Als Sozialarbeiterin und insbesondere als Anti- Gewalt- Trainerin treffe ich oft auf Kinder
und Jugendliche die aus verschiedenen Gründen Schwierigkeiten haben sich prosozial zu
verhalten, was langfristig zu Problemen in Schule, Ausbildung oder Beruf führen kann. Ich
habe verschiedene Möglichkeiten kennen gelernt mit denen man junge Menschen mit solchen
Verhaltensmustern unterstützen kann. Dabei tat sich bei mir immer wieder die Frage auf, wie
es möglich ist Kindern frühzeitig prosoziales Verhalten zu vermitteln um ihnen viele negative
Erfahrungen, die sie durch ihr Verhalten erleben, zu ersparen. Mein Interesse für solche
präventiven Angebote führte mich dann zu dem Thema der vorliegenden Arbeit, in der ich ein
präventives Konzept zur Vermittlung von prosozialem Verhaltens vorstellen möchte. Um
präventiv arbeiten zu können, ist es wichtig die Entstehungsgeschichte bestimmter
Verhaltensweisen zu kennen. Deshalb beschäftige ich mich im ersten Kapitel mit den
Begriffen prosoziales Verhalten, soziale Kompetenzen und soziale Fertigkeiten, ihrer
Abgrenzung voneinander sowie der Entwicklung solcher Kompetenzen. Ebenso erläutere ich
die Begriffe, Kategorisierung und Entstehung des gegenteiligen Verhaltens, was als
dissozialen oder abweichend bezeichnet wird. Zentrale Themen sind dabei die Risiko- und
Schutzfaktoren, also die Einflussgrößen bei der Entstehung dissozialen Verhaltens. Nachdem
die Begrifflichkeiten erläutert sind, werde ich im vierten Kapitel beschreiben wie diese
Kompetenzen bisher in Deutschland an Kinder und Jugendliche vermittelt werden, welche
Probleme bei dieser Art der Vermittlung zu erkennen sind und welche Ansätze es außerdem
noch gibt. Ausgehend von diesen Ansatzpunkten und dem Wissen über die Entstehung von
dissozialem Verhalten wird dann im letzten Kapitel das Präventivprogramm „SAMS“
vorgestellt
Inhalt
1. Einleitung
2. Prosoziales Verhalten
2.1 Begriffsdefinitionen
2.2 Gründe für prosoziales Verhalten
2.3 Nutzung des Begriffes in der Praxis
2.4 Klärung weiterer Begriffe
2.5 Modell zur Nutzung der beschriebenen Begriffe
2.6 Die Entwicklung von prosozialem Verhalten
3. Abweichendes Verhalten
3.1 Begriffsdefinitionen
3.2 Die Entwicklung von abweichendem Verhalten aus Sicht der Entwicklungspsychopathologie
3.2.1 Vulnerabilitäts- und Risikofaktoren
3.2.2 Protektive Faktoren und Resilienz .29
3.3 Entwicklung dissozialen Verhaltens aus anderen Blickwinkeln
3.3.1 Anomietheorie von Merton
3.3.2 Theorie der sozialen Kontrolle von Hirschi
3.3.3 Etikettierungstheorien
3.3.4 Routine activity theory von Cohan und Felson
4. Die Vermittlung prosozialen Verhaltens
4.1 bisherige Vermittlungsstrukturen und auftretende Probleme
4.2 Handlungsorientiertes Lernen
4.3 Erlebnisorientierte Angebote als Form von Handlungsorientierung
4.3.1 Definitionen
4.3.2 Charakteristische Merkmale
4.3.3 Ziele und Zielgruppen
4.3.4 Struktur der Konzepte
4.3.5 Wirkungsmodelle
4.3.6 Verschiedene Varianten
4.4 Schlussfolgerungen für die Zukunft
5. Konzept des Programms SAMS
5.1 Rahmenbedingungen
5.2 Grundlegende Annahmen und Ziele
5.3 Bestandteile des Programms SAMS
5.3.1 Fit für die Schule-Training mit Schulanfängern
5.3.2 Kleine werden groß
5.3.3 Elternarbeit
5.3.4 Arbeit mit Pädagogen
5.3.5 Hausaufgabenbetreuung und Förderkurse
5.3.6 Nachmittagsbetreuung
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Als Sozialarbeiterin und insbesondere als Anti- Gewalt- Trainerin treffe ich oft auf Kinder und Jugendliche die aus verschiedenen Gründen Schwierigkeiten haben sich prosozial zu verhalten, was langfristig zu Problemen in Schule, Ausbildung oder Beruf führen kann. Ich habe verschiedene Möglichkeiten kennen gelernt mit denen man junge Menschen mit solchen Verhaltensmustern unterstützen kann. Dabei tat sich bei mir immer wieder die Frage auf, wie es möglich ist Kindern frühzeitig prosoziales Verhalten zu vermitteln um ihnen viele negative Erfahrungen, die sie durch ihr Verhalten erleben, zu ersparen. Mein Interesse für solche präventiven Angebote führte mich dann zu dem Thema der vorliegenden Arbeit, in der ich ein präventives Konzept zur Vermittlung von prosozialem Verhaltens vorstellen möchte. Um präventiv arbeiten zu können, ist es wichtig die Entstehungsgeschichte bestimmter Verhaltensweisen zu kennen. Deshalb beschäftige ich mich im ersten Kapitel mit den Begriffen prosoziales Verhalten, soziale Kompetenzen und soziale Fertigkeiten, ihrer Abgrenzung voneinander sowie der Entwicklung solcher Kompetenzen. Ebenso erläutere ich die Begriffe, Kategorisierung und Entstehung des gegenteiligen Verhaltens, was als dissozialen oder abweichend bezeichnet wird. Zentrale Themen sind dabei die Risiko- und Schutzfaktoren, also die Einflussgrößen bei der Entstehung dissozialen Verhaltens. Nachdem die Begrifflichkeiten erläutert sind, werde ich im vierten Kapitel beschreiben wie diese Kompetenzen bisher in Deutschland an Kinder und Jugendliche vermittelt werden, welche Probleme bei dieser Art der Vermittlung zu erkennen sind und welche Ansätze es außerdem noch gibt. Ausgehend von diesen Ansatzpunkten und dem Wissen über die Entstehung von dissozialem Verhalten wird dann im letzten Kapitel das Präventivprogramm „SAMS“ vorgestellt.
