Mathematische Wahrscheinlichkeiten und spontane Wahrscheinlichkeitsbeimessungen können stark voneinander abweichen.
Nach einem kurzen Ausflug in die geschichtliche Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung und nach der Klärung wichtiger Definitionen und Begriffe liefert der Autor eine Zusammenstellung mehrerer Beispiele, anhand derer das Missverhältnis zwischen objektiven und subjektiven Wahrscheinlichkeiten besonders deutlich aufgezeigt werden soll. Betrachtet werden nicht nur theoretische Modelle wie der Münzwurf oder das klassische Ziehen aus einer Urne. Auch der Lotto Normalverbraucher erfährt Wissenswertes zum Spiel "6 aus 49", bevor zum Schluss das so genannte Ziegenproblem unter die Lupe genommen wird – eine mathematische Fragestellung, die in den 90er-Jahren für großes Aufsehen sorgte und bis in die Gegenwart hinein bei vielen Menschen Skepsis, Provokation und Verblüffung auszulösen vermag.
Inhaltsverzeichnis
1. Zur geschichtlichen Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung - Ein kurzer Überblick, wichtige Namen, ein Teilungsproblem und seine Lösung
2. Was bedeutet Wahrscheinlichkeit?
2.1 Zur lexikalischen Deutung
2.2 Zur Definition der Wahrscheinlichkeit nach Laplace
2.3 Zur statistischen Definition
2.4 Zur axiomatischen Definition
3. Was bedeutet „objektive“ Wahrscheinlichkeit?
4. Was bedeutet „subjektive“ Wahrscheinlichkeit?
5. Betrachten von ausgewählten Aufgabenstellungen zu subjektiven Wahrscheinlichkeiten
5.1 Ziehen aus einer Urne
5.2 Fußballspiel
5.3 Mehrfacher Münzwurf
5.4 Lotto „6 aus 49“
5.5 Das Ziegenproblem
5.5.1 Empirischer Beweis
5.5.2 Erster, argumentativer Beweis
5.5.3 Zweiter, argumentativer Beweis
5.5.4 Ein Ziegenproblem mit Fifty-fifty-Spielregel
6. Abschlussbetrachtung
7. Verwendete Literatur
1. Zur geschichtlichen Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung - Ein kurzer Überblick, wichtige Namen, ein Teilunqsproblem und seine Lösung
Schon der Urmensch in prähistorischer Zeit muss sich mit einfachen Formen des Zählens und ersten mathematischen Fragestellungen auseinandergesetzt haben. Wie viele Speere waren für die nächste Jagd anzufertigen, wie viele Tiere mussten erlegt werden? Die Klärung dieser und ähnlicher Fragen konnte lebenswichtig sein.
Von nachweislich hohem Niveau war im 3. Jahrtausend v. Chr. das mathematische Wissen der alten Ägypter, insbesondere in den Bereichen Arithmetik und Geometrie.
Im Vergleich dazu ist die Wahrscheinlichkeitsrechnung eine recht junge mathematische Disziplin. Ihre Wurzeln liegen im Frankreich des 16. Jahrhunderts. Dort waren Glücksspiele, vor allem Würfelspiele, sehr in Mode. Geronimo Cardano (1501-1576) veröffentlichte zum Thema Würfelspielprobleme ein Buch namens „Liber de ludo aleae“.[1]
1654 tauschten sich Blaise Pascal (1623-1662) und Pierre de Fermat (16011665), die von vielen Historikern als Begründer der Wahrscheinlichkeitsrechnung gesehen werden, in einem Briefwechsel über Fragen zur mathematischen Behandlung von Glücksspielen aus.[2]
Ausgangspunkt der Fragenstellungen waren so genannte Teilungsprobleme: Wie soll der Einsatz eines mehrsätzigen Glücksspieles gerecht aufgeteilt werden, wenn das Spiel vorzeitig abgebrochen wird?
