Alle Entwürfe eines Verfassungspatriotismus verstehen sich als Konzepte einer sogenannten „zivilen Gesellschaft“, einer Bürgerdemokratie auf demokratischer Grundlage. Ihre Abwendung von Despotie und Diktatur, aber auch von allen nationalistischen oder ethnozentristischen Regimen stellt ihren gemeinsamen Nenner dar. Auf dessen Basis freilich kommen sie zu den unterschiedlichsten Konsequenzen (Lietzmann 2000, 221). Die Diskussionen um den Begriff bzw. um seine inhaltliche Ausgestaltung und auch seine Geltungsberechtigung kommen seit Jahrzehnten immer mal wieder auf. Die geäußerten Meinungen in diesem Diskurs gehen dabei weit auseinander, dies hat nicht nur der „Historikerstreit“ 1986/87 gezeigt.
Stellvetretend soll im Folgenden das Konzept von Dolf Sternberger dem vom Jürgen Habermas vergleichend gegenübergestellt werden. Ist der Begriff Verfassungspatriotismus nur ein Notbehelf für das geteilte Deutschland gewesen, um den Patriotismus vom integralen Nationalismus abzugrenzen und dem „verwundeten“ Nationalgefühl der Deutschen nach jener Zeit einen passenderen Rahmen zu geben, und damit überholt, oder kann er ein tragfähiges Konzept sein, um dem modernen, reflektierenden Staatsbürger die politische Identitätsbildung postnational zu ermöglichen?
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Begriffsbestimmung nach Dolf Stemberger
1.1 Patriotismus
1.2 Verfassung: Gesetz oder Grundordnung?
1.3 Kritik
2 Begriffsbestimmung nach Jürgen Habermas
2.1 Verständnis des Verfassungspatriotismus
2.2 Bezugspunkte des Verfassungspatriotismus
2.3 Postnationale Identitätsbildung
2.4 Kritik
3 Zusammenfassung
Einleitung
Alle Entwürfe eines Verfassungspatriotismus verstehen sich als Konzepte einer sogenannten „zivilen Gesellschaft“, einer Bürgerdemokratie auf demokratischer Grundlage. Ihre Abwendung von Despotie und Diktatur, aber auch von allen nationalistischen oder ethnozentristischen Regimen stellt ihren gemeinsamen Nenner dar. Auf dessen Basis freilich kommen sie zu den unterschiedlichsten Konsequenzen (Lietzmann 2000, 221). Die Diskussionen um den Begriff bzw. um seine inhaltliche Ausgestaltung und auch seine Geltungsberechtigung kommen seit Jahrzehnten immer mal wieder auf. Die geäußerten Meinungen in diesem Diskurs gehen dabei weit auseinander, dies hat nicht nur der „Historikerstreit“ 1986/87 gezeigt.
Stellvetretend soll im Folgenden das Konzept von Dolf Sternberger dem vom Jürgen Habermas vergleichend gegenübergestellt werden. Ist der Begriff Verfassungspatriotismus nur ein Notbehelf für das geteilte Deutschland gewesen, um den Patriotismus vom integralen Nationalismus abzugrenzen und dem „verwundeten“ Nationalgefühl der Deutschen nach jener Zeit einen passenderen Rahmen zu geben, und damit überholt, oder kann er ein tragfähiges Konzept sein, um dem modernen, reflektierenden Staatsbürger die politische Identitätsbildung postnational zu ermöglichen?
1 Begriffsbestimmung nach Dolf Sternberger
Der Politologe Dolf Sternberger hatte den Begriff des Verfassungspatriotismus kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in die Diskussion eingeführt, um so ein neues geistiges Fundament der Gesellschaft aufzuzeigen. Er arbeitete sein hinter dieser Begrifflichkeit verborgenes Politikmodell unter verschiedenen Überschriften aus: mal (1949) unter dem Etikett der „Vaterlandsliebe“, dann (1959) als „Vaterländische Gesinnung“ im Verfassungsstaat und 1963 als „Staatsfreundschaft“. Es ging Sternberger jedoch nicht um eine wissenschaftlich-historische Herleitung des Begriffes, sondern vielmehr um die Bestimmung der Normen für das neue deutsche Staatswesen.