2. Prosoziales Verhalten
Um prosoziales Verhalten vermitteln zu können, ist es notwendig erst einmal zu differenzieren, welche Verhaltensmuster man darunter versteht und aus welchen Gründen sie gezeigt werden. Um zu wissen, während welcher Lebensphasen man eine solche Vermittlung mit Hilfe eines Präventionsprogramms ansetzen kann, ist es außerdem wichtig zu wissen, wann sich solches Verhalten entwickelt.
2.1 Begriffsdefinitionen
Prosoziales Verhalten ist ein Begriff, der die Interaktion zwischen einem Helfer und einem Hilfeempfänger beschreibt. In der Literatur steht er meist in Zusammenhang mit Hilfeverhalten und Altruismus. Diese Begriffe werden häufig synonym verwandt, es ist aber möglich sie gegenseitig abzugrenzen. Bierhoff verdeutlicht diese Abgrenzung, aber auch den deutlichen Zusammenhang der drei Begriffe in der folgenden graphischen Darstellung: Hilfeverhalten beschreibt sehr allgemein jede Interaktion zwischen Personen in einer Hilfesituation. Prosoziales Verhalten ist ein Teil davon, der spezifische Kriterien erfüllt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.1: Zusammenhang der Begriffe: Hilfeverhalten, prosoziales Verhalten und Altruismus[1]
Bierhoff beschreibt diese Kriterien folgendermaßen:
„Mit einer prosozialen Handlung ist beabsichtigt, die Situation des Hilfeempfängers zu verbessern, der Handelnde zieht seine Motivation nicht aus der Erfüllung beruflicher Verpflichtungen und der Empfänger ist eine Person und keine Organisation.“[2]
Um eine prosoziale Handlung als altruistisch zu bezeichnen, muss laut Bierhoff im Wesentlichen gegeben sein, dass die Motivation des Helfers durch Empathie und Perspektivenübernahme gekennzeichnet ist.[3] Doch bei diesem Kriterium zur Unterscheidung gibt es keine scharfe Trennung. Wenn bekannte Menschen sich beispielsweise öffentlich für Stiftungen einsetzen, könnte man dies als altruistisch bezeichnen. Gleichzeitig erhalten sie jedoch einen Gewinn, denn ihr Bekanntheitsgrad erhöht sich und CDs, Filme oder Bücher verkaufen sich durch den Zuwachs an Sympathie für den altruistischen Helfer eventuell besser. Das Ziel der Steigerung der Verkaufszahlen könnte man demnach wieder als egoistisch bezeichnen. Es scheint also ebenso Mischformen des prosozialen Verhaltens zu geben, die nicht eindeutig einer Seite zuzuschreiben sind.[4] Es gibt noch weitere Möglichkeiten prosoziales Verhalten in Unterkategorien einzuteilen, beispielsweise nach der Höhe des betriebenen Aufwandes. Doch unabhängig von der Einteilung in Kategorien stellt sich die Frage, aus welchen Gründen Menschen überhaupt prosoziales Verhalten zeigen.
2.2 Gründe für prosoziales Verhalten
Auch der eben schon zitierte Sozialpsychologe Bierhoff hat sich die Frage gestellt, warum Menschen überhaupt helfen und verschiedene Erklärungsansätze vorgestellt:
Der biologische Ansatz geht davon aus, dass manche Menschen genetisch angeborene Tendenzen zu prosozialem Verhalten haben. Der individualistische Ansatz dagegen geht von ebensolchen Tendenzen aus, die manche Personen haben und andere nicht. Im Gegensatz zur biologischen Erklärung sind diese Tendenzen aber nicht genetisch veranlagt, sondern durch soziales Lernen erworben. Es gibt zwei Arten der Erklärung solcher Tendenzen: Durch verschiedene Untersuchungen wurde eindeutig bewiesen, dass eine positive Stimmung kurzfristig prosoziales Verhalten fördert. Das kann zum Beispiel daran liegen, dass die Gefühle als eine Art Informationswert genutzt werden, auf dessen Grundlage die Kosten des Helfens berechnet werden. In einer positiven Stimmung erscheinen die Kosten und die Gefahr nicht so hoch wie in einer negativen Stimmung, sodass die Menschen dann eher zu helfen bereit sind.[5] Es gibt jedoch auch Menschen, die langfristig prosoziales Verhalten zeigen, indem sie zum Beispiel regelmäßig zum Blutspenden gehen oder ehrenamtlich arbeiten. Das ist der Grund, warum der zweite Erklärungsansatz davon ausgeht, dass es Menschen mit einer so genannten prosozialen Persönlichkeit gibt.[6] Verschiedene Untersuchungen ergaben eindeutig, dass Personen, die prosoziales Verhalten zeigen, hohe Ausschläge bei den Eigenschaften soziale Verantwortung, Empathie und interne Kontrollüberzeugung haben.[7] Bierhoff ergänzt diese um den so genannten Glauben an die Gerechtigkeit: Er beschreibt diesen als
„generalisierte Erwartung, dass Menschen bekommen, was sie verdienen. Wenn andere, ohne dass sie es verdienen, leiden, wird damit der Glaube an eine gerechte Welt in Frage gestellt. Dies führt zu Versuchen, diesen Glauben wiederherzustellen, sei es dadurch, dass das Leiden der Opfer durch Hilfe verringert wird, oder sei es durch Abwertung der Opfer.“[8]
Soziale Verantwortung, interne Kontrollüberzeugung und der Glaube an Gerechtigkeit sind Merkmale, die eher langfristig orientiert sind. Trotzdem ist zu beobachten, dass auch Menschen, die eine solche prosoziale Persönlichkeit aufzuweisen scheinen, nicht in jeder Situation helfen. Den Schlüssel zur Entscheidung für eine Hilfsintervention sehen Forscher primär in der momentan empfundenen Empathie. Sie stellten die so genannte Empathie-Altruismus-These auf, die besagt, dass ein hoher Grad an Empathie zu einer altruistischen Handlung führt.
Batson zum Beispiel führte ein Experiment durch, bei dem Menschen mit einem Opfer konfrontiert waren und sich ihnen dabei die Möglichkeit bot, sich der Situation zu entziehen. Er setzte voraus, dass empathische Menschen die Möglichkeit zu einer Flucht vor der Situation nicht nutzen würden, weil ihr Bedürfnis, das Leid zu lindern, auch ohne direkten Kontakt zum Opfer bestehen bleiben würde.[9] In diesem und zahlreichen weiteren Versuchen wurde die Empathie- Altruismus- Hypothese bestätigt. Wichtig ist dabei, dass sich die Höhe der Empathie nach der empfundenen Ähnlichkeit der eigenen Persönlichkeit mit dem Opfer richtet.
