Mit dem Begriff der Evolutionstheorie (und als Teil davon der Selektionstheorie) verbinden die meisten von uns unweigerlich den Namen eines Mannes: Charles Robert Darwin; Anhänger "seiner" Theorie werden als "Darwinisten" bezeichnet. Die wenigsten fachlich Interessierten wissen jedoch, daß die sogenannte Evolutionstheorie gleichzeitig beinahe unabhängig voneinander (wenn auch auf den gleichen Vorarbeiten aufbauend) von zwei sehr
verschiedenen Männern entwickelt wurde. Lediglich einer dieser Namen taucht regelmäßig im Zusammenhang mit dem Begriff Evolution" auf, der andere wird, wenn überhaupt, höchstens in einem Nebensatz erwähnt: Alfred Russel Wallace ist der wissenschaftlichen Welt, und noch viel mehr der Allgemeinheit, zumindest in diesem Zusammenhang so gut wie unbekannt.
Auf der Suche nach den Gründen für dieses Mißverhältnis bieten sich viele Erklärungsversuche an, unter anderem von "Experten" auf dem Gebiet der Evolutionsbiologie: Darwin sei "das freilich größere Genie" (Storch, V., Welsch, U., Wink, M.: "Evolutionsbiologie", Springer, Heidelberg, 2001; S. 19), und dies vor allem aufgrund einer erdrückenden Anzahl von in seinem 1859 erschienenen Werk "Über die Entstehung der Arten..." aufgelisteten Beweisen, doch wird hier vergessen, daß diese Arbeit erst anderthalb Jahre nach der Erstveröffentlichung der Evolutionstheorien erschien und wesentliche Teile daraus dem Werk
Wallaces verdankt.
Trotz der sehr unterschiedlichen Bildungs- und Lebenshintergründe der beiden Männer ähneln sich ihre Thesen in verblüffendem Maße, wenn sie auch nicht völlig übereinstimmen. Im ersten Abschnitt soll daher ein Vergleich vorgenommen werden, um zu klären, ob
möglicherweise inhaltliche Unterschiede die ungleiche Behandlung dieser Wissenschaftler begründen können.
Der zweite Abschnitt behandelt die historischen Ereignisse vor und nach der geschichtsträchtigen Verlesung beider Aufsätze vor der Linne´schen Gesellschaft am 01. Juli 1858, die dazu beigetragen haben, daß Wallace als Urheber der Evolutionstheorie in Vergessenheit geriet.
Schließlich soll untersucht werden, welche persönlichen Gründe diese für Wallace so unbefriedigende Entwicklung begünstigten.
Es wurde Wert darauf gelegt, möglichst viel Primärliteratur zu verwenden, da die Wissenschaftsgeschichte bekanntlich - und besonders in diesem Fall- zu Verzerrungen neigt.
Inhalt:
0. Vorwort
1. Einführung
2. Vergleich der Hypothesen von Wallace und Darwin
3. Warum Wallace als Begründer der Evolutionstheorie in Vergessenheit geriet
4. Zusammenfassung
Literatur
"Die meisten Menschen kennen ihn, wenn sie ihn denn kennen, als den Kerl, der auf Darwins berühmteste Idee verfiel, kurz bevor dieser dazu kam, sie zu veröffentlichen"
David Quammen
Alfred Russel Wallace und die Entstehung der modernen Selektionstheorie
0. Vorwort
Mit dem Begriff der Evolutionstheorie (und als Teil davon der Selektionstheorie) verbinden die meisten von uns unweigerlich den Namen eines Mannes: Charles Robert Darwin; Anhänger "seiner" Theorie werden als "Darwinisten" bezeichnet. Die wenigsten fachlich Interessierten wissen jedoch, daß die sogenannte Evolutionstheorie gleichzeitig beinahe unabhängig voneinander (wenn auch auf den gleichen Vorarbeiten aufbauend) von zwei sehr verschiedenen Männern entwickelt wurde. Lediglich einer dieser Namen taucht regelmäßig im Zusammenhang mit dem Begriff "Evolution" auf, der andere wird, wenn überhaupt, höchstens in einem Nebensatz erwähnt: Alfred Russel Wallace ist der wissenschaftlichen Welt, und noch viel mehr der Allgemeinheit, zumindest in diesem Zusammenhang so gut wie unbekannt.