Sternberger interessierte, welches politische Zugehörigkeitsgefühl die Westdeutschen nach der deutschen Teilung charakterisiere. Aufgrund der staatlichen Teilung bleibe das herkömmliche Nationalgefühl „verwundet“ und reiche daher für die politische Identitätsbildung der Deutschen nicht aus. Verfassungspatriotismus scheint hier also eher ein Kompensationsbegriff zur Beschreibung des politischen Zugehörigkeitsgefühls der Deutschen im bundesdeutschen Provisorium zu sein. Jedoch wollte Sternberger seinen Verfassungspatriotismus ausdrücklich nicht als bundesrepublikanischen „Notbehelf“ verstanden wissen (Rilinger 2002, 46; Molt 2006, 30).
Die BRD hatte ein „Grundgesetz“, das eben deshalb nicht Verfassung genannt worden war, weil seine Autoren mit ihrem Entwurf den Gedanken an eine nur vorläufige Ordnung verbunden hatten. Für eine endgültige, eine richtige Verfassung hatten sie sich nicht legitimiert gesehen. Diese Verfassung sollte sich das geteilte Land und sein Staatsvolk dann geben, wenn es seine Einheit in Freiheit wieder gefunden haben würde. Sternberger hatte schon 1947, also zwei Jahre vor dem Grundgesetz, verfassungspatriotische Gedanken geäußert und wiederholte später seine Idee vom Verfassungspatriotismus als einer Vaterlandsliebe, die sich auf eine rechtsstaatlich verfasste Republik fixiert und nicht auf die völkische Nation. Letztlich beschreibt der Verfassungspatriotismus Sternbergers die Gegenposition zu dem im Wilhelminischen Deutschland entstandenen hypertrophen Verständnis von Nation und erst recht zum völkisch begründeten Nationalismus der radikalen Rechten (Blänkner 2003, 29; Simon 2007, 2).
Der Begriff Verfassungspatriotismus weist nach Sternberger zwei Bestandteile auf: den Rekurs auf die Verfassung und den auf den Patriotismus. Somit findet dieser Verfassungspatriotismus seine Grundlage einerseits im Recht und in der Gewährung von Freiheit, andererseits in der geschichtlichen Überlieferung, ausgebildeten Sprachkultur und dichteren ethnischen Zusammengehörigkeit.
1.1 Patriotismus
Doch was ist Patriotismus? Lässt er sich auf die begeisterte Liebe zum Vaterland, auf vaterländische Gesinnung reduzierend vereinfachen? Ist er gar nur eine andere Umschreibung für Nationalismus, für die Aufwertung der eigenen Nation im Gegensatz zu anderen? Keineswegs, nach allgemeiner Auffassung ist er mehr als das. Patriotismus bezeichnet ein sozialpolitisches Verhalten der Bürger, in dem nicht primär die eigenen Interessen im Vordergrund stehen, sondern das Gemeinwohl. Patriotismus hat nichts mit der Abwertung von anderen Völkern, nichts mit historischer Aufrechnung von Schuld zu tun, es geht nicht um rekonstruierte „Blut- und Bodenmystik“: Hitler, Goebbels oder Himmler, sie waren gerade keine deutschen Patrioten (Kronenberg 2004, 32).
Sternberger versteht Patriotismus nicht als eine vaterländische Gesinnung, als eine Geisteshaltung, die in der deutschen Erinnerung vorwiegend mit der deutschen Nation verbunden, ja geradezu verschmolzen war. Patriotismus wurde ursprünglich nicht nur als ein nationaler gedacht, sondern er hatte durchaus auch etwas mit Staat und Verfassung zu tun. Der Patriotismus ist älter als der Nationalismus, älter auch als die gesamte nationalstaatliche Organisation Europas. Schon zuvor bildete die Gewährung von bürgerlichen Freiheiten und Rechten seitens des Staates die Grundlage, um eine Gesellschaft zusammenzuhalten. Diese Freiheiten und Rechte wurden kodifiziert, also in Gesetze ausgeformt. Auf diese Gesetze rekurrierte der Patriotismus, und hierin sieht Sternberger den frühen Verfassungspatriotismus (Rilinger 2002, 46).