Als einen weiteren unter vielen nennt Bierhoff den Aspekt der sozialen Systeme zur Erklärung für prosoziales Verhalten: Menschen wachsen in sozialen Systemen auf und lernen lebenslang in ihnen Werte, Normen und ethische Prinzipien. Teile dieser Werte werden von ihnen in die Persönlichkeitsstruktur übernommen, sie wurden oben im individualistischen Ansatz beschrieben. Es gibt jedoch noch zwei, die hier besonders erwähnt werden sollen: Einmal ist das die Norm der sozialen Verantwortung, die besagt, dass man Menschen, die Hilfe benötigen, auch helfen sollte. Solche normativen Überzeugungen werden im Laufe des Sozialisationsprozesses erlernt, doch bei jeder Person verläuft dieser Prozess individuell, sodass Schwartz soziale Normen und persönliche Normen unterscheidet. Persönliche Normen beschreibt er als „einmalige kognitive Konfiguration von individuellen Werten und normativen Überzeugungen“.[10] Sie sind wichtiger Bestandteil der Motivation für eine prosoziale Handlung. Schwartz hat außerdem auf Grundlage eines Modells von Latane und Darley das Prozessmodell des Altruismus entwickelt, das fünf aufeinander folgende Stufen beschreibt:
a) Aufmerksamkeit:
In dieser Phase wird die Notlage erkannt, das heißt in Abhängigkeit von der Eindeutigkeit der Situation wird eine Person als hilfsbedürftig eingestuft. Es folgt die Beurteilung der richtigen Hilfsmöglichkeiten und dann die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten betreffend der Ausführung dieses Hilfeverhaltens.
b) Motivation:
Die Motivation hängt mit den eben beschriebenen persönlichen Normen zusammen: Soziale Normen und Werte sowie moralische Verpflichtungen werden hervorgerufen.
c) Bewertung:
Kosten und Nutzen werden abgeschätzt, zum Beispiel der Zeitaufwand, körperliche Anstrengung, finanzielle Kosten.
d) Abwehr:
Gegebenenfalls entschließt sich der potenzielle Helfer, nicht die richtigen Kompetenzen zu haben oder aus anderen Gründen nicht geeignet zu sein.[11]
Die zweite Norm, die neben der sozialen Verantwortung wichtig für die Motivation zu handeln erscheint, ist die Norm der Fairness:[12]
„Menschen haben normative Erwartungen über das Ausmaß an Belohnungen und Kosten, die ihnen zustehen. Außerdem tendieren sie zum Glauben an eine gerechte Welt. Folglich werden Fairnessnormen sowohl auf das von der eigenen Person als auch auf das von anderen Erreichte beziehungsweise Nichterreichte angewandt.“[13]
Das heißt, es fällt Menschen schwer sich altruistisch zu verhalten, wenn sie ihre eigene gerechte Behandlung gefährdet sehen. Dagegen haben Menschen, die sich fair behandelt fühlen, eine wesentlich feinfühligere Wahrnehmung für Menschen, denen Unrecht widerfahren ist.[14]
Zusammenfassend ist also zu sagen, dass der Grund für eine Entscheidung für eine Hilfsintervention zwar auch von situationsbedingten Faktoren abhängt, zum großen Teil aber in der Persönlichkeit des jeweiligen Menschen liegt, es also Menschen mit einer prosozialen Persönlichkeitsstruktur gibt. Diese entsteht einmal durch genetische Bedingungen, die keinen Ansatzpunkt für eine Vermittlung prosozialen Verhaltens bieten. Die Persönlichkeitsstruktur ergibt sich aber auch durch soziales Lernen, es gibt also Möglichkeiten die Ausbildung der Merkmale zu beeinflussen. Diese Merkmale sind vor allem Empathie und soziale Verantwortung.
2.3 Nutzung des Begriffes in der Praxis
Nachdem nun erläutert wurde, was den Begriff des prosozialen Verhaltens ausmacht, möchte ich nun noch den praktischen Gebrauch darstellen. Unter Trainern von Sozialtrainings, Gewaltpräventionsangeboten und ähnlichen praktischen Maßnahmen wird dieser Begriff nämlich nicht genauso genutzt, wie ich ihn auf den letzten Seiten beschrieben habe. Im praktischen Gebrauch, das heißt in Gesprächen zur Vorbereitung von Trainings, bei der Durchführung von Maßnahmen, aber häufig auch bei der Erklärung der eigenen Konzepte wird von prosozialem Verhalten gesprochen, wenn Helfen, Teilen, Sorgen und Schützen gemeint sind. Dies wäre dann gleichzusetzen mit der bereits erläuterten Bedeutung. In der Praxis genutzt, umfasst er aber häufig auch Verhaltensweisen wie Kooperieren, für eigene Ziele einstehen können, Konflikte gewaltfrei bewältigen oder Kritik umsetzen können. Diese Liste ließe sich beliebig verlängern, was darauf hindeutet, dass man sich die eigentliche Bedeutung des Begriffes oft nicht bewusst macht. Das mag aber auch daran liegen, dass andere Begriffe ebenso unscharf genutzt werden. Die Begriffe prosoziales Verhalten, soziale Fähigkeiten, soziale Fertigkeiten, soziale Kompetenzen und emotionale Intelligenz werden oft, natürlich nicht immer und von allen, synonym oder widersprüchlich verwendet. Der vorliegende Text zielt trotz dieser auf verschiedene Weise begründbaren Unklarheiten nicht darauf ab die Definitionsproblematik zu lösen, sondern soll eine Grundlage für die folgenden Texte und das am Ende vorgestellte Präventionsprogramm schaffen. Dazu werde ich im nächsten Kapitel weitere Begriffe wie soziale Kompetenzen und Fertigkeiten erläutern und einander zuordnen.
2.4 Klärung weiterer Begriffe
Unabhängig von seiner genauen Definition findet man in der Literatur den Begriff der sozialen Kompetenzen überwiegend beschrieben als eine theoretische Konstruktion, es ist also nötig durch beobachtbare Aspekte im menschlichen Verhalten auf die jeweilige Ausprägung dieser Kompetenz bei einem Individuum zu schließen.[15] Dies ist der Grund dafür, dass viele Autoren soziale Kompetenzen als eine Art überdauerndes Persönlichkeitsmerkmal betrachten[16] und die sozialen Fertigkeiten im Sinne von konkret beobachtbaren Verhaltensweisen definieren.