Auf der Suche nach den Gründen für dieses Mißverhältnis bieten sich viele Erklärungs-versuche an, unter anderem von "Experten" auf dem Gebiet der Evolutionsbiologie: Darwin sei "das freilich größere Genie" (Storch, V., Welsch, U., Wink, M.: "Evolutionsbiologie", Springer, Heidelberg, 2001; S. 19), und dies vor allem aufgrund einer erdrückenden Anzahl von in seinem 1859 erschienenen Werk "Über die Entstehung der Arten..." aufgelisteten Beweisen, doch wird hier vergessen, daß diese Arbeit erst anderthalb Jahre nach der Erstveröffentlichung der Evolutionstheorien erschien und wesentliche Teile daraus dem Werk Wallaces verdankt.
Trotz der sehr unterschiedlichen Bildungs- und Lebenshintergründe der beiden Männer ähneln sich ihre Thesen in verblüffendem Maße, wenn sie auch nicht völlig übereinstimmen. Im ersten Abschnitt soll daher ein Vergleich vorgenommen werden, um zu klären, ob möglicherweise inhaltliche Unterschiede die ungleiche Behandlung dieser Wissenschaftler begründen können.
Der zweite Abschnitt behandelt die historischen Ereignisse vor und nach der geschichtsträchtigen Verlesung beider Aufsätze vor der Linne´schen Gesellschaft am 01. Juli 1858, die dazu beigetragen haben, daß Wallace als Urheber der Evolutionstheorie in Vergessenheit geriet.
Schließlich soll untersucht werden, welche persönlichen Gründe diese für Wallace so unbefriedigende Entwicklung begünstigten.
Es wurde Wert darauf gelegt, möglichst viel Primärliteratur zu verwenden, da die Wissenschaftsgeschichte bekanntlich - und besonders in diesem Fall- zu Verzerrungen neigt: nicht nur wird Darwin in fast allen Lehr- und Schulbüchern zum Thema Evolutionsbiologie als der Begründer der modernen Selektionstheorie gefeiert, zum Teil muten die Huldigungen Darwins durch renommierte Wissenschaftler schon wie glorifizierender Personenkult an, wie im Nachwort zum Reclam-Nachdruck der "Entstehung der Arten" nachzulesen: "Mit der ehrwürdigen Gestalt Charles Robert Darwins ... ging ein ethisch hochbedeutender Mensch von uns, der eine wahre Humanitas verkörperte. Er war von unbestechlicher Ehrlichkeit gegen sich selbst und gegen jedermann (!) . Beim Lesen der Entstehung der Arten möge man dessen eingedenk sein, daß dieses Buch zu den wesentlichen Schöpfungen des menschlichen Geistes gehört." (Heberer, G. in: Darwin, C.: "Die Entstehung der Arten", Reclam, Stuttgart, 1989; S. 686).
Viele der verwendeten Artikel sind im Internet einsehbar, da sich dieses jedoch laufend wandelt, sind im Anhang bevorzugt Druckwerke verzeichnet, wenn diese auch nicht immer problemlos zu beschaffen sein werden.
1. Einführung
Die verblüffende Übereinstimmung der Inhalte beider Evolutionshypothesen erklärt sich zum Teil durch ähnliche Beobachtungen Wallaces und Darwins während ihrer Weltreisen in Zonen größter Biodiversität (siehe weiter unten), einen gewissen Anteil daran hatte jedoch sicher auch die Tatsache, daß Wallace und Darwin sich mit den gleichen wissenschaftlichen Werken beschäftigt hatten, bevor sie die entscheidenden Ideen zu Papier brachten. Zu nennen sind hier besonders die "Principles of Geology" von Charles Lyell, ein Standardwerk der Geologie und Paläontologie, deren mannigfaltige Versteinerungen nie so recht in ein Konzept der Artkonstanz passen wollten; sowie frühere Publikationen, die sich mit dem Thema "Evolution" beschäftigten. Anders als oft angenommen, waren weder Darwin noch Wallace die ersten, die sich mit dem Thema auseinandersetzten: bereits Darwins Großvater Erasmus Darwin (1731-1802), der Veränderung der Arten durch Umwelteinflüsse, Triebe und Bastardierung annimmt sowie vor ihm Georges Buffon (1707-1788), der die Bildung von Varietäten durch Hybridiserungsexperimente an Wirbeltieren untersuchte, hatten hier Vorarbeit geleistet, und ihre Publikationen und Ideen waren sowohl Charles Darwin wie auch Alfred Wallace bekannt (Hoppe, B. :"Das Aufkommen der Vererbungsforschung unter dem Einfluß neuer methodischer und theoretischer Ansätze im 19. Jahrhundert" in: Jahn, I. (Hrsg.) :"Geschichte der Biologie", Spektrum, Heidelberg, 2000; S. 397).