Ein Beispiel: Zwei Spieler, A und B, würfeln um die Wette. In jeder Runde würfelt jeder Spieler einmal, der jeweils höhere Wurf bringt einen Punkt ein. Den Gewinneinsatz erhält, wer als erstes 5 Punkte erreicht. Als Spieler A 4 Punkte und Spieler B 3 Punkte hat, wird das Spiel vorzeitig abgebrochen. Wie soll nun der Einsatz (anteilig) gerecht aufgeteilt werden?[3]
Berühmte Mathematiker vor Pascal meinten fälschlicherweise, Spieler A stünden 2/3 zu, weil A in zwei von drei möglichen Fällen gewinnen kann: entweder beim Stand von 5 zu 3 für A, oder beim Stand von 5 zu für A. Spieler B hingegen hat nur eine einzige Chance auf den Gewinn, nämlich beim Spielstand von 5 zu 4 für B. Daher solle Spieler B 1/3 des Einsatzes bekommen.
Richtig ist hingegen folgende Überlegung: Spieler B hat dann gewonnen, wenn er beim nächsten und zusätzlich beim darauf folgenden Wurf punktet. Die Chance dafür liegt gemäß der Multiplikationsregel bei 1/2 • 1/2, also bei 1/4. Daher ist es gerecht, wenn Spieler B 1/4 des Einsatzes bekommt. Für Spieler A verbleiben somit 3/4 des Gewinns.[4]
Natürlich kann man auch von Spieler A ausgehend diese Aufteilung begründen: Gewinnt A beim nächsten Wurf, hätte A das gesamte Spiel gewonnen. Die Chance dafür liegt bei 1/2. A gewinnt aber auch dann, wenn B zunächst ausgleicht (Spielstand 4 zu 4) und A dann den nächsten Punkt macht. Für diesen Ausgang gilt die Wahrscheinlichkeit 1/2 • 1/2, also 1/4, und beide Wahrscheinlichkeiten addiert ergeben 3/4. Blaise Pascal erkannte die mathematisch korrekten Lösungswege für derartige Teilungsprobleme.[5] Auch der Holländer Christiaan Huygens, der von dem Briefwechsel zwischen Pascal und Fermat wusste, über seinen Inhalt aber wenig Konkretes in Erfahrung bringen konnte, fand unabhängig von Pascal eine Lösungsmethode für die Teilungsproblematik und veröffentlichte im Jahre 1657 sein Buch „De ratio- ciniis in ludo aleae“.[6] Der Autor HINDERER bezeichnet diese Veröffentlichung als das vielleicht erste Buch über Wahrscheinlichkeitsrechnung[7], während RICHTER im vom Niederländer Jakob Bernoulli (1654-1705, —► Das schwache Gesetz der großen Zahl) verfassten Werk „Ars conjectandi“ das erste Lehrbuch zur Wahrscheinlichkeitsrechnung sieht.[8]
Ein weiteres, bedeutsames Werk zur Wahrscheinlichkeitsrechnung mit dem Titel „The doctrin of chances“ (1718) publizierte der Gelehrte Abraham de Moi- vre (1667-1754, —► Sonderfall des zentralen Grenzwertsatzes).[9]
Pierre Simon de Laplace (1749-1827) brachte die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung durch sein Lehrbuch „Theorie analytique des probabi- lites“ (1812) wesentlich voran. Man begann damit, Theorien und Ideen aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung auch auf Wirtschafts- und Sozialbereiche sowie auf Felder der Physik und der Biologie zu übertragen.[10] Noch in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts standen die meisten Mathematiker der Wahrscheinlichkeitsrechnung skeptisch gegenüber, es fehlte ein „mathematisch exaktes und genügend inhaltsreiches Begriffssystem“.[11] [12] Eine größere Anerkennung erfuhr die Wahrscheinlichkeitsrechnung schließlich durch die Axiome von Kolmogorow (siehe Gliederungspunkt 2.4).