Als soziale Kompetenzen werden dann völlig unterschiedliche Begriffe genannt. Sie unterscheiden sich einmal im Inhalt, andererseits bestehen aber große Unterschiede in der Strukturierung. La Freniere und Dumas nennen teilweise sehr kleinschrittig: bei Streit nach Lösungen suchen, andere beruhigen, sich bei Erfolg freuen, Kompromisse akzeptieren, auf Jüngere und Schwächere Rücksicht nehmen, mit Sachen sorgsam umgehen und anderen helfen. Schut versucht eine gröbere Strukturierung der Überbegriffe, nennt also Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähig, helfen und sich helfen lassen, realistische Selbsteinschätzung, Körperbewusstsein, Rücksichtnahme auf andere sowie Kommunikationsbereitschaft und -fähigkeit.[17] Caldrallea und Merell gliederten ähnlich grob, aber in fünf Kernkompetenzen, die sie dann noch einmal genauer beschreiben:
- Fähigkeiten zur Bildung positiver Beziehungen zu Gleichaltrigen
(u. a. soziale Perspektivenübernahme, anderen helfen oder andere loben)
- Selbstmanagementkompetenzen
(wie Konflikte bewältigen oder die eigene Stimmung regulieren)
- Schulbezogene Kompetenzen
(auf die Anweisung des Lehrers hören, um Hilfe bitten)
- Kooperative Kompetenzen
(Anerkennung sozialer Regeln, angemessene Reaktion auf Kritik zeigen)
- Positive Selbstbehauptung und Durchsetzungsfähigkeit
(Gespräche und Aktivitäten beginnen)[18]
Während bei den sozialen Kompetenzen weitgehend versucht wird Überbegriffe zu finden, Kompetenzen zusammenzufassen und damit grob zu strukturieren, werden bei den sozialen Fertigkeiten wesentlich kleinschrittigere Aspekte genannt. Gambrill zum Beispiel fertigte 1995 eine Liste mit sozialen Fertigkeiten für Kinder und Jugendliche an:
- Versuchungen zurückweisen
- auf Kritik reagieren, Schwächen eingestehen
- Änderungen bei störendem Verhalten verlangen, Unterbrechungen im Gespräch
unterbinden
- erwünschte Kontakte arrangieren, unerwünschte Kontakte beenden
- Komplimente machen, Komplimente akzeptieren
- auf Kontaktangebote reagieren, Gespräche beginnen/aufrechterhalten/beenden
- jemanden um einen Gefallen bitten, Gefühle offen zeigen
- Widerspruch äußern, sich entschuldigen, nein sagen[19]
Obwohl also deutlich zu erkennen ist, dass soziale Kompetenzen meist als Basis gesehen werden und die Fertigkeiten wesentlich eng strukturierter beschrieben werden, erscheinen Nennungen doch häufig beliebig. Das wird besonders daran deutlich, dass die eben beschriebene Liste von Gambrill, die im Buch von Petermann als Liste sozialer Fertigkeiten aufgeführt wird, in anderer Literatur als Liste sozialer Kompetenzen aufgezählt wird.[20] Diese genannten Unklarheiten haben auch damit zu tun, dass sich die Psychologie in verschiedene Richtungen aufteilt: In der Verhaltenspsychologie haben konkrete Handlungen zentrale Bedeutung. Die Behavioristen Hinsch und Pfingsten definieren deshalb:
„Unter sozialer Kompetenz verstehen wir die Verfügbarkeit und Anwendung von kognitiven, emotionalen und motorischen Verhaltensweisen, die in bestimmten sozialen Situationen zu einem langfristig günstigen Verhältnis von positiven und negativen Konsequenzen für den Handelnden führen.“[21]
In der Entwicklungspsychologie steht im Gegensatz zu diesen fertigkeitsorientierten Maßnahmen die Anpassung an Normen, Werte und Erwartungen der Gesellschaft im Vordergrund. Ob sich ein Individuum gut anpasst, wollen Entwicklungspsychologen an seiner Art der Bewältigung von so genannten Entwicklungsaufgaben erkennen. Das sind ganz nach ihrer Tradition Ziele, die vom Entwicklungsverlauf eines Menschen abgeleitet wurden, unterscheiden sich also je nach Alter.[22] So geben zum Beispiel Eisenberg und Harris an, dass soziale Kompetenz als ein Katalog von Entwicklungszielen angesehen werden kann, der mindestens folgende fünf Aspekte beinhaltet, in der Ausprägung je nach Alter unterschiedlich:
- Fähigkeit zur Perspektivenübernahme
- Erkennen des Stellenwertes von Freundschaften
- Problemlösestrategien für soziale Interaktionen
- Entwicklung von moralischen Wertvorstellungen
- kommunikative Fertigkeiten[23]
Eine Reihe dieser Aspekte wurde bereits im Konzept der Entwicklungsaufgaben von Havighurst aufgegriffen, der noch konkretere Aufgaben für bestimmte Altersgruppen definiert.[24]
Einen weiteren Ansatz bietet die Sozialpsychologie. Hier beschäftigt man sich unter anderem mit der Verarbeitung von Informationen und sieht diese als Grundlage von gezeigtem Verhalten. Dodge und Crick haben ein Modell zur sozial-kognitiven Informationsverarbeitung entwickelt, was in der Literatur sehr häufig in modifizierten Versionen verwendet wird. Wenn ein Mensch mit einer Situation konfrontiert wird, laufen verschiedene Schritte ab: Im ersten Schritt müssen die vorliegenden Informationen einer Situation wahrgenommen und entschlüsselt werden. Im zweiten Schritt werden den wahrgenommenen Aspekten Ursachen und Bedeutungen zugeschrieben. Dann klärt das Individuum aufgrund der ihm vorliegenden Informationen seine persönlichen Handlungsziele in dieser Situation ab und ruft auf der Grundlage dieser Ziele mögliche Handlungsalternativen ab. Anhand verschiedener Kriterien wie Kosten, Nutzen, Folgen und sozialer Erwünschtheit entscheidet sich die Person für eine der abgerufenen Handlungen und führt diese dann durch. Diese Handlung ruft eine Reaktion durch die Umwelt hervor, die wiederum eine neue Situation ergibt, die das Individuum wahrnehmen kann.