Was fehlte, war eine Erklärung, warum und wie sich Arten mit der Zeit verändern oder neue Arten hervorbringen, sowie ein Mechanismus, der die Veränderlichkeit verursachte. Hier mochte die Erklärung Jean Baptiste de Lamarcks (1744-1829), der eine eigene Evolutionstheorie hatte, nicht so recht überzeugen: Lamarck postulierte, daß Tiere die während ihrer Lebensspanne erworbenen Eigenschaften an ihre Nachkommen weitergeben konnten, und daß sowohl ihr Verhalten (nicht genutzte Organe und Gliedmaßen verkümmern, viel benutzte entwickeln sich in entsprechender Weise weiter) als auch ein ihnen innewohnender "Vervollkommnungstrieb" diese Veränderungen auslösen konnten. Auf diese Weise, so Lamarck, hatte sich beispielsweise der lange Hals der Giraffen entwickelt: durch das permanente Ausstrecken des Halses in Richtung Baumwipfel.
Lamarcks Hypothesen wurden von Etienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772 -1844) unterstützt und weiterentwickelt. Zunächst konzentrierte er sich auf die vergleichende Embryologie, die Hinweise auf die Abstammung der Säugetiere von Fischen gab. Anschließend (um 1822) untersuchte er Fossilien auf das Vorhandensein von Übergangsformen zwischen Säuger und Reptilien und fand sie auch (Cadbury, D.: "Dinosaurierjäger", Rowohlt, Hamburg, 2001, S. 177 f.).
Weiterhin lasen sowohl Wallace als auch Darwin die berühmt-berüchtigten "Vestiges of the Natural History of Creation", 1844 zunächst anonym von Richard Chambers verfaßt und hoch kontrovers diskutiert, sowie von Herbert Spencer die "Theory of Population" (1852). Spencer prägte in diesem Aufsatz auch den Ausdruck "the survival of the fittest", den Wallace und Darwin beide in ihr Werk aufnahmen (Brooks, J. L. :"Just Before The Origin", Columbia University Press, New York, 1984; S. 188).
Das aber wohl wichtigste Werk, das sowohl Darwin als auch Wallace möglicherweise entscheidend beeinflußte, war kein biologischer Aufsatz, sondern einer aus dem Bereich Soziologie: Im Jahr 1798 wurde ein Aufsatz von Thomas Malthus mit dem Titel "An Essay on the Principle of Population" veröffentlicht, der sich mit menschlichen Zivilisationen beschäftigt. Malthus schreibt über die "Hemmnisse", die menschliche Gesellschaften beeinträchtigen; Hungersnöte, Kriege, Seuchen, Armut. Hierdurch, so Malthus, würden nur diejenigen überleben, welche die besten physischen und psychischen Voraussetzungen besäßen, solchen Widrigkeiten entgegenzutreten. Warum, so fragte sich Wallace daraufhin, sollte sich dieses Prinzip nicht auch auf die Gegebenheiten in der Natur übertragen lassen? Das Konzept des "survival of the fittest" sowohl bei Wallace als auch bei Darwin trägt eindeutig Malthus´ Signatur. Darwin wendet in seiner "Entstehung der Arten" von 1859 "die Lehre von Malthus auf das gesamte Tier- und Pflanzenreich" an; Wallace beschreibt Malthus´ Einfluß auf sein Werk lebhafter in einem Vorwort zu einer Sammlung seiner Aufsätze, die 1891 erschien.
Die meisten Wissenschaftler oder Gelehrten hingen zu Zeit Darwins und Wallaces trotz der vielfach geäußerten Evolutionsgedanken immer noch der Theorie der speziellen Schöpfungsakte an, die von einem Gott als Schöpfer ausging, der ganz nach Belieben Lebewesen kreierte und sie dort "absetzte", wo es ihm gerade gefiel, ohne System, ohne irgendeine Ordnung. Auch der einflußreichste Fürsprecher Darwins, Charles Lyell, vertrat diese Theorie in seinen "Principles", bis er im Alter "Darwinist" wurde.
2. Vergleich der Evolutionshypothesen
Wenn von einem Vergleich Darwins Hypothese mit Wallaces Ideen die Rede ist, so müssen korrekterweise die Originalaufsätze, die zeitgleich veröffentlicht wurden, miteinander verglichen werden. Darwins "Artikel", ein hastig zusammengewürfeltes Exzerpt seines großen "species book", umfaßt vier Seiten. Es ist gängige Praxis, statt dessen das größere Werk ("Über die Entstehung der Arten...") zum Vergleich heranzuziehen, trotzdem soll an dieser Stelle der Hinweis nicht fehlen, daß dieses Werk nicht nur achtzehn Monate nach Wallaces Artikel veröffentlicht wurde, sondern auch viele seiner Ideen aufgreift. Darwin stand für sein Buch genug Zeit, Material anderer Forscher, ein stehendes Konzept sowie ausreichend Druck zur Verfügung, seinen Namen fest mit der Evolutionstheorie zu verbinden. Wallace dagegen hatte seine ursprünglichen Absichten, selbst ein großes Opus über die Artenentstehung zu verfassen, bereits aufgegeben, eine Entscheidung, woran die Ereignisse um die Veröffentlichung der Aufsätze Darwins und Wallaces im Juli 1858 wahrscheinlich einen nicht unerheblichen Anteil hatten.
An dieser Stelle soll nun jeweils auf die Umstände der Entstehung der Hypothesen der beiden Forscher eingegangen werden, die Hauptargumente genannt sowie schließlich die Unterschiede erläutert werden, die trotz aller Ähnlichkeit der Hypothesen vorhanden sind.
Darwin hatte sich bei seiner Weltreise, und zwar ganz besonders aufgrund der Beobachtungen auf den Inseln, die er besuchte, eingehend von der hier herrschenden üppigen Vielfalt sehr nah verwandter Arten überzeugen können. Besonders das Beispiel der nach ihm benannten Darwin-Finken, die auf den Galapagos-Inseln leben, ist berühmt geworden, weil es das Konzept der Artbildung so perfekt illustriert: Insgesamt dreizehn sehr ähnliche Finkenarten, die sich vor allem in der Schnabelform (und damit einhergehend in der bevorzugten Nahrung) unterschieden, brachten Darwin auf die Idee, sie könnten von einer einzigen Vorfahrenart abstammen, die sich dann in viele "Varietäten" aufgespaltet hatten. Einzelne Nachkommen der Ursprungsart könnten sich zum Beispiel in ihrer Schnabelform leicht unterschieden haben und hätten sich dann, um die Konkurrenz um gleichartige Nahrung zu vermindern, unterschiedliche Lebensräume gesucht: einige Finkenarten ernährten sich heute von Insekten, andere von Nüssen oder Samen. Auf diese Weise kann eine größere Anzahl Finken auf den kargen Inseln überleben. Die Finken, so schloß Darwin, mußten sich dann mit der Zeit immer besser an ihre neuen Nischen angepaßt und dabei die unterschiedlichen Schnabelformen ausgeprägt haben, die heute zu beobachten sind. Nur - wie? Diese Frage plagte Darwin ziemlich lange, er hatte das fertige Evolutionskonzept mitnichten bereits beim ersten Anblick der Finken im Kopf. Erst nach seiner Rückkehr nach England und während der Sichtung des gesammelten Materials dämmerte ihm langsam, was es mit den Finken auf sich haben könnte. Und dann brachte er zwei Erkenntnisse zusammen: Einerseits war da die Feststellung, daß sich Arten verändern können, und zwar unmerklich im Laufe geologischer Zeiträume. Dies war durch Fossilien dokumentiert, Überreste von Lebewesen, die den heutigen teilweise verblüffend ähnlich sahen, und doch im Detail Unterschiede zeigten. Das war nicht neu: Bereits Geoffroy hatte in den frühen 1820er Jahren Fossilien zur Rekonstruktion der Stammesgeschichte verwendet (siehe weiter oben).
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- Quote paper
- Stefanie Hanau (Author), 2003, Alfred Russel Wallace und die Entstehung der modernen Selektionstheorie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/147762
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