Der amerikanische Volkskundler Alan Dundes sorgte durch unbequeme Thesen Zeit seines Lebens für zahlreiche Kontroversen. "Sie mich auch!" (engl.: "Life is like chicken coop ladder") ist dabei sein wohl umstrittenstes Werk. Dundes untersucht anhand zahlreicher Beispiele aus Literatur, Musik und Historie den deutschen Nationalcharakter, und kommt dabei zu einem unangenehmen Ergebnis: Der typische Deutsche sei analfixiert, von Fäkalien besessen und durch einen zwanghaften Reflex zur Reinlichkeit von jeder Form des Drecks heimgesucht. Die Arbeit fasst die Thesen des Buches anhand ausgewählter Beispiele zusammen, diskutiert dessen Auswertung und übt Kritik.
INHALT
KAPITEL SEITE
1. Einleitung
2. Ausgangspunkt des Buches
3. Beispiele
a. Sprache
b. Alltagskultur
c. Literatur
d. Personlichkeiten
e. Antisemitismus
4. Motivation
5. Zusammenfassung und Kritik
6. Bibliographie
1. EINLEITUNG
Als Alan Dundes am 30. Marz 2005 starb[1], sagte George Breslauer, Vizekanzler der University of Berkeley: „To call Alan Dundes a giant in his field is a great understatement, he virtually constructed the field of modern folklore studies and trained many of its most distinguished scholars." [2] Dabei ist der Titel des Nachrufs in der Los Angeles Times ambivalent: Folklorist Drew Laughs and Hostility.[3] Dundes' kontroversen Thesen gaben immer wieder Aß fur heftige Reaktionen; das hier diskutierte Buch bildet keine Ausnahme. Es behandelt die zahlreichen skatologischen Tendenzen der deutschen Sprache, Litera- tur und bildenden Kunst, und erortert sie anhand der psychoanalytischen Theorie vor der Folie des Nationalcharakters. Aufgrund seiner Betrachtungen konstatiert Dundes eine Analfixierung der deutschen Gesellschaft, welche er als grundlegenden Charakter- zug jeglichen deutschsprachigen Kulturgutes ansieht.
Dundes publiziert das Buch 1984 unter dem Originaltitel Life is Like a Chicken Coop Ladder, wobei es sich um eine essayistische Ausarbeitung eines Vortrags handelt, den er 1980 auf dem Jahreskongress der American Folklore Society als Prasidialansprache hielt.[4] Die Reaktionen auf den ursprunglichen Vortrag beschreibt der Autor selbst als „lauwarm“[5]. Aßerdem gibt er an, dass manche deutschen Wissenschaftler sich sehr ne- gativ ßerten. Er fuhrt diese Beobachtung auf die Widerstande zuruck, welche die Un- tersuchung eines tabuisierten Themas nach sich ziehe.[6]„Die Tatsache, daf bisher nie- mand das Thema als Forschungsgegenstand gewahlt hat, sagt mehr uber akademische Sitten als uber die Legitimitat des Themas aus.“[7]
Die Argumentationsstruktur des Buches soll nun herausgearbeitet und einige der von Dundes angefuhrten Beispiele in diesen Kontext mit einbezogen werden. Im Kapitel Ausgangspunkt wird zunachst die ausgehende Fragestellung erlautert, und zentrale Be- griffe der Argumentation behandelt. Das Kapitel Beispiele stellt einige der empirischen Erhebungen des Buches vor und ordnet sie in die Argumentation ein. Unter Motivation wird die von Dundes angewandte psychoanalytische Deutung der Phanomena dargelegt. In Zusammenfassung und Kritik werden die Thesen des Buches geordnet, und eine Ge- genposition referiert; dabei liegt das Augenmerk auf Schwachstellen in der Argumentation.
2. AUSGANGSPUNKT DES BUCHES
Das Buch beginnt mit einer Frage: „In welchem Umfang, wenn uberhaupt, spiegelt die Folklore einer bestimmten Gruppe den besonderen Charakter dieser Gruppe wider?"[8] Diese Frage kann mithin als Kernfrage des Buches angesehen werden - daran anschlieftend versucht Dundes, „die konfigurationale Natur des Nationalcharakters"[9] darzulegen. Die darauf folgende Argumentation gruppiert sich demgemaft um die zentralen Begriffe Na- tionalcharakter und Folklore. Letzterer wird schlieftlich durch den Begriff des Oicotypus konkretisiert.
