Große Teile der deutschen Öffentlichkeit, die Politik und nicht zuletzt die Justiz beschäftigt der Umgang mit dem historischen Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder“ seit Jahrzehnten. Einen Höhepunkt erlebte die Diskussion als „Nebenkriegsschauplatz“ Anfang und Mitte der 90er Jahre. Grundlegend ging es dabei um die Frage nach den Implikationen der veränderten Sicherheitslage am Ende des Ost-West-Konflikts und daraus resultierend um die Rolle und das Selbstverständnis der Bundeswehr innerhalb der bundesdeutschen Demokratie. Beispielhaft seien dafür die bis heute andauernde Diskussion um die Notwendigkeit der Wehrpflicht und der Beginn der neuen Ära der „Landesverteidigung am Hindukusch“ mit den ersten Auslandseinsätzen deutscher Soldaten nach dem zweiten Weltkrieg genannt. In den Focus geriet dabei eine Institution, die seit 1951 zu den Grundpfeilern des politischen Systems der Bundesrepublik gehört: Das Bundesverfassungsgericht. Mit seinen Entscheidungen vom 25. August 1994 und vom 10. Oktober 1995 die unter den Schlagworten „Soldaten sind Mörder“ oder „Tucholsky-Urteil“ bekannt wurden, sorgte es für Aufsehen und monatelange Diskussionen.
Ziel dieser Arbeit ist es, rückblickend eine Chronologie der Ereignisse vorzunehmen. Dazu zählen der historische Entstehungszusammenhang des umstrittenen Zitats, die exemplarische Darlegung eines der verhandelten Fälle sowie die Reaktionen auf die Urteile. Im Mittelpunkt steht dabei eine Analyse der Kriterien und die ihnen zugrundliegende Abwägung der tangierten Grundrechtsnormen und Gesetze, welche das Bundesverfassungsgericht veranlassten, den Verfassungsbeschwerden stattzugeben. Dabei wird sich zeigen, dass die Urteile - entgegen des damals weitverbreiteten Eindrucks – nicht überraschend ausfielen, sondern sich in Übereinstimmung mit der Tradition der fortlaufenden Rechtssprechung des BVerfG befanden. Am Anfang der Arbeit steht jedoch eine Einführung in die politische und juristische Vorgeschichte der beiden Entscheidungen. Diese begann mehr als sechs Jahrzehnte zuvor in der Endphase der Weimarer Republik. Dies ist – über die reine Sachinformation hinaus - insofern sinnvoll, als sich bereits hier, im Jahre 1931 die grundlegenden Argumentationslinien in der Auseinandersetzung um das Zitat Kurt Tucholskys aufzeigen lassen.
Inhalt
I. Sind Soldaten Faxgeräte – eine Einführung
II. Bewachter Kriegschauplatz – die publizistische und juristische Vorgeschichte
2.1 Kleines Zitat mit großer Wirkung
2.2 Erste Urteile und Antworten
2.3 Bundesdeutsche Urteile seit 1984
III. Kein Freispruch - Entscheidungen des BverfGG
3.1 Kammerentscheidung vom 25. August 1994
3.2 Eine Fallgeschichte
3.3 Senatsbeschluss vom 10. Oktober 1995
IV. Schon 1958 alles gesagt - die Argumentation
4.1 Lüth-Urteil und Wechselwirkungstheorie
4.2 Was ist ein Mörder?
4.3 Wer kann beleidigt werden?
4.4 Enge Grenzen für Schmähkritik
4.5 Die Urteilsformel
V. Skandalurteil und Superrevisionsinstanz – juristische und politische Reaktionen
5.1 Ehrenschutzgesetz gegen „Schandurteil“
5.2 Kritisches Sondervotum
VI. Zusammenfassung
VII. Bibliographie
I. Sind Soldaten Faxgeräte? – eine Einführung
Mörder darf man sie nicht nennen
Denn Soldaten sind sensibel
Legen Hand auf Herz und Bibel
Fangen dann noch an zu flennen:
"Ihr sollt uns nicht Mörder nennen!"
Ja, wie soll man sie denn nennen?
Faxgeräte? Sackgesichter?
Zeugungsfähiges Gelichter?
Freddies, die auf Totschlag brennen?
Weder Geist noch Güte kennen?
Oder sind sie Schnabeltassen?
Tennisschläger? Liebestöter?
