettenden Charakter zu geben. (Vgl. OD 69) Die Meyerbeersche Oper ziele somit nur auf die „Wirkung ohne Ursache“ (OD 101) und bedeutete für Wagner den „offenkundige(n) Tod der Oper“ (OD 18).
Doch Wagner sieht noch eine Chance für die Oper als das von ihm propagierte „Kunstwerk der Zukunft“. Denn die Musik sei nur der gebärende, weibliche Anteil des natürlichen Kunstwerks und des Menschen an sich. Und wie zu einem vollständigen Menschen auch ein männlicher Anteil gehört, gehöre zur Musik auch ein zeugender dichterischer Anteil. „Wollt ihr mehr, so müßt ihr euch nicht an den Musiker, sondern an den Dichter wenden.“ (OD 31)
2.2. Das Schauspiel und das Wesen der dramatischen Dichtkunst
Der Dichter wird zur Zeit Wagnerschen Opernschaffens, wie bereits erwähnt, nicht zu schätzen gewusst. Seine zeugende Einwirkung auf das „Kunstwerk der Zukunft“ hat sich bei den Opernkomponisten nicht bemerkbar gemacht. Wagner dagegen bemüht sich sehr um seinen „männlichen Nachwuchs“, indem er zuvorderst das Drama als die relevante Komponente der Opernkunst herausstellt und die Bedeutung des modernen Dramas in der Entstehungsgeschichte zu beweisen sucht.
„Das moderne Drama hat zweierlei Ursprung: einen natürlichen, unserer geschichtlichen Entwickelung eigentümlichen, den Roman und einen fremdartigen, unserer Entwickelung durch Reflexion aufgepfropften, das, nach den mißverstandenen Regeln des Aristoteles aufgefaßte griechische Drama.“ (OD 132) Wagner sieht aber nicht, wie man annehmen müsste und wie es die Dramengeschichte in Deutschland „normalerweise“ akzeptieren würde, das griechische Drama bzw. die griechische Kunst als mimetisches Vorbild der deutschen Dramatiker an, sondern erkennt die eigentliche Quelle des modernen Dramas im Roman. Er begründet diese Annahme wie folgt: Bereits von seiner natürlichen Prägung her triebe es den Menschen zur Schilderung von Ereignissen und Umständen. Entscheidend sei die Schilderung der Handlung, um die es im modernen Drama doch letztlich gehe. Doch in der Handlung existierten ja bereits das Ereignis, die Umstände und auch Orte und Zeiten, so dass der Roman im Drama also bereits enthalten sei. Den Entdecker dieses Zusammenhangs erkennt Wagner in William Shakespeare, der historische Ereignisse und Schilderungen in seinen Theaterstücken verarbeitete. „Shakespeare [...] verdichtete den erzählenden Roman zum Drama, indem er ihn gewissermaßen für die Darstellung auf der Schaubühne übersetzte.“ (OD 135) Durch diese Verdichtung verlor die Materie nicht an Gehalt, sondern sie gewann an Darstellbarkeit, Niveau und künstlerischer Motivation. „Die Bewältigung des äußeren Stoffes zur Kundgebung der inneren Anschauung von dem Wesen dieses Stoffes konnte nur dann gelingen, wenn der Gegenstand selbst in überzeugendster Wirklichkeit den Sinnen vorgeführt wurde, und dies war eben nur im Drama zu ermöglichen“ (OD 135), stellt Wagner fest. Damit wurde die Rolle des Dichters derart zugeschnitten, dass die Verdichtung des Stoffes die hauptsächliche Aufgabe des dichtenden Verstandes gegenüber dem musikalischen Teil der Oper wurde. (Vgl. OD 218)
Aus dieser Bedeutungsaufwertung des Dichters leitet Wagner ab, dass der Stoff in Dramenform die Möglichkeit schaffe, den Stoff als „ein in sich abgeschlossenes Ganzes“ (OD 137) weitergeben zu können. Neben Shakespeare gesteht Wagner noch eine zweite Form des verwandelten Romans in Dramenform zu, nämlich die Konzentration auf die Äußerlichkeit der Rede, also das Gegenstück zu Shakespeare, die Jean Baptiste Racine vermittelte. Zwischen diesen beiden von der Natur der Sache abstammenden Formen hielt sich die restliche Dramenvielfalt auf, zu der auch die deutsche Dramatik gehörte. Alle diese verband eine nicht so natürliche Gestaltung, was Wagner am Drama in deutschen Landen zu kritisieren weiß. Denn in Deutschland pendelte der Dichter zwischen der Produktion von Dramen für den stummen Lesegebrauch und der künstlich-imitierenden griechischen Dichtkunst nach Aristoteles. (Vgl. OD 147) Er hatte einfach noch nicht das Vermögen, seine poetischen Gedanken gemäß Wagnerscher Idee in die Öffentlichkeit und damit Wirklichkeit des Dramas zu werfen. Doch genau in diesem Punkte sieht Wagner den „Scheidepunkt des mittelalterlichen, bis zur Seichtigkeit des bürgerlichen verflachten Romans und des wirklich dramatischen Stoffes der Zukunft.“ (OD 149) Von einem deutschen Drama durfte also noch keine Rede sein. Für ihn stand fest, „daß wir kein Drama haben und kein Drama haben können; daß unser Literatur-Drama vom wirklichen Drama“ (OD 158/159) sehr weit entfernt sei. Es sei allerdings sehr wichtig für den Menschen, sich im Drama wiederzufinden, statt im Roman, der bekanntlich ein erzählender, also historischer ist, allein den unfreien Staatsbürger aufzuspüren (Vgl. OD 180). Denn der Roman sei degeneriert und politisiert. In dieser Politisierung zeige sich zu sehr die Geschichte, die Wagner als Thema des modernen Dramas aufs Schärfste ablehnt.
