Die Literatur, die das Doppelgängermotiv verhandelt, rekurriert auf Zwillingsmythen, Androgynitätsmythen, den Vater-Sohn-Mythos und den Narzissmythos. Ursprung findet sie unter anderem auch im Christentum, in dem der Mensch in seiner Doppelwesenhaftigkeit durch die Auffassung eines leiblich-seelischen Dualismus und dem Glauben an zwei Seelen in einer menschlichen Brust (gut/ böse), zitiert wird. Besonders im 19. Jahrhundert erfährt die literarische Doppelgängerei im Zusammenhang mit den modernen Individualitätskonzeptionen außerordentliche Produktivität. In der Romantik gewinnt das Motiv durch die Ichaufwertung und Ichfragilisierung, als zwei Kehrseiten einer Medaille, eine psychologische und zugleich unheimliche, bedrohliche Note. Individualität und Identität des Menschen werden durch das Erscheinen des Doubles ins Wanken gebracht.
Während der personale Doppelgänger in der Romantik seinen hinter- und abgründigen Charakter aufdeckt und als kalkulierendes Ensemble von dualen, oppositiven und komplementären Formen erscheint (Hoffman), treten im Realismus soziale Komponenten in den Vordergrund (Gogol/ Dostoevskij). Die Vereinsamung, die Entfremdung des Individuums und dessen Unfähigkeit zur Kommunikation werden zu zentralen Themen der Doppelgängerliteratur. In den fantastischen Texten wird die Ambiguität zum Spiel mit dem „impliziten“ Leser (Poe). In den mitunter intertextuell verwobenen Werken dieser Tradition kann das Unteilbarkeits- und Integrationsbegehren tragisch, fantastisch und grotesk gebrochen werden.
Inhalt
1 Einleitung
2 Hauptteil
2.1 E. T. A. Hoffmann - „Die Doppelgänger“
2.2 Edgar Allen Poe - „Wiliam Wilson“
2.3 Nikolaj Gogol – „Die Nase“
2.4 Fjodor M. Dostoevskijs - „Der Doppeltgänger“
2.5 Guy de Maupassant - „L’Horla“
3 Fazit
1 Einleitung
Der Ursprung des Doppelgängermotivs geht zurück auf die archaische Konzeption des Menschen als Doppelwesen (Zwillingsmythen, Androgynitätsmythos, Narzissmythos, Vater-Sohnmythos).
Bereits um 206 v. Chr. findet sich ein Beispiel für literarische Doppel-gängerei, die „Menaechmi“ von Plautus. In diesem Verwechslungsspiel treffen zwei Brüder, die Zwillinge sind, ohne von ihrer Existenz zu wissen, in der Stadt Ephesus aufeinander. Die Identität der Geschwister scheint zweifelsfrei, Verwechslung und Deformation der Ordnung sind nur vorübergehend, die Geschichte zielt von Anfang an auf eine Wiederher-stellung der Ordnung. Der lustspielhafte Spaß der Erzählung hat rein unterhaltende Funktion und entbehrt durch das Gelächter, das durch das Lächerliche der Figuren entsteht, jegliches Unheimliche, das im 19. Jahrhundert dominiert.
Wiederentdeckt wird das Motiv des Verwechslungsspiels in der Renaissance vor allem in Italien und Spanien (Lope de Vega), die bedeutendste Neuerung erlebt es durch Shakespeare in der „Comedy of Errors“ (1589/93). Im 18. und 19. Jahrhundert erfährt das Doppelgänger-motiv im Zusammenhang mit den modernen Individualitätskonzeptionen besondere Aufmerksamkeit. Fichtes „Wissenschaftslehre“ wird zum Generationserlebnis der Romantiker. Nach Fichte ist die Subjektivität des „Ichs“ nicht nur konstitutiv für das eigene Ich, sondern auch für die Welt, die von nun an als Setzung des Ichs verstanden wird. Das Ich erscheint allmächtig. Jedoch erlebt das Ich seine ihm von der Philosophie zugeschriebene Allmacht und Unendlichkeit vor lauter Möglichkeiten bald auch als Unmöglichkeit. Ichaufwertung und Ichfragilisierung werden zu zwei Kehrseiten einer Medaille. Im Motiv des Doppelgängers wird dieser geistesgeschichtliche Hintergrund durch die neuhinzukommende psychologische, subjektzentrierte Motivation sichtbar. Die Ich-Begegnung selbst ist der Dreh- und Angelpunkt zum Verständnis des romantischen Doppelgängers. Das Auftauchen des Doppelgängers wird für die Figuren der fiktionalen Welt zur Konfrontationsproblematik mit Individualität und Identität[1]. Die Erscheinung des zweiten Gleichen, oder die Verkörperung eines Teils des eigenen Selbst in einem Anderen - eben in einem Doppelgänger - gewinnt im 19. Jahrhundert eine unheimliche, bedrohliche Note. Das Motiv des Doppelgängers spiegelt, so die These Foderers[2], die soziale und kulturelle Befremdlichkeit des „neuzeitlichen“ Ichs, das sich selbst immer mehr als ungewisse Größe erfährt.