Kleiderständer? Brausepöter?[1]
Nicht nur den Satiriker Wiglaf Droste treibt die Frage „Ja, wie soll man sie denn nennen?“ um. Auch große Teile der deutschen Öffentlichkeit, die Politik und nicht zuletzt die Justiz beschäftigt der Umgang mit dem historischen Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder“ seit Jahrzehnten. Einen Höhepunkt erlebte die Diskussion als „Nebenkriegsschauplatz“ Anfang und Mitte der 90er Jahre. Grundlegend ging es dabei um die Frage nach den Implikationen der veränderten Sicherheitslage am Ende des Ost-West-Konflikts und daraus resultierend um die Rolle und das Selbstverständnis der Bundeswehr innerhalb der bundesdeutschen Demokratie. Beispielhaft seien dafür die bis heute andauernde Diskussion um die Notwendigkeit der Wehrpflicht und der Beginn der neuen Ära der „Landesverteidigung am Hindukusch“ mit den ersten Auslandseinsätzen deutscher Soldaten nach dem zweiten Weltkrieg genannt. In den Focus geriet dabei eine Institution, die seit 1951 zu den Grundpfeilern des politischen Systems der Bundesrepublik gehört: Das Bundesverfassungsgericht[2]. Mit seinen Entscheidungen vom 25. August 1994 und vom 10. Oktober 1995 die unter den Schlagworten „Soldaten sind Mörder“ oder „Tucholsky-Urteil“ bekannt wurden, sorgte es für Aufsehen und monatelange Diskussionen. Das sich derart fundamentale Fragen in der öffentlichen Auseinandersetzung auf einen Satz reduzierten, gehört scheinbar zu den Spielregeln moderner Mediendemokratien, soll aber hier nicht weiter thematisiert werden.
Ziel dieser Arbeit ist es, rückblickend eine Chronologie der Ereignisse vorzunehmen. Dazu zählen der historische Entstehungszusammenhang des umstrittenen Zitats, die exemplarische Darlegung eines der verhandelten Fälle sowie die Reaktionen auf die Urteile. Im Mittelpunkt steht dabei eine Analyse der Kriterien und die ihnen zugrundliegende Abwägung der tangierten Grundrechtsnormen und Gesetze, welche das Bundesverfassungsgericht veranlassten, den Verfassungsbeschwerden stattzugeben. Dabei wird sich zeigen, dass die Urteile - entgegen des damals weitverbreiteten Eindrucks – nicht überraschend ausfielen, sondern sich in Übereinstimmung mit der Tradition der fortlaufenden Rechtssprechung des BVerfG befanden. Am Anfang der Arbeit steht jedoch eine Einführung in die politische und juristische Vorgeschichte der beiden Entscheidungen. Diese begann mehr als sechs Jahrzehnte zuvor in der Endphase der Weimarer Republik. Dies ist – über die reine Sachinformation hinaus - insofern sinnvoll, als sich bereits hier, im Jahre 1931 die grundlegenden Argumentationslinien in der Auseinandersetzung um das Zitat Kurt Tucholskys aufzeigen lassen.
II. Bewachter Kriegschauplatz - die publizistische und juristische Vorgeschichte
2.1 Kleines Zitat mit großer Wirkung
Der Beitrag des deutschen Journalisten, Satirikers und Dichters Kurt Tucholsky, welcher noch 60 Jahre später politischen Sprengstoff enthält, war eher klein und unscheinbar, fast am Ende der „Weltbühne Nr. 191“ vom 4. August 1931 zu finden. In dem polemischem Aufsatz „Der bewachte Kriegschauplatz“ beschreibt Tucholsky unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel, wie Feldgendarmen im 1. Weltkrieg den Kriegsschauplatz absperrten und Deserteure erschossen:
„So kämpften Sie. Da gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde davon entfernt ebenso streng verboten war. Sagte ich: Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder.“
Dieser Beitrag des überzeugten Pazifisten Tucholsky erlangte eine jahrzehntelange Präsenz im öffentlichen Bewusstsein, wie sie keiner seiner anderen Veröffentlichungen beschieden war. Er war immer wieder Auslöser heftigster publizistischer und politischer Auseinandersetzungen und wurde schon bald nach dem Erscheinen zum Gegenstand von Gerichtsverhandlungen.
2.2. Erste Urteile und Antworten
Sich speziell auf den letzten Satz beziehend, erhob Reichswehrminister Groener im Dezember 1931 Anklage gegen den Chefredakteur der „Weltbühne“ Carl von Ossietzky wegen „Verächtlichmachung des Soldatenberufes“. Der Autor Kurt Tucholsky befand sich - unerreichbar für die deutsche Justiz - in Schweden. In der Verhandlung, die am 1. Juli 1932 vor dem Kriminalgericht Moabit[3] begann, argumentierte Ossietzky:
„ Was den Ausdruck „Soldaten sind Mörder“ anbetrifft, so betone ich, daß es selbstverständlich ist, daß darin nicht eine juristische Bezeichnung enthalten ist. (...) Es ist ja nicht von deutschen, englischen oder französischen Soldaten gesprochen worden, sondern nur von dem Begriff Soldaten. Es ist in dem Artikel auch nicht Bezug genommen worden auf die Reichswehr, sondern auf den vergangenen
Weltkrieg. “[4]
In der Verteidigungsrede Ossietzkys finden sich so bereits zwei der Argumente, mit denen auch das Bundesverfassungsgericht 1994 und 1995 seine Urteile begründet. Besonders den zweiten Punkt, die Frage wer mit dem Wort Soldaten gemeint und somit beleidigt wurde, sieht das Gericht im Fall Tucholsky nicht konkret beantwortet und begründet seinen Freispruch folgendermaßen:
„ Das Gericht hat die Überzeugung gewonnen, daß in dem Artikel keine bestimmte Anzahl von Personen gemeint wäre und es hat auch nicht feststellen können, daß gerade die Angehörigen der Reichswehr, die am Weltkrieg teilgenommen haben, gemeint seien. “[5]
Auch das Berliner Kammergericht bestätigte am 17. November 1932 die Einschätzung der Vorinstanz, „ dass eine schwere Ehrekränkung nur dann bestraft werden kann, wenn sie sich auf Personen, nicht aber auf eine unbestimmte Gesamtheit bezieht “.[6] Die in beiden Urteilen gefundene Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit einer Kollektivbeleidigung von Soldaten macht sich später im Wesentlichen auch das BVerfG zu Eigen, wenn es argumentiert, dass sich „ die Kränkung hier sozusagen in der unübersehbaren Menge verliert und auf den einzelnen Gruppenangehörigen nicht mehr durchschlägt.“ [7] Eine erstaunliche juristische Kontinuität, angesichts derer es verwundert, dass zwischen 1931 und 1995 immer wieder Prozesse wegen der Verwendung des Zitats „Soldaten sind Mörder“ angestrengt wurden und entsprechende Verurteilungen erfolgten. Ebenso merkwürdig muteten die immergleichen politischen Reaktionen auf ergangene Freisprüche an. Schon die damalige Reichsregierung wollte sich mit den beiden juristischen Niederlagen nicht abfinden. Die Kritik auf die Urteile gipfelte in der Forderung nach einem speziellen Ehrenschutz für Soldaten. Ein Reflex, der auch 60 Jahre später noch funktionierte, wie zu zeigen sein wird. Zuerst soll jedoch darauf eingegangen werden, wie im Vorfeld der Entscheidungen des BVerfG die bundesdeutschen Strafgerichte über die Verwendung des Tucholsky-Zitates urteilten.
2.3 Bundesdeutsche Verurteilungen seit 1984
Seit 1984 beschäftigt der Satz „Soldaten sind Mörder“ auch bundesdeutsche Gerichte. In diesem Jahr hatte der Arzt Peter Augst als Vertreter der Friedensbewegung bei einer Podiumsdiskussion in Frankfurt zu einem Jugendoffizier gesagt: „ Jeder Soldat ist ein potentieller Mörder, auch Sie, Herr Witt.“ 1986 wird Augst wegen Volksverhetzung und Beleidigung zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Nach Berufung spricht ihn das zuständige Landgericht 1987 frei, das Oberlandesgericht hebt den Freispruch 1988 auf und verweist das Verfahren an eine andere Strafkammer des Landgerichtes zurück, die ihn schließlich 1989 erneut freispricht. Bereits dieser Freispruch sorgt für kontroverse Reaktionen in Öffentlichkeit und Politik. So zeigte sich der Verteidigungsausschuss des deutschen Bundestages „tief betroffen“ und brachte erstmals seit 1989 die Forderung nach einem speziellen Ehrenschutz für Soldaten der Bundeswehr auf die politische Tagesordnung. Neben diesem Fall kam es Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre zu weiteren Gerichtsverfahren, die mal mit Verurteilungen, mal mit Freisprüchen endeten. Angesichts der unklaren Rechtslage richtete sich das öffentliche Interesse verstärkt auf eine Grundsatzentscheidung durch das Bundesverfassungsgericht. Diese kam mit dem Urteil der 3. Kammer des 1. Senats vom 25. August 1994 über eine Verfassungsbeschwerde des Sozialpädagogen Christoph Hiller.