Statt dessen bemüht er einen anderen Stoff als den für das moderne Drama und sein „Kunstwerk der Zukunft“ würdigen, nämlich den Sagenstoff bzw. den Mythos. Das Drama soll schließlich zur Wiederherstellung und Wiederfindung des natürlichen Menschen, des „rein menschlichen“ dienen. Doch das kann es nicht im geschichtlichen Roman, der all das erklärt, was der Mensch im rein menschlichen einzig nicht finden kann. (Vgl. OD 179) Wagner bestreitet die Wirksamkeit der Geschichte der Menschheit für das Drama; bei Schiller sei es ungeeignet gewesen, in Goethes Götz von Berlichingen verfügten die historischen Momente nur Probleme der szenischen Darstellung und dramatischen Form.[5] Zudem stellt Wagner fest, „der Mensch könne die Vielfalt der Ereignisse, die sich über Zeit und Raum verteilen, nicht verstehen“[6] und benötige somit für das Verständnis einen zum Drama verdichteten Stoff, der in Wagners Ideal im mythischen Stoff liegt. „Im Mythos mit seinen archetypischen Situationen findet Wagner die geistigen [...] Wurzeln der Menschheitsgeschichte, die alle Zeiten überdauern und unerschöpflich sind.“[7] Ihren absoluten Wahrheitsgehalt müsse der Dichter nach Wagner nur noch deuten.
So wie schon im alten Griechenland die absolute Kunst in der Verwirklichung des griechischen Mythos in der griechischen Tragödie lag, fasst Wagner in der Verwirklichung und Ausdeutung des Mythos die absolute Kunst des Reinmenschlichen, somit die Rückkehr zur ursprünglichen Natur des Menschen. „Gott und Götter sind die ersten Schöpfungen der menschlichen Dichtungskraft als Ursache für das Wesen der natürlichen Erscheinungen, die einzig nur im menschlichen Wesen begründet sind.“[8] Im Mythos werde das Volk also selbst zum Schöpfer der Kunst. (Vgl. OD 162) In der Deutung des Mythos erkenne der Dichter die Menschheitsgeschichte von ihrem Anbeginn bis zu ihrem Untergang. „Die Notwendigkeit dieses Untergangs ist im Mythos vorausempfunden; an der wirklichen Geschichte ist es, ihn auszuführen.“ (OD 200) Mit dieser Wendung hin zum ursprünglich Natürlichen zeigt Wagner seine Idee, wie das „Kunstwerk der Zukunft“ aussehen soll und die Oper durch eine dramatische Dichtung künstlerisch aufwertbar wird.
Die Form der dramatischen Dichtung als Wendung hin zur natürlichen Notwendigkeit bestimmt Wagner im Stabreim als der ältesten Form sprachlichen Wirkens. Im Stabreim werden verwandte Sprachwurzeln genauso wie ähnliche Gegenstände zueinander geordnet und damit im Gesamtbild ein künstlerischer Abschluss machbar. Denn eines müsse der Dichter an dieser Stelle bedenken. Er sei die zeugende Komponente des absoluten Kunstwerks, nicht aber die gebärende. Somit könne er mit seinem dramatischen Wirken lediglich einen vermittelbaren Inhalt erfassen. Er müsse allerdings auf die Ausdrucksseite im Hinblick auf das Gesamtkunstwerk in Form der Oper verzichten. Der Dichter, der den Verstand einsetzt, um das Drama zu schaffen, wirke allerdings auf den Ausdruck hin und strebe ständig dem Gefühl entgegen, das allerdings nur die Musik transportieren könne, meint Wagner. „Die Natur in ihrer realen Wirklichkeit sieht nur der Verstand“ (OD 225), aber nur zusammen mit dem Gefühl könne sich eine Einheit verbinden, die das Reinmenschliche fasst, aus dem Dichtung wie Musik, Verstand wie Gefühl, als der natürlichsten Quelle des vom Menschen geschaffenen Kunstwerks, gespeist werden. Darin kämen der weibliche Teil und der männliche Teil in Liebe zusammen. (Vgl. OD 243)
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[1] Diese Arbeit wurde in neuer Rechtschreibung verfasst. Zitate bleiben, sofern sie in alter Rechtschreibung verfasst wurden, so erhalten.
[2] Wagner, Richard: Oper und Drama, hg. v. Klaus Kropfinger, [Reclam], Stuttgart 1994, S. 19; im Folgenden als Direktzitat im Text angegeben als OD 19.
[3] Brockhaus in einem Band, 4. aktualisierte Auflage, Mannheim 1992, S. 635, Stichwort: Oper.
[4] Pauleikhoff, Bernhard: Richard Wagner als Philosoph, Hürtgenwald 1997, S. 199.
[5] Vgl. Kropfinger, Klaus (Hg.): Richard Wagner: Oper und Drama, [Reclam], Stuttgart 1994, Nachwort S. 483.
[6] Ingenhoff, Anette: Drama oder Epos? Richard Wagners Gattungstheorie des musikalischen Dramas, Tübingen 1987, S. 13.
[7] Bernhard Pauleikhoff 1997, S. 217.
[8] Bernhard Pauleikhoff 1997, S. 215.
- Arbeit zitieren
- Björn-Christian Schüßler (Autor:in), 2001, Kunstkritik oder Schaffensplan? Reformschrift oder Rechtfertigung? Richard Wagners 'Oper und Drama', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14923
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