Was ist Europa? Und wo liegen seine Grenzen? Diese dem Anschein nach simplen Fragen sind dennoch nicht einfach zu beantworten. ‚Europa’ ist ein nur schwer fassbarer Begriff – ein Raum, der so unterschiedlich wahrgenommen und definiert werden kann wie kaum ein anderer. Aus geographischer Sicht ist es ein Kontinent, ein Erdteil, der sich dennoch von den meisten übrigen Erdteilen dahingehend unterscheidet, dass er nicht ausschließlich natürliche Grenzen besitzt. Aus historischer Sicht haben sich diese Grenzen immer wieder verändert und verschoben. Mehr als so manch anderer ‚Raum’ besteht Europa aus einer Idee, mit der von unterschiedlicher Seite verschiedene Erwartungen, Hoffnungen oder auch Befürchtungen verbunden sind.
Europa – als was man es auch ansieht oder definiert – ist für die Schülerinnen und Schüler ein alltäglicher Erfahrungsraum geworden, den sie zum größten Teil unbewusst wahrnehmen. In Schulbüchern für die Haupt- oder Realschule wird Europa jedoch meist auf die Entstehung und Funktionsweise der Europäischen Union reduziert. Ziel dieser Arbeit ist es, ein fächerübergreifendes Modell zu entwerfen, nach dem die Schüler/innen Europa auf unterschiedliche Weise und vor allem ‚auf eigene Faust’ erfahren können. Durch die Erforschung der Identität Europas sollen sie zu einem eigenen Bewusstsein von europäischer Identität gelangen.
Inhalt
I) Einleitung
II) Theoretischer Hintergrund und Bezugsrahmen
1. Der Begriff der Identität
1.1 Individuelle und kollektive Identität
1.2 Die Entwicklung kollektiver Identität am Beispiel der Nationalstaaten
1.2.1 Identitätsbildung durch Abgrenzung nach außen
1.2.2 Identitätsbildung durch innere Homogenisierung
1.2.3 Identitätsbildung durch Repräsentationen und Symbole
1.3 Kollektive Identität in Europa
2. Stationen der europäischen Identität
2.1 Gründungsmythen Europas
2.2 Die historische Entwicklung Europas
2.2.1 Die griechische Antike
2.2.2 Die römische Antike
2.2.3 Das Mittelalter
2.2.4 Reformation, Renaissance und Kolonialismus
2.2.5 Absolutismus und Aufklärung
2.2.6 Die Französische Revolution
2.2.7 Nationalismus und die Weltkriege
2.2.8 Die europäische Einigung
2.3 Die Entwicklung des europäischen Bewusstseins
3. Europa-Konstruktionen
3.1 Europa als geographische Einheit
3.2 Das historisch-kulturelle Europa
3.3 Das institutionelle Europa
3.4 Europa und seine internen und externen Anderen
4. Europa im Unterricht
III) Das Schülerprojekt „Was ist Europa?“
1. Die Projektidee
2. Erwartungen an das Projekt
3. Analyse der Lernvoraussetzungen
3.1 Institutionelle Bedingungen
3.1.1 Die Michael-Ende-Schule
3.1.2 Die Klasse 9b
3.2 Anthropologische und soziokulturelle Bedingungen
3.2.1 Sachstruktureller Entwicklungsstand
3.2.2 Soziale Aspekte der Klasse
4. Didaktische Überlegungen
4.1 Bedeutung der Projektarbeit für die Schüler/innen
4.1.1 Exemplarische Bedeutung
4.1.2 Gegenwartsbedeutung für die Schüler/innen
4.1.3 Zukunftsbedeutung für die Schüler/innen
4.1.4 Struktur des Inhalts
4.1.5 Unterrichtliche Zugänglichkeit
4.2 Bezug zum Bildungsplan
5. Ziele des Projekts
5.1 Personale Kompetenzebene
5.2 Soziale Kompetenzebene
5.3 Methodische Kompetenzebene
5.4 Fachliche Kompetenzebene
6. Methodische Überlegungen
6.1 Einstieg
6.2 Fragebogen
6.3 Das Gruppenpuzzle
6.4 Die WebQuest-Methode
6.5 Plakatgestaltung
7. Geplanter Projektverlauf
7.1 Projektplanung - ein Überblick
7.2 Detaillierte Verlaufsplanung
8. Ergebnisse
8.1 WebQuest
8.2 Plakate
9. Auswertung der Fragebögen
9.1 Fragebogen zu Beginn des Projekts
9.2 Fragebogen am Ende des Projekts
10. Evaluation des Projekts durch die Schüler/innen
10.1 Evaluation der WebQuest-Methode
10.2 Gesamtevaluation des Projekts
11. Reflexion des Projekts
IV) Schlussbemerkung
V) Literaturverzeichnis
VI) Anlagen
I) Einleitung
„Europa beginnt zu verschwimmen, wenn man versucht, eine klar definierte Vorstellung davon zu erlangen; es zerfällt, sobald man es als eine Einheit zu erkennen glaubt. “
(Edgar Morin 1988: 28)
Was ist Europa? Und wo liegen seine Grenzen? Diese dem Anschein nach simplen Fragen sind dennoch nicht einfach zu beantworten. ,Europa’ ist ein nur schwer fassbarer Begriff - ein Raum, der so unterschiedlich wahrgenommen und definiert werden kann wie kaum ein anderer. Aus geographischer Sicht ist es ein Kontinent, ein Erdteil, der sich dennoch von den meisten übrigen Erdteilen dahingehend unterscheidet, dass er nicht ausschließlich natürliche Grenzen besitzt. Aus historischer Sicht haben sich diese Grenzen immer wieder verändert und verschoben. Mehr als so manch anderer ,Raum’ besteht Europa aus einer Idee, mit der von unterschiedlicher Seite verschiedene Erwartungen, Hoffnungen oder auch Befürchtungen verbunden sind.
Im Rahmen meiner Recherche für diese Arbeit bin ich auf folgendes Zitat von Joseph Hansen, ehemaliger Bürgermeister der Stadt Köln, gestoßen: „Rheinisch ist etwas, was jeder fühlt, aber keiner definieren kann“ (zitiert nach Dafft 2008). Wie aber könnte man dieses Zitat auf Europa übertragen? Definieren lässt es sich offensichtlich nur sehr schwer, aber wird es von den Menschen ,gefühlt’? Der sooft verwendete Begriff der ,europäischen Identität’ lässt sich zunächst aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachten: Zum einen bezeichnet der Begriff all das, was Europa als Raum ausmacht und prägt, von den geschichtlichen Wurzeln bis hin zu unterschiedlichen Konstruktionen und Definitionen. Zum anderen bezeichnet er das Bewusstsein einer europäischen Identität seiner Bewohner, eine kulturelle Identifizierung mit Europa, die sich auf eine gemeinsame Geschichte und auf gemeinsame politische und kulturelle Werte bezieht. Die Europäische Union als eines der machtvollsten Europa-Konstrukte umfasst mittlerweile 27 Staaten, wobei der Prozess der europäischen Integration längst nicht abgeschlossen ist. Wie jedoch die niedrige Beteiligung an Europawahlen veranschaulicht, besteht eine große Differenz zwischen dem politischen Einigungsprozess und dem Bewusstsein einer europäischen Identität unter den Bürgerinnen und Bürgern der Mitgliedsstaaten. Wie also kann dieses Bewusstsein einer europäischen Identität ausgebildet und gefördert werden? Meiner Meinung nach hängen beide Perspektiven von europäischer Identität zusammen: Europäisch ist etwas, was man nur fühlen kann, wenn man versucht, es zu definieren. Bevor das Bewusstsein einer europäischen Identität entsteht, muss die Vielschichtigkeit der unterschiedlichen Vorstellungen, Definitionen und Konstruktionen von Europa untersucht werden sowie die verschiedenen Stationen seiner Entwicklung.
Europa - als was man es auch ansieht oder definiert - ist für die Schülerinnen und Schüler ein alltäglicher Erfahrungsraum geworden, den sie zum größten Teil unbewusst wahrnehmen. In Schulbüchern für die Haupt- oder Realschule wird Europa jedoch meist auf die Entstehung und Funktionsweise der Europäischen Union reduziert. Ziel dieser Arbeit ist es, ein fächerübergreifendes Modell zu entwerfen, nach dem die Schüler/innen Europa auf unterschiedliche Weise und vor allem ,auf eigene Faust’ erfahren können. Durch die Erforschung der Identität Europas sollen sie zu einem eigenen Bewusstsein von europäischer Identität gelangen.