Natürlich ist dies nur ein theoretisches Modell, was in der Realität, wenn überhaupt so ideal, dann unbewusst abläuft. Nur sehr selten machen Menschen sich diese meist sehr schnell ablaufenden Prozesse bewusst. Wichtiger Bestandteil des Modells und damit auch der Abbildung ist die so genannte Datenbasis. Damit sind abgespeicherte Informationen, Wissen und Erfahrungen gemeint, auf die das Individuum bei jedem der Schritte zurückgreift und die seine Entscheidungen, Wahrnehmungen und die Auswahl beeinflussen.[25] Die Sozialpsychologie sieht also ebenso einen Unterschied zwischen den Kompetenzen, die sozusagen die Basis in der Mitte des Modells bilden, und den Fertigkeiten, das heißt den konkreten Handlungen, die durch die Basis überhaupt erst möglich sind. Wie auch in der Entwicklungspsychologie wird in diesem Bereich Wert auf die Ausführung des Verhaltens gelegt. In der Arbeits- und Organisationspsychologie werden dementgegen als Kriterien für sozial kompetentes Verhalten neben der Durchsetzung eigener Interessen auch die Durchsetzung von gemeinsamen Zielen oder Zielen anderer Personen und die Art der Durchsetzung berücksichtigt. Riemann und Allgöwer definieren auf Grundlage dieser Annahme:
„Soziale Kompetenz wird Personen zugesprochen, die in der Lage sind, so mit anderen Personen zu interagieren, dass dieses Verhalten ein Maximum an positiven und ein Minimum an negativen Konsequenzen für eine der an der Interaktion beteiligten Personen mit sich bringt. Darüber hinaus muss das Interaktionsverhalten mindestens als sozial akzeptabel gelten.“[26]
Bei dieser, aber auch der vorhergehenden Definitionen stellt sich die Frage nach den Kriterien für soziale Akzeptanz einer Handlung und ob diese Akzeptanz eventuell in Abhängigkeit von der persönlichen Situationen der Beurteiler ist. Wer bestimmt also, welche Entwicklungen in bestimmten Altersabschnitten gemacht werden müssen oder welche Konsequenzen positiv oder negativ sind? Es wird also deutlich, dass in allen Ansätzen auf verschiedene Schwerpunkte Wert gelegt wird, dass bei allen aber auch die Fragen nach den Kriterien ungeklärt bleibt. Um trotz dieser Schwierigkeiten eine Grundlage für die vorliegende Arbeit zu schaffen, habe ich die verschiedenen eben erläuterten Ansätze mit dem Begriff des prosozialen Verhaltens kombiniert, sodass eine für mich schlüssige Begriffsklärung entstanden ist. Dies bedeutet keineswegs, dass die erwähnten Schwierigkeiten in der Umsetzung gelöst sind. Dies ist weder Aufgabe von Sozialarbeitern noch Thema meiner Arbeit. Stattdessen habe ich eine für mich akzeptable Vorstellung vom Zusammenhang der verschiedenen Begrifflichkeiten gefunden, auf dem mein am Ende vorgestelltes Programm aufbauen kann.
2.5 Modell zur Nutzung der beschriebenen Begriffe
Mit der folgenden Erklärung möchte ich die bereits existierende Verwendung des Begriffes des prosozialen Verhaltens nicht in Frage stellen, sondern den Begriff der praktischen Verwendung in dem beschriebenen Umfeld entsprechend nutzen. Grundlage des nun erläuterten Modells des Zusammenhangs der genannten Begriffe sind, wie die Abbildung 2 zeigt, die genetischen Faktoren und die Interaktionen des Individuums mit seiner Umwelt. Aus diesen Einflüssen bildet sich die Persönlichkeit aus. Diese Ausbildung ist nicht geradlinig und abgeschlossen, es handelt sich vielmehr um einen ständigen Austausch und wechselseitige Einflüsse. So ist zwar das Genom eines Menschen weitgehend stabil und unverändert, der Einfluss dieser Gene und ihre Auswirkungen auf die biologischen und damit auch psychologischen Funktionen des menschlichen Körpers sind keineswegs stabil.[27] Trotzdem ist es möglich, sowohl die genetischen Dispositionen als auch die Einflüsse durch die Wechselwirkungen mit der Umwelt als Grundlage für die Ausbildung bestimmter Persönlichkeitseigenschaften zu sehen. Damit wäre sowohl der biologische als auch der individualistische Ansatz, wie von Bierhoff beschrieben, in diesem Modell integriert. Die Psychologie kennt viele verschiedene Varianten, die Persönlichkeitsmerkmale eines Individuums zu messen und zu beschreiben. Ich habe mich in diesem Zusammenhang für eine Variante entschieden, die eher in der Alltagspsychologie wiederzufinden ist. Die Abbildung zeigt, dass die Persönlichkeit des Menschen aus verschiedenen Kompetenzen zusammengesetzt ist. In dem vorliegenden Modell wird also wie bereits bei verschiedenen anderen Ansätzen beschrieben, zwischen Kompetenzen und Fertigkeiten unterschieden. Kompetenz definiere ich dabei nach Bierhoff:
„Als Kompetenz wird das einem konkreten, zielgerichteten Verhalten zu Grunde liegende System psychischer Funktionen angesehen, dessen Verfügbarkeit und Funktionstüchtigkeit dem Individuum die Realisierung des kompetenten Verhaltens (Performanz) ermöglicht.“[28]
Unter den Fertigkeiten verstehe ich das Handlungsrepertoire, das auf den Kompetenzen aufbaut, also nur durch sie möglich ist. Die Einteilung in kognitive, soziale und emotionale Kompetenzen wurde gewählt, um die Einflüsse auf das soziale Verhalten zu verdeutlichen. Es gibt noch mehr Kompetenzen und andere Möglichkeiten diese zu strukturieren. Unter emotionalen Kompetenzen verstehe ich in diesem Zusammenhang die Fähigkeit zum Ausdruck eigener Emotionen, die Fähigkeit zum Erkennen des Emotionsausdrucks anderer und grundlegendes Emotionswissen. Zur kognitiven Kompetenz zählen unter anderem eine differenzierte Wahrnehmung, Konzentrationsfähigkeit und die Analysefähigkeit. Soziale Kompetenzen sind laut diesem vorgestellten Modell zum Beispiel die Bereitschaft zu kooperieren, zu kommunizieren, Rücksicht zu nehmen und Konflikte zu lösen. Außerdem beinhalteten sie eine realistische Selbsteinschätzung, Selbstvertrauen, Körperbewusstsein und Flexibilität. Sowohl bei den emotionalen als auch bei den kognitiven Kompetenzen können wiederum als die dazugehörenden Fertigkeiten betrachtet werden. Eine emotionale Fertigkeit wäre zum Beispiel der mimische Ausdruck von Ärger. Diese Fertigkeiten werden im Model nicht dargestellt, da sie allein nicht von Interesse für das behandelte Thema sind.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Graphisches Modell zur Nutzung der beschriebenen Begriffe