III. Kein Freispruch - die Entscheidungen des BVerfG
3.1 Kammerentscheidung vom 25. August 1994
Der anerkannte Kriegsdienstverweigerer hatte während des 2. Golfkrieges im Jahre 1991 neben zwei weiteren pazifistischen Aufklebern auch einen solchen mit der stilisierten Aufschrift "Soldaten sind Mörder" und der faksimilierten Unterschrift "Kurt Tucholsky" angebracht. Er wurde daraufhin vom Amtsgericht Krefeld[8] wegen Volksverhetzung (§ 130 StGB) verurteilt. Das Landgericht Krefeld[9] ergänzte das Urteil um den Tatbestand der Beleidigung nach § 185 StGB.[10] Nachdem das Oberlandesgericht Düsseldorf[11] die Revision als unbegründet nicht zuließ, zog Christoph Hiller mit einer Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung seiner Meinungsfreiheit nach Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 GG[12] vor das Bundesverfassungsgericht. Am 25. August 1994 beschließt die dritte Kammer des 1. Senats des BVerfG einstimmig:
„ Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 GG. (...) Die Entscheidungen werden aufgehoben.“[13]
Danach bricht ein Sturm der Entrüstung in der deutschen Öffentlichkeit los. Unter dem Eindruck der vielfältigen Kritik wird auch der Ruf nach einer „richtigen“ Entscheidung durch den achtköpfigen 1. Senat des Bundesverfassungsgerichtes anstelle seiner mit lediglich drei Richtern besetzten „Hilfskammer“ laut. Bei vielen Kritikern dürfte dabei die Hoffnung mitschwingen, es werde – nicht zuletzt aufgrund des öffentlichen Drucks - zu einer Korrektur des Urteils kommen. Eine trügerische Hoffnung.
3.2 Soldaten sind potentielle Mörder – eine Fallgeschichte
Im November 1989 fand eine Motorradaustellung in der Münchner Olympiahalle statt, auf der auch die Bundeswehr mit einem Informationsstand und vier Soldaten, vertreten war. Dort wurden militärische Gerätschaften und Videos gezeigt. Gegen die Anwesenheit der Militärs protestierten sechs Personen, von denen vier Flugblätter verteilten. Deren Inhalt bestand aus einem Text, der kritisch die zur Schau gestellte Technikfaszination und das Verschweigen der Realität von Krieg hinterfragt. Außerdem sind auf dem Flugblatt Bilder von Waffen und von im Vietnamkrieg getöteten Zivilisten abgebildet. Die beiden anderen Protestierer, darunter Frau K., halten gemeinsam ein Transparent mit der Aufschrift „Soldaten sind potentielle Mörder“ hoch. Das untere Drittel des Wortes Mörder ist mit dem Wort Kriegsdienstverweigerer unterlegt.
Drei der vier anwesenden Soldaten stellten daraufhin gegen die Demonstrantin Strafantrag wegen Beleidigung nach § 185 StGB. Nachdem sie gegen den Strafbefehl des Amtsgerichtes München vom 31. Mai 1990 Widerspruch einlegte, wird die Frau vom selben Gericht zusammen mit dem anderen Träger des Transparents wegen gemeinschaftlicher Beleidigung in drei rechtlich zusammenhängenden Fällen zu einer Geldstrafe verurteilt. Rechtsausführungen zur Frage der Kollektivschuld hielt das Amtsgericht dabei nicht für notwendig, da die vier anwesenden Soldaten unmittelbar betroffen gewesen seien. Es sah den Tatbestand der Beleidigung als erfüllt an und verneinte, dass dieser durch die Verwendung des Wortes „potentiell“ von vornherein ausscheide. Im Gegenteil, damit werde auf die innere Einstellung der Soldaten, die Bereitschaft zu töten abgezielt. Nach Ansicht des Gerichtes enthält der Begriff Mörder grundsätzlich die Missachtung einer Person, da unter Mord „ ganz allgemein die ethisch-moralisch auf niederster Stufe stehende, verwerflichste Handlung eines Menschen verstanden wird.“[14] Deshalb sei auch die Unterscheidung zwischen der juristischen Definition des Wortes „Mörder“ nach Paragraph 211 StGB[15] und dem umgangsprachlichen Gebrauch nicht wesentlich für den Straftatbestand. Zwar würden Soldaten zum Töten ausgebildet und ihnen sei klar, das im Krieg auch die Zivilbevölkerung betroffen sein könnte. Dies sei jedoch nicht das eigentliche Angriffsziel, sondern oft nur ungewollte Nebenfolge. Das billigend in Kauf genommene Töten des militärischen Gegners hingegen sei völkerrechtlich abgesichert, da Soldaten nur im Verteidigungsfall eingesetzt werden dürften.[16]
Die Angeklagten könnten sich auch nicht darauf berufen, ein „berechtigtes Anliegen“ nach § 193 StGB[17] in Verbindung mit Artikel 5 Absatz 1 Satz1 GG zu haben. Trotz des Schutzes der freien Meinungsäußerung, der auch die freie Wahl der Formulierung beinhaltet, seien die Umstände und die Angemessenheit der Formulierung entscheidend. Die verschärfte Kritik der Angeklagten am Militarismus sei nicht im Rahmen des Meinungsstreits zur politischen Willensbildung geschehen, sondern um gegen die Anwesenheit des Bundeswehrstandes zu demonstrieren. Ihre Ablehnung des Militarismus aber hätten sie auch durch andere, angemessene Formulierungen darstellen können. Ein Schutz durch Artikel 5 Absatz 1 Satz1 GG bestehe deshalb nicht.
Auch das Landgericht München[18] sah einen rechtswidrigen Angriff auf die Ehre der Soldaten und verwarf die Berufung der verurteilten Demonstrantin. Die Bezeichnung der Soldaten als Mörder sei als unzulässige Schmähkritik zu werten, bei der nicht die sachliche Auseinandersetzung, sondern die Herabsetzung des Ansehens der Soldaten und damit deren Diffamierung im Vordergrund gestanden hätten. Die anschließende Revision der Bundeswehrgegnerin verwarf das Bayerische Oberste Landesgericht[19] als offensichtlich unbegründet. Nachdem so der Instanzenweg ausgeschöpft war, legte die Verurteilte Verfassungsbeschwerde aufgrund der Verletzung ihrer Grundrechte resultierend aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 und Artikel 2 Absatz 1 GG[20] beim BVerfG ein. Darin argumentiert sie u.a., das Wort Mörder sei nicht als fachtechnischer Begriff im Sinne des § 211 StGB, sondern umgangssprachlich zu verstehen, da sie nicht an einer Diskussion unter Juristen, sondern am öffentlichen Meinungskampf teilgenommen habe. Sehe man in der Äußerung ein Werturteil, wie es ja auch die Strafgerichte taten, sei damit zwar eine Abwertung einer Person verbunden. Ihr sei es aber in erster Linie um die Auseinandersetzung in der Sache gegangen. Die Diffamierung der (anwesenden) Soldaten wäre dagegen nicht ihr Ziel gewesen.
3.3 Senatsbeschluss vom 10. Oktober 1995
Mit seinem Beschluss vom 10. Oktober 1995[21] entschied der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichtes über insgesamt vier Verfassungsbeschwerden, die sich alle auf Verurteilungen aufgrund des Satzes „Soldaten sind (potentielle) Mörder“ bezogen, darunter unter Punkt vier den eben geschilderten Fall. In allen Fällen wurde den Verfassungsbeschwerden stattgegeben und die strafrechtlichen Verurteilungen aufgehoben:
„ Die Verfassungsbeschwerden sind, soweit zulässig, begründet. Die angegriffenen Entscheidungen haben das Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art. 5 Abs. 1 Satz GG nicht in dem erforderlichen Umfang beachtet.“[22]
Die Entscheidung der fünf Richter und drei Richterinnen des 1. Senats fiel in einem Fall einstimmig, in den anderen Verfahren mit der knappsten möglichen Mehrheit von 5: 3 Stimmen.[23] In den folgenden Kapiteln sollen die Gründe dargelegt werden, aus denen heraus der 2. Senat den Verfassungsbeschwerden stattgab. Dabei wird zu zeigen sein, dass sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Argumentation treu blieb, und das nicht nur in Bezug auf den vorrausgegangenen Kammerbeschluss. Trotz der allgemeinen Überraschung über das Urteil waren dessen Grundlagen bereits in der ständigen Rechtssprechung des höchsten deutschen Gerichtes gelegt.