Es ist eben jene beängstigende Wirkung des Doppelgängermotivs, die seine spezifische Eigenart in der Literatur des 19. Jahrhunderts begründet. Am deutlichsten zeigt sich dies im Vergleich der „Menaechmi“ von Plautus. Dient der Stoff der Verwechslungskomödie von Plautus zur reinen Belustigung, die die unheimliche Wirkung durch tölpelartige Gestalt der Figuren abschirmt, scheint dies in der Literatur des 19. Jahrhunderts nicht mehr zu funktionieren. Den Figuren, die verhandelt werden ist es unmöglich sich vor Einflüssen wie Magie, bösem Zauber oder doppelgängerischen, intriganten Kollegen zu schützen.
Das Bild, mit dem dieser Verlust in den zu analysierenden Erzählungen beschrieben wird, ist der Nebel. Es scheint, als hätte dieses Bild in der Forschung zu wenig Beachtung erfahren. Bisher beschränkte man sich darauf Spiegel, Schatten und Porträt als zentrale Zeichen der Doppelung zu sehen. So richtig diese Beobachtung über den Ursprung der Doppelgängerei auch ist, so wenig klärt sie darüber auf, worin die Problematik des gedoppelten bzw. gespaltenen Helden tatsächlich besteht. Der Blick in den Spiegel löst zwar bei Gogol und fast wortwörtlich übernommen bei Dostoevskjis Helden die Doppelung/ Spaltung aus, aber klärt nicht darüber auf, warum diese „Störung“ nicht rückgängig gemacht werden kann. Der Grund hierfür liegt vielmehr am Wetter, als am Spiegel. Der Icherzähler in Maupassants „Horla“ vermutet, es könnte an der Form der Wolken liegen, dass er sich selbst und den doppelgängerischen Geist nicht mehr sehen kann. Gerade diese Vernebelung der Sicht macht einen Kampf gegen das gespaltene oder gedoppelte Ich unmöglich. Auch Dostoevskijs Goljadkin entflieht seinem Doppelgänger immer wieder im nass-grauen Petersburg. Die Verfolgungsjagd erscheint durch das regnerische Wetter fast aussichtslos, denn nur für ein unangebracht hohes Fahrgeld ist ein Kutscher bereit, Goljadkin zu fahren. Am Ende steht der Held erneut im Regen. In Gogols Erzählung „Die Nase“ wird nicht mehr nur die Figur, sondern auch der Leser, sowie die Geschichte im Nebel zurückgelassen. So heißt es an zwei Stellen des Textes, dass das Geschehen plötzlich von dichtem Nebel verhangen ist, und das Weitere völlig unbekannt sei. Eine Wiederholung der Formel findet sich auch im „Nachwort“ des Erzählers, der sich außer Stande sieht, sich zum Wahrheitsgehalt seiner Geschichte zu äußern.
Die Doppelung oder Spaltung des Ich scheint somit mit der nicht mehr möglichen Klarsicht der Figur zusammenzuhängen, die im Bild des Nebels zum Ausdruck gebracht wird. Solange sich der Nebel- oder das Wolkengewand nicht mehr aufspalten lässt, solange erscheint die Figur mit sich selbst gespalten. Denn weder der Blick hinaus, noch der Blick nach innen ist mehr gegeben. Im Folgenden soll die Textanalyse von vier Erzählungen zeigen, wie sich die Perspektive der Helden beim Erblicken der Doppelgänger vernebelt, welche unterschiedlichen Ausformungen des Motivs dadurch zu Tage treten und welche poetologischen Aspekte dabei sichtbar werden. Die Analyse hält sich dabei an die zeitliche Chronologie der Texte, um zu zeigen, wie sehr die Bedrohung durch ein vollkommenes Gleiches auch auf die stilistische Ebene des Textes übergreift. Dadurch soll die These belegt werden, dass je mehr sich die Texte dem 20. Jahrhundert annähern, desto ausgeprägter wird die Doppelgängerei zu einem narrativen Verfahren.