Wichtig ist aber ihr Einfluss auf die sozialen Fertigkeiten. In diesem Punkt vereinen sich die drei Kompetenzen in einem Handlungsrepertoire, was dem Individuum zur Verfügung steht. Dieses Handlungsrepertoire beinhaltet
- kreativ nach Lösungen suchen, Kompromisse akzeptieren
- Übernahme von Verantwortung für getroffene Entscheidungen
- spontan reagieren können
- auf Anweisungen hören/Regeln beachten
- Schwächen eingestehen, Komplimente akzeptieren
- Kontakte beginnen, aufrechterhalten, beenden
- Verhalten und Gefühle anderer wahrnehmen
- eigene Ziele durchsetzen können
- sich für Interessen anderer einsetzen
- auf Jüngere und Schwächere Rücksicht nehmen
- sich helfen lassen, anderen helfen
- sich in andere hineinversetzen
- tolerant auf andere Verhaltensweisen reagieren
- anderen zuhören, verbal Einfluss nehmen können
- über Gefühle sprechen
- eigene Stimmungen regulieren können
- Emotionsausdruck anderer realistisch einschätzen, mögliche Ursachen erkennen
- Aufgaben zu Ende führen
Natürlich könnte diese Liste noch erweitert werden. Nur dann, wenn diese genannten Fertigkeiten auch benutzt werden, spreche ich von prosozialem Verhalten. Die ursprünglich als prosozial und altruistisch erläuterten Verhaltensweisen, wie sie in Kapitel 2.1 beschrieben werden, sind also hier wiederzufinden. Da aber in der Praxis, wie bereits beschrieben, häufig eine Umdeutung der Begriffe stattfindet, wollte ich diese auch hier aufnehmen. Prosoziale Verhaltensweisen beinhalten also nach diesem Modell einmal hilfreiches Verhalten, das wiederum unterteilt werden kann in egoistisch
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Darstellung von prosozialem Verhalten nach dem hier beschriebenen Modell
und altruistisch motiviertes Verhalten. Für diesen Kreis in der Graphik gelten alle Aspekte die in 2.1 genannt wurden. Weiterhin enthält die große Ellipse des prosozialen Verhaltens aber auch Kooperationsverhalten, Kritikfähigkeit und wäre ergänzbar um viele weitere Kreise. Die zu Anfang beschriebenen Charakteristika von prosozialem Verhalten sind also auch hier weiter von Bedeutung, werden aber ergänzt um weitere Aspekte.
Das eben beschriebene und in Abbildung 2 dargestellte Schema nutze ich, um daraus meine eigene Definition zu entwickeln, angelehnt an andere, bereits bekannte:
„Neben der intellektuellen und der emotionalen Kompetenz bildet vor allem die soziale Kompetenz als Teil der Persönlichkeit eines Individuums die Grundlage für die Gesamtheit an sozialen Fertigkeiten, die ihm zur Verfügung stehen. Auf dieser Grundlage ist es dem Individuum möglich ein Handlungsrepertoire zu entwickeln, was in spezifischen Situationen in beobachtbare Handlungen umgesetzt werden kann. Diese beobachtbare Umsetzung ist das so genannte prosoziale Verhalten, das heißt die alters- und entwicklungsentsprechende effektive Bewältigung von sozialen Aufgabenstellungen.“
2.6 Die Entwicklung von prosozialem Verhalten
Nachdem nun ausführlich erläutert wurde, auf welcher Definition die Annahmen dieser Arbeit basieren, stellt sich noch die Frage, wie das beschriebene prosoziale Verhalten überhaupt entsteht. Natürlich ist es im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich alle Komponenten der Entwicklung zu beschreiben, doch soll an dieser Stelle ein grober Überblick gegeben werden. Für diese Vereinfachung beziehe ich mich auf die Aspekte der Empathie, der Informationsverarbeitung und des Perspektivenwechsels. Die Entwicklung dieser Fähigkeiten beginnt bereits in frühester Kindheit und setzt sich über die mittlere Kindheit und auch noch in der Jugend fort: Bereits vor der Phase der Kindheit, also im Säuglingsalter, reagieren Babys auf Emotionen andere, weinen zum Beispiel, wenn andere Babys weinen. Sie können jedoch nicht zwischen ihren eigenen Emotionen und denen anderer unterscheiden. Laut Piaget treten die Kinder während der mittleren Kindheit in die so genannte konkret-operationale Stufe ein. Wenn dies geschieht, können sie Informationen logisch einteilen, Reihenfolgen erstellen und differenziert unterscheiden. Sie können ihr Denken umkehren und durch gegebene Informationen schlussfolgern.[29] Während dieser Phase lernen Kinder außerdem ihre Reaktionen auf relevante Informationen zu beschränken, was ebenso zu einer Erhöhung der motorischen Leistungen beiträgt. Besonders wichtig für das vorliegende Thema sind die Veränderungen, die die Informationsverarbeitung betreffen: Das Gehirn entwickelt sich und leistet damit einen grundlegenden Beitrag zu zwei wichtigen Veränderungen: Die erste ist die Zunahme der informationsverarbeitenden Kapazität, das heißt die Zeit, die für die Verarbeitung von Informationen nötig ist, nimmt rapide ab. Durch dieses effektive Denken können mehr Informationen verarbeitet und behalten werden, wodurch dem Kind dann wiederum mehr Informationen zur Verfügung stehen, mit denen es operieren kann. Die zweite wichtige Veränderung ist der Zugewinn der kognitiven Hemmung, das heißt die Fähigkeit innere und äußere Reize zu kontrollieren. Durch die weiterentwickelten Informationsverarbeitungsstrategien verändert sich während der Kindheit auch die Aufmerksamkeit, sie wird selektiver, angepasster und planvoller.