IV. Schon 1958 alles gesagt – Die Argumentation des BVerfG
4.1 Lüth-Urteil und Wechselwirkungstheorie
Als Erstes galt es für den 1. Senat des BVerfG die Frage zu klären, ob die bestraften Äußerungen als Meinungen überhaupt unter den Schutz von Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 GG fallen. Die acht Richter und Richterinnen bejahten dies. Der Satz „Soldaten sind Mörder“ sei keinesfalls als nicht durch die Meinungsfreiheit geschützte Tatsachenbehauptung zu verstehen, da die Beschwerdeführer nicht von bestimmten Soldaten behauptet hätten, diese hätten in der Vergangenheit einen Mord nach §211 StGB begangen. Vielmehr hätten sie ein persönliches Werturteil „über Soldaten und über den Soldatenberuf zum Ausdruck gebracht, der unter Umständen zum Töten anderer Menschen zwingt“.[24] Dies hätten auch die Strafgerichte richtig erkannt. Der damit verbundenen Grundrechtschutz der Meinungsfreiheit durch Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 GG beziehe sich sowohl auf den Inhalt als auch auf die Form der Meinungsäußerung, „ unabhängig davon, ob die Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird.“[25] Ebenso geschützt seien die Wahl von Zeit und Ort der Äußerung, deren Umstände der sich Äußernde frei wählen dürfe.
[...]
[1] Droste, Wiglaf; Sind Soldaten Faxgeräte?; in: „die tageszeitung“ (taz), 17.04.1996
[2] Im Weiteren auch BVerfG genannt
[3] nach anderen Quellen handelte es sich um das Schöffengericht Charlottenburg
[4] 8 Uhr-Abendblatt, Berlin, 1. Juli 1932
[5] Berliner Tageblatt, 2. Juli 1932 (Morgenausgabe)
[6] Berliner Tageblatt; 17. November 1932 (Abendausgabe)
[7] Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 46/95 I.; Karlsruhe, 7. 11.1995
[8] Urteil vom 29.10.1991 (28 Cs 9 Js 252/91)
[9] Urteil vom 05.05. 1992 (22 StK 92/91),
[10] „Die Beleidigung wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Beleidigung mittels einer
Tätlichkeit begangen wird, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder einer Geldstrafe bestraft.“
[11] Beschluss vom 28.08.1992 (5 Ss 279/92 - 84/92 I -)
[12] „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten,(...)“
[13] Bundesverfassungsgericht - 1BvR 1423/92 -
[14] Urteil des Landgerichtes München vom 21. September 1990 8473 Cs 115 Js 4834/89 -, d)
[15] „Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, aus Habgier oder sonst aus niederen
Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu
ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.“
[16] Gemeint sein dürfte das Verbot eines Angriffskrieges nach Artikel 26 GG und UN-Resolution 3314 vom 14.Dezember 1974
[17] „Tadelnde Urteile über wissenschaftliche, künstlerische, oder gewerbliche Leistungen, desgleichen Äußerungen, welche zur
Ausführung oder Verteidigung von Rechten, oder zur Wahrnehmung berechtigter Interessen gemacht werden, (...), und
ähnliche Fälle, sind nur insofern strafbar, als das Vorhandensein einer Beleidigung aus der Form der Äußerung oder aus den
Umständen, unter welchem sie geschah, hervorgeht.“
[18] Urteil des Landgerichtes München I vom 7. Juni 1991 (25 Ns 115 Js 4834/89 -,c)
[19] Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 3. Januar 1992 (Rreg.3St186/91 -,b)
[20] „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und gegen die
verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ (Persönlichkeitsrecht)
[21] - 1 BvR 1476, 1980/91 und 102, 221/92 -
[22] ( 1 BvR 1476, 1980/91 und 102,221/92); Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts; Band 93, Tübingen,
1996, S. 289
[23] bei Stimmengleichheit von 4: 4 Stimmen ist eine Verfassungsbeschwerde abgelehnt
[24] Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts; Band 93, Tübingen, 1996, S. 290
[25] Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts; Band 93, Tübingen, 1996, S. 289
- Quote paper
- Kai Bieler (Author), 2003, 'Soldaten sind Mörder' - zum Verhältnis von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz bei Kollektivurteilen über Soldaten (Tucholsky-Urteil), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14844
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