Als Nationalcharakter definiert Dundes „eine empirisch verifizierbare Anhaufung oder Kombination spezifischer Personlichkeitseigenschaften, die einer bestimmten nationalen (oder ethnischen) Gruppe gemein sind[10] “.w Dieser sei dabei nicht biologischer oder geog- raphischer, sondern kultureller und allgemein ethnischer Natur. Obwohl Dundes daru- ber keine Angaben macht, kann aus der Verwendung allgemein deutschsprachigen Materials auf eine Kulturnation ohne dezidiert staatliche Eingrenzung geschlossen werden. Darauf weist auch seine Diskussion regionaler Unterschiede hin: Zwar raumt er ein, dass es „deutsche regionale Volksstrukturen [gibt], jede mit ihrem eigenen Gefuhl territorialer, kultureller und haufig auch mundartlicher Integritat", allerdings nimmt er Eigenschaften an, „die allen deutschsprachigen Volkern gemein sind."[11] Dundes trennt dabei den Nationalcharakter scharf von nationalen Stereotypen. Pointiert formuliert er: „Der Nationalcharakter zeigt wie Menschen tatsachlich sind, wohingegen Nationalstereotypen zeigen, wie sie sich selbst und andere wahrnehme ."[12]
Der nationale oder ethnische Charakter reflektiere sich dergestalt „in projektiven Mate- rialien und beinhaltet Kunst, Musik, Literatur, Kuche, Medizin"[13], und artikuliere sich wei- terhin in kulturellen Manifestationen wie Dialekten, Sprichwortern, Ratseln, Witzen, Spielen und Volksliedern. Diese Phanomena, in anglo-amerikanischer Tradition im Fol- genden Folklore genannt, sieht Dundes als „eine Art autobiographische Ethnographie"[14]. Durch die unbefangene Produktion des Materials spiegle sich in der Folklore eines Vol- kes Personlichkeitsmerkmale wider, die nicht durch A-priori-Annahmen des Sozialwis- senschaftlers verfalscht wurden. So sei es moglich, eine Kultur „von innen nach aufien zu betrachten[15]."
Bei einer derartigen Ethnographie offenbare sich jedoch eine Diskrepanz zwischen anthropologischem und volkskundlichem Ansatz:
„Historisch war das Problem, dafi Anthropologen versucht haben etwas zu beschrei- ben, von dem sie behaupteten, es seien kulturell bedingte Erscheinungsformen, ohne die notwendigen (und vorhandenen) Vergleichsdaten heranzuziehen. Dagegen ver- fugen die Volkskundler uber umfangreiche vergleichende Untersuchungen indivi- dueller Brauche, Volkssagen und ahnlichem Material, ohne zu versuchen, die Varia- tionen und Abweichungen zu moglichen besonderen nationalen Neigungen oder Vorlieben in Beziehungen zu setzen."[16]
Daraus werde ersichtlich, dass der anthropologische Positivismus einen volkskundli- chen Vergleich benotige, bei dem das erhobene Material einer kulturellen Gemeinschaft zu dem einer anderen in Relation gesetzt werden musse. Als unhaltbar habe sich nam- lich bei einer rein anthropologischen Empirie die Position erwiesen, „dafi die Folklore einer Gruppe erstens einzigartig oder ausschliefilich Eigentum dieser Gruppe war und zweitens, dafi die Folklore dieser Gruppe Anhaltspunkte fur die Personlichkeitszuge dieser Gruppe aufwies."[17] Deshalb erscheine es sinnvoll, die erhobenen Daten auf Lokalitat und spezifische Auspragung zu prufen.
An dieser Stelle fuhrt Dundes das Konzept des Oicotypus ein, als Konkretisierung und Spezialisierung des Begriffes Folklore. Ausgehend von der volkskundlichen Definition als Lokalform einer Legende, eines Volksliedes oder ahnlicher Kulturphanomena, „wobei lokal im Hinblick auf entweder geographische oder kulturelle Faktoren definiert wird" [18], weitet Dundes das Konzept auf die gesamte Folklore aus, um diese zu lokalisieren: Der Oicotypus wird zur kulturspezifischen Folklore, welche somit die genuinen Eigenschaf- ten und Personlichkeitsmerkmale einer Kulturnation vergleichbar macht.
3. BEISPIELE
„In der deutschen Folklore findetman eine Unzahlvon Texten, die sich mitderAnali- tat beschaftigen. Scheifie Dreck, Mist, Arsch und ahnliche Ausdrucke sind alltaglich. Volkslieder, Volkssagen, Sprichworter, Ratsel, Mundart - alle bezeugen ein anhal- tendes besonderes Interesse der Deutschen an diesem Gebiet menschlicher Aktivi- tat."[19]
Diese Erkenntnis dient als roter Faden der Empirie des Buches. Dundes fuhrt in diesem Sinne Beispiele aus der deutschen Folklore an, und bezieht sich daruberhinaus auf Au- Rerungen verschiedener historischer Personlichkeiten, um seine Annahme zu stutzen.
Das Leitmotiv bildet ein Sprichwort, dessen englisches Pendant auch Titel der Original- veroffentlichung ist: „Das Leben ist wie eine Huhnerleiter - kurz und beschissen."[20] Dun- des sammelte zwischen 1979 und 1982 wahrend mehrerer Besuche in Deutschland zahlreiche Varianten dieser Redensart. Trotz mannigfaltiger Variationen des Inhaltes[21] ist die Kernaussage stets gleich: In einer Metapher wird das Leben oder der Lebensweg in pessimistischer Weise mit einem fakaliennahen Gegenstand verglichen.