2. Was bedeutet Wahrscheinlichkeit?
Obwohl uns der Begriff „Wahrscheinlichkeit“ allen geläufig scheint, ist es nicht unbedingt einfach, diesen Begriff aus dem Stegreif zu erklären, ohne dabei auf das abgeleitete Wort „wahrscheinlich“ zurückzugreifen.
2.1 Zur lexikalischen Deutung
Der Brockhaus umschreibt die Wahrscheinlichkeit als „ein Grad für das Maß der Möglichkeit noch unverwirklichter Ereignisse“.[13]
Obwohl das Lexikon im Rahmen seiner Umschreibung der Wahrscheinlichkeit auf das Wort „Maß“ zurückgreift, werden Wahrscheinlichkeiten grundsätzlich ohne Maßeinheiten angegeben. Bezifferte Angaben zur Wahrscheinlichkeit sind also keine mathematischen Größen im eigentlichen Sinne.[14] Eine Münze sei 10 Gramm schwer, habe einen Durchmesser von 2 Zentimetern, und reiche für den Kauf von 0,33 Litern Wasser aus, das innerhalb von 2 Minuten aufgetrunken wird. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass diese Münze bei einem Wurf auf der Wappenseite liegen bleibt, beträgt 1/2 - ohne Maßeinheit! Als ei ne Art Behelf für eine fehlende Maßeinheit könnte das Ausdrücken von Wahrscheinlichkeiten in Prozent verstanden werden. „Die Chance, bei einem Münzwurf Wappen zu erhalten, liegt bei 50%“. Sprachlich erscheint diese Formulierung möglicherweise exakter, mathematisch gesehen wurde aber die Wahrscheinlichkeit 1/2 lediglich mit dem Faktor 100 multipliziert und dieser neue Wert durch ein Prozentzeichen (Prozent = pro Hundert) markiert. Im Prinzip stellt die Angabe 50% also einen ungekürzten Bruch dar, nämlich 50/100.
2.2 Zur Definition der Wahrscheinlichkeit nach Laplace
Die klassische Definition, die „Urformel“ für Wahrscheinlichkeitsberechnung, ist die Darstellung nach Laplace:[15]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
[16]
Die Wahrscheinlichkeit, bei einem einmaligen Münzwurf das Ergebnis „Wappen“ zu erhalten, wird nach Laplace mit einem Wert von 1/2 berechnet:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
[...]
[1] vgl. Hinderer, S. 18
[2] vgl. Hauser, S. 15 / vgl. Randow, S. 19
[3] vgl. Randow, S. 20
[4] vgl. Randow, S. 20. Zur Multiplikationsregel bei (unabhängigen) Ereignissen siehe Richter, S. 28.
[5] vgl. Hauser, S. 15 / vgl. Hinderer, S. 19. Zur Additionsregel siehe Richter, S. 51.
[6] vgl. Hinderer, S. 19
[7] vgl. Hinderer, S. 19
[8] vgl. Richter, S. 13
[9] vgl. Hinderer, S. 19
[10] vgl. Hinderer, S. 19
[11] Hinderer, S. 20
[12] vgl. Hinderer, S. 20. „Kolmogorow“ wird auch in den Schreibungen Kolmogoroff oder Kolmogorov realisiert.
[13] vgl. Brockhaus, S. 791
[14] Eine Größe besteht aus einer Zahl in Verbindung mit einer Maßeinheit, z.B. „2 km“. Synonym wird auch der Begriff „benannte Zahl“ verwendet.
[15] vgl. Richter, S. 14 f. / vgl. Randow, S. 15
[16] vgl. Randow, S. 15. Seine Erläuterungen zur Laplace’schen Formel sind jedoch oben teilweise in einer abgewandelten Interpretation dargelegt.
- Arbeit zitieren
- Gerrit Stäbe (Autor:in), 1999, Missverhältnis von objektiven und subjektiven Wahrscheinlichkeiten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/147352
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