Der erste Hauptteil der Arbeit befasst sich mit dem theoretischen Hintergrund der Thematik. Zunächst wird der Begriff der ,Identität’ näher beleuchtet sowie die Bildung von kollektiven Identitäten erläutert. Das zweite Unterkapitel befasst sich mit den historischen Hintergründen und Wurzeln, die zur Entstehung Europas und seiner Identität beigetragen und es zu dem gemacht haben, was es heute ist. Anschließend wird die Entwicklung des europäischen Selbstverständnisses untersucht sowie verschiedene Konstruktionsmöglichkeiten von Europa beschrieben und erläutert. Zuletzt werden Möglichkeiten und Ziele eines schulischen Beitrags zur europäischen Identitätsbildung aufgezeigt, welche die methodische und didaktische Grundlage für den Entwurf der Unterrichtseinheit über die Identität Europas bilden.
In einem zweiten Hauptteil wird schließlich das Projekt „Was ist Europa?“ vorgestellt, das ich mit den Schüler/innen der 9. Klasse der Haupt- und Werkrealschule in Bad Schönborn durchgeführt habe. In diesem Projekt bzw. , projektorientierten Unterricht’ haben sich die Schüler/innen in selbstständiger Gruppenarbeit mit den unterschiedlichen geographischen, historischen, politischen und kulturellen Aspekten Europas befasst und die Frage nach der Identität Europas auf ihre ganz eigene Art und Weise beantwortet, wobei auch ihr jeweiliger Bezug zu Europa, ihr Verständnis von und ihre Einstellung gegenüber Europa ermittelt wurde.
II) Theoretischer Hintergrund und Bezugsrahmen
1. Der Begriff der Identität
„Identity is a definition, an interpretation of the self that establishes what and where the person is in both social and psychological terms. “ (Montserrat Guibernau 2007: 10)
Bevor die Frage nach der Existenz einer europäischen Identität geklärt werden kann, muss der Begriff der Identität zunächst genauer beleuchtet werden. Er leitet sich von dem lateinischen Wort idem[1] ab und bedeutet vollkommene Gleichheit oder Übereinstimmung zweier Dinge (vgl. Eberstadt/Kuznetsov 2008: 16). Die Fragen ,Wer bin ich?’ und ,Wer sind wir?’ sind nach Guibernau (2007: 10) die beiden Schlüsselfragen nach Identität, was voraussetzt, dass zwei verschiedene Formen von Identität existieren. Allgemein lässt sich Identität unterscheiden nach individueller (auf sich selbst bezogene) und kollektiver (auf Gruppen bezogene) Identität, welche im Folgenden näher erläutert werden, wobei besonders die kollektive Identität und der Prozess ihrer Entwicklung im Vordergrund stehen.
1.1 Individuelle und kollektive Identität
Jede Identität setzt zunächst im Individuellen an (vgl. Winkler 2006a: 10). Nach der Definition von Erik H. Erikson (1981: 18) beruht „das bewußte [sic] Gefühl, eine persönliche Identität zu besitzen, [...] auf zwei gleichzeitigen Beobachtungen: der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, daß [sic] auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen“ [Hervorhebung im Original].
Nach dieser Definition ist es also weniger von Bedeutung, dass die Identität tatsächlich gleich bleibt, sondern vielmehr, dass sie als gleich bleibend wahrgenommen wird, sowohl vom Individuum selbst als auch von Außenstehenden. Die eigene Wahrnehmung muss stets durch Fremdwahrnehmung bestätigt werden, was darauf hinweist, dass individuelle 1 „derselbe, der gleiche“ oder persönliche Identität kein natürliches Phänomen ist, sondern eine soziale Bestätigung erfordert und somit nur „in einem Wechselspiel mit der sozialen Welt“ ausgebildet werden kann (Quenzel 2005: 29). Aufgrund der Annahme, dass Identität nicht bereits im Inneren vorhanden ist, sondern als andauernder Prozess angesehen werden kann, schlägt Stuart Hall vor, anstatt von Identität als einem abgeschlossenen Prozess von Identifikation zu sprechen:
„Identität ist [...] etwas, das in andauernd wirksamen unbewussten Prozessen über die Zeit hinweg gebildet wird; sie ist nicht seit der Geburt von Natur aus im Bewußtsein [sic]. Es gibt immer etwas ,Imaginäres’, Phantasiertes an ihrer Einheit. Sie bleibt immer unvollständig, befindet sich immer im Prozeß [sic], im ,Gebildet-Werden’“ (Hall 1994: 195).
Hall geht dabei von einer permanenten Suche nach Identität aus, die das Ziel hat, die verschiedenen Teile des „Ichs“ zu einem Ganzen zu verbinden. Auch Erikson (1981: 108) betont die Prozesshaftigkeit von Identität: „Die Ich-Identität entwickelt sich [...] aus einer gestuften Integration aller Identifikationen; aber auch hier hat das Ganze eine andere Qualität als die Summe seiner Teile“.
Eine kollektive Identität bildet sich nach Rainer Lepsius dann, wenn sich eine Gemeinschaft von Individuen mit den gleichen Objekten identifiziert und sie sich dieser Gemeinsamkeit auch bewusst ist (vgl. Lepsius 1997: 948). Da sich Personen aber in verschiedenen Kontexten bewegen und unterschiedliche soziale Positionen und Rollen einnehmen, hält Gerhards (2003: 467) es für unwahrscheinlich, dass sie mit kollektiven Gebilden wie Gruppen, Organisationen, Regionen, Nationen oder eben Europa gleich werden können und schlägt wiederum vor, auf den Begriff der kollektiven Identität zu verzichten und ihn durch den Begriff der Identifikation zu ersetzen.
Habermas (1976: 25) nennt drei Merkmale von kollektiver Identität: Erstens sichert sie einer Gruppe oder Gesellschaft Kontinuität und Wiedererkennbarkeit, da sie - im Gegensatz zur individuellen Identität - die generations- und epochenübergreifende historische Existenz einer Gesellschaft beinhaltet. Zweitens legt kollektive Identität fest, wie sich eine Gemeinschaft gegen ihre natürliche und ihre soziale Umgebung abgrenzt, wobei diese Grenzen nicht aus den persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen eines Individuums bestehen, sondern aus symbolischen Grenzen, die sich aus den Handlungen ergeben, die sich die Mitglieder der Gemeinschaft gegenseitig zurechnen. Drittens regelt die kollektive Identität die Zugehörigkeit der Individuen zur Gesellschaft. Dabei besteht ein komplementäres Verhältnis zwischen individueller und kollektiver Identität, da die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und deren Identitätskennzeichen auf das Individuum zurückwirkt und sich somit die Einheit der Person über Beziehungen zu anderen Personen derselben Gruppe bildet. Auf der einen Seite wird also die kollektive Identität aus den individuellen Identitäten konstruiert (vgl. Eberstadt/Kuznetsov 2008: 27), zum anderen bildet die Partizipation an kollektiven Identitäten einen wesentlichen Bestandteil jeder individuellen Identität (vgl. Quenzel 2005: 30). Nach Habermas kann kollektive Identität weder auf ein bestimmtes Territorium bezogen, noch auf eine bestimmte Organisation gestützt sein und ist nur in reflexiver Form möglich, begründet „im Bewußtsein [sic] allgemeiner und gleicher Chancen der Teilnahme an solchen Kommunikationsprozessen [...], in denen Identitätsbildung als kontinuierlicher Lernprozess stattfindet“ (Habermas 1976: 116). Dabei braucht Identität keine fixen, für alle gleich bleibenden Inhalte. Die reflexive Form der kollektiven Identität könne, so Habermas, allein durch die Pluralität von revisionsfähigen Welterklärungssystemen gesichert werden (vgl. ebd.: 117). Bach (2008: 17) weist darauf hin, dass sich ein betreffendes Gebilde als umso fragiler erweist, je größer und umfassender das betreffende Kollektiv ist. Wie nun Gruppen und Gesellschaften zu etwas gelangen, das man Identität nennt, wird im folgenden Unterkapitel aufgezeigt.