Die Huhnerleiter-Metapher kann demnach als programmatische Dokumentation der Buch-Hypothese angesehen werden: „Es sind die Deutschen [...] in ihrer Folklore, die schon immergesagt haben, dass das Leben eine Huhnerleiter ist.“[22]
Im Folgenden ist eine Auswahl der im Buch in losem Zusammenhang angefuhrten Bei- spiele zu finden, die in vier verschiedene Topoi eingeteilt sind: Sprache, Alltagskultur, Literatur und Personlichkeiten, wobei unter Alltagskultur verschiedene materielle und immaterielle Phanomena zu verstehen sind, welche sich nicht eindeutig unter den ande- r]en Punkten subsumieren lassen. Schließlich wird im Abschnitt Antisemitismus die kont- roversteste These des Buches fokussiert, und die angenommene Verbindung von Analfi- xierung und Shoa betrachtet.
A. SPRACHE
Die deutsche Sprache, so Dundes, konstituiere sich zu großen Teilen durch Ausdrucke aus dem fakalen bzw. analen Bereich. „Scheifee, Dreck, Mist, Arsch und ahnliche Ausdrucke sind alltaglich. [...] Es wurde viel zu weit fiihren, jeden deutschen idiomatischen Ausdruck - sei er wortwortlich oder metaphorisch - der sich mit dem Akt der Defakation beschaftigt, aufzulisten."[23] In Anlehnung an Ernest Borneman kommt er zu dem Schluss, „dafe kein anderes europaisches Volk in seinem Slang eine solche Anzahl anal-erotischer Begriffe verwendet wie die Deutschen."[24] Dabei raumt er jedoch ein, dass nicht alle derartigen Worte als obszon gelten wurden, und verweist auf zahlreiche Dialekte, in denen es auch entsprechende Zuneigungsbekundungen gabe, wie beispielsweise das hanseatische „Min lutten Schietbuttel".[25]
Exemplarisch fuhrt Dundes den Begriff „Scheiße“ an: „,Scheiße‘ wird im Alltagsdeutsch in ziemlich andererArt und Weisegebraucht, als,shit' in der anglo-amerikanischen Kultur.“,[26] Wahrend im englischsprachigen Raum oft sexuell oder religios geflucht werde,[27] ver- wendeten die Deutschen allerlei Variationen des Wortes „Scheiße“: „Scheißdreck“, „Scheißding“, „scheißegal“, „scheiß drauf, „verdammte Scheifee“. Dazu kommen Redensar- ten im synonymen Bereich: „Die Kacke ist am dampfen“, „Die Nase in den eigenen Dreck stecken“ und „Der kann nicht einmal allein aufs Scheißhausgehen“.[28]
[...]
[1] Alle biographischen Daten nach Angaben der University of Berkeley auf http://anthropology.berkeley.edu/, Stand: Juli 2007.
[2] Zit. n. d. Nachruf der American Folklore Society auf www.afsnet.org, Stand: Juli 2007.
[3] Vgl.: Los Angeles Times vom 03. April 2005.
[4] Vgl.: A. Dundes, Sie mich auch!, Munchen 1987, S. 7; im folgenden zitiert als ,Dundes'.
[5] Dundes, S. 7f.
[6] Vgl. Ebd.
[7] Ebd.
[8] Dundes, S. 11.
[9] A. a. O., S. 16.
[10] A.a.O., S. 16.
[11] A. a. O., S. 17.
[12] Ebd.; Hervorhebung im Original.
[13] A. a. O., S. 14.
[14] A. a. O., S. 15.
[15] Ebd.
[16] A. a. O., S. 13.
[17] A. a. O., S. 11.
[18] Dundes, S. 12.
[19] A. a. O., S. 18.
[20] Ebd.
[21] Etwa durch Veranderung des Nachsatzes in „beschissen von oben bis unten" oder „man kommt vor lauter Dreck nicht weiter".Auch finden sich Abanderungen der Metapher, so dass sich das Leben wahlweise wie ein Kinderhemd („kurz und beschissen"), eine Brille („man macht viel durch") oder ein Lokus („man macht viel durch - oft ist es Mist") gestaltet. Vgl. dazu Dundes, S. 18ff
[22] A. a. O., S. 129.
[23] Dundes, S. 18.
[24] A. a. O., S.
[25] ; Siehe auch: E. Borneman, Sex im Volksmund: Die sexuelle Umgangssprache des deutschen Volkes, Hamburg 1971.
[26] Ebd.
[27] Vgl. A. a. O., S. 50f.
[28] Vgl. A. a. O., S. 25.
- Quote paper
- Daniel Jungblut (Author), 2008, Alan Dundes - Sie mich auch!, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/148251
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