Zur Begründung seines Begriffs von Verfassungspatriotismus griff Sternberger darum historisch weit aus. Im Unterschied zum Nationalismus habe der Verfassungspatriotismus lange und starke historische Wurzeln in der lateinisch-humanistischen Tradition, von Cicero über den politischen Bürgerhumanismus im Florenz der Renaissance bis hin zum aufgeklärten Patriotismus im 18. Jahrhundert bei Thomas Abbt und Montesquieus „Geist der Gesetze“ (Sternberger 1990, 24; Blänkner 2003, 29).
Sternberger hatte weder an eine Urkunde noch an Land und Volk gedacht, sondern er beabsichtigte, ein Gegenbild zum völkisch-nationalen Patriotismus zu entwerfen. Er versuchte, die historische Existenz eines politischen Patriotismus zu beweisen, der sich nur auf die Gesetze des Staates und die persönliche Freiheit richten sollte, lange bevor Nation und Nationalstaat die patriotische Alleinherrschaft antraten. Er strebte weg von den unheiligen, romantischen und mythologischen Emotionen. Nicht dumpfer Irrationalismus, sondern die Vernunft des freien Bürgers sollte die Herrschaft übernehmen. Der Kopf also, nicht der Bauch. Sternberger ging davon aus, dass Patriotismus nicht an ein spezifisches Nationalgefühl gebunden sein müsse, sondern auch als außer-nationale Vaterlandsliebe verstanden werden könne. Er betonte in seinen Schriften immer wieder die politische Dimension des Patriotismus (Bizeul 2007, 36; Simon 2007,3).
Das Zentrum seiner Überlegungen war die staatliche Autorität. Die Essenz seiner Anschauungen war der streng und ausschließlich politische Vaterlandsbegriff. Kritik von Seiten der Bürger ist nur als staatssichernde zulässig und erwünscht. Staatlichkeit und Gesellschaft verbinden sich in diesem Begriff des Patriotismus weniger mit Geborgenheits- und Heimatgefühlen, als mit den Attributen einer patriarchalen und hierarchischen Macht- und Ordnungsidee. Wie Sternberger sagte: der „distanzierte^) Macht“! Verfassungspatriotismus führt vor diesem Hintergrund zwar zu Bürgerbeteiligung an der Politik, aber nicht im Sinne einer gleichberechtigten, kritikfähigen und kritikbereiten, also offenen Gesellschaftlichkeit, sondern im Sinne einer fraglosen Identifizierung mit der Staatlichkeit, mit der Verfassung (Lietzmann 2000, 223).
1.2 Verfassung: Gesetz oder Grundordnung?
Was aber konnte unter den Bedingungen von 1959 der Ausdruck Verfassungspatriotismus bedeuten? Sollte sich die Vaterlandsliebe auf den 1949 beschlossenen Text des Grundgesetzes beziehen, also auf die Gesetzesartikel in einer Urkunde oder auf eine Verfassung im Sinne von Zustand des Landes und seiner Verhältnisse? An die Stelle der erzwungenen und doktrinären Bejahung des Staates soll die bereitwillige und freiwillige Akzeptanz von verfassungsgebundener Staatlichkeit treten. Die Bürger in der Demokratie sollen sich aus freier Einsicht der staatlichen Führung als einer sachlichen Autorität anvertrauen (Simon 2007, 2).
Der Begriff des Vaterlandes erfüllt sich in seiner freien Verfassung, nicht bloß in seiner geschriebenen, sondern in der „lebenden Verfassung“, in der sich alle als Bürger des Landes befinden, an der sie täglich teilnehmen und sich weiterbilden. Damit ist jedoch nicht so sehr der Text der geschriebenen Verfassung, sondern die gelebte Verfassung, d.h. die in einem konkreten Staat praktizierte politischmoralische Wertordnung und letztlich die Bindung an die freiheitlich-demokratische Ordnung gemeint. Die Freiheitlichkeit der Verfassung eines Staates zeigte sich für Sternberger also nicht nur in den in ihr verankerten Grundrechten, sondern auch in einem adäquaten Regelwerk der Entscheidungsprozesse, im extrakonstitutionellen politischen Betrieb und im politischen Stil (Voigt 1995, 3; Molt 2006, 31; Sternberger 1990, 26).
Probleme für die Identitätsstiftung der Bundesrepublik sah er in der gebrochenen Loyalität ihrer Bürger zu einem geteilten Land. In der Kraft der gemeinsamen Verfassung und des gemeinsamen Lebens und Handelns sah er den eigentlichen Kern des Staates. Damit stieß er an die Besonderheiten der Neugründung von 1949, an die Vorläufigkeit der Bundesrepublik, deren Institutionen nichts vorwegnehmen sollten. Das geteilte Land durfte keine Verfassung, sondern nur ein Grundgesetz haben. In der Bundesrepublik hatte Dolf Sternberger einen gewissen Verfassungspatriotismus beobachtet, also etwa die Bereitschaft, sich mit der politischen Ordnung und den Prinzipien des Grundgesetzes zu identifizieren. Sein Begriff des Verfassungspatriotismus unterstreicht die zentrale institutionelle Bedeutung und die Symbolkraft der Verfassung für das Leben einer Nation. Schließlich ist der Symbolcharakter des Grundgesetzes auch in der Geschichte seiner Verabschiedung begründet. Es dokumentiert den Neubeginn eines zivilisierten Staates und den Wiedereintritt der Deutschen in die Gemeinschaft der freien Völker (Molt 2006, 34).
Den Begriff des Verfassungspatriotismus prägte Sternberger aus der Freude über den geglückten Neubeginn der deutschen Demokratie. Im modernen Verfassungspatriotismus wollte er also den Begriff Verfassung nicht mit dem Grundgesetz von 1949 gleichgesetzt wissen, er sah ihn allgemeiner und sprach deshalb von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die unter Ausschluss der Gewalt und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit, der Freiheit und der Gleichheit darstellt. Das GG ist aus einem Provisorium zur Verfassung aller Deutschen geworden und hat Deutschland als Verfassungsstaat geprägt (Sternberger, 1990, 24; Sattler 2004, 45).
Bleibt die Frage, ob der Verfassung(sstaat) Patriotismus erwecken und bewahren kann. Sternberger formulierte es so: „Das Nationalgefühl bleibt verwundet, wir leben nicht im ganzen Deutschland. Aber wir leben in einer ganzen Verfassung, in einem ganzen Verfassungsstaat, und das ist selbst eine Art von Vaterland.“ (Sternberger 1990, 13)
Der Staat des Grundgesetzes also sei des Deutschen Vaterland und Verfassungspatriotismus deshalb der angemessene Ausdruck von Vaterlandsliebe. Die Verfassung der Bundesrepublik, in die unmittelbar die Erfahrung des Scheiterns der Weimarer Republik einging, war für ihn das Dokument eines noch immer gefährdeten Neuanfangs, ein kostbares Unterpfand deutscher Freiheit, an dem der freie Teil der Nation unbedingt festhalten müsse. Seiner Meinung nach dürfe man nicht der Versuchung nachgeben, aus der Verfassung um der Nation und ihrer Vollständigkeit willen auszuziehen. In Sternbergers Definition ist noch deutlich präsent, dass Verfassungspatriotismus das Annehmen und Verarbeiten eines Verlustes ist. Die Freiheit muss im Zweifel durch den Verzicht auf die Einheit bezahlt werden. Ohne Trauer ist also nach Sternberger über Verfassungspatriotismus nicht zu reden (Sternberger 1990, 31; Fuhr 2007, 5).
1.3 Kritik
Die Kritiker haben an dieser Idee so manches zu bemängeln. Verfassungspatriotismus sei ein postnationaler Begriff, der die Tatsache negiere, dass der Nationalstaat weiterhin das politische Ordnungsprinzip Europas sei. Der Verfassungspatriotismus sei ein Notbehelf für das geteilte Deutschland gewesen, für das wiedervereinigte reiche er nicht mehr aus. Es sei an der Zeit, dass die Deutschen, wie ihre Nachbarn, sich endlich wieder als eine normale Nation verstünden. Verfassungspatriotismus genüge nicht wirklich, emotionale Bindungen zu erzeugen, er habe keine gesellschaftliche Bindekraft, er sei zu formal, zu kühl, zu rational, zu dünn und zu blutleer. Der Verfassungspatriotismus negiere die geschichtlich gewachsene Schicksals- und Erlebnisgemeinschaft, er sei ein Scheinkonzept, der Bürger finde seine Grundidentität nicht in der Verfassung.
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- Quote paper
- Dipl. Pol. Anke Datemasch (Author), 2007, Verfassungspatriotismus – eine vergleichende Darstellung der Begriffsbestimmung bei Dolf Sternberger und Jürgen Habermas, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/148575
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