[30] Durch die Vergrößerung dieser Kapazitäten können sie nicht nur Mimiken erkennen, sondern diese sogar relativ genau unterschieden. Diese Fähigkeiten sind noch global und auf sich bezogen, mit der Zunahme der kognitiven, aber auch motorischen Fähigkeiten wird dann aber eine Trennung zwischen sich und anderen vollzogen. Ab diesem Zeitpunkt können Kinder zwischen verschiedenen Personen und deren Mimiken und Emotionen differenzieren. Weiterhin nehmen Kinder langsam wahr, dass Menschen mehr als nur ein Gefühl auf einmal haben können und lassen sich dabei von verschiedenen Hinweisreizen leiten, um die Gefühle anderer zu interpretieren. Die Empathie nimmt immer weiter zu und Emotionsregulationsstrategien werden entwickelt, wodurch sich auch die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme verbessert. Mit der Zunahme dieser Strategien können Kinder zwischen ihren eigenen Emotionen und denen anderer unterscheiden und ihre eigenen Ausdrücke kontrollieren. Diese Fähigkeit trägt entschieden dazu bei, dass sie Mimiken anderer lesen können. In der weiteren Entwicklung bilden sich die Fähigkeiten immer weiter aus und Kinder zeigen, wie oben beschrieben, vor allem in Freundschaften immer öfter prosoziale Verhaltensweisen. Das könnte auch damit zusammenhängen, dass das Selbstkonzept des Kindes während der frühen Kindheit nur Persönlichkeitseigenschaften und soziale Vergleiche beinhaltet. Der Selbstwert differenziert sich aber immer weiter, wird hierarchisch strukturiert und in verschiedene Bereiche wie Schule und Aussehen gegliedert. Über die ersten Schuljahre hinweg nimmt er wieder ab und fällt auf eine realistische Ebene. Wenn die Kinder sich selbst realistisch wahrnehmen können, ist es ihnen auch möglich, andere ebenso realistisch einzuschätzen und Bedürfnisse zu erkennen. So kommt es, dass eine Untersuchung mit Vierjährigen ergab, dass sie etwas weniger als einmal am Tag helfen, sich Sorgen teilen, loben oder schützen. Zwischen dem siebten und elften Lebensjahr nimmt dieses Verhalten jedoch drastisch zu. Mit dem Eintritt in weiterführende Schulen wird wieder weniger prosoziales Verhalten gezeigt. Vermutlich hat dies mit einem zunehmenden Gefühl der Beobachtung zu tun. Nach der Theorie des imaginären Publikums glauben Jugendliche oft, dass sie der Fokus der Aufmerksamkeit anderer sind, wodurch eine kognitive Verzerrung entsteht, nämlich die der persönlichen Legende. Sie fühlen sich als etwas Besonderes, Einzigartiges und stehen selbst im Mittelpunkt ihres Denkens.[31] Sie beschäftigen sich also viel mit ihrer Außenwirkung und sind deshalb eventuell gehemmt, sich um andere zu kümmern.
Die Entwicklung des prosozialen Verhaltens ist also auf eine Entwicklung von emotionalen, kognitiven, aber auch motorischen Fähigkeiten zurückzuführen. Die Zusammenhänge ließen sich weiter ausdifferenzieren, an dieser Stelle sollten die Beschreibungen aber ausreichen.
3. Abweichendes Verhalten
Nicht alle Kinder zeigen prosoziales Verhalten wie es in 2.5 beschrieben wurde. Wenn sich ihr Verhalten stark von dem anderer Kinder unterscheidet und das verschiedenen Bezugspersonen unabhängig voneinander auffällt, spreche ich von „abweichendem Verhalten“. Wie solche Verhaltensmuster genau definiert und eingeordnet werden, welche Risikofaktoren solche Entwicklungen begünstigen und welche protektiven Faktoren die Wirkung dieser Risiken dämpfen, wird in den folgenden Texten beschrieben.
3.1 Begriffsdefinitionen
Wie schon bei dem Thema des prosozialen Verhaltens werden auch hier mehrere Begriffe synonym oder widersprüchlich verwendet. In der Literatur werden hauptsächlich die Begriffe „abweichendes“, „dissoziales“, „deviantes“, „delinquentes“, „aggressives“, „antisoziales“ und „kriminelles“ Verhalten benutzt.[32] Die folgenden Kapitel werden sich an der Definition von Beelmann und Raabe orientieren, die diese Begriffe einander zu- und unterordnen:
“Als dissoziales Verhalten (im Englischen auch antisocial behaviour) wird eine größere Anzahl unterschiedlicher Problemverhaltensweisen bezeichnet, deren gemeinsames Kennzeichen die Verletzung von altersgemäßen sozialen Erwartungen, Regeln und informellen wie formellen Normen ist. Zusammengefasst werden damit vor allem vier Gruppen von Problemverhaltensweisen, nämlich oppositionelles, aggressives, delinquentes und kriminelles Verhalten von Kindern und Jugendlichen, das sich zum Beispiel in Wutanfällen, Schlagen, Bedrohen, Lügen, Stehlen, Stören, Schule schwänzen, Vandalismus, Drogenkonsum und anderem äußert.“[33]
Kinder mit oppositionellem Verhalten sind sehr streitlustig gegenüber Erwachsenen, verlieren häufig ihre Selbstbeherrschung und geraten leicht über andere in Zorn.[34] Aggressivität ist dagegen ein Verhalten, hinter dem die Absicht steht einer anderen Person Schaden zuzufügen oder ein Objekt zu zerstören.[35] Unter delinquentem Verhalten werden viele verschiedene Konzepte zusammengefasst: Im Folgenden wird damit ein Verhalten bezeichnet, das gegen geltende Normen verstößt, aber nicht unbedingt strafrechtlich relevant ist wie zum Beispiel das Schwänzen der Schule.[36]
Kriminelles Verhalten umfasst ebenso viele verschiedene Taten, beinhaltet aber nur die, die gegen geltende Rechtsnormen verstoßen, sodass eine strafrechtliche Verfolgung eingeleitet werden muss. Die ebenso häufig verwendeten Begriffe des antisozialen, devianten oder des abweichenden Verhaltens werden meist auch als Oberbegriff für diese verschiedenen Formen von Problemverhalten genutzt.[37] Obwohl die darunterfallenden Verhaltensweisen so unterschiedlich sind, werde ich in den folgenden Erläuterungen weiterhin diese genannten zusammenfassenden Begriffe nutzen, da viele der beschriebenen Verhaltensweisen gleichzeitig auftreten und in ihrer Entwicklung und Entstehung zusammenhängen, somit also selten einzeln zu betrachten sind.