2 Hauptteil
2.1 E. T. A. Hoffmann - „Die Doppelgänger“
E . T. A. Hoffmann knüpft in seiner Erzählung „Die Doppeltgänger“ von 1821 an die schon skizzierte Stofftradition der Verwechslungskomödie an. Allerdings trägt er den Plautus -Stoff in das Muster eines romantischen Schauerromans. Dadurch kommt es zu einer nicht unerheblichen Abwand-lung der Motive. Zwar beginnt die Verwirrung auch hier damit, dass ein junger Mann in eine fremde Stadt zieht und fortwährend für einen anderen gehalten wird, aber die sich zum Verwechseln ähnlich sehenden sind nicht Zwilling, sondern durch Magie miteinander Verbundene. In Anlehnung an Goethes „Wahlverwandtschaften“ wird der gedankliche Ehebruch hier zu einer magisch manipulierten Geburt, die das Selbst als unstabile Entität erscheinen lässt: Eine Königin und deren beste Freundin, eine Fürstin, gebären zur gleichen Zeit zwei Kinder. Das Kind der Königin gleicht jedoch nicht dem König, sondern dem Mann der Fürstin, an den die Königin während des Aktes voller Liebe gedacht hat. Bedrohlich wird dieser Zeugungsakt jedoch erst dadurch, dass die Kinder sich nicht nur äußerlich gleichen, sondern auch ihr Innerstes miteinander teilen. So träumen beide, zu jungen Männern herangewachsen, von ein und derselben Frau, Nathalie, die sie auch beide zu lieben beginnen. Indem das eigene genetisch vorgegebene Identitätsmuster nicht mehr vor geheimnisvollen Mächten sicher ist, erscheint auch das Ich nicht mehr zweifelsfrei. Beim Anblick seines Doppelgängers gerät der Porträtmaler Haberland, in seiner Einzigartigkeit in Frage gestellt, in Panik. Der Doppelgänger Deodatus Schwendy ist nicht mehr nur Anlass zur Verwirrung, sondern wird sogleich als ernsthafte und tödliche Bedrohung für das eigene Dasein erkannt. Es scheint zunehmend fragwürdig ob das eigene Ich im Stande ist „eigenes zu bewahren und zu erhalten“. Diese Bedrohung wird noch gesteigert, als auch die Außenwelt nicht mehr zwischen beiden unterscheiden kann. Als Nathalie nämlich auf Deodatus trifft, hält sie diesen für Haberland, der sie einst gemalt hat. Ebenso wie Nathalie können auch die anderen Figuren der erzählten Welt nicht eindeutig beweisen, wer der „wahre“ Sohn des Königs ist. Auch als am Ende der Erzählung alle versammelt sind (die Bruder des Königs, Nathalie, die ehemalige Königin, der Doppelgänger, der Mann der Fürstin) kann die Identität nicht gelöst werden. Nicht die Einzigartigkeit des Ichs entscheidet darüber, wer der rechtmäßige Erbe des Königreiches ist, sondern allein ein von außen hinzugefügtes Erkennungsmerkmal: nur ein Kind hat das entscheidende Brandmal am Leib. Das bedeutet Identität ist nur von außen lösbar. Einzigartigkeit und Einheit sind nicht mehr per se gegeben, sondern abhängig von rein äußerlichen Markierungen. Gäbe es diese Markierung nicht, würde die äußerliche Doppelung und damit einhergehend die innere Spaltung bestand haben. Letztlich entfaltet der Text seine bedrohliche Note gerade dadurch, dass die angebotene Lösung nur scheinbar die Frage nach Identität beantwortet.
Die bedrohliche Wirkung entsteht jedoch nicht nur durch die gewählte Thematik, sondern vor allem durch die Art und Weise, wie das Motiv poetologisch gestaltet wird. Das beschriebene Gefühl Deodatus, womöglich nur ein Spielball höherer Mächte zu sein, die ihn fremdbestimmten, wird durch den discours gespiegelt und noch verstärkt. Die Erzählung ist als Theaterstück inszeniert, indem der Erzähler die Figuren wie Marionetten bewegen oder anhalten kann. Wie ein Puppenspieler hält er seine Figuren mitten im Lauf an, lässt sie wie erstarrt am Boden festwurzeln, um währenddessen die Vorgeschichte in die Erzählung einzuflechten, und beginnt dann die Fortsetzung der Erzählung mit einem Rückbezug auf die Fixierung der Figuren: „Also! Vor Entsetzen erstarrt, in den Boden festgewurzelt standen die beiden (...).“ Bedeutungstragend wird diese Inszenierung des Erzählers als Puppenspieler besonders dadurch, dass auch eine der Figuren bei einem Marionettentheater als Puppenspieler auftritt. Haberland ist dabei zugleich Regisseur und Figur, Objekt und Subjekt. Sein auf der Bühne zu sehender Kopf wird von den ebenfalls von ihm dirigierten Figuren kommentiert und interpretiert. Der Kopf ohne Körper zeigt dabei, so der Kommentar der Figuren, der eigentlich ein Selbstkommentar Haberlands ist, dass das Ich nicht mehr als Ganzes wahrgenommen wird. Auch die chronologische Schachtelung der Erzähler spiegelt den immer mehr sich verwirrenden Menschen, der sich seiner Einheit nicht mehr sicher sein kann. Der souverän manipulierende Erzähler dient nicht nur der Figurenlenkung, sondern auch der Leserlenkung. Indem der Erzähler seine Figuren für einen Moment fixiert, um die Vorgeschichte nachzutragen, diese aber nur teilweise wiedergibt, lässt er den Leser zugleich voller Spannung und Unruhe zurück. Allerdings wird die Spaltung des Individuums hier noch nicht stilistisch ablesbar. Sprachliche Zeichen der Division sind in der Erzählung Hoffmanns noch nicht vorhanden.
[...]
[1] FODERER, Christof: Ich-Eklipsen: Doppelgänger in der Literatur seit 1800, Stuttgart u.
Weimar: 1992, 94-113.
[2] FODERER, Christof: Ich-Eklipsen: Doppelgänger in der Literatur seit 1800, Stuttgart u.
Weimar: 1992, 94-113.
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.