1.2 Die Entwicklung kollektiver Identität am Beispiel der Nationalstaaten
Jede Person rechnet sich verschiedenen Gruppen und Gemeinschaften zu und verfügt somit über multiple kollektive Identitäten. Umberto Eco, italienischer Schriftsteller, beschreibt seine Identität folgendermaßen: „In Rom bin ich Mailänder, in Paris bin ich Italiener, und in New York bin ich Europäer“ (zitiert nach Schily 2004). Die in Europa vorherrschende kollektive Identität ist sicherlich die nationale Identität. Wenn wir uns selbst definieren, bezeichnen wir uns oftmals als Deutsche, Franzosen oder Engländer und verstehen diese Identitäten als Teil unserer wesenhaften Natur (vgl. Hall 1994: 199). Münch (1993: 16) geht davon aus, dass die Entwicklung der Nationalstaaten in Europa durchaus als ein historisches Modell auf niedrigerer Entwicklungsstufe für die Bildung einer europaweiten kollektiven Identität angesehen werden kann, weshalb im Folgenden die Entwicklung einer kollektiven Identität am Beispiel der Nationalstaaten aufgezeigt wird.
1.2.1 Identitätsbildung durch Abgrenzung nach außen
Die Wurzel jeder kollektiven Identität liegt zunächst in der Abgrenzung der eigenen Gruppe oder Gemeinschaft von anderen Gruppen und Gemeinschaften. Mit jeder Identitätsbildung ist eine Abgrenzung nach außen verbunden, die „die innere Solidarität, den Konsens und die innere Ordnung des sozialen Lebens“ stärkt (Münch 1993: 16). Das Bewusstsein um eine Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Kultur, Geschichte, Symbolen und Traditionen, die außerdem einem bestimmten Territorium zugeordnet werden kann, führt zu dieser Abgrenzung, die wiederum oftmals mit dem Aufbau von Feindbildern verbunden ist: „[D]ifferentiation from others lead to the distinction between members (those who belong) and ‘strangers’, ‘the rest’, ‘the different’ and, sometimes, ‘the enemy’“ (Guibernau 2007: 10). Diese Entwicklung war besonders vom 16. bis 19. Jahrhundert bei der Entstehung der Nationalstaaten in West- und Mitteleuropa zu beobachten. Die Abgrenzung nach außen diente zunächst der Stärkung der eigenen nationalen Identität, was jedoch bald zu gegenseitiger Rivalität, zum Aufbau von Feindbildern und schließlich zu blutigen Konflikten führte.
1.2.2 Identitätsbildung durch innere Homogenisierung
Ein weiterer Weg, wie kollektive Identität entwickelt und ausgebildet werden kann, ist nach Münch (1993: 20 ff.) die innere Homogenisierung, bei der alte Identitätsabgrenzungen überwunden werden, indem neue Identitätsabgrenzungen auf der Ebene größerer Einheiten vorgenommen werden. Regionale und ethnische Differenzen wurden geglättet und gegenseitige Vorurteile und Ungleichheiten abgebaut. Die nationalstaatliche Gesetzgebung beispielsweise hat für das Familien- und Berufsleben einheitliche Lebensverhältnisse geschaffen, durch die Vereinheitlichung des Bildungssystems und der Massenmedien konnte die Verbreitung eines „aufgeklärten, national einheitlichen Bewußtseins [sic] und die Erweiterung des kulturellen Horizontes“ gefördert werden (ebd.: 20). Auch die konfessionelle Einheit war für die Entstehung der Nationalstaaten von fundamentaler Bedeutung, da sie die Entwicklung einer gemeinsamen Weltanschauung und Moral begünstigte. Die Kehrseite der Medaille waren allerdings die inneren Identitätsverluste und Unfreiheiten von nationalen Minderheiten und die daraus resultierenden inneren Konflikte. Es entstanden zahlreiche soziale Bewegungen, die das Ziel hatten, die kulturelle und sprachliche Entwicklung von nationalen Minderheiten zu bewahren. (vgl. Guibernau 2007: 19 ff.). Während diese Bewegungen zunächst eine kulturelle Orientierung besaßen, verfolgten sie nach und nach auch politische Ziele. So kämpfen beispielsweise die Basken in Spanien oder die Katholiken in Nordirland bis zum heutigen Tag um die Bewahrung ihrer eigenen kulturellen Identität und nicht zuletzt um ihre Unabhängigkeit.
1.2.3 Identitätsbildung durch Repräsentationen und Symbole
Stuart Hall sieht die eigentliche Bildung von kollektiver Identität in einem „System kultureller Repräsentationen“ (Hall 1994: 200). Eine Nation ist demnach nicht nur ein politisches Gebilde, sondern auch etwas, das Bedeutungen hervorbringt. Sie ist eine symbolische Gemeinschaft, deren Mitglieder sowohl rechtmäßige Bürger der Nation sind als auch an der Idee der Nation partizipieren. Was es bedeutet, ,deutsch’ oder ,englisch’ zu sein, kann man nur deshalb wissen, weil das ,Deutschsein’ oder das ,Englischsein’ als eine Bedeutungskette durch die nationale Kultur repräsentiert wird. Hall bezeichnet Nationen als „vorgestellte Gemeinschaften“ (ebd.: 201) und auch Enoch Powell (1969: 245) ist der Ansicht, dass Nationen größtenteils in der Vorstellung gelebt werden:
„The life of nations, no less than that of men, is lived largely in the imagination. [...] For many people this corporate imagination, if I may so describe it, can be more important to their happiness or unhappiness than their private imagination“.
Die Repräsentationsstrategien, mit denen nationale Zugehörigkeit und Identität konstruiert wird, sind nach Hall (1994: 202 ff.) die Erzählung der Nation, die Betonung der Ursprünge, die Erfindung der Tradition sowie die Existenz eines Gründungsmythos. Außerdem nennt er die Idee eines reinen, ursprünglichen ,Volkes’, in der nationale Identität oftmals begründet liegt, wobei in der realen, nationalen Entwicklung dieses ursprüngliche Volk nur selten die Macht besitzt oder ausübt.
Die Erzählung der Nation wird in Nationalgeschichten, in den Medien, der Literatur und der Alltagskultur immer wieder vorgetragen und „stellt einen Zusammenhang von Geschichten, Vorstellungen, Landschaften, Szenarien, geschichtlichen Ereignissen, nationalen Symbolen und Ritualen her, die die geteilten Erfahrungen und Sorgen, Triumphe und vernichtende Niederlagen repräsentieren, die einer Nation Bedeutung verleihen“ (ebd.: 202). Dadurch werden die Mitglieder der , vorgestellten Gemeinschaft’ dazu veranlasst, selbst an dieser Erzählung teilzuhaben, die ihrer Existenz Bedeutung und Sicherheit verleiht und ihr Alltagsleben an das nationale Schicksal bindet. Identität wird also ,erzählt’, wobei die Erzählung aus einem gesellschaftlichen Diskurs hervorgeht und in Symbolen manifestiert wird: „Symbole einen. Sie sind Mittel der Erkenntnis und des Bekennens, Mittel zur Beschwörung einer Gemeinschaft, repräsentieren sie doch eine gedanklich geschaffene Identität“ (Zowislo 2000: 23). Nationale Identität wird dabei als ursprünglich und zeitlos repräsentiert, die stets bereit ist, wenn sie auch manchmal , schlummert’, aus ihrem „langen, anhaltenden und geheimnisvollen Schlaf“ zu erwachen (Gellner 1991: 76), um ihr ungebrochenes Dasein wieder aufzunehmen. Das Wesen der Nation bleibt dabei trotz aller geschichtlichen Wechselfälle unverändert erhalten. Die Erfindung der Tradition bzw. der Vergangenheit ist nach Hobsbawm und Ranger (1983: 1) eine weitere Strategie, kollektive, insbesondere nationale Identität zu konstruieren. Oftmals seien Traditionen, die dem Anschein nach alt und bewährt sind, erst vor kurzem entstanden oder zuweilen sogar erfunden, um bestimmte Werte und Verhaltensnormen einzuprägen, was zu einer Kontinuität mit passender historischer Vergangenheit führt. Für Hobsbawm sind „Mythen und Erfindungen [...] für eine Politik der Identität entscheidend, mit der heute Völkergruppen, indem sie sich nach Ethnien, Religion oder nach neuen oder alten Staatsgrenzen definieren, in einer unsicheren und wankenden Welt Sicherheit mit der Aussage zu gewinnen hoffen: ,Wir sind anders und besser als die anderen’“ (Hobsbawm 1994: 42).
Der Gründungsmythos ist ebenfalls ein wesentlicher Bestandteil der nationalen Identitätsbildung, da er „den Ursprung der Nation, des Volkes und des Nationalcharakters so früh ansetzt, daß [sic] er sich im Nebel nicht der ,realen’, aber der „mythischen’ Zeit verliert“ (Hall 1994: 203). Ursprungsmythen helfen dabei, Verwirrungen und Misserfolge in der Geschichte verstehbar zu machen und Unordnung in Gemeinschaft umzuwandeln.
1.3 Kollektive Identität in Europa
Die Herausbildung einer kollektiven Identität auf europäischer Ebene aus einer Vielzahl von nationalen Identitäten ist sicherlich ein schwieriger Prozess, an dem dennoch viele Parallelen zur Entstehung der nationalen kollektiven Identität aufgezeigt werden können.
Richard Münch betont zunächst die Schwierigkeit eines europäischen Identitätsfindungsprozesses:
„Im Vergleich zu den Europäern haben die Amerikaner und Japaner den Vorteil, daß [sic] sie aus einer historisch gewachsenen und politisch zentrierten kollektiven Identität heraus handeln können, während die Europäer erst noch aus der Vielfalt nationaler und regionaler Identitäten eine kollektive Identität hervorbringen müssen [...]“ (Münch 1993: 15).
Auch Sylke Nissen (2004) betont die Konkurrenz, in der Europa mit bereits vorhandenen Identifikationsobjekten wie Nation oder Region steht. Da es aufgrund der kulturellen und sprachlichen Vielfalt, der geographischen Uneindeutigkeit und der verschiedenen Konzeptionen von Europa schwer fällt, für den gesamten Raum gültige Gemeinsamkeiten zu finden, definiert sich Europa immer wieder über das, was es nicht ist, wobei diese Differenz zwischen innen und außen in der Begegnung mit den ,Anderen’ konstruiert wird.
„Identities are forged out of shared experiences, memories and myths, in relation to those of other collective identities. They are in fact often forged through opposition to the identities of significant others, as the history of paired conflict so often demonstrates. Who or what, then, are Europe’s significant others?“ (Anthony D. Smith, zitiert nach Waever 1995: 203).
Da Europa nicht eindeutig definiert werden kann, ist es auch nur schwer möglich, die kollektiven Gegenidentitäten eindeutig zu bestimmen. Entsprechend der Fülle von europäischen Identitätskonzepten existiert auch eine große Anzahl von europäischen Anderen (vgl. Quenzel 2005: 96 ff.).
Das bedeutendste europäische Gegenüber war und ist nach Quenzel der ,Osten’, der wiederum in Asien, Orient, Russland oder die Türkei differenziert wird. Die Türkei und die islamische Welt, die sie oftmals repräsentiert, ist dabei zu einem der dominantesten europäischen Anderen geworden und scheint damit die ehemalige Sowjetunion, die „in der Ära des Kalten Krieges [...] den Zusammenschluss des westlichen Kleineuropas erleichtert“ hat, (Kocka 2002) als maßgebliche Gegenidentität abzulösen (vgl. Quenzel 2005: 100). Gerade in der Diskussion um einen Beitritt der Türkei in die Europäische Union wird sie im Hinblick auf die europäische Identität immer wieder als ein vom Islam geprägtes Land einem Europa als das Erbe des christlichen Abendlandes gegenübergestellt (vgl. Cremer 2006). In der Gegenüberstellung mit dem ,Osten’ wird Europa als der ,Westen’ gesehen, wobei Osteuropa eine Art Übergangszone darstellt und, wie der Name anklingen lässt, eher eine Randstellung einnimmt. Wie grundlegend der ,Osten’ für die europäische Identitätsbildung als das Gegenüber Europas ist, zeigt sich nach Quenzel (2005: 100) daran, dass die baltischen Staaten Litauen, Estland und Lettland vor ihrer kulturellen Integration von einer osteuropäischen Identität weg, in eine kulturelle Nähe zu den skandinavischen Ländern gebracht wurden.
Auch die USA werden aufgrund der weltpolitischen Situation sowie der besonders seit der Bush-Regierung in Europa beobachtbaren anti-amerikanischen Einstellung immer wieder als ein europäisches Gegenüber angesehen (vgl. Wehr 2007). Obwohl sowohl Europa als auch die USA zur ,westlichen Welt’ gezählt werden und ihnen viele kulturelle Elemente gemeinsam sind, ist eine Abgrenzung zur Befestigung europäischer Identität und gesamteuropäischer Handlungsfähigkeit nach Kocka (2002) erforderlich. Der europäische Einigungsversuch ist anders als in Amerika durch die Erfahrung vorangegangener Tragödien geprägt. Auch wird „das Verhältnis von individueller Freiheit und Solidarität, von Konkurrenz und Wohlfahrt [...] in Europa anders bestimmt als in den USA“ (ebd.). Neben den bestehenden Unterschieden bezüglich sozialen Gepflogenheiten, Normen und Wertvorstellungen ist es besonders die amerikanische Einstellung zu Gewalt und Krieg, von der sich das ,kriegsmüde’ Europa deutlich abgrenzt.
Die innere Homogenisierung Europas zur Bildung der europäischen Identität wurde besonders durch die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft bzw. Union begünstigt. Nach Lepsius, der für die Ausbildung einer europäischen Identität eine „normative und verhaltensstrukturierende Ordnungsvorstellung“ als Bezugsobjekt voraussetzt (Lepsius 1997: 948), hat die Idee der europäischen Einheit mit der Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft eine Institutionalisierung gefunden: „Ministerrat, Kommission, Parlament und Gerichtshof bilden ein neues supranationales Regime, das in einem sich ausweitenden Kompetenzrahmen mit Verbindlichkeit handelt. Damit ist ein Objekt entstanden, das einen normativen Gehalt besitzt und Verhalten in den Mitgliedsländern unmittelbar strukturiert“ (ebd.: 948 f.). Diese ökonomisch-politische Ordnung sowie der verbindende Kommunikationszusammenhang, den Kocka (2002) betont, den „Austausch zwischen Herrschenden, Wissenschaftlern, Künstlern und Gebildeten“, tragen zu einem Gemeinschaftsgefühl und damit zur Entwicklung der europäischen Identität bei.
Dennoch fehlt es Europa an einem gesellschaftlichen und kulturellen Gemeinschaftsfundament, wie Bach (2008: 18) anmerkt, auf welches sich der Nationalstaat immer berufen konnte und woher er einen großen Anteil seiner demokratischen Legitimation erhielt.
Die Schaffung einer post-nationalen europäischen Identität durch die Überwindung des nationalen Prinzips ermöglicht nach Zowislo (2000: 65) eine „originäre Konstruktion Europas“ durch Repräsentationen und Symbole. Moderne Symbolträger sind beispielsweise der Euro als gemeinsame Währung, die europäische Fahne, die Feier des Europa-Tages[2] am 9. Mai in Anlehnung an Nationalfeiertage oder die europäische Hymne, wobei sich diese Symbole ausschließlich auf die Europäische Union als eine von verschiedenen Definitionen von Europa beziehen, die mit den verschiedenen Symbolen die Relevanz Europas im alltäglichen Leben sowie im Identitätsbewusstsein des ,Europäischen Volkes’ unterstreichen möchte (vgl. ebd.: 158). Weitere europäische Symbole, Mythen und Geschichten über die Vergangenheit lassen sich im Hinblick auf die historische Entwicklung Europas identifizieren, die im folgenden Kapitel als eines der wichtigsten identitätsstiftenden Elemente genauer betrachtet wird.
2. Stationen der europäischen Identität
[...] There is a long history of shared influences and experiences, a heritage, which has not touched all parts of Europe or all Europeans equally, and which is therefore hard and perhaps dangerous to define in single sentences or even paragraphs, but which is felt and experienced in varying ways and degrees by those whose home is Europe [...]. “
(Michael Wintle 1996: 13)
Welche identitätsstiftende Gemeinsamkeiten können trotz aller nationalen Differenzen für ganz Europa gelten? Mit europäischer Identität ist oft nichts anderes gemeint als die Herkunftseinheit Europas aus einer gemeinsam erlebten Geschichte. Demnach wäre die europäische Gegenwartskultur eine vom historischen Bewusstsein geprägte Kultur (vgl. Eberstadt/Kuznetsov 2008: 29). Europa bezeichnet etwas, das „aus einem Tohuwabohu entstanden ist, keine festen Grenzen hat und von sich verändernder Gestalt ist; etwas, das Verschiebungen, Brüche und Wandlungen erfahren hat“ (Morin 1988: 33). Im Folgenden werden nun Aspekte unterschiedlicher Phasen der europäischen Identitätsfindung untersucht, die Aufschluss darüber geben können, was Europa ausmacht und welche gemeinsamen Erfahrungen, Werte, Symbole und Repräsentationen es vereinen.
2.1 Gründungsmythen Europas
In der antiken griechischen Mythologie war ,Europa’ die schöne Tochter des phönizischen Königs Agenor, die vom griechischen Götterkönig Zeus, der die Gestalt eines Stieres annahm, nach Kreta entführt wurde. Aus der Verbindung zwischen Zeus und Europa ging dort die minoische Herrscher-Dynastie hervor. Diese Erzählung, die seit dem 4. Jahrhundert vor Christus existiert, findet sich in zahlreichen Texten und bildlichen Darstellungen bis zum heutigen Tag. In der frühchristlichen Literatur des 4. Jahrhunderts nach Christus entstand außerdem ein zweiter Gründungsmythos, der Mythos des Japhet: Der biblische Noah hatte drei Söhne, unter denen die Welt aufgeteilt wurde. Sem erhielt Asien, Ham Afrika und Japhet wurde Europa zugeteilt, das zunehmend christlich wurde. Diese Legende war noch im 18. Jahrhundert derart verbreitet, dass der Aufklärer Voltaire versuchte, sie empirisch zu widerlegen. Für beide Mythen ist auf der einen Seite die Verflechtung mit Asien zentral (von dort kommt die Königstochter und dorthin wirkt das, was sie aufbaut, zurück), auf der anderen Seite die Differenz zwischen Europa und Asien (vgl. Kocka 2005: 275 f.).
Auf der Suche nach den Wurzeln des Europa-Begriffes stößt man nach Eberstadt/Kuznetsov (2008: 30) auf zwei grundlegende Probleme, die Europa seit der Stunde seiner ersten Erwähnung im 6. Jahrhundert vor Christus[3] begleiten, zum einen die Unsicherheiten bezüglich der geographischen Grenzen, zum anderen die normative Begründung Europas. So stellt auch Stefan Schipperges die Frage, wie der Erdteil zu seinem Namen kam, d.h. wo, wann und weshalb der mythische Personenname auf die Landschaft übertragen wurde und welche Landschaft genau gemeint ist. Schon Herodot fragte bezüglich des ersten Gründungsmythos, warum das Gebiet den Namen Europas erhielt, obwohl sie asiatischer Herkunft war und ihr Fuß nie das Land berührte. Dass die Namensgeberin aus Asien stammt weist darauf hin, dass die europäische Kultur, d.h. Schrift, Verwaltungsstrukturen etc., ihren Ursprung in den viel älteren Hochkulturen des vorderen Orients nahm, von wo die Königstochter nach Kreta kam, das bis heute als ,Wiege der europäischen Kultur’ gilt (vgl. Schipperges 2006: 14). Auch der Name selbst gibt Anlass zu unzähligen Kontroversen, wobei sich die Historiker inzwischen darauf verständigt haben, dass die wahrscheinlichste Erklärung seiner Etymologie auf den hebräischen Begriff Erev, der Abend, zurückgeht und Europa damit endgültig an Orient und Okzident bindet (vgl. Semprun/de Villepin 2006: 15). Der Mythos allein bietet also keinen hinreichenden Beitrag zu einer europäischen Identität, auf der anderen Seite aber bietet er eine Grundlage für eine ,europäische Erzählung’, die wiederum zu einer Ausbildung einer europäischen Gemeinschaft beitragen kann.
2.2 Die historische Entwicklung Europas
Zur Klärung der Frage, was Europa ausmacht und worin seine Identität begründet ist, ist es unumgänglich, einen Blick auf seine historische Entwicklung zu werfen. Ein ,Wir’ wird nach Armin von Bogdandy (2005: 344) meistens in einer gemeinsamen Vergangenheit verankert. Auch John Slater ist der Ansicht, dass die Geschehnisse in der Vergangenheit die Idee vom heutigen Europa beeinträchtigen: „There remains a widely held assumption that there is something unique and shared about Europe’s history, and that events and ideas in its past still affect our ideas and attitudes today“ (Slater 1995, zitiert nach Wolf 2006: 7). Die Geschichte Europas ist jedoch, sowie auch jeglicher Versuch es zu definieren, kompliziert. Sicherlich existieren viele abgrenzbare Epochen oder Abschnitte, die zu verstehen helfen, wie Europa entstand und wie es sich entwickelte, wobei sich diese oftmals überschneiden und sich gegenseitig beeinflussen. Eine Untersuchung der Geschichte Europas kann zu einer Erklärung führen warum es so schwierig ist, Europa zu definieren und ein Fundament für die Frage nach seiner Identität bereitstellen[4].
2.2.1 Die griechische Antike
Auf der Suche nach den gemeinsamen Erfahrungen und Erinnerungen Europas stößt man nach Schipperges (2006: 12) unter anderem auf Errungenschaften wie die Grund- und Menschenrechte, die Bändigung der staatlichen Willkür durch Rechtsstaatlichkeit und Volkssouveränität, auf verfassungs- und sozialstaatliches Denken und ebenso auf die kritisch-rationale Wissenschaft sowie Freiheit und Individualismus. Diese bis heute wirkenden europäischen Kulturleistungen beruhen auf einem historischen Fundament, das seine Wurzeln in der griechischen Antike hat. Roberta Guerrina (2002: 14) unterteilt die Geschichte der antiken griechischen Zivilisation in zwei Phasen: die Entstehung und den Aufstieg der Polis, des antiken griechischen Stadtstaates, sowie die makedonische Besetzung und östliche Erweiterung des griechischen Reiches.
Die Poleis, die sich etwa im 8. Jahrhundert vor Christus entwickelten, organisierten das soziale, kulturelle und das politische Leben und bildeten so die Grundlage für die griechische Identität, wobei sie die Entwicklung philosophischen und politischen Gedankenguts begünstigten (vgl. ebd.). Schriften und Ideen von Schlüsselfiguren wie Sokrates, Aristoteles oder Platon gaben Anleitungen zu vernunftgerechtem Leben und brachten die Philosophie als eine der wichtigsten Kulturleistungen hervor. Weitere kulturelle Elemente, die das Wesen des heutigen Europas prägen, sind bezüglich der Naturwissenschaften das logisch-rationale methodische Durchdringen der Natur, das erstmals die griechischen Naturphilosophen Thales von Milet, Hesiod oder Heraklit versucht haben, sowie die homerischen Epen wie die Ilias und Odyssee im Bereich der Literatur, mit denen nach klassischer Ansicht die europäische Kultur- und Geistesgeschichte beginnt, ebenso wie die Werke der Dichter Sophokles, Aischylos und Aristophanes, die bis heute als Weltliteratur angesehen werden (vgl. Schipperges 2006: 13). Auch die klassische Bildhauerkunst, die griechische Baukunst und Architektur, die klassische Tragödie und Komödie sowie die Olympischen Spiele sind Elemente der griechischen Antike, die auch heute noch das Wesen Europas ausmachen. Das besondere an der griechischen Kulturbildung beschreibt Christian Meier wie folgt: „Das Neue, das mit den Griechen in die Welt kam, war eine Kulturbildung ohne irgend nennenswert prägende Rolle einer Monarchie, grob gesagt: eine Kulturbildung aus Freiheit statt aus Herrschaft“ (Meier 2005: 97). So ist besonders die politische Ideenwelt zu erwähnen, „die unter dem Begriff , Demokratie’ Einzug in die europäische Staatenwelt genommen hat“ (Schipperges 2006: 13) und die durch das Nichtvorhandensein einer Monarchie ermöglicht wurde. Der politischen Aufteilung der Griechen entsprach eine bestimmte Ausbildung menschlicher Eigenart, die Eigenständigkeit, Unabhängigkeit und Freiheit beinhaltete. Der antike Historiker Thukydides (455 - 399 v. Chr.) schrieb über die attische Demokratie:
„Wir leben in einer Staatsform, die die Einrichtungen anderer nicht nachahmt; eher sind wir für andere Vorbild. Mit Namen heißt unsere Staatsform Demokratie, weil sie sich nicht auf eine Minderheit, sondern auf die Mehrheit des Volkes stützt. Es genießen alle vor dem Gesetz gleiches Recht. [...] Unser Volk hat in den Fragen der Staatsführung mindestens ein Urteil, wenn nicht sogar fruchtbare eigene Gedanken. Mit einem Wort sage ich: Unsere Stadt ist die hohe Schule Griechenlands“ (zitiert nach Schipperges 2006: 16).
Ein weiterer bedeutungsvoller Aspekt, der aus der Entwicklung der Polis hervorging, ist die Wir/Sie Dichotomie, die Guerrina (2002: 63) als die größte Kontinuität in der europäischen Geschichte beschreibt. Die Unterscheidung zwischen ,Zivilisation’ und ,Barbarismus’, d.h. zwischen Griechen und dem, was diese als minderwertige und unterlegene Kulturen ansahen (die Völker Asiens und Afrikas), war ein Teil der hellenischen Identität und bildete die Grundlage für die Konstruktion eines Europas in Bezug auf die Anderen.
Zum geographischen Europabegriff der griechischen Antike, der auf der Dreiteilung der Erdscheibe in Europa, Asien und Afrika durch Herodot beruht, ist zu erwähnen, dass Europa für Herodot und seine Vorgänger hauptsächlich aus dem griechischen Festland und den anschließenden Ländern bis nördlich des schwarzen Meeres bestand (vgl. Schlumberger 1994: 4 f.). Alles Bekannte und Unbekannte, was dahinter lag, wurde unter der Bezeichnung ,Europa’ subsumiert. Bekannt waren dabei die nördlichen Küsten des Mittelmeers, die mit griechischen Poleis besetzt waren; relativ unbekannt war dagegen das innere West-, Mittel- und Osteuropa:
„Die Donau fließe mitten durch ganz Europa, wußte [sic] man. Sie entspringe im Land der Kelten irgendwo an den Pyrenäen. Die Grenze zu Asia bildeten in der griechischen Geographie die Ägäis, dann Hellespont, Bosporus und Schwarzes Meer, von dort nach Nord-Osten schließlich die Maiotis (heute das Asowsche Meer), dann der Tanais (der Don); weiter war die Erde in dieser Richtung nicht erforscht“ (ebd: 5).
Nachdem Philipp II von Makedonien die griechischen Poleis erobert hatte, erweiterte sein Sohn Alexander der Große, der zwischen 336 und 323 vor Christus regierte, im Zeitalter des Hellenismus das griechische Reich in östlicher Richtung bis hin zu Indien (s. Abb. 2) und verbreitete so die griechischen Bräuche, Werte und Errungenschaften (vgl. Guerrina 2002: 17). Dabei ist zu erwähnen, dass dieses Reich seine Schwerpunkte außerhalb Europas hatte, in Asien und Afrika, was Schipperges (2006: 13) Anlass zur Frage gibt, ob nicht auch der Orient Teil der europäischen Geschichte ist und ob eine europäische Identität ohne den klein- und vorderasiatischen Raum überhaupt möglich ist. Letztendlich hat die antike Geographie Europa in seinem Dasein als separaten Kontinent jedoch erst hervorgebracht, auch wenn sich seine äußeren Umrisse immer wieder verschoben haben.
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Abb. 1: Das Reich Alexanders des Großen (+ 323 v. Chr.)
Quelle: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (2006: 14)
Die griechische Antike hat somit maßgeblich zur Bildung einer heutigen europäischen Identität beigetragen und viele Einflüsse wirken auf das “Wesensmosaik Europa” (Weidenfeld 2008: 84) ein. Wissenschaft, Philosophie, Kunst und Architektur sowie politische und gesellschaftliche Ordnung haben ihre Spuren im heutigen Europa nachhaltig hinterlassen und sind grundlegende Bestandteile eines gemeinsamen europäischen Bewusstseins geworden (vgl. Schipperges 2006: 14). Auch Norman Davies bescheinigt dem antiken Griechenland die fundamentale Prägung des heutigen Europas: „[E]nough has survived for that one small East European country to be regularly acclaimed as ‘The Mother of Europe’, the ‘Source of the West’, a vital ingredient if not the sole fountain-head of Europe“ (Davies 1997: 139).
2.2.2 Die römische Antike
Das antike Rom ist für Karin Winkler (2006b: 18) „wie kein anderes Thema geeignet, eine Gemeinschaft der Erfahrung, Kultur und Erinnerung herzustellen“. Zum einen hat es die griechische Kultur - Bildhauerwerk, Architektur, Geschichtsschreibung, Philosophie, Dichtung und Rhetorik - übernommen und erweitert, zum anderen wichtige Beiträge zur antiken Hinterlassenschaft selbst hervorgebracht. So ist der römische Staat eine im Laufe der Jahrhunderte gewachsene politische Ordnung, die sich von der Königsherrschaft um ca. 500 vor Christus zur Republik und um ca. 30 vor Christus weiter zum Kaisertum entwickelt hat. Das Imperium Romanum hatte nach Winkler vieles, worum in der Europäischen Union heute mühsam gerungen wird: eine einheitliche Währung, frei passierbare und befriedete Grenzen, einen einheitlichen Rechtsraum, eine als erstrebenswert angesehene römische Zivilisation sowie eine gemeinsame Sprache. Dennoch sind die blutigen Kriege, die Ausbeutung von Sklaven und Kriegsgefangenen und die Vernichtung anderer Kulturen als die Schattenseiten dieser Einheit nicht zu vernachlässigen. Das nach Meier (2005: 115) „ohne jeden Zweifel weitaus bedeutendste, nachhaltigste Stück römischer Tradition“ ist das römische Recht, das im Zusammenhang mit der Ausgestaltung der inneren Ordnung des römischen Reiches durch die kaiserliche Zentrale entwickelt wurde (vgl. Schlumberger 1994: 16). Es war gekennzeichnet durch seinen konkreten Lebensweltbezug sowie seine Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen nach Gerechtigkeit und Freiheit. Das Recht des Stärkeren und die Blutrache sollten durch eine einvernehmliche Konfliktlösung ersetzt werden (vgl. Winkler 2006b: 20). Die enorme Bedeutung des römischen Rechts für das heutige Europa betont Meier (2005: 115):
„Man kann nicht abschätzen, wie die Geschichte seit dem hohen Mittelalter verlaufen wäre, wenn Herrscher, Städte, Untertanen, wenn Geschäftsleute, schließlich der Staat dieses Werkzeug, diese Wissenschaft mit all ihren Möglichkeiten der Versachlichung und der Entscheidung nicht gehabt hätten. So sei es genug zu sagen, daß [sic] die Tradition dieses Rechts jedenfalls von ganz außerordentlicher Bedeutung für Europa (wie schließlich für die ganze Welt) war und ist“.
Im römischen Weltreich entwickelte sich außerdem etwas, was häufig mit der modernen Idee von Europa assoziiert wird: das Christentum. Im Jahr 391 nach Christus wurde es unter Kaiser Theodosius als die offizielle Religion des römischen Reiches eingeführt und wurde umso bedeutender, als das westliche Reich zu scheitern drohte (vgl. Gowland et al. 2006: 21). Die Verknüpfung von Christentum und europäischer Landmasse diente dazu, die geographischen Grenzen des Gebietes geltend zu machen und das europäische Volk’ zu vereinen, wie Guerrina (2002: 66) aufzeigt: „[T]he whole idea of Christendom, which literally means land of the Christians, served to create a new unifying force“ - eine vereinende Macht gegen eine neue ,Bedrohung’, den Islam. Erneut wurden die Anderen geschaffen, um die christliche bzw. europäische’ Identität zu behaupten. Nach Mikkeli (1998: 7) wurde der Ausdruck ,Barbaren’ damals in Bezug auf Nicht-Christen benutzt und entwickelte sich zu einem Synonym für ,Heiden’.
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Abb. 2: Das Römische Reich zur Zeit Caesars (t 44 v. Chr.)
Quelle: Putzger (1965: 25)
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die griechische und römische Antike die gemeinsame Geschichte fast aller europäischen Länder darstellt (vgl. Winkler 2006b: 18). Aus der Antike wurden wichtige Errungenschaften für die Ausformung des heutigen Europas gewonnen: Der Name, die äußere geographische Definition als ein separater Kontinent - auch wenn dessen Grenzen nicht genau bekannt waren bzw. sich stets veränderten, die Religion des Christentums, große Teile der hoch entwickelten griechischrömischen Kultur, die Demokratie als politische Ordnungsform sowie das römische Recht. Außerdem stellte die griechisch-römische Tradition über einen sehr langen Zeitraum ein verbindendes Element über die Nationen hinweg dar (vgl. Meier 2005: 116). Die Idee von Europa und einem europäischen Bewusstsein stammen allerdings nicht aus der Antike, sie sind erst zu einem späteren Zeitpunkt entstanden (vgl. Schlumberger 1994: 19). Auch ist das Wesen bzw. die Identität Europas nicht ausschließlich aus der Antike abzuleiten, da es viel mehr ist als seine antiken Wurzeln und eine Vielfalt an weiteren Einflüssen für Europa prägend war, wie der weitere Blick auf verschiedene historische Epochen zeigen wird.
2.2.3 Das Mittelalter
Nach dem Zusammenbruch des Weströmischen Reiches Mitte des fünften Jahrhunderts bewegte sich das mittelalterliche Weltbild weg von einer zentralen Sicht auf eine mediterrane Kultureinheit hin zu einer Betonung der kontinentalen Unterschiede zwischen Europa, Asien und Afrika (vgl. Gowland et al. 2006: 21 f.). Im siebten und achten Jahrhundert schlug sich dies in den so genannten Radkarten oder T-O-Karten, kreisrunde Darstellungen des mittelalterlichen Weltbildes, nieder, die von Gelehrten angefertigt wurden (s. Abb. 3). Entsprechend der religiösen Orientierung des Weltbildes zu dieser Zeit sind diese Karten in Richtung Jerusalem geostet, d.h. der obere Halbkreis stellt Asien dar, die untere Hälfte teilen sich Europa und Afrika.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Radkarte
Quelle: Gowland et al. (2006: 22)
Der Begriff ,Europa’ wurde im Mittelalter nur selten verwendet, dagegen sprach man sehr häufig von ,christianitas’, denn es grenzten sich nicht primär die Europäer von den Asiaten und Afrikanern ab, sondern die Christen von den Heiden (vgl. Kocka 2005: 276). Dennoch trieb die Differenz und erneute Abgrenzung zu den Anderen sowie die ständige Bedrohung, die von Asien ausging, das christlich-europäische Zusammenhangsbewusstsein an. Die Vorstellung von ,Europa’ tauchte zu dieser Zeit zumeist in Berichten über Kriege mit ,Nicht-Europäern’ auf, wobei diese Vorstellung bei weichender Bedrohung wieder verloren ging und die Unterschiede zwischen den europäischen ,nationes’ in den Blick gerieten. So bezeichnet eine Chronik über den Sieg des Franken Karl Martell[5] über die Araber bei Poitiers im Jahr 732 dessen Krieger als ,Europenses’, Europäer (vgl. Grießinger 2006: 35). Diese Europäer, eine Gemeinschaft von Völkern nördlich der Pyrenäen und der Alpen, die sich im Krieg gegen die eindeutig nichteuropäischen, vom Süden andrängenden Araber zusammengeschlossen hatten, blieben allerdings nur auf dem Schlachtfeld vereint; nach dem Sieg über die Araber gingen sie nach Hause zurück, jeder in sein eigenes Land (vgl. Kocka 2005: 277). Der Dichter Waltharius betonte um 900 Europas Differenzen:
„Der dritte Teil der Erde, ihr Brüder, wird Europa genannt; den Sitten, den Sprachen und dem Namen nach unterscheidet es vielbunte Völker und deutlich trennen diese voneinander Kult wie Religion“ (zitiert nach Grießinger 2006: 35).
Der Europabegriff erlebte nach Grießinger eine kurze Blüte im Reich Karls des Großen[6], der oftmals auch ,Vater Europas’ genannt wird (vgl. Guerrina 2002: 24), da für ihn die Christenheit und Europa identisch waren. Seine historische Hauptleistung sieht Zowislo (2000: 225) in der Verhinderung des drohenden Untergangs der lateinischen Welt, die aufgrund der Völkerwanderungen von Veränderungen geprägt war, indem er auf Grundlage der Sprache und Literatur des Römischen Reiches das Fundament für eine mittelalterliche Einheit Europas schuf. Latein konnte sich seit damals als internationale Sprache der Wissenschaft etablieren und bildet als „geistiges und kulturelles Band des Kontinents [...] die Basis der gesamten ideellen Einheit Europas“ (ebd.). Karl der Große konnte nach seinem Herrschaftsantritt das Frankenreich zur wichtigsten Macht in Europa aufbauen sowie die unbestrittene politische Vormachtstellung im Westen des ehemaligen Römischen Reiches erringen. Dabei wurde die Religion zum Einheitsfaktor des Frankenreiches und auch das heutige Europa betont immer wieder seine christlichen Werte, die dem Kontinent eine gemeinsame Basis verleihen, da er seit dieser Zeit mit christlichen Werten und Traditionen assoziiert wird: „Charlemagne’s legacy [...] rests [...] in having established an enduring link between Europe and Christendom“ (Guerrina 2002: 25). Dennoch bedeutete das morgenländische Schisma im Jahr 1054, die Trennung der römisch-katholischen von der griechisch-orthodoxen Kirche, die Griechenland bzw. das byzantische Reich umfasste, das Ende eines vereinten Christentums und verdeutlicht, wie unbeständig eine Vereinigung Europas unter dem Banner des Christentums ist (vgl. ebd.).
Dennoch wurde der innerchristlich-innereuropäische Zusammenhang durch die Kreuzzugserfahrung befördert und zur Sprache gebracht, zumindest für den lateinischen Westteil der Christenheit (vgl. Grießinger 2006: 35). Das Christentum wird häufig assoziiert mit territorialen Kämpfen zwischen Christen und Muslimen. Diese hatten im achten Jahrhundert die iberische Halbinsel erobert und kontrollierten außerdem Jerusalem, was die Kreuzzüge im 11. Jahrhundert heraufbeschwor. Die Kreuzzüge waren nach Kocka (2005: 277) ein christliches, vom Papst in Rom gestütztes Unternehmen mit antiislamischer, zum Teil anti-jüdischer Stoßrichtung, das den Kampf um den Zugang zum Heiligen Land einschloss. Mit der osmanischen Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 endete schließlich das Oströmische Reich und die Furcht vor den vordringenden Türken brachte die Völker Europas dazu, weiter zusammenzurücken und sich zu vereinen. So bezeichnet Kocka den Propheten Mohammed sowie die osmanischen Sultane als „gewalttätigen Geburtshelfer“ Europas (ebd.).
Insgesamt lässt sich also feststellen, dass der Europabegriff, der im Mittelalter mit dem des Christentums gleichgesetzt wurde, und ein Gemeinschaftsgefühl unter den europäischen Völkern überwiegend dann auftraten, wenn die islamische Welt das christlich-europäische Reich bedrohte. Ohne diese äußere Bedrohung betonten die europäischen Völker im Mittelalter eher ihre Unterschiede als ihre Gemeinsamkeiten. Dennoch ersetzt das heutige Europa zu großen Teilen das mittelalterliche Konzept des Christentums, wobei die christlichen Werte und Traditionen die Identität Europas in großem Maße prägen.
2.2.4 Reformation, Renaissance und Kolonialismus
Obwohl das Christentum eine entscheidende Rolle in der Entwicklung Europas spielte und immer noch spielt, beendete die Reformation im Jahr 1517 die Einheit der christlichen Kirche und bereitete den Weg für die Entstehung eines weltlichen Europas: „The idea of ’Europe’ as a secularly defined continent emerged to displace the older notion of ’Christendom’“ (Gowland et al. 2006: 22). Von Deutschland ausgehend zerfiel die abendländische Christenheit in beinahe ganz Europa in Katholiken, Protestanten und Calvinisten, was zu blutigen Religionskriegen führte, die zunächst auf nationaler Ebene stattfanden und im dreißigjährigen Krieg (1618 - 1648) europäische Ausmaße annahmen.
Sowohl Kriege und Reformation, aber auch Einflüsse der Renaissance (,Wiedergeburt[7] ’) und des Humanismus führten zu tief greifenden Veränderungen in den einzelnen europäischen Staaten sowie in Europa insgesamt. Die Etablierung von weltlichen Werten und zeitlich begrenzter Macht anstelle einer päpstlichen Vormachtsstellung führten zu einer neuen politischen und sozialen Ordnung. Der Westfalische Friede im Jahr 1648 hatte den Aufstieg der souveränen Territorialstaaten und den damit verbundenen unaufhaltsamen Niedergang christlich-universalistischer Ordnungsvorstellungen zur Folge und kann als Vorstufe der Nationalstaatsbildung gedeutet werden (vgl. Kampmann 1994: 46 f.). Die Aufteilung Europas in souveräne Einzelstaaten begründete die politische wie kulturelle Vielgestaltigkeit und Uneinheitlichkeit, die für die Identität Europas so bestimmend geworden ist. Zu dieser Entwicklung trug auch Niccolo Machiavelli[8] mit seinem Werk Il Principe (,Der Fürst’, 1513) bei, indem er aufzeigt, welche Ziele und Prinzipien ein Herrscher befolgen muss, um politische Macht zu gewinnen und zu bewahren, wobei das politische Ziel eine Republik darstellte (vgl. Guerrina 2002: 33). Neben den politischen Veränderungen trug die Renaissance außerdem zur Belebung des antiken Gedankenguts bei, bereicherte die europäische Kultur um diverse Schriften, Gemälde, Baudenkmäler und Skulpturen und führte zu einer Kultur der Gebildeten an den Höfen, Universitäten und Bürgerstädten (vgl. Kocka 2005: 278). Zahlreiche Künstler, Wissenschaftler, Dichter und Denker leisteten ihren Beitrag zur Herausbildung der charakteristischen Wesensmerkmale Europas, die heute noch von enormer Bedeutung sind.
Die Vorstellung von Europa veränderte sich besonders in der Zeit der Kolonisierung und des Imperialismus: „Through exploration, trade and colonial rule, Europeans developed new views of themselves compared with other populations of the world, particularly those they conquered“ (Gowland et al. 2006: 23). Das Gefühl der Überlegenheit Europas gegenüber der restlichen Welt mit Europa als Zentrum der Zivilisation sowie die erneute Erschaffung eines europäischen oder farbigen’ Anderen - um die ,Kolonisierer’ von den Kolonisierten zu unterscheiden - sind bedeutende Eigenschaften, die das heutige Verständnis von Europa beeinflussten. Die Kulturbegegnung mit dem Fremden in Amerika, Asien und Afrika rief ein europäisches Selbstbewusstsein hervor, sodass bereits 1533 von ,Europa nostra’ gesprochen wurde (vgl. Grießinger 2006: 37). Die Gemeinsamen Eigenschaften der Europäer wurden deutlicher gesehen als in den Jahrhunderten zuvor und denen der Anderen gegenübergestellt, wie es beispielsweise der Franziskaner Andre Thevet (um 1502 - 1590) tat:
„Der Wilde ist nackt, wir Europäer sind bekleidet; der Wilde hat weder Vernunft noch Religion wie wir, er isst Menschen, wir nicht; die Wilden leben wie Tiere, wir leben in zivilisierter Weise“ (zitiert nach Grießinger 2006: 37).
Die Kolonisierung und die Entdeckung überseeischer Kulturen bedeuteten auch grundlegende Veränderungen der politisch-wirtschaftlichen Strukturen, da die ausgedehnten Handelswege die Grundlage für ein kapitalistisch ausgerichtetes wirtschaftliches Wachstum in Europa darstellten. Die Entdeckungen sowie verbesserte kartographische Techniken riefen die Anfertigung neuer Weltkarten hervor, die sich von den mittelalterlichen Karten und Darstellungen der Welt deutlich unterschieden (vgl. Gowland et al. 2006: 22; s. Abb. 4). Europa befand sich zumeist im Zentrum dieser Karten, bei denen nun der Norden anstelle des Ostens oben platziert wurde. Sie repräsentierten Anschauungen, die nicht etwa an Rom oder Jerusalem ausgerichtet waren, sondern an den Interessen neuer Handelszentren Nordeuropas und des Atlantiks wie Amsterdam, Hamburg, Lissabon oder London.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 4: Weltkarte von Martin Waldseemüller[9], 1507 Quelle: Library of Congress, Geography and Map Division
2.2.5 Absolutismus und Aufklärung
Der Absolutismus, der etwa zur gleichen Zeit angesiedelt werden kann wie die Bewegung der Aufklärung, nämlich vom Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648) bis hin zur Französischen Revolution (1789), stellte zu dieser Zeit auf dem europäischen Kontinent die wichtigste Herrschaftsform dar (vgl. Schubert/Klein 2006: 13). Basierend auf der Idee der Herrschaft von Gottes Gnaden wurde durch den Aufbau von staatlichen Bürokratien zur Modernisierung von Verwaltung und Militär während des Absolutismus die Ausübung der Herrschaft gefestigt und gleichzeitig die Idee einer unumschränkten staatlichen Souveränität entwickelt. Somit wurden mit dem Absolutismus die wichtigsten Grundlagen für die Herausbildung der modernen Nationalstaaten gelegt, zu denen staatliche Integrität sowie Souveränität zählen. Nach Davies (1997: 596) hatte der Absolutismus eine besondere Auswirkung auf die Bewegung der Aufklärung: „[I]t [...] enlarged the margin of intellectual tolerance which the philosophes of the Enlightenment were able to exploit“ [Hervorhebung im Original].
[...]
[1] „derselbe, der gleiche“
[2] Der Europa-Tag wurde 1985 in Erinnerung an die Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950, die als Grundstein der heutigen Europäischen Union angesehen wird, ins Leben gerufen.
[3] Der Geograph Hekataios von Milet sprach bereits im 6. Jahrhundert vor Christus von den beiden Erdteilen Europa und Asien. Die Dreiteilung der Welt durch Herodot in Europa, Asien und Libyen (Nordafrika) im 5. Jahrhundert vor Christus blieb die gesamte Antike und das Mittelalter hindurch bestehen.
[4] Die folgenden Kapitel stellen jeweils nur einzelne Elemente der europäischen Geschichte dar und sind nicht als chronologische Abhandlung zu verstehen.
[5] Karl Martell (*ca. 688 t 741); fränkischer Hausmeier und Großvater Karls des Großen
[6] Karl der Große, franz./engl.: Charlemagne (*747 t 814); war seit dem 9. Oktober 768 König des Fränkischen Reiches und seit dem 25. Dezember 800 römischer Kaiser.
[7] Der Begriff wird bezogen auf das kulturelle Aufleben der griechischen und römischen Antike. Die Anfänge der Renaissanceepoche werden im späten 14. Jahrhundert in Italien gesehen; als Kernzeitraum gelten das 15. und 16. Jahrhundert
[8] Niccolo Machiavelli (*1469 t 1527); italienischer Politiker, Philosoph, Geschichtsschreiber und Dichter
[9] Martin Waldseemüller (* ca. 1470 t 1522); deutscher Kartograph
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