Wie bereits erläutert, sind sowohl das Kindes- als auch das Jugendalter schwierige Phasen mit vielen Entwicklungsaufgaben. Es kommt häufiger vor, dass Kinder oder Jugendliche sich nicht so verhalten, wie es ihre Bezugspersonen, meist die Eltern, gerne hätten. Auch kriminelles Verhalten tritt manchmal auf, trotzdem werden nicht alle diese Jugendlichen als dissozial bezeichnet. Es scheint also nicht einfach zu sein, normales Verhalten von auffälligem zu unterscheiden.
„Wenn also Auffälligkeit und Normalität so relativ dicht beieinanderliegen, muss nach den Kriterien psychischer Störungen gefragt werden. Sind diese bekannt, so verlangt jede wissenschaftliche Betrachtung, dass die derart definierten Störungsbilder in ein Ordnungssystem gebracht werden.“[38]
Es ist also notwendig Kriterien für auffälliges Verhalten zu finden, um es dann genau zu klassifizieren: Als Kriterien für abnormales Verhalten nennt Steinhausen die Angemessenheit hinsichtlich des Alters und Geschlechts, Persistenz, gegebene Lebensumstände, soziokulturelle Gegebenheiten, das Ausmaß der Störung, die Art, der Schweregrad und die Häufigkeit des Symptoms, Verhaltensänderungen und zuletzt die Situationsspezifität. Um die Abnormalität eines Verhaltens zu beurteilen, sind dann immer mehrere dieser Merkmale notwendig. Ergänzt werden sie durch das Ausmaß der Beeinträchtigung des Kindes selber.[39]
Um die Klassifikationsmöglichkeiten zu erläutern, bediene ich mich hier den bekannten, empirisch fundierten Klassifikationsansätzen: Man unterscheidet zwischen den empirisch-taxonomischen Systematisierungsansätzen und den klinisch-kategorialen Verfahren. Empirisch-taxonomische Ansätze fassen einzelne Problemverhaltensweisen durch dimensionale Verfahren zu Symptomgruppen zusammen, wohingegen sich klinisch-kategoriale Verfahren auf Verhaltenssyndrome beziehen, die den Störungsdefinitionen internationaler psychiatrischer Klassifikationssysteme wie DSM-IV und ICD-10 entsprechen.[40] Achenbach und Mitarbeiter haben nach der ersteren Variante eine Systematisierung erarbeitet, sie unterscheiden in internalisierende Symptome wie Ängstlichkeit, Depression oder psychosomatische Störungen und externalisierende wie Aggression und Delinqenz. Aggressive Symptome beinhalten nach Achenbach oppositionelles Verhalten und hauptsächlich offene Problemverhaltensweisen wie Schlagen, Kämpfen und Wutanfälle. Delinquentes Verhalten dagegen wird hier als verdeckt bezeichnet, darunter fallen zum Beispiel Lügen, Stehlen und Drogenkonsum.[41]
Beelmann und Raabe schlussfolgern daraus:
„Der Begriff des externalisierenden Verhaltens ist demnach ebenfalls eine übergeordnete Bezeichnung bestimmer Formen problematischen Verhaltens und entspricht insofern dissozialem Verhalten, wenngleich er häufig ohne eine explizite Berücksichtigung krimineller Verhaltensweisen verwendet wird.“[42]
[...]
[1] Vgl. Bierhoff, in: Stroebe (2002), S. 321.
[2] Bierhoff, in: Stroebe (2002), S. 320.
[3] Vgl. Bierhoff, in: Stroebe (2002), S. 320.
[4] Vgl. ebd.
[5] Vgl. Bierhoff, in: Stroebe (2002), S. 326.
[6] Vgl. ebd.
[7] Vgl. ebd.
[8] Bierhoff, in: Stroebe (2002), S. 327.
[9] Vgl. Bierhoff, in: Stroebe (2002), S. 117 ff.
[10] Bierhoff, in: Stroebe (2002), S. 338.
[11] Vgl. ebd.
[12] Vgl. Bierhoff, in: Stroebe (2002), S. 340 f.
[13] ebd.
[14] Vgl. Bierhoff, in: Stroebe (2002), S. 341.
[15] Vgl. Trudewind, in: Bierhoff/Frey (2006), S. 516.
[16] Vgl. ebd.
[17] Vgl. Schut/Schiering, in: Schut (2005), S. 43.
[18] Vgl. Petermann (2007) Verhaltenstraining in der Grundschule, S.20.
[19] Gambrill, in: Jugert (2007), S. 12.
[20] Vgl. Pfingsten (2002), S. 4.
[21] Hinsch (2002), S. 5.
[22] Vgl. Jugert (2007), S. 11.
[23] Eisenberg/Harris, in: Jugert (2007), S. 11.
[24] Vgl. Jugert (2007), S. 11.
[25] Mummendey/Otten, in: Stroebe (2002), S. 374 f.
[26] Trudewind, in: Bierhoff/Frey (2006), S. 518.
[27] Vgl. Asendorpf (2007), S.355.
[28] Trudewind, in: Bierhoff/Frey (2006), S. 516.
[29] Vgl. Steinhausen (1996), S. 10.
[30] Vgl. Berk (2005), S. 467 f.
[31] Vgl. Mietzel (2002), S. 339.
[32] Vgl. Essau/Conradt (2004), S. 16 und Beelmann/Raabe (2007), S. 17 f.
[33] Beelmann/Raabe (2007), S. 17.
[34] Vgl. Klein/Shaffer, in: Wittchen/Oldham/Pardes/Kass (1998), S. 280.
[35] Vgl. Essau/Conradt (2004), S. 15
[36] Vgl. Lösel/Bender, in: Schlottke/Schneider/Silbereisen/Lauth (2001), S. 605 f.
[37] Vgl. Beelmann/Raabe (2007), S. 17.
[38] Steinhausen (1996), S. 15.
[39] Vgl. Steinhausen (1996), S. 15 f.
[40] Vgl. Beelmann/Raabe (2007), S. 18.
[41] Vgl. ebd.
[42] ebd.
- Quote paper
- Katrin Kretschmer (Author), 2008, Vermittlung von prosozialem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen durch ein präventives Training mit erlebnisorientierten Medien